Love like Blood - Mathias Aicher - E-Book

Love like Blood E-Book

Mathias Aicher

0,0
4,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein Serienmörder im Techno-Underground der 90er-Jahre »Mi preferas morti« Berlin 1997. Ein Serientäter, der an den Tatorten kryptische Botschaften hinterlässt, hält die Stadt in Atem. Ein Phantom, nicht greifbar. Eine Kommissarin, die tief in den Berliner Underground und die Technoszene eintauchen muss, um den Mörder zu finden. Dabei verliert sie sich in dieser ihr fremden und doch seltsam vertrauten hedonistischen Welt, wird mit ihren Dämonen und ihrer Vergangenheit konfrontiert und kommt dem Täter nahe, ohne es zu wissen. Zu nahe … Ist sie das nächste Opfer? »Ein Höllentrip in die Abgründe der Berliner Underground-Techno-Fetisch-Szene von 1997. Gnadenlos. Beklemmend. Mit Figuren, an die man sich lange erinnern wird.« (LEO BORN)

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Mehr über unsere Autoren und Bücher: www.piper.de

 

Wenn Ihnen dieser Thriller gefallen hat, schreiben Sie uns unter Nennung des Titels »Love like Blood« an [email protected], und wir empfehlen Ihnen gerne vergleichbare Bücher.

 

© Piper Verlag GmbH, München 2021

Redaktion: Nadine Buranaseda, typo18, Bornheim

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Alexa Kim »A&K Buchcover«

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich der Piper Verlag die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

 

Die Protagonisten in diesem Buch sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen sind rein zufällig.

 

 

Inhalt

Cover & Impressum

BERLIN SOMMER 1997

VORSPIEL

HEAD LIKE A HOLE

1 NARBENARM

2 INTERCONTI

3 HOLSTEINISCHE STRASSE

4 SEXTON

5 PLANSPRACHE

BLACK AS YOUR SOUL

6 OFFIZIELLER ANRUF

7 PINGUIN

8 OVERKILL

9 SPREE-RIPPER

10 CANDY

11 UNZEITGEMÄßE BETRACHTUNGEN

12 SYBELSTRAßE

13 MANTIS RELIGIOSA

14 LONG HOT SUMMER

15 AOL

16 HOLI LANF INC.

I’D RATHER DIE

17 HEMISPHERES

18 DAS MAGISCHE THEATER

19 HEXEN

20 L-N

21 QUOI QU’IL ARRIVE

22 GAMES WITHOUT FRONTIERS

THAN GIVE YOU CONTROL

23 GAMMAHYDROXBUTTERSÄURE

24 WHITE PUNKS ON DOPE

25 B-ED-817

26 STARFUCKER

27 LE GRAND NÉANT

BOW DOWN BEFORE THE ONE YOU SERVEYOU’RE GOING TO GET WHAT YOU DESERVE

22:06 Uhr

22:17 Uhr

22:23 Uhr

22:43 Uhr

22:54 Uhr

23:26 Uhr

23:30 Uhr

23:34 Uhr

23:35 Uhr

23:40 Uhr

23:41 Uhr

0:20 Uhr

0:32 Uhr

THE DOWNWARD SPIRAL

Nachtrag zum Nachwort

BERLIN SOMMER 1997

VORSPIEL

Er hatte ihre Anzeige, die zu hundert Prozent seinem Beuteschema entsprach, in der B. Z. entdeckt.

Dunkelhaarig. Knabenhafte Figur. Zierlich. Naturgeil. Tabulos.

Sie nannte sich »Candy«.

Vor dem Abendessen hatte er sie von einer Telefonzelle in der Nähe des Interconti aus angerufen. Er war sich bewusst gewesen, dass auf der Hotelrechnung die Telefonkosten seines Zimmers vermerkt sein würden. Im schlimmsten Fall sogar mit Angabe der gewählten Nummern. Er wollte etwaige Diskussionen mit Sonja vermeiden, die schon des Öfteren stichprobenartig seine Hotel- und Telefonrechnungen überprüft und ihn mit Fragen zu seinen Gesprächspartnern konfrontiert hatte.

Candys Stimme hatte am Telefon diesen hellen, kieksigen, an eine Zwölfjährige erinnernden Klang gehabt, den er brauchte, um in Fahrt zu kommen. Sie waren sich in weniger als drei Minuten einig geworden. Vierhundert Mark für eine Stunde, was kein Problem war. Sein Spesenbudget für den Berlintrip war nicht einmal ansatzweise ausgeschöpft.

Seine Fingerspitzen juckten. Die Gedanken an Candy und an das, was er gleich mit ihr treiben würde, setzten ihn sprichwörtlich unter Strom. Er würde ihr in die Fresse spritzen. Die volle Ladung. Sie würde vor ihm knien, den Kopf im Nacken, die Augen geschlossen, den Mund halb offen. Sein Sperma würde über ihre geschlossenen Augen kriechen, in ihren Wimpern kleben, den Weg in ihren Mund finden, über ihre Zunge laufen. Sie würde einen Finger davon nehmen und ihn ablecken. Langsam und genüsslich. Als wäre es Vanillepudding. Sie würde noch einen Finger dazu nehmen. Und noch einen. Würde sich am Ende das Sperma mit der ganzen Hand aus dem Gesicht wischen und alles ablecken und schlucken. Bis zum letzten Tropfen. Würde ihm ihr offenes Maul präsentieren, um zu zeigen, dass sie wirklich alles geschluckt hatte.

Nach dem Duschen stieg er in den weißen Bademantel mit dem aufgestickten Logo des Interconti und wechselte in den Wohn- und Schlafraum. Bediente sich an der Minibar mit Whisky. Hackte sich zwei Lines Koks auf dem Schreibtisch des Zimmers. Sniefte sie. Legte sich aufs Doppelbett. Schaltete den Fernseher ein. Switchte auf den Pornokanal und brachte sich in Stimmung. Es war kurz vor elf nachts. Er hatte sie für halb zwölf bestellt.

Als es eine halbe Stunde später an der Tür klopfte, trug er noch immer den Hotelbademantel. Ohne sich die Mühe zu machen, ihn zuzubinden, öffnete er. Sie war wie erwartet klein, zierlich. Schulterlanges dunkles Haar. Exakt geschnittener, direkt über den Augen endender Pony. Cowboystiefel. Schwarze Netzstrümpfe. Kurzer Lederrock und braune Lederjacke. Darunter ein enges weißes T-Shirt. Kein BH. Sie sah aus wie ein Teenager und lächelte.

»Hi. Ich bin wohl dein Date, nehme ich an«, gurrte sie.

