Arsen und Spargelspitzen - Mathias Aicher - E-Book
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Arsen und Spargelspitzen E-Book

Mathias Aicher

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Beschreibung

Von Speyer über Schwetzingen bis nach Heidelberg: 19 renommierte Krimiautorinnen und -autoren ziehen eine tödliche Spur durch die Kurpfalz. Schwetzingen. Sommerresidenz der Kurfürsten, kulturelles Kleinod zwischen Rhein und Neckar. Doch hinter den pittoresken Kulissen von Schloss, Marstall und Palais Hirsch wird gemordet, was das Zeug hält. Und auch das Umland wird nicht verschont. Begegnen Sie Giftmörderinnen und blutrünstigen Haushaltsgeräten; lernen Sie, wie es sich geschickt mit der Farbe Blau töten lässt und warum Kunstfälschung mörderisch enden kann. Das Rezeptbuch für den gepflegten Mord zur CRIMINALE 2025. Mit Beiträgen von Mathias Aicher, Isabella Archan, Dieter Aurass, Marlene Bach, Franziska Franz, Gina Greifenstein, Jürgen Heimbach, Kathrin Heinrichs, Franziska Henze, Uwe Ittensohn, Arnold Küsters, Paul Lascaux, Sunil Mann, Til Petersen, René Pöltl, Moni Reinsch, Claudia Schmid, Tina Seel, Jennifer B. Wind.

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Seitenzahl: 432

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Dieses Buch enthält fiktive Geschichten. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2025 Emons Verlag GmbH

Cäcilienstraße 48, 50667 Köln

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Nadine Buranaseda, typo18, Bornheim

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-236-9

Kriminelles aus Schwetzingen und der Kurpfalz

Originalausgabe

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Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß §44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

Kriminalschriftsteller sehen sich durch ihren garstigen Beruf genötigt, ebenso erschreckende wie unerfreuliche Vorfälle und Menschen zu ersinnen.

Inhalt

Vorwort

Franziska HenzeAlles gut

Paul LascauxDie blaue Stunde

Marlene BachSchneckenalarm

Til PetersenIch bin tot

Jürgen HeimbachDer Geruch von Erde

Tina SeelWu wei

Gina GreifensteinEin Koch verdirbt den Brei

Sunil MannIm Kreis der Familie

Uwe IttensohnDomkaninchen

Isabella ArchanDer Duft von Pils und Klunkern

René PöltlSchwetzinger Meisterschuss

Moni ReinschIn tiefer Trauer

Dieter AurassSeelentöter

Claudia SchmidBrühl sehen und sterben

Jennifer B. WindDein letzter Tanz

Mathias AicherDie Auserzähler

Franziska FranzDer Wille des Herrn

Arnold KüstersSchrecken im Schloss

Kathrin HeinrichsMieses Bauchgefühl

Die Autorinnen und Autoren

Die Herausgeberin und der Herausgeber

Vorwort

Franziska Henze

Alles gut

Es gibt Tage im Jahr, die hasst sie mehr als die anderen. Weihnachten, Silvester, Ostern, den letzten Schultag vor den Sommerferien. Heute ist wieder so ein Tag. Sie wird mit ihren Mitschülern in dem stickigen Klassenraum darauf warten, dass Herr Krull sie einzeln nach vorne beordert, die Zeugnisse aushändigt und einen schönen Sommer wünscht. Emma will nicht daran denken. Nicht daran, dass sie die nächsten sechs Wochen mit ihrem Vater in der Wohnung hocken wird, während alle anderen verreisen. Auch nicht an ihr Zeugnis. Sie weiß von der Fünf in Mathe. In Englisch ist sie ebenfalls eine Niete. »Ich muss dringend deinen Vater sprechen, er soll in meine Sprechstunde kommen«, hat Herr Krull letzte Woche gesagt und einen Termin in ihr Mitteilungsheft geschrieben. »Bin leider verhindert«, hat sie mit der flüchtigen Handschrift ihres Vaters geantwortet, mit der sie alle Rechnungen, Briefe und Verträge unterzeichnet.

Heute ist also der letzte Schultag, und selbst ihr Vater weiß, dass sie das Zeugnis im Ranzen haben wird. Das interessiert ihn, obwohl er sich sonst nicht für sie interessiert. Aus seiner Prinzessin soll etwas Großes werden.

Sie rührt in ihrer Müslischale, in der sich die Cornflakes mit dem Milch-Wasser-Gemisch zu einem klebrigen, pappigen Brei verbunden haben, und schiebt sich das Zeug in den Mund, bis die Schale leer ist. Von nebenan dringt lautes Schnarchen zu ihr, unregelmäßig unterbrochen von dem schnappenden Geräusch, das ihr Vater macht, wenn er nach Luft saugt.

Emma geht ins Wohnzimmer. Dort liegt ihr Vater wie immer auf dem Sofa. Dicke Speichelfäden hängen aus seinem Mundwinkel. Die Flasche Doppelkorn, die auf dem Fußboden liegt, ist leer. In der Bacardi-Flasche daneben sind noch drei Fingerbreit Schnaps. Er muss in sein allabendliches Koma gefallen sein, bevor er sich darum kümmern konnte. Immerhin hat er es diesmal geschafft, den Fernseher auszuschalten. Emma trägt die Flaschen in die Küche, gießt den Rest Bacardi in den Ausguss, packt die Flaschen in eine ALDI-Tüte und stellt sie neben ihre Schultasche an die Tür.