Keine zwei Stunden später stand er an einem reißenden Fluss. Das Rauschen dröhnte in seinen Ohren, seinem Kopf, seiner Mundhöhle, seinen Eingeweiden. Und in seinem Unterleib. Er hatte das Gefühl vor Schmerzen verrückt zu werden. Er schrie, aber es war kein Laut zu hören. Dann sah er, dass sich das kristallklare Wasser blutrot färbte.

Gott, hilf mir, dachte er.

Doch Gott war tot.

HEAD LIKE A HOLE

1 NARBENARM

CUNTFUCK

Er hatte alles vorbereitet und war bereit, ihr Schmerzen zuzufügen.

»Rock ’n’ Roll?«, fragte er.

»Rock ’n’ Roll«, bestätigte Liza und streckte ihm den linken Arm entgegen.

Er startete seine Maschine.

Als die neun Nadeln ihren Unterarm zerfetzten, lächelte sie. Erinnerte sich an ihr Vorgespräch im Januar. Jan hatte sie darauf hingewiesen, dass man solch tiefe und zahlreiche Narben wie ihre immer sehen würde, selbst wenn sie durch einen japanischen Sleeve verdeckt sein würden. Ein farbenprächtiger Sleeve aus Lotusblüten, Wasser, Ginkgo- und Ahornblättern, einem Drachen, Buddha. Das Tattoo würde sich von ihrer Schulter über den Oberarm bis hin zum Handgelenk ziehen. Sie hatte Jans Einwand ignoriert, ihm hundert Mark Anzahlung auf den Tresen des Tattoostudios in der Pichelsdorfer Straße in Spandau gelegt und das Kärtchen eingesteckt, auf dem er ihren ersten von fünf Termin eingetragen hatte. Heute war ihr vierter Termin. Bei den ersten drei Sessions hatte Jan ihren Oberarm – innen und außen – fertiggestellt. Heute war die Outline des Unterarms dran. Farbe gab es beim nächsten Termin.

Mein Narbenarm, dachte Liza. Der Arm, den sie selbst im Sommer immer unter langärmeligen Shirts versteckt hatte. Nicht weil sie die Meinung anderer Menschen interessierte oder sie sich Gedanken darum gemacht hätte, in welche Schublade sie ebenjene Menschen steckten. Der einzige Grund war, dass die Narben sie jedes Mal daran erinnerten, was damals passiert war. Sie wollte nicht mehr daran erinnert werden und ignorierte die Stimme in ihrem Kopf, die ihr einzureden versuchte, dass die Narben immer da sein würden, selbst wenn sie irgendwann durch ein großflächiges Tattoo verdeckt wären.

Und dass sie deshalb niemals vergessen könnte.

»Allet jut?«, fragte Jan und riss Liza aus ihren Gedanken.

»Klar«, meinte sie. »Wie immer, wenn du mich heile machst.«

»Heile machen durch kaputt machen. Ooch nicht schlecht«, sagte Jan.

***

Mit geschlossenen Augen streckte er sein Gesicht dem Wasserstrahl entgegen und massierte sich mit beiden Händen den kahl geschorenen Schädel. Das Wasser perlte über jeden einzelnen Muskel seines perfekt austrainierten Körpers mit der makellosen braunen Haut. Er weitete die Massage auf seine pochenden Schläfen aus, als jemand gegen die Tür der Duschkabine hämmerte.

»Police! Open the fucking door, nigger!«, brüllte eine männliche Stimme.

»›Nigger‹ ist diskriminierend und politisch unkorrekt«, schrie Mike Johnson durch das Wasserrauschen und massierte weiter seine Schläfen. »›Afro-American‹ klingt viel netter, oder? Wobei das in meinem Fall auch nicht ganz zutrifft, meine Mutter ist ja Berlinerin. Ausm Wedding, wie du eigentlich inzwischen wissen solltest. Ich bin also eher ein half Afro-American Berlin-Wedding boy. Und außerdem, aber das nur am Rand, müsste es ›open the shower door‹ heißen.«

»Shut up, you cuntfuck!«, brüllte der Mann vor der Duschkabine. Seine englische Aussprache hatte unverkennbar einen sächsischen Einschlag.

Mike schob die Tür ein Stück zur Seite. Vor der Dusche stand ein untersetzter, muskulöser Mann Mitte dreißig mit einem Handtuch um die Hüften. Im Licht der Neonröhren sahen seine spärlichen, akkurat nach hinten gekämmten Haare noch spärlicher aus als sonst.

»Cuntfuck? Was soll das denn, bitte schön, sein?«, fragte Mike.

»Na, cuntfuck halt. So was wie motherfucking bitchfucker.«

»Mutterfickender Nuttenficker? Ja klar.«

»Na und? Mir doch egal. Künstlerische Freiheit.«

»Übersetze ›cuntfuck‹«, sagte Mike.

»Ich übersetze gar nichts! Und weißt du, warum? Weil ich mir von einem half Afro-American Berlin-Wedding boy nigger keine Befehle geben lasse!«

»Du weißt es nicht«, sagte Mike.

»Shut up!«

»Du weißt es nicht.«

»Na klar weiß ich’s!«

»Ich höre.«

Ansgar Eulenstein kratzte sich an einem Ohrläppchen. »Fotzenfick.«

»Korrekt. Und weiter?«

»Was, und weiter?«

»Ist das ’ne Beleidigung?«

Eulenstein legte die Stirn in Falten. »Irgendwie schon, find ich.«

»Nee, Alter. Auf keinen Fall ist das eine Beleidigung«, sagte Mike. »Lass dir eine neue einfallen. Und diesmal vielleicht in einer Sprache, die du beherrschst. Du hast fünfzehn Minuten. Und falls ich länger brauchen sollte, kannste ja noch cuntfuck durchdeklinieren.« Er schloss die Tür der Duschkabine.

»Fick dich, Nigger!« Eulenstein drosch erneut gegen die Tür der Duschkabine.

Mike streckte das Gesicht dem Wasserstrahl entgegen.

Kurz darauf stand er in schwarzen Jeans und einem weißen Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln rauchend am offenen Fenster der Küche der Dreizimmeraltbauwohnung in Schöneberg. In der Hand ein Bier. Er schaute in den dunkelblauen, wolkenlosen Himmel. Immer noch an die fünfundzwanzig Grad. Und das schon seit Wochen. Der heißeste Sommer in Berlin seit Jahrzehnten.

Er drückte die Zigarette im Aschenbecher auf der Fensterbank aus, als sein Mitbewohner und Kollege Ansgar Eulenstein frisch geduscht, die spärlichen Haare nach hinten gegelt, in einem perfekt sitzenden dunkelblauen Anzug mit weißem Hemd die Küche betrat, sich wortlos einen Whisky eingoss und auf Ex kippte.

»Ready to rumble?«

Für Mike klang es wie »Röddy tu römbel?«.

»Immer.« Er trank sein Bier aus, griff sich seine Lederjacke vom Küchenstuhl und folgte Eulenstein in den Flur, als das Telefon klingelte.

»Alter, wag es nicht!« Eulenstein schnappte sich den Wohnungsschlüssel von der Ablage. »Wir haben ein Date, falls du es vergessen haben solltest. Mit zwei der schärfsten und geilsten Mäuse westlich von Spandau.«

»Falls du es vergessen haben solltest: Wir haben Rufbereitschaft«, erwiderte Mike.

»Scheiß drauf, Alter. Echt. Auch wir haben das Recht auf unsere …« Eulenstein brach ab, als er realisierte, dass Mike den Hörer abnahm.

»Johnson«, sagte er ins Telefon und sah dabei zu Eulenstein, der sich die geschlossenen Augen mit Zeigefinger und Daumen rieb. »Alles klar. Wir sind auf dem Weg.« Er legte auf. »Mord im Interconti. Männliche Leiche.«

»Du Penner! Du gottverfickter Scheißpenner!«, keifte Eulenstein.

»Reg dich ab, Eule. Die hätten uns eh per Pager erreicht, wenn ich nicht drangegangen wäre. Die beiden Mäuse rennen uns schon nicht weg.«

»Doch, tun sie«, sagte Eulenstein. »Und weißt du, warum? Weil das einfach in der Natur von geilen Mäusen liegt.«

»Dann waren sie’s auch nicht wert.« Mike drängte sich an Eulenstein vorbei nach draußen. »Abschließen nicht vergessen«, rief er seinem Mitbewohner hinterher, während er zwei Stufen auf einmal nahm.

»Cuntfuck«, hörte er Eulenstein brummen.

***

Es war kurz nach sieben Uhr abends und immer noch unfassbar warm. Der wärmste Sommer, an den sich Liza erinnern konnte. Sie und Jan schwitzten wie die Hölle, auch wenn der Ventilator im Studio auf Hochtouren rödelte.

»Eine Sekunde.«

Jan stoppte die Maschine und sah Liza fragend an.

Sie beugte sich zu ihrer Handtasche, die auf dem Boden neben ihrem Stuhl lag, und holte ein Kassette heraus, das sie ihm in die Hand drückte. »Schieb rein.«

Jan legte sie in das Tapedeck der Anlage und drückte auf Play. »Killing Joke. Love Like Blood. Schick. Det janze Album?«

»Nee, Mixtape«, sagte Liza. »Nine Inch Nails, Ministry, Bowie, The Cure, Front 242, Joy Division. Dunkle Musik für dunkle Seelen, du weißt schon.«

»Vaschtehe. Was ick aber nich so wirklich vaschtehe: Wenn dunkel, dann doch richtich dunkel, oder? Wieso keene schwarzen Totenköppe, Monster, Dämonen? Wieso bunte Blumen und Japsenjedöhns?«

»›Fight fire with fire‹ ist als Idee vielleicht ganz reizvoll«, antwortete Liza, »funktioniert aber nicht im richtigen Leben. Ist so ähnlich wie die Idee vom Kommunismus.«

»Dit erklärt natürlich allet.« Jan setzte die Maschine erneut an.

Liza zuckte zusammen, aber ihr Lächeln blieb. Sie liebte diese Art von Schmerzen. Im Gegensatz zu anderen Schmerzen waren ihr diese inzwischen vertraut. Sie wusste, was sie erwartete. Wusste, wie sich die erste Nacht nach einem neuen Tattoo anfühlte, wie sich der Morgen danach anfühlte, wusste, wie lange es dauern würde, bis ihre Haut geheilt war, wann sie sich zu häuten begann, wann der Schorf verschwunden sein und die Haut aufgrund des Heilungsprozesses zu jucken beginnen würde.

Nicht unähnlich des Heilungsprozesses, wenn man seinen Unterarm als Teenager über Jahre mit einer Rasierklinge malträtiert hatte.

Das Geräusch der Tätowiermaschine, das sie immer an einen Bienenschwarm erinnerte, lullte sie ein. Sie schloss die Augen. Vor ihr lag ein freies Wochenende. Das erste seit drei Wochen. Nach der Tattoosession würde sie nach Steglitz fahren und bei ihrem Stammmexikaner Machete in der Feuerbachstraße zu Abend essen. Besart Zeka, der Inhaber, ein Albaner, der sich als Italiener ausgab, was seiner Meinung nach authentischer rüberkam als ein Albaner, der ein mexikanisches Restaurant betrieb, hatte hoffentlich einen Tisch für sie. Auch ohne Reservierung. Sie freute sich auf ihre mit Rinderhack gefüllten und mit Käse überbackenen Tacos. Dazu Salat und einen Rotwein. Oder zwei. Als Abschluss ein leckeres Dessert, einen Espresso und einen Ouzo.

Sie würde den Sonnenuntergang betrachten, dem Geräusch der nahen Autobahn lauschen und den Menschen dabei zusehen, wie sie lachten, stritten, sich ignorierten, anschrien, liebten, lebten. Würde sich wie üblich nicht zugehörig fühlen und irgendwann zu ihrer Dreizimmerwohnung in der Holsteinischen Straße schlendern, duschen, einen weiteren Rotwein oder ein eiskaltes Bier öffnen und sich vor den Fernseher hauen. Vielleicht eine VHS einlegen. Vielleicht mal wieder Strictly Ballroom, dachte sie. Vielleicht aber auch …

»Liza?«

Sie öffnete die Augen.

»Da hat wat jepiept.« Jan nickte zu ihrer Handtasche. »Haste Bereitschaft, oder wat?«

»So sieht’s aus.« Liza fummelte ihren Pager aus der Tasche und betrachtete die angezeigte Nummer. Wie zu erwarten, handelte es sich um die der Einsatzzentrale. »Ich befürchte, unsere Sitzung und mein freies Wochenende sind gerade beendet worden.«

»Wat? Ick hab ja nich mal die Outline fertig.«

»Wie lange brauchst du noch dafür?«

»Keene Ahnung. Viertelstunde, zwanzig Minuten.«

»Okay, hau rein.«

Jan startete wieder die Maschine.

Liza schloss die Augen.

Nur noch die Outline der Lotusblüte, dachte sie. Etwas Schönes, Ästhetisches, bevor der Tod wieder mit Gewalt in mein Leben treten und mich zu hundert Prozent in Besitz nehmen wird.

***

Seit seiner Entlassung hatte er versucht, sie ausfindig zu machen.

Ohne Erfolg.

Sie war verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt.

Irgendwann hatte er es aufgegeben.

Und sie heute dennoch gefunden.

Anhand ihres Wagens. Ein weißer Porsche 911 3.0 SC Targa. Er kannte den Wagen, denn er war dabei gewesen, als er 1978 gekauft wurde.