»Nicht doch, Gaby, nein, geh nicht weg!«, schreit ihr Vater den Namen ihrer Mutter aus dem Wohnzimmer, es folgt lautes Wehklagen.

Emma füllt ein Glas mit Leitungswasser und kehrt zu ihm ins Wohnzimmer zurück. Sie beugt sich über ihn, streicht ihm sachte über die Wange. »Pst, leise, Papa.«

Benommen rappelt er sich auf, streckt sich. Die Haare kleben an der verschwitzten Stirn, und seine persönliche Geruchsmischung aus ungewaschen, Schweiß, Alkohol und Tabak strömt ihr entgegen. Sie hat Übung darin, den Gestank wegzudenken, damit ihr Essen drinbleibt.

»Alles gut?«, fragt der Vater wie ein Kleinkind.

»Ja, alles gut, Papa. Ich muss zur Schule. Im Kühlschrank sind noch Nudeln von gestern und Salami. Bis nachher. Und bitte mach nicht so einen Krach. Denk an die Nachbarn.«

»Was würde ich nur tun, wenn ich dich nicht hätte!« Er heult nun. »Du bist mein einziges Glück, ohne dich läge ich längst neben deiner Mutter unter der Erde.« Er tätschelt ihre Hand. »Du musst immer schön brav sein, Prinzessin, dann ist alles gut.« Er lässt sie los, seine Finger tasten weiter Richtung Fußboden. »Emma, wo ist sie? Ich weiß ja, dass die Flasche …«

Hastig huscht Emma aus dem Raum, greift Schultasche und ALDI-Tüte und verlässt die Wohnung. Nein, es ist nicht alles gut. Es wird auch nie wieder alles gut sein. Weil sie zum ersten Schulausflug unbedingt einen Bauernzopf haben wollte, hat sich ihre Mutter viel zu spät auf ihr Fahrrad gesetzt, um zur Arbeit zu fahren. Der Unfall, der sie Minuten später tötete, zerschnitt ihr aller Leben in ein Vorher und ein Nachher, nur dass sich Emma vier Jahre später kaum noch an das Vorher erinnert.

Emma steigt die steinerne Treppe hinab, ihre Zehen berühren die kalten Stufen, die Sandalen sind längst zu klein. In der Tüte klirren die beiden Flaschen bei jedem Schritt aneinander. Die Wohnungstür in der ersten Etage öffnet sich lautlos. Die Brodbeck steht plötzlich wie ein grauhaariger Geist direkt neben ihr, reißt ihr die Einkaufstüte aus der Hand und starrt hinein.

»Dein Säufervater ist eine Schande für dieses Haus. Ständig schreit oder jammert er rum, und aus eurer Wohnung stinkt es bis in die nächste Etage! Als ich ihn gestern an die Kehrwoche erinnert habe, ist er mir fast an die Gurgel gegangen. Und nun schickt er sein Kind los, die Flaschen entsorgen. Man sollte dem endlich ein Ende setzen. Das Jugendamt wartet nur auf solche Hinweise.«

»Lassen Sie mich!« Mit einem kräftigen Ruck zieht Emma die Tüte zurück an sich, springt die letzten Treppenstufen hinunter bis ins Freie.

»Säuferbalg!«, schallt es ihr wütend hinterher.

»Die Brodbeck ist die Pest«, sagt ihr Vater immer, »der müsste man mal rechts und links ein paar mitgeben.« Auch mit den anderen Nachbarn zankt sie regelmäßig, das weiß Emma. Erst vergangene Woche wollte sie den Kinderwagen der Familie Pohl, der unten im Treppenhaus stand, zum Sperrmüll stellen, das Ding gehöre schließlich in den Fahrradkeller.

Sechs Stunden später tritt Emma aus dem Schulhaus in die Sonne. Das Wetter ist zu schön für diesen beschissenen Tag. Ihr Zeugnis steckt in der Postmappe, die hinten in ihrem Ranzen klemmt. »Wird nicht versetzt nach Klasse sechs«, steht ganz unten auf dem Papier. Zweimal hat sie es gelesen. Sie ist eine Versagerin. So kann sie nicht nach Hause gehen! Wenn ihr Vater das Zeugnis sieht, wird er ausrasten. Erst wird er sie anschreien, wie das passieren konnte – sitzen geblieben, seine Prinzessin! –, und dann wird er unter lautem Geheule eine weitere Flasche leeren. Die Brodbeck wird noch heute das Jugendamt anrufen. Eine Träne piekt in ihrem Augenwinkel. Sie will nicht weggeholt werden.

»Tschüss, Emma, schöne Ferien!«, ruft Maria ihr zu und fliegt der Mutter in die Arme, die am Schultor wartet.