Er war auf dem Weg zu seiner neuen Wohnung – zwei Zimmer, Küche, Bad, Balkon, fünfzehnter Stock – in der Obstallee gewesen, als ihm der Targa in der Pichelsdorfer aus der Heerstraße entgegengekommen war. Er fuhr rechts ran, ließ drei Autos vorbeiziehen und wendete.

Sie parkte den Porsche gegenüber dem Stechwerk, einem Tattoostudio. Er fuhr weiter, um sie nicht auf sich aufmerksam zu machen. Im Rückspiegel sah er, wie sie sich ihre Handtasche und eine Flasche Wasser vom Rücksitz griff, den Targa abschloss, die Pichelsdorfer Straße überquerte und das Tattoostudio betrat. Sie trug enge schwarze Jeans, weiße Turnschuhe und ein ärmelloses T-Shirt. Ihre Sonnenbrille hatte sie sich in die blonden Locken geschoben.

Das kann nicht sein, dachte er. So einen Zufall gibt es nicht. Nicht in einer Stadt wie Berlin.

Doch er wusste, dass sie es war. Diese wilden blonden Locken, die schwer zu bändigen waren und die sie schon damals gehabt hatte.

Wie alt war sie inzwischen? Zweiunddreißig? Dreiunddreißig? Wann hatte er sie das letzte Mal gesehen?

1977.

Da war sie zwölf gewesen.

Er suchte sich einen Parkplatz in der Nähe. Hatte den Eingang im Auge behalten und gewartet. Seit über zwei Stunden.

Er wischte sich mit einem Papiertaschentuch den Schweiß von der Stirn und aus dem Nacken. Alle Fensterscheiben des Toyota Corolla waren unten, was die Hitze nicht erträglicher machte. Er warf das Taschentuch aus dem Fenster. Sehnte sich nach einem Lufthauch, einer kleinen Abkühlung, nach einem Schluck kaltem Wasser. Sein Mund war staubtrocken, das Hemd klebte ihm am Körper. Er sah zum Kiosk, drei Häuser rechts des Tattoostudios. Wägte das Risiko ab. War kurz davor, es einzugehen, als sie aus dem Studio trat.

Ihr linker Unterarm war mit Frischhaltefolie umwickelt. Sie überquerte die Straße, schloss ihren Wagen auf, warf die Handtasche auf den Rücksitz, entriegelte das Targa-Dach und verstaute es hinter den Sitzen. Stieg ein, startete den Porsche, wartete eine Lücke im Verkehr ab, wendete auf der Pichelsdorfer und fuhr Richtung Heerstraße. Dabei kam sie an ihm vorbei, schien aber von seinem unscheinbaren grauen Corolla keine Notiz zu nehmen.

Er startete den Wagen, wendete ebenfalls und folgte ihr.

Das Wasser muss warten, dachte er. Das ist wichtiger. Wichtiger als alles andere.

Er musste herausfinden, wo sie wohnte. Damit er sie endlich bestrafen konnte.

Dafür, dass sie sein Leben zerstört hatte.

2 INTERCONTI

SELBSTMORD KÖNNEN WIR DEFINITIV AUSSCHLIEßEN

Gegen acht Uhr abends bog Liza am Ernst-Reuter-Platz in die Hardenbergstraße ein und direkt hinter dem Eingang zum Zoo nach links in die Budapester. Schon von Weitem konnte sie sehen, dass die Zufahrt des Interconti mit mehreren Streifenwagen, einem Leichenwagen und diversen Zivilfahrzeugen zugestellt war. Darunter ein weinroter Audi 100 Turbo, Mikes Lieblingswagen aus dem Fuhrpark des Präsidiums.

Zwei Beamte standen an der mit Flatterband abgesperrten Zufahrt, das die Gaffer und Journalisten auf Abstand hielt.

Katja Winter von der B. Z., Krämer von der BILD, Gebert von der Morgenpost.

An der Absperrung zeigte sie den Kollegen ihren Dienstausweis. Sie hielten ihr das Absperrband hoch. Liza fuhr darunter hindurch und kam hinter Mikes Wagen zum Stehen.

Im Foyer traf sie auf die Kollegen des Kriminaldauerdiensts, die mit dem Hotelpersonal und den Gästen redeten. Sie wandte sich an Achim Wohlfahrt, einen Mitarbeiter des KDD.

»Tatort?«

»Zweeter Stock«, antwortete er. »Zimmer zweihundertsiebzehn.«

»Firma dankt.« Liza lief zu den Aufzügen.

»KHK LeBon?«, rief Wohlfahrt ihr hinterher, wobei er ihren Nachnamen wie »Lebong« aussprach, obwohl er wusste, dass Lizas Nachname französisch war.

Lebo.

Liza blieb stehen und drehte sich zu ihm um.

»Nich wundern«, sagte er. »Über nüscht. Also in zweihundertsiebzehn. Kann man sich nicht ausdenken.«

Liza nickte und ging in den Aufzug.

Eulenstein und Mike kamen gerade aus dem Zimmer mit der Nummer 217, während sie sich Einweghandschuhe auszogen, als Liza aus dem Fahrstuhl trat.

Arne Großmann, ein Mitarbeiter der Kriminaltechnik im weißen Ganzkörperschutzanzug, war dabei, Fingerabdrücke vom Türgriff des Zimmers zu sichern. Eulenstein zückte seine Zigaretten und zündete sich eine an.

»Wie sieht’s aus?«, fragte Liza.

»Selbstmord können wir definitiv ausschließen.« Eulenstein zog an seiner Zigarette. Dabei warf er einen Blick auf Lizas in Frischhaltefolie eingewickelten Unterarm und die Outline der darunter durchschimmernden Lotusblüte. Er gab Mike die Zigarette, der einen Zug nahm.

»Handschuhe?«, fragte Liza.

Mike zog ein Paar aus der Gesäßtasche und reichte sie ihr.

Liza streifte sie über und wandte sich an Großmann. »Und?«

»Massig Fingerabdrücke«, sagte er. »Aber keine Einbruchspuren. Er muss seinen Mörder selbst reingelassen haben.«

Zusammen mit Mike, der Eulenstein die Zigarette in die Hand drückte, betrat Liza das Zimmer.

Robert Oberhard, der Leiter der Kriminaltechnik, ein schlaksiger Mann Anfang fünfzig mit wirren grauen Haaren, die unter der Kapuze seines weißen Ganzkörperschutzanzugs verborgen waren, klaubte mit einer Pinzette Fasern vom Boden. Ein jüngerer Kollege half ihm dabei.

Überall war Blut.

Liza sah zum Bett.

Noch mehr Blut.

Und inmitten des Bluts ein Mann.

Er war nackt, hatte ein Tribaltattoo auf dem rechten Oberarm und starrte mit toten Augen an die Decke. Seine Hände und Füße waren mit Handschellen, die mit rosafarbenem Plüsch ummantelt waren, an den Metallrahmen des Bettes gekettet.

Seine Kehle war durchgeschnitten.

Auf dem Brustkorb türmten sich seine Eingeweide.

In seinem Mund steckte etwas, von dem Liza nicht sagen konnte, worum es sich handelte.

Als ihr Blick zum Unterkörper des Mannes glitt, wusste sie es.

Dort wo seine Genitalien sein sollten, war – nichts. Nur eine formlose, rotbraune Masse, die sie an verfaultes Hackfleisch erinnerte.

Sie unterdrückte ihren Brechreiz und fokussierte sich. »Wissen wir schon, wer er ist?«

»Hartmut Kohler, siebenundzwanzig«, antwortete Mike. »Geschäftsmann aus Bielefeld. War offensichtlich wegen der Messe in der Stadt. Hatte von Donnerstag bis morgen gebucht. Mehr Details haben wir noch nicht.«

Liza sah zu Dr. Christiane Zielke vom Rechtsmedizinischen Institut in Moabit, die neben dem Bett stand und gerade ihren Mundschutz abnahm. Liza hatte schon öfter mit ihr zu tun gehabt, wusste aber weder ihr Alter – Liza schätzte sie auf Mitte vierzig – noch Details zu ihrem Werdegang. Was sie wusste: Die Frau wechselte Frisur und Haarfarbe einmal pro Monat. Mindestens. Aktuell hatte sie raspelkurze blondierte Haare.

»Doktor Zielke.«

»Hallo.« Die Ärztin machte wie üblich einen angepissten Eindruck.

»Todesursache?«

»Verblutet.« Sie klappte ihren Aluminiumkoffer zu. »Sehr wahrscheinlich aufgrund der Tatsache, dass ihm die Kehle durchgeschnitten wurde.«

»Nicht aufgrund der … Kastration?«, hakte Liza nach.

»Ich denke nicht.«

»Das heißt, er wurde erst kastriert, und danach hat der Mörder ihm die Kehle durchgeschnitten?«

»Davon gehe ich aus. Es hätte allerdings genügt, ihm die Weichteile abzuschneiden. Kein schöner Tod, klar. Verbluten dauert ewig. Wobei es so was wie einen ›schönen Tod‹ sowieso nicht gibt. Einen schnellen Tod, ja. Sprung von einem Hochhaus zum Beispiel. Das ist todsicher. Immer. Der Mörder hatte wohl nicht so viel Zeit und wollte auf Nummer sicher gehen.«

»Und das da?« Liza nickte zu den auf dem Bauch verteilten Eingeweiden des Toten.

»Sind seine.«

»Und das Teil in seinem Mund?«

»Schwanzus longus«, sagte die Ärztin, ohne zu lächeln. »Also seiner. Wobei longus nicht gerade zutrifft.«

Liza hielt die Luft an. »Was war die Tatwaffe?«

»Vermutlich ein Messer. Ob Küchenmesser, Rasiermesser, Taschenmesser …« Sie zuckte mit den Schultern.

»Todeszeitpunkt?«

»Irgendwann in der Nacht auf heute. Und eher gegen Mitternacht als gegen Sonnenaufgang.«

»Wieso wurde er erst heute Abend gefunden?«

»Das Nicht-stören-Schild hing seit gestern Nacht an der Tür«, sagte Mike.

»Ein Mitarbeiter des Hotels hat ihn gefunden«, sagte Eulenstein, der zu ihnen gestoßen war. »Das Opfer wollte heute um sechs an einen Termin erinnert werden, hat aber nicht auf die Anrufe oder Klopfen an der Tür reagiert, woraufhin der Hotelmanager die Tür hat öffnen lassen.«

»Was für einen Termin? Mit wem?«, wollte Liza wissen.

Eulenstein hob die Schultern.

Sie wandte sich an Oberhard. »Habt ihr ein Adressbuch oder einen Terminkalender gefunden?«

»Nein. Haben aber auch noch nicht danach gesucht.«

»Wir besorgen euch zwecks Abgleich die Fingerabdrücke aller Angestellten, auch derjenigen, die heute keinen Dienst hatten«, sagte Liza und sah zu Mike, der nickte. Dann wandte sie sich wieder an Oberhard. »Sonst noch was?«

»Im Bad«, entgegnete er. »Auf dem Spiegel.«

Liza wechselte mit Mike ins Bad. Sie starrten eine gefühlte Ewigkeit auf das, was mit Lippenstift auf den Spiegel geschrieben war.

Kio estas farita el amo, ĉiam okazas preter bono kaj malbono.

 

»Was ist das für eine Sprache?«, fragte Liza. »Spanisch?«

»Keine Ahnung«, antwortete Mike.

»Lass ein Foto machen, und versuch rauszufinden, was das heißt.«

Mike nickte und kehrte mit ihr in den Wohnraum des Hotelzimmers zurück.

Dr. Zielke griff sich gerade ihren Koffer. »Ich habe erst mal alles, was ich brauche. Schicken Sie mir die Leiche so schnell wie möglich, dann erhalten Sie zeitnah Ergebnisse. Selbst wenn mein Wochenende ein wenig anders geplant war.«

Nicht nur Ihres, dachte Liza.

»Danke, Doktor Zielke«, sagte sie.

Die Rechtsmedizinerin verließ das Zimmer.

»Wir brauchen eine Liste aller Telefonate, die das Opfer seit Donnerstag geführt hat. Mit Uhrzeit und Dauer des Gesprächs.«

Mike nickte.

»Gibt es Überwachungskameras? Auf den Fluren? Im Foyer?«

»Nein«, sagte Mike.

»Versuch, Geyer zu erreichen. Ich bin in einer Stunde im Büro.«

Mike stimmte zu und ging.

Liza betrachtete die pinkfarbenen Plüschhandschellen.

Weich und flauschig, dachte sie. Angenehm auf der Haut. Ein Mörder, der seinem Opfer die Weichteile abtrennt, den Bauch aufschlitzt und ihm die Kehle durchschneidet, macht sich die Mühe, Handschellen mit Plüsch zu besorgen? Das ergibt keinen Sinn. Ebenso wenig, dass er die Dinger auch noch am Tatort zurücklässt.

»Ich hab’s!« Eulenstein hielt einen lederbezogenen Organizer in der Hand. »War in der Schublade vom Nachttisch. Und alles noch da: Kreditkarten, EC-Karte, Kohle, Visitenkarten. Na ja, fast alles. Ein Kartenfach ist leer.«

»Die Karte haben wir auf dem Couchtisch gefunden«, meinte Oberhard. »American Express. Mit Resten einer weißen Substanz. Die konnten wir auch an dem Hundertmarkschein sichern, der daneben lag.«

»Koks?«, fragte Liza.