»Zur Feier des Tages gehen wir ins Restaurant ›Blaues Loch‹, wir müssen doch auf dein Zeugnis anstoßen. Papa und Niklas kommen auch hin«, sagt Marias Mutter und legt den Arm um ihr Kind. »Ich trag deine Schultasche.«

Lachend verschwinden sie. Emma schaut ihnen nach. Ob ihre Mutter sie von der Schule abgeholt hätte? Emma fällt es schwer, sich das vorzustellen. Sie erinnert sich kaum daran, wie sie aussah, der Vater hat alle Fotos versteckt, damit es nicht so wehtut. Wenn sie nur nicht um den Zopf gebeten hätte! Wenn ihre Mutter nur eine Minute später losgefahren wäre, dann wäre alles gut. Ihr Vater würde jeden Morgen ins Büro gehen, und Mama würde Englischvokabeln abfragen oder ihr bei Mathe helfen. Wenn sie damals nicht dafür gesorgt hätte, dass sich ihre Mutter verspätet, hätte sie heute ein gutes Zeugnis. Sicher wären sie auch in dieses Restaurant gegangen. »Blaues Loch«. Lustiger Name.

Einmal war sie dort, kurz nach der Einschulung. Eine Freundin von Mama hat dort Hochzeit gefeiert, und Emma, die gemeinsam mit einem anderen Kind Blumen gestreut hat, durfte bei dem anschließenden Empfang im Biergarten dabei sein. Wunderschön hat sie sich in dem weißen Kleid gefühlt und sich später vorgestellt, wie es wäre, wenn sie dort irgendwann ihren Traumprinzen heiraten und im Schloss leben würde.

Wie selbstverständlich tragen ihre Füße sie weiter, durch den Schlossgarten, plötzlich steht sie vor dem Restaurant. Sie merkt, dass sie durstig ist, die Zunge klebt am Gaumen wie Esspapier. Emma kramt in ihrer Hosentasche, aber das Einzige, was sie zutage fördert, sind fünfzig Cent. Sie beschließt, sich hineinzuschleichen, um auf der Toilette einen Schluck Wasser zu trinken.

Während sie sich unter den Wasserhahn beugt, öffnet sich die Tür in ihrem Rücken.

»Emma!« Maria steht hinter ihr und umarmt sie. »Bist du auch mit deinem Papa hier?«

Emma richtet sich auf, streicht sich nervös über die kurzen Haare.

»Nein, der muss arbeiten.« Eine Lüge. Wie immer.

»Komm doch mit zu uns, meine Mutter freut sich, wenn du dabei bist.« Maria fasst unter Emmas Arm, zieht sie mit sich.

Es dämmert bereits, als sich Emma auf den Heimweg macht. Sie hat einen Tag ohne Schimpfe rausgeschunden, um diese Zeit wird ihr Vater bereits auf dem Sofa schnarchen, eine Flasche im Arm, im Fernseher Kabel Eins oder RTL2, Krankenhausserie oder Polizeidoku. Sie hält das Alupäckchen mit dem Stück Schnitzel, das sie für ihn aufgehoben hat, zwischen den Fingern wie ein Geschenk. Was für ein herrlicher Nachmittag war das! Marias Mutter hat ihr eine Cola und etwas zu essen bestellt, und während sie warteten, spielten Niklas, Maria und sie Ich-sehe-was-was-du-nicht-siehst. Dann kam Marias Vater, er hatte sich extra freigenommen. So ist das also in einer Familie. Für einen Moment fragte sich Emma, wie es wohl wäre, wenn sie zu Marias Familie gehören würde, und schämte sich sofort für diesen Gedanken.

Wie auf Kommando springen die Straßenlaternen an. Ihr Vater sagt, sie soll im Dunkeln nicht allein draußen herumlaufen. Autofahrer könnten sie leicht übersehen, außerdem kriechen nachts die Seltsamen aus ihren Löchern. Wer die Seltsamen sind, von denen er immer spricht, hat sich Emma nie zu fragen getraut.

Als sie in ihre Straße einbiegt, sieht sie Lichter. Blau, flackernd, leuchtend. Ihre Schritte werden schneller. Rettungswagen und Polizei. Direkt vor ihrem Haus. Was, wenn etwas mit ihrem Vater ist? Sie muss an ihre Mama denken, rennt jetzt.

Die Haustür ist offen, ein breitschultriger Polizeibeamter steht im Eingang des hell erleuchteten Treppenhauses und studiert die Klingelschilder. Zwei Sanitäter schleppen eine Krankentrage treppab. Die Brodbeck liegt angeschnallt darauf, ihre Gesichtsfarbe ist so grau wie der Steinfußboden. Das Kittelkleid, das sie schon am Morgen trug, ist dunkelrot durchtränkt, die nackten Arme sind blutverschmiert. Sie rührt sich nicht. Sieht so eine Tote aus? Doch da ist diese Sauerstoffmaske über dem Gesicht und neben ihrem knorrigen Körper so eine Plastikflasche mit einem Schlauch dran, wie Emma es von »Grey’s Anatomy« kennt.

Der Polizeibeamte wendet sich einem Mann in orangefarbener Jacke mit der Aufschrift »Notarzt« zu, der mit schweren Stiefeln die Treppe hinabsteigt. »Wird sie überleben?«

»Es sieht schlimmer aus, als es ist. Sie hat zwar einiges an Blut verloren, der Täter hat mehrfach mit einem Messer auf sie eingestochen, aber dem ersten Anschein nach sind keine lebenswichtigen Organe verletzt. Wir bringen sie ins GRN, direkt in den OP.«

»Hat sie irgendetwas gesagt? Wer ihr das angetan hat?«

Gespannt lauscht Emma dem Gespräch.