»Vermutlich.«

»Mit wem hätte er heute Abend einen Termin gehabt?«

»Warte«, Eulenstein blätterte durch den Kalender des Toten, »mit einem gewissen Jakob Riedl. Im Borchardt. Französische Straße siebenundvierzig in Mitte. Neunzehn Uhr.«

»Fahr da hin, und nimm ihn dir vor. Und besorg seine Fingerabdrücke. Falls er noch da ist.«

Eulenstein sah auf seine Uhr. »Es ist nach neun.«

»Einen Versuch ist es wert.«

***

»Ihm wurde die Kehle durchgeschnitten, und dann hat man ihn auch noch kastriert?« Dezernatsleiter Volker Geyer saß auf einem Stuhl, der von seinen hundertzwanzig Kilo auf eine harte Probe gestellt wurde, vor Lizas Schreibtisch.

»Umgekehrt.« Liza stand am Waschbecken ihres Büros in der Keithstraße, keine dreihundert Meter Luftlinie vom Tatort entfernt.

Mike rauchte am offenen Fenster.

»Bitte was?«, hakte Geyer nach.

»Laut Doktor Zielke wurde er erst kastriert.« Liza löste vorsichtig die Frischhaltefolie von ihrem Unterarm. Die Haut rund um die Outline war rot und geschwollen. An der Folie klebten Partikel schwarzer Farbe.

»Was, verdammt noch mal, ist das denn für eine Geschichte?«, fragte Geyer.

»Eine ziemlich ungute.« Liza wusch vorsichtig ihren Unterarm mit Wasser und ph-neutraler Seife.

»Und diese Nachricht auf dem Spiegel im Bad und das mit seinen Eingeweiden auf dem Brustkorb?« Geyer fuhr sich durch die dichten grauen Haare. »Hat das irgendwas zu bedeuten?«

»Zurzeit wissen wir nur, dass das Opfer in der Nacht von Freitag auf Samstag ermordet wurde, alles andere sind Spekulationen.« Liza trocknete den Unterarm mit Küchenpapier ab.

»Angehörige?«

»Seine Frau, Sonja Kohler. Wohnt in Bielefeld. Seine Eltern auch.«

»Kontaktieren Sie die Ehefrau und die Eltern. Und lassen Sie die Frau hier antanzen, falls nötig.«

Liza sah zu Mike, der nickte und seine Zigarette im Aschenbecher auf der Fensterbank ausdrückte.

Sie setzte sich Geyer gegenüber, der sich an seiner Kaffeetasse festklammerte und ins Leere starrte. Liza griff sich eine Tube Wundsalbe aus ihrer Handtasche und cremte den Unterarm ein.

Geyer schaute hoch. »Neu?«

»Von heute Nachmittag.«

»Aha«, sagte er. »Wie auch immer. Machen Sie eine Liste der Kollegen, die Sie ins Boot holen möchten. Ich versuche, so viele wie möglich zu bekommen. Und ich halte dem Team erst mal die Presse vom Leib. Der Fall wird Wellen schlagen. Stellen Sie sich schon mal darauf ein, dass wir im Fokus der Öffentlichkeit stehen werden und jeder unserer Fehler genüsslich von den Medien breitgetreten werden wird.«

»Das ist uns bewusst«, entgegnete Mike. »Deshalb werden wir so wenige wie möglich machen.«

»Hat hier irgendjemand zufällig Frischhaltefolie?«, fragte Liza. »Vielleicht Ihre Sekretärin?«

»Weiß ich nicht«, sagte Geyer.

»Könnten Sie mal nachfragen? Wäre echt klasse.«

Eulenstein streckte den Kopf ins Büro. »Staatsanwalt Hartmann ist da.«

»Ich bin sofort bei euch.«

»Wir brauchen Ergebnisse, Kriminalhauptkommissarin LeBon. So schnell wie möglich. Ich verlasse mich auf Sie.«

Liza nickte. Geyer walzte aus dem Büro.

Sie schloss die Augen. Auf ihrer Netzhaut tanzten Tausende Glühwürmchen Samba.

***

Die Worte von Staatsanwalt Oliver Hartmann, einem hageren Mann Mitte vierzig mit Nickelbrille und Dreitagebart, der während des zweistündigen Meetings permanent an seinem Kugelschreiber herumgenestelt hatte, spukten Liza im Kopf herum, als sie kurz nach elf Uhr nachts aus dem Polizeipräsidium trat und auf ihren Porsche Targa zuging.

»Wenn Sie mich fragen, ist der Mann ein Zufallsopfer und der Mord eine Inszenierung. Ein perverses Ritual. Unabhängig davon bin ich mir sicher, dass alles von A bis Z durchgeplant war. Es geht dem Mörder um Anerkennung, Aufmerksamkeit, Applaus. Er sieht sich als Künstler und sein Töten als Kunst. Ich befürchte, das war erst der Anfang.«

Liza hatte noch keine Theorie zum Mörder und seinem Motiv, weigerte sich aber, in Richtung Serientäter und Inszenierung zu denken. Ihrer Meinung nach waren das zu diesem Zeitpunkt nichts weiter als Spekulationen. Trotz der Botschaft auf dem Badezimmerspiegel im Hotel.

Sofern es eine war.

Hartmann hatte veranlasst, keine Details an die Presse weiterzugeben, um dem Mörder die mutmaßlich ersehnte Öffentlichkeit vorzuenthalten. Und dadurch die Aufmerksamkeit und Anerkennung.

Liza war so in Gedanken vertieft, dass sie die hübsche Frau mit den langen, glatten blonden Haaren, die auf der Motorhaube ihres Targa saß, erst wahrnahm, als sie fast davorstand.

»Guten Abend, Madame LeBon«, sagte die Frau lächelnd, wobei sie Lizas Nachnamen korrekt aussprach.

Liza verspannte sich. »Katja.« Sie schloss den Wagen auf.

Katja Winter von der B. Z. ließ sich von der Motorhaube des Porsche gleiten und folgte Liza zur Fahrertür. »Hatte gehofft, dich zu treffen. Vielleicht hast du ja ein paar News für mich. Eure Pressestelle ist nämlich leider nicht erreichbar.«

»Montag wieder.«

Katja betrachtete Lizas Unterarm. »Nettes Tattoo. Irgendwas Japanisches? So wie der Oberarm?«

»Wie gesagt, wende dich Montag an die Pressestelle.«

»Okay, hab’s kapiert, vergiss es.« Katja machte eine beschwichtigende Geste. »Ich wollte es eigentlich nur noch mal von dir bestätigt bekommen.«

»Bestätigt? Was genau?«, hakte Liza irritiert nach.

»Dass es sich bei dem Opfer um Hartmut Kohler handelt. Aus Bielefeld. Und dass er der stellvertretende Geschäftsführer von Behl Immobilien und Schwiegersohn von Walter Behl, dem Inhaber der Firma, war. Verheiratet mit dessen Tochter Sonja. Und dass er seit Donnerstag im Interconti übernachtet hatte. Geplante Abreise morgen.«

Sie wollte sich eine neue Zigarette anstecken, als Liza ihr ohne Vorwarnung den Arm auf den Rücken drückte und ihren Kopf auf das Dach des Porsche presste.