Der Notarzt schüttelt den Kopf. »Und ehe ihr auf dumme Gedanken kommt: Eine Befragung der Patientin ist frühestens morgen möglich.«

Er folgt den Sanitätern zum Rettungswagen, zieht schwungvoll die Tür hinter sich zu. Mit Blaulicht setzt sich das Fahrzeug in Bewegung.

Der Polizist sieht ihnen nach, entdeckt Emma. »Wer bist du denn?«

»Ich … ich …«, stottert sie, »ich wohne hier. Zweite Etage links.«

»Warst du vor einer halben Stunde auch da? Hast du etwas gesehen?«

»Nein, ich war bei einer Freundin zum Essen eingeladen. Letzter Schultag«, sagt Emma, als wäre damit alles erklärt.

»Schon ganz schön spät«, brummt der Mann, »dann mal ab ins Bett.«

Emma nickt und steigt, ohne sich noch einmal umzudrehen, die Stufen hinauf. In der ersten Etage steht die Wohnungstür der Brodbeck offen. Ein riesiger Fleck auf dem Boden glänzt rostrot im Schein der Deckenlampe, auch die Fußmatte ist durchweicht, das »Willkommen« darauf ist nur noch für denjenigen zu erkennen, der es vorher schon gelesen hat. Bei der Brodbeck war es sowieso nie ernst gemeint. Aus dem Augenwinkel sieht Emma einen Mann in einem weißen Overall, der im Wohnungsflur Fotos von weiteren Blutflecken macht. Das ist ja wie im Fernsehen! Wenn ihr Vater wüsste, was hier los ist! Sie rennt die letzten Stufen hinauf, zieht den Schlüsselbund vom Karabiner und schließt auf. Die Schultasche lässt sie im Flur fallen.

»Papa, hast du mitbekommen, was passiert ist? Jemand hat die Brodbeck mit einem Messer verletzt!«, presst sie aufgeregt hervor.

Erst jetzt realisiert sie die Stille. Kein Fernseher, kein Schnarchen. Was, wenn ihm etwas passiert ist? Schon einmal verschluckte er sich im Liegen an einem Keks, bekam keine Luft mehr, wenn Emma ihn nicht rechtzeitig aufgesetzt und auf seinen Rücken geklopft hätte … Warum nur ist sie heute so lange fortgeblieben? Sie hat einen schönen Nachmittag gehabt und ihn vollkommen vergessen. Noch immer das Alupäckchen mit dem Schnitzel in der Hand, läuft sie zum Wohnzimmer, öffnet mit zitternden Fingern die Tür.

»Papa?«, ruft sie.

Keine Antwort. Der Raum ist leer, ebenso wie das Bad und sein Schlafzimmer. Vielleicht ist er in der Kneipe? Da ist er manchmal, wenn er seine Vorräte leer getrunken hat. Sie seufzt. Dann muss sie das leckere Schnitzel für ihn eben in den Kühlschrank legen. Sie stößt die Tür zur Küche auf, drückt auf den Lichtschalter. Im selben Moment, in dem das Licht angeht, sacken ihre Knie unter ihr weg, das Schnitzelpäckchen fällt auf den Boden, sie fällt daneben. Ihre Ohren dröhnen, obwohl es so still ist.

Als sie wieder Gefühl in den Beinen hat, rappelt sie sich auf. Sie kann nicht hinsehen und muss es doch. Das große Fleischmesser liegt in der Spüle. Klinge und Griff sind blutverschmiert. Daneben ein Geschirrtuch, ein Pinguin ist darauf, sie haben vor ein paar Wochen in der Schule Siebdruck gemacht, »da habt ihr ein schönes Geschenk für die Mama zum Muttertag«. Auch das Tuch ist voller Blut, die Brust des Pinguins leuchtet feuerrot. Auf der Küchenablage entdeckt sie blutige Fingerabdrücke.

Tränen rinnen ihre Wangen hinab. Sie hat die Bilder des Abends deutlich vor Augen. Wie die Brodbeck wieder einmal an der Wohnungstür Sturm klingelt und ihren Vater durch die geschlossene Tür beschimpft. Ihn Säufer nennt, so laut, dass es im ganzen Haus zu hören ist. Sie werde das Jugendamt anrufen, damit die Emma holen und ins Kinderheim stecken. Wie ihr Vater wartet, bis sie verschwunden ist, das Messer nimmt und die Stiege zur Brodbeck hinabsteigt. Wie er klingelt und zusticht, sobald die Brodbeck öffnet, damit sie ein für alle Mal die Klappe hält.

Wenn die Polizei das herausfindet, werden sie ihren Vater ins Gefängnis stecken. Das dürfen sie nicht! Niemand darf sie trennen. Wenn er Emma nicht hat, wen hat er dann noch? Hastig umwickelt Emma das blutige Messer mit dem Geschirrtuch, nimmt den fusseligen gelben Spülschwamm, wischt die Ablage sauber und packt alles zusammen in den Müllbeutel unter der Spüle. Vorsichtig späht sie aus dem Fenster. Polizei und Rettungswagen sind weg.

Sie macht kein Licht an, als sie, den Müllbeutel fest an sich gepresst, im Treppenhaus nach unten steigt. Die Straßen sind menschenleer. Immer wieder biegt sie ab, schlägt Haken, bis sie den Beutel vor einem großen Wohnblock in eine Mülltonne wirft. Nun muss sie ihren Vater finden und mit ihm besprechen, was zu tun ist, damit alles gut wird. Auf keinen Fall darf er zur Polizei gehen und denen sagen, was er getan hat.

Seine Stammkneipe ist ein paar Straßenzüge entfernt. Erst letzte Woche holte sie ihn dort ab, als er abends nicht heimkam. Er hatte sein Glas gehoben, dem Wirt zugenickt – »Klaus, schau, das ist meine Prinzessin, mein ganzer Stolz, ich trink auf dich, Prinzessin!« – und alles in einem Zug heruntergekippt. Fast wäre sie auf dem Nachhauseweg unter seinem Gewicht zusammengebrochen, so sehr hat er sich abgestützt, aber schließlich schafften sie es. Am nächsten Morgen weinte er. Schwor, nie wieder zu trinken. Das Versprechen hielt nur bis zum Abend.

Das Wirtshaus ist schlecht besucht. Eine Gruppe Männer hockt um einen runden Tisch in der Ecke, mitten im Raum sitzen ein paar Rentner und spielen Karten, ansonsten keine Gäste.

»Hallo, Prinzessin«, der Wirt beugt sich über den Tresen zu ihr, »dein Vater ist nicht hier. Willst du eine Cola?«

Emma rennt raus, ohne zu antworten. Wo kann er sonst stecken? Zwei weitere Kneipen kommen ihr in den Sinn, obwohl er zuletzt nur hier oder auf dem heimischen Sofa getrunken hat. Die erste ist wegen Renovierung geschlossen, in der zweiten ist er auch nicht. Mit keuchendem Atem lässt sie sich auf eine Parkbank fallen, vergräbt das Gesicht in den Händen. Morgen wollen die Polizisten die Brodbeck befragen. Die wird ihnen erzählen, dass Emmas Vater ein gemeingefährlicher Messerstecher ist. Die Polizei wird ihn einsperren und Emma ins Kinderheim stecken. Sie hat so was neulich erst in einer RTL2-Doku gesehen.

Emmas Herz wird schwer, wenn sie daran denkt. Warum, verdammt, hat sie den Nachmittag mit Maria und ihrer Familie im Restaurant verbracht? Wenn sie direkt im Anschluss an die Schule nach Hause gegangen wäre, wäre das alles nicht passiert. Wenn sie sich getraut hätte, ihrem Vater mit dem Zeugnis unter die Augen zu treten, wäre das alles nicht passiert. Wenn sie keinen Zopf hätte haben wollen, wäre das alles nicht passiert. Es ist immer ihre Schuld.

Wenn sie jetzt nicht handelt, geht alles den Bach hinunter.

Sie springt auf.

Die meisten Fenster des hellgrauen Kastens sind schon dunkel, doch der breite Eingang des Krankenhauses ist gut beleuchtet. Am Empfang sitzt ein weißhaariger Mann mit Schnauzbart über eine Zeitung gebeugt. Er nimmt keine Notiz von Emma. Unsicher blickt sie sich um. Wohin nun?

Die Fahrstuhltür geht auf, ein Arzt tritt heraus, und Emma kann ihr Glück kaum fassen. Im Fahrstuhl ist noch jemand: Ein schmaler Krankenpfleger in hellblauem Kittel steht am Ende eines Krankenbetts. Darin liegt die Brodbeck, die Decke bis unters Kinn gezogen. Sie sieht aus, als würde sie schlafen. Die Fahrstuhltüren schließen sich wieder. Gebannt starrt Emma auf die Anzeige. Der Lift stoppt in der dritten Etage. Mehrere Stufen auf einmal nehmend, rennt sie die Treppen hoch, sieht gerade noch, wie der Mann das Krankenbett in ein Zimmer schiebt. Die Tür lässt er offen. Emma versteckt sich hinter einem Wäschewagen.

»So, Frau Brodbeck, erholen Sie sich mal schön. Wenn etwas sein sollte, drücken Sie einfach die Alarmklingel.«

Sekunden später verlässt der Mann den Raum, zieht die Tür zu und verschwindet in dem langen Gang, ohne Emma zu bemerken. Sie wartet einen Augenblick, kommt schließlich aus ihrem Versteck hervor und öffnet leise die Tür. Die Brodbeck ist allein, das Bett neben ihr ist bezogen, aber leer. Die sonst so laute Frau liegt still da und bewegt sich nicht. Die kleine Lampe über ihrem Bett taucht sie in graublaues Licht, aus dem Tropf neben dem Kopfende sickert eine durchsichtige Flüssigkeit durch den Schlauch in die Armbeuge. Die Brodbeck sieht ungewohnt friedlich aus.

Emma beugt sich über das blasse Gesicht. Kaum mehr als dreißig Zentimeter trennen sie.

»Frau Brodbeck?«, flüstert Emma.

Die Frau reißt die Augen auf, zuckt zusammen, als hätte sie etwas Schreckliches gesehen.