»Von wem weißt du das, verdammt?«

»Spinnst du? Lass mich los!«

»Wer hat dir das gesteckt?«

»Leck mich!«

»Nicht in diesem Leben.« Liza bog Katjas Arm weiter nach hinten, während sie mit der anderen Hand ihren Kopf fester auf das Wagendach drückte. »Wer ist dein Informant? Ein Angestellter des Hotels? Einer von uns?«

»Du weißt doch, wie das läuft«, sagte Katja keuchend. »Wenn ich meine Quellen preisgebe, bin ich erledigt.«

»Gib mir einen Namen, verdammt!«

»Lass mich los!«, zischte Katja. »Du bekommst von mir keinen Namen. Und wenn du vorhast, mir den Arm zu brechen, bist du erledigt!«

Liza ließ sie los. »Wenn ich in eurer Scheißzeitung den Namen des Toten lese, wird es hässlich. Für dich.«

»Du bist komplett durchgeknallt!«

»C’est vrai.«

Liza stieg in den Porsche und ließ Katja Winter stehen. Im Rückspiegel sah sie, dass Katja ihr fassungslos hinterherschaute und sich die schmerzende Schulter rieb.

3 HOLSTEINISCHE STRASSE

ODER WIE IMMER MAN MICH NENNEN MÖCHTE

Liza war auf der Martin-Luther-Straße nach Steglitz unterwegs. Konzentrierte sich ausschließlich auf die Tatsachen, um ihren Kopf freizubekommen, der zu implodieren drohte. Die Eskalation mit Katja Winter von der B. Z. hatte auch nicht gerade dazu beigetragen runterzukommen.

Fakt war: Es gab zu wenig Fakten. Selbst die Aussage eines Gastes, der Freitagnacht gegen ein Uhr gesehen haben wollte, wie eine Frau an der Tür des Zimmers mit der Nummer 217 geklopft hatte, war nicht hilfreich. Und die Beschreibung der Frau war schwammig.

Schulterlange blonde Haare, schwarzer Mantel, schwarze Stiefel.

Er habe sie angeblich nur von hinten gesehen und nicht mitbekommen, ob Kohler sie ins Zimmer gelassen habe. Selbst die Beobachtung einer Hotelangestellten am Empfangstresen, die gegen halb elf eine kleine, zierliche Frau mit dunklen Haaren und einem stylishen Pony bemerkt hatte, die zielstrebig auf den Aufzug zugegangen war, war nicht mehr als eine weitere Info. Angeblich trug die Frau eine braune Lederjacke, Rock und Cowboystiefel. Leider konnte die Rezeptionistin nicht sagen, ob und wann die Frau das Hotel wieder verlassen hatte, zumal sie die Unbekannte noch nie vorher im Hotel gesehen habe. Und nicht sagen konnte, welchen Gast sie besucht habe. Dass es sich um eine »Käufliche« handelte, wie die Angestellte es nannte, stand für sie außer Frage.

Liza bog auf der Suche nach einem Parkplatz von der Rheinstraße in die Saarstraße, dann rechts in die Fregestraße und noch einmal halb rechts in die Holsteinische Straße ab.

***

Kurz darauf bog auch er am Steuer seines Toyota Corolla in die Holsteinische ab.

Registrierte, dass Liza einen Parkplatz fand und einparkte.

Er fuhr weiter, beobachtete im Rückspiegel, wie sie den Porsche Targa abschloss und auf das Haus mit der Nummer 27 zuging.

Je te tiens, dachte er.

Jetzt musste er nur noch den richtigen Zeitpunkt abwarten, um sie zu konfrontieren.

Der Zeitpunkt würde kommen.

Eher früher als später.

Und dann würde sie büßen.

***

Als Liza auf ihr Wohnhaus zuging, stutzte sie.

Im Halbschatten auf den Treppenstufen zum Eingang saß rauchend eine Gestalt. Neben ihr eine Flasche Weißwein und eine Handtasche.

Instinktiv legte Liza die Rechte an die Dienstwaffe an ihrer Hüfte.

»Hey, Liza.«

Ihr Herz setzte einen Schlag aus.

Oder zwei.

»Jasmin?«

»Oder wie immer man mich nennen möchte«, sagte Jasmin kryptisch.

Sie trug ein schwarzes Kleid mit Spaghettiträgern und Turnschuhe. Sie sah umwerfend aus mit ihren langen schwarzen Haaren und ihren Modelmaßen.

Eine Schönheit, nicht von dieser Welt.

Une beauté naturelle.

Immer noch.

»Was machst du hier?«

»Ich habe auf dich gewartet«, antwortete Jasmin. »Darf ich reinkommen?«

»Hör zu, ich hatte einen langen, stressigen Tag und ich …«

»Dauert nicht lang«, unterbrach Jasmin sie. »Ist das echt zu viel verlangt?« Bevor Liza antworten konnte, schob sie die Antwort direkt hinterher. »Ich denke nicht.«

Liza schloss für einen Moment die Augen.

»Okay«, sagte sie schließlich.

***

Eulenstein saß auf dem Beifahrersitz von Mikes Privatwagen, einem schwarzen 3er BMW, und nahm einen Schluck aus seiner Bierdose.

»Kann man eigentlich rausfinden, ob das Opfer kurz vor seinem Tod gefickt hat?«, fragte er. »Ich meine, so ganz ohne Schwanz.«

Mike warf seinem Partner und Mitbewohner einen skeptischen Seitenblick zu.

Eulenstein gackerte los. »Scherz.«

»Schon klar«, sagte Mike.

Eulenstein trank die Dose aus und sah auf die Uhr im Armaturenbrett. 00:15 Uhr.

»Lass uns noch irgendwohin.« Er ließ die Seitenscheibe runter und warf die leere Dose raus. »Ich brauch jetzt ein bisschen Ablenkung.«

»Wird ’n harter Tag morgen.«

»Jetzt ist jetzt.« Eulenstein zuckte mit den Schultern.

»Irgend ’ne Idee?«

»Table Dance.«

»O Mann.«

»Komm schon, Alter«, sagte Eulenstein. »Nur ein, zwei Drinks.«

»Die wir dann als Spesen absetzen können?«

»Versuchen können wir’s ja. Recherche.«

Mike seufzte.

»Übernächste rechts. Trautenau. Hab nur Gutes gehört von dem Laden. Und ich kenn den Besitzer.«

»Überraschung.«

»Ja, ne?«, lachte Eulenstein und boxte ihn gegen den Oberarm.