»Säuferbalg«, stößt sie leise hervor, ihre Stimme klingt verwaschen, ihre Augen funkeln böse wie immer. Sie versucht sich aufzurichten, sackt jedoch mit einem Stöhnen zurück.

»Ich muss mit Ihnen reden.« Emma fasst ihr an die Schulter. »Es ist wichtig.«

Die Brodbeck wendet den Kopf zur Seite, sagt nichts. Emma spürt, wie die Frau mit der freien Hand auf der Bettdecke herumtastet und das lange Kabel der Alarmklingel zu fassen kriegt.

»Nein!« Emma reißt ihr das Gerät aus der Hand.

»Hilfe«, krächzt die Alte. Ihre Stimme klingt ganz anders als am Vormittag im Treppenhaus. »Hilfe.« Ein weiteres Krächzen. Die Brodbeck umklammert Emmas Handgelenk, will ihr mit aller Gewalt die Alarmklingel wegnehmen.

Emma kann sich rauswinden. Warum hört die ihr denn nicht zu? Sie muss ihr doch erklären, dass sie ihre Klappe halten muss und dass sie ihren Vater nicht an die Polizei verraten darf!

»Pst!«, macht Emma.

»Hilfe!« Ein weiterer Versuch, lauter diesmal. Das Rufen wird von Husten unterbrochen, dennoch will die Brodbeck einfach nicht aufhören.

Emma lässt die Klingel auf den Boden fallen, streckt sich zum Nachbarbett und greift das Kopfkissen. Fest presst sie es auf das Gesicht der Brodbeck. Die Frau hebt die Arme, um das Kissen wegzuziehen, ihre Fingernägel kratzen über Emmas Arme, bohren sich hinein ins Fleisch, aber Emma lässt nicht nach. Mit ihrem ganzen Gewicht stützt sie sich auf das Kissen. Schließlich sinken die Arme der Frau auf die Decke.

Emma drückt weiter. »Jetzt bist du leise. Wenn du zugehört hättest, dann wäre das alles nicht passiert. Wenn!«

Emma richtet sich auf, nimmt das Kissen vom Gesicht der Frau. Deren Mund steht weit auf, als würde sie jeden Moment wieder um Hilfe rufen. Doch sie atmet nicht mehr. Emma schiebt der Brodbeck den Unterkiefer hoch, steckt die schlaffen Arme unter die Decke. Nun sieht sie aus, als würde sie schlafen. Behutsam legt Emma das Kissen wieder auf das Nachbarbett. Zuletzt löscht sie das Licht.

»Gute Nacht, Frau Brodbeck.«

Sie fühlt sich leicht, als sie das Zimmer verlässt. Niemand wird darauf kommen, dass es ihr Vater war, der die Brodbeck mit dem Messer verletzt hat. Sie hat dafür gesorgt, dass alles gut ist. Sie ganz allein.

Sanfter Nieselregen fällt vom Himmel, als sie aus dem Krankenhaus ins Freie tritt.

»Emma?«, hört sie plötzlich eine vertraute Stimme hinter sich.

Verwirrt bleibt sie stehen, dreht sich um. Die Schiebetür der Notaufnahme schließt sich schmatzend. Plötzlich steht er da. Mit wackeligen Schritten geht er auf sie zu.

Ihre Stirn kräuselt sich, sie versteht nicht.

Ihr Vater streckt ihr eine dick verbundene Hand entgegen.

»Fast vier Stunden habe ich in der Notaufnahme gesessen. Ist das zu glauben? Bloß wenn man sich beim Salamischneiden in die Hand säbelt, ist man neben den gebrochenen Beinen und Blinddarmdurchbrüchen ganz unten in der Nahrungskette.« Er streicht ihr mit der unversehrten Hand über die Haare. »Meine Prinzessin wird mich schon wieder gesund pflegen.«

»Beim Salamischneiden?«, echot Emma.

»Ja. Ich wollte uns die Salami mit Nudeln aufbraten, so wie wir das früher immer getan haben. Heute ist dein Zeugnistag, das habe ich nicht vergessen. Ich habe dir doch einen Zettel aufs Bett gelegt, dass ich ins Krankenhaus gehe. Dreizehn Stiche haben sie gebraucht!« Er klingt stolz.

»Einen Zettel aufs Bett?« Emma spürt, dass aus ihrem Gesicht alle Farbe gewichen ist.

»Aber, Prinzessin, wenn du meinen Zettel nicht gefunden hast, was tust du denn dann mitten in der Nacht im Krankenhaus? Ist alles gut?«

Paul Lascaux

Die blaue Stunde

1

»Ein blauer Mord«, sagte Till Reinacher, »dass ich das noch erleben durfte!«

Es war nicht klar erkennbar, ob er begeistert oder entsetzt war. Doch als er vom wundervollen Blaulicht der Einsatzfahrzeuge sprach, dachte man eher an Ersteres.

Der Pädagoge des Museum Blau wollte mich am Tag nach meiner Ankunft in Schwetzingen durch die Ausstellung führen.

»Nicht dass Sie mich falsch verstehen«, sagte Reinacher. »Natürlich ist das Sterben an sich ein schrecklicher Moment, und wenn man die Ursache nicht kennt, umso mehr. Auch war es seltsam, wie der Mann auf der Bank lag, hier gleich neben unserem Gebäude.« Er zeigte auf eine Sitzgelegenheit in einem kleinen Park direkt gegenüber dem Rathaus. »Aber Sie verzeihen, er hatte diese ausgesprochen aufregende Farbe an den Fingern und um die Lippen. Ob andere Körperteile ebenso blau gefärbt waren, entzieht sich meiner Kenntnis, denn er war vollständig bekleidet, das raue Frühlingswetter ließ keine andere Wahl.«

Reinacher hatte mich außerhalb der Öffnungszeiten des Museum Blau empfangen. Nun begleitete er mich auf einem Rundgang.

»Eine blaue Leiche wäre keine Option für Ihre Sammlung?«, fragte ich zur Sicherheit nach.

Reinacher lachte. »Nein, das nicht. Es sei denn, es käme eine Mumie rein, die aussieht wie ein Wesen aus dem Film ›Avatar‹.«

Das gedrungene Gebäude mit der weißen Fassade wies ein Obergeschoss mit steilem Giebel auf, in dem ein paar wenige Dachluken für Tageslicht sorgten. Wir öffneten ein hellblaues Tor – noch war ich im Unterscheiden verschiedener Blautöne im Anfängerstadium – und betraten den mit unregelmäßigen Terrakottafliesen ausgestatteten Eingangsbereich.

»Im Erdgeschoss zeigen wir vier Räume mit Sammelstücken aus den Themenbereichen Blauer Purpur, Indigo, Kobalt und Ultramarin.«

Wir setzten uns im Hinterhof auf die Stufen der »Babylonischen Mauer«, während Reinacher weiter dozierte. »Im oberen Stockwerk beleuchten wir die Naturkunde der Farbe Blau.«

Ich war ein wenig überfordert von der überraschenden Vielfalt und vermisste in der »Biedermeierstube zur Blauen Stunde« den Ausschank für einen herzhaften Absinth, obwohl es dafür von der Tageszeit her etwas zu früh war.

»Problematischer ist das Ausstellen der Ideengeschichte einer Farbe, die mit den Jahrtausenden die Wahrnehmung der Menschheit geprägt hat. Denken Sie nur an die unzähligen Interpretationen des Himmels- oder Meeresblaus.«

»Ein alter Plattenspieler und ein paar Langspielplatten wären schon einmal ausreichend für den Blues«, beeilte ich mich, meinen Beitrag zu leisten.

»Den man allerdings bekommen könnte, wenn einem eine Leiche vor die Tür gelegt wird«, schloss Till Reinacher.

2

Mein Name war Simon Bauer. Ich war fünfunddreißig Jahre alt und lebte in Bern. Dort war ich als freier Reporter und als Detektiv tätig, beides Berufe, mit denen man höchstens ein wenig Butter, aber nicht das Brot darunter verdiente. Hatte man ein gewisses Alter noch nicht überschritten und musste keinen Anhang durchfüttern, reichte es knapp zum Überleben.

In Schwetzingen war ich als Detektiv unterwegs, ich würde mir jedoch auch Zugang zur lokalen Presse verschaffen, denn Information war alles, was man bei meiner Tätigkeit brauchte. Das Kopfkino stellte sich dann automatisch ein.

Vor drei Tagen hatte mich eine Serena Winkler angerufen, das heißt, sie hatte die Nummer der »Detektei Müller & Himmel« gewählt, die nach wie vor im Telefonbuch stand und deren Büro ich als Nachfolger von Heinrich Müller benutzen durfte, bis ich selbst Zugang zu eigenen Räumlichkeiten hatte. Ich liebäugelte damit, alles beim Alten zu lassen und in das Haus einzuziehen, das die Detektei beherbergte. Dann hätte ich nicht nur Zugang zum Büro, sondern auch zum umfangreichen Fachwissen meiner Vorgänger.

Diese Serena Winkler stand also in der Tür und betrachtete die Milchglasscheibe, auf der unübersehbar die Reste der alten Anschrift zu lesen waren, und fragte, ob sie hier richtig sei.

»Selbstverständlich. Treten Sie ein. Wir befinden uns in einer Übergangsphase.«

Sie nahm auf dem zweiten Stuhl mir gegenüber Platz, ein unscheinbares Wesen, das man nicht weiter bemerkt hätte, wenn es vor einer Mauer gestanden hätte. Die alten amerikanischen Hard-boiled-Krimis waren also reine Fantasie oder erzählten von dem einen Mal im Leben eines hartgesottenen Detektivs, in dem eine verruchte Blondine mit einem lockenden Bündel Dollars vor ihm saß, bevor er sich in den Kampf stürzte. Ich war allerdings keineswegs kampferprobt. So lauschte ich der Geschichte, die Serena Winkler zu erzählen hatte. Ein Großonkel sei ohne ihr Wissen nach Deutschland gereist, genauer gesagt, nach Schwetzingen, das liege zwischen Mannheim und Heidelberg.

»Sagt Google Maps«, fügte sie an. »Der Onkel heißt Gunther Winkler und steht mir nicht besonders nahe. Er ist pensioniert und hatte wenig mit der Familie zu tun.«

»Warum hatte?«, unterbrach ich Frau Winkler.