***

Nachdem Liza ihre Dienstwaffe im Safe weggeschlossen hatte, der sich im Kleiderschrank im Schlafzimmer befand, in der linken Ecke, versteckt hinter einer Plastikbox mit Socken, stand sie am Kühlschrank und goss sich einen Rotwein ein. Jasmin saß am Küchentisch und starrte gedankenverloren ins Nichts.

Hängende Mundwinkel, hängende Schultern, in sich zusammengesunken, schlaff wie ein nasser Sack.

Jasmin hatte schon immer eine unfassbar schlechte Körperspannung gehabt, was vermutlich auch der Grund dafür gewesen war, warum sie es damals nicht als Model geschafft hatte. Liza glaubte, dass Jasmins äußere Haltung auf ihre innere zurückzuführen war.

Sie hatte nämlich keine.

Außer der, dass sich die Welt gegen sie verschworen hatte und sie das unschuldige Opfer war, das nichts weiter tun konnte, als sich in sein Schicksal zu fügen.

»Auch wenn wir uns schon fast ein Jahr lang nicht gesehen haben, du kennst mich ja nicht erst seit gestern, Liza«, sagte Jasmin, ohne sie anzusehen.

Kennengelernt hatten sie sich 1987 im Sound in der Genthiner Straße. Jasmin war wie Liza ein Einzelkind. Tochter eines Managers bei Siemens in Spandau. Sie lebte mit ihren Eltern in einer Villa in Zehlendorf. Mit Blick auf den Wannsee.

Irgendwie hatte Jasmin damals einen Narren an Liza gefressen.

Das alte Klischee, das kein Klischee war: Jasmin hatte alles Geld der Welt, aber keine Liebe, keine Freunde, keine Clique. Sie suchte Anschluss und lud an dem Abend im Sound Liza und ihre damaligen WG-Mitbewohner ein. Es floss eine Menge Alkohol in der Nacht. Sie und Jasmin verbrachten den Sommer von 1987 in der Villa von Jasmins Eltern und in Rockläden wie dem Trash in Kreuzberg, dem Rock it in Neukölln und dem Surprise in Steglitz. Jasmin hatte immer Drogen am Start, meistens Koks, aber auch Speed und Gras. Für Liza war das Neuland, aber sie war einfach zu neugierig – mit Betonung auf »gierig« –, um Nein zu sagen.

Liza setzte sich mit ihrem Rotweinglas am Küchentisch Jasmin gegenüber.

»Du weißt, dass ich keine Frau bin, die ständig rumjammert, hadert oder sich beschwert«, sagte Jasmin. »Ob über die Umstände, meine Situation oder meine Vergangenheit. Und dass die schlimm war, weißt du ja.«

Nein, weiß ich nicht, dachte Liza.

Jasmin hatte darüber immer nur kryptische Andeutungen gemacht und nie erzählt, was genau ihr zugestoßen war.

Sie waren zwei Jahre beste Freundinnen gewesen, dann war irgendwie alles gekippt. Liza konnte sich nicht mehr erinnern, warum. Und ob es einen Auslöser oder einen Anlass dafür gegeben hatte. In der Rückschau war ihre Freundschaft einfach »ausgelaufen«. Es hatte keinen großen Knall gegeben, der Kontakt war einfach irgendwann abgebrochen.

Danach hatte Liza den Drogen abgeschworen, sich ausschließlich ihrem Studium der Politikwissenschaften an der FU gewidmet und irgendwann ihren Abschluss gemacht. Und sich danach bei der Polizei beworben. Seitdem war sie mehrfach umgezogen und hatte Jasmin vergessen.

»Egal. Warum ich dich heute unbedingt sehen musste …« Jasmin sah Liza an.

In ihrem Blick eine Traurigkeit, die Liza nicht ernst nehmen konnte. Jasmin spielte wie üblich eine Rolle.

Ihre Lieblingsrolle: die des geprügelten Hundes.

Und wie in einem Drehbuch wandte sie den Blick sofort wieder ab.

Als hätte sie ihren Auftritt in Lizas Küche im Vorfeld schon detailliert geplottet.

Letztes Jahr hatten sie sich zufällig wieder getroffen. Am Ku’damm. Jasmin war aufgedreht, drüber, hysterisch. Freute sich offensichtlich den Arsch ab, dass sie Liza begegnet war. Lizas Freude hielt sich in Grenzen. Trotzdem ließ sie sich breitschlagen, zusammen mit Jasmin einen Kaffee zu trinken.

Und hatte es danach bereut.

Zwei vergeudete Stunden, in denen Jasmin durchgehend erzählte. Ausschließlich von ihr. Ihrem Leben nach dem Tod ihres Vaters, dem Verkauf der Villa, ihrer neuen Luxuseigentumswohnung in Spandau, ihren Erkenntnissen, die sie im letzten halben Jahr gewonnen habe, ihrer Entwicklung und dass sie inzwischen viel besser verstehe, wohin ihr Weg sie führen würde, dass sie glücklich sei, endlich verstanden zu haben, was bis jetzt in ihrem Leben falsch gelaufen sei.

Sie behandelte Liza, als wäre sie ihre Therapeutin/Schwester/Mutter/Vertraute/Liebhaberin.

Ihr partner in crime.

Und Liza kam nicht einmal zu Wort. Trotzdem tauschte sie mit ihr Nummern und Adressen. Hatte aber nie auf ihre Anrufe und Nachrichten auf dem Anrufbeantworter reagiert. Dass Jasmin heute Abend auf den Stufen vor ihrem Wohnhaus gesessen hatte, schockierte sie. Sie hätte niemals so eine Aktion gebracht. Weder bei einem Ex-Freund, der sie verlassen hatte, und schon gar nicht bei einer alten Freundin, mit der sie nichts verband.

Außer der Tatsache, dass sie vor zehn Jahren für eine kurze Zeit mal beste Freundinnen gewesen waren.

»Es ist etwas passiert, das alles ändert«, sagte Jasmin. »Alles. Und nicht nur für mich.«

Geht es vielleicht noch ein bisschen unkonkreter?, dachte Liza.

»Die letzten Tage … Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll, wie ich das alles in Worte fassen soll.«

Dann lass es, dachte Liza und nahm einen Schluck Wein, während sie angestrengt versuchte, eine Ich-hör-dir-zu-und-bin-ganz-bei-dir-Mimik beizubehalten. Gleichzeitig ahnte sie, dass ihr das nicht gelingen würde. Ihre Gedanken waren woanders.

»Ich … ich habe das Gefühl, mir wächst gerade alles über den Kopf«, redete Jasmin stockend weiter. Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll. Ich glaube, ich stehe an einer Schwelle. Nein, falsch«, korrigierte sie sich, »ich habe diese Schwelle schon überschritten.«

Sie beginnt jeden Satz mit »Ich«, dachte Liza. Unfassbar.