»Man hat ihn als Leiche zurückgeschickt, ohne Information darüber, was geschehen ist. Auf der Sterbeurkunde steht: ›Natürliche Todesursache: Kreislaufversagen‹.«

»Das geschieht älteren Männern schon mal«, brummte ich. »Vielleicht hat er in Schwetzingen etwas Herzzerreißendes erlebt.«

»Die literarischen Zitate kommen noch nicht so gut an«, beklagte sie und zog eine Schnute, die sie mir gleich sympathisch machte.

»Warum sind Sie hier?«

Sie hatte gezögert und geantwortet: »Wir, also die Familie Winkler, möchten, dass Sie den Todeshergang aufklären. Denn der Bestatter hat uns angerufen und gesagt, man habe Onkel Gunther obduziert. Aber niemand hat uns informiert, warum oder mit welchem Ergebnis.«

Letzteres stimmte nicht ganz, denn die Sterbeurkunde mit der Todesursache lag ja bei der Leiche, überlegte ich, als ich vom Museum Blau zu meinem Hotel ging, dem »Gästehaus am Schloss Schwetzingen«, ein dreistöckiger Bau, die Zimmer zu einem vernünftigen Preis, ein Hort wohldurchdachter minimalistischer Einrichtung, zentral in einer ruhigen Einbahnstraße gelegen.

Das war der Vorteil von Städten wie Schwetzingen – es war alles fußläufig.

3

Inzwischen war es Donnerstagnachmittag. Nach einer kleinen Stärkung in einem Brauhaus begab ich mich auf den Weg zur Schwetzinger Zeitung, deren Büros gleich um die Ecke an der Carl-Theodor-Straße lagen. Dort hatte ich mich mit Henriette Berg verabredet, die ich in Bern aus dem Autorenverzeichnis der Zeitung herausgesucht hatte.

Auf einem der wenigen Parkplätze vor dem Eckhaus saß auf der Beifahrerseite eines schmutzig blauen Toyota eine junge Frau, deren Gesicht ich nur zur Hälfte sehen konnte. Sie hatte ein Smartphone auf das Armaturenbrett gestellt, sang irgendein Lied nach und nahm sich dabei auf, wobei sie die Hände verwarf und den Mund spitzte, während sie wohl auf den Fahrer wartete. Eine weißhaarige Dame schüttelte den Kopf, weil das offenbar nicht mehr ihre Welt war.

Ich trat ins Gebäude und wurde von einem bezaubernden Wesen Ende zwanzig empfangen, das mich schon durch die Scheibe erspäht hatte. In einem kleinen Büro gab es auf beiden Seiten eines Schreibtischs gerade eben mal Platz für uns zwei.

»Wie schön, einmal einen Kollegen aus Bern zu Besuch zu haben«, eröffnete Frau Berg. »Womit können wir dienen?«

Ich erzählte ihr die Geschichte mit dem Toten, den man in seine Heimat überführt hatte, und berichtete, dass ich bereits die Fundstelle besichtigt hätte.

»Der kleine Park gegenüber dem Rathaus«, sagte sie fragend. »Ja, das hat uns ebenfalls gewundert, dass jemand einfach so dort stirbt. Doch es gab keine Presseerklärung der Polizei, deshalb haben wir uns auf einen kleinen Artikel zum Vorfall beschränkt.« Sie zog den ausgedruckten Text aus einem Aktendeckel hervor und reichte ihn mir über den Tisch. »Logischerweise gab es keine Todesanzeige. Ich weiß nicht genau, womit ich Ihnen behilflich sein könnte. Sie sollten zur Polizei gehen, ist ja gleich nebenan, da erfahren Sie bestimmt mehr.«

»Sie wissen nicht zufällig, wo sich der Mann aufgehalten hat, in welchem Hotel er übernachtet hat?«

»Ich habe ihn nicht gesehen, und auch der Text stammt von einer Kollegin. Ich fand es nicht bedeutsam genug, sie heute an ihrem freien Tag herzubestellen. Aber sie ist unsere Polizei- und Gerichtskorrespondentin, und sie hat mir am Telefon gesagt, der Mann habe Gunther Winkler geheißen.«

»Das stimmt«, erwiderte ich, »seine Familie hat mir den Auftrag erteilt, die Todesumstände zu recherchieren.«

»Genau da kommt nun wiederum meine Kollegin ins Spiel. Sie hat ein wenig nachgeforscht und nur noch eine Rosamunde Winkler gefunden. Die lebt hier im Viertel rund um die Schwetzinger Klinik, das von Einfamilienhäusern dominiert wird, und zwar am südlichen Rand. Ich gebe Ihnen die Adresse. Ob er sich dort aufgehalten hat, wissen wir nicht. Probieren Sie es, viele weitere Chancen haben Sie nicht.«

Ich bedankte mich für die unkomplizierte Hilfe und versprach, Frau Berg zu einem Mittagessen einzuladen, wenn ich Erfolg hätte.

»Dann hoffe ich doch sehr, dass es klappt«, verabschiedete sie mich.

4

Wieder auf der Straße musste ich auf dem Schlossplatz eigentlich nur über die eigenen Füße stolpern und wurde von Brauhaus zu Kaffeehaus weitergereicht. So stärkte ich mich mit einem Bier, bevor ich Frau Winkler aufsuchte. Der Nachmittag war noch jung, und die Frühlingssonne tauchte die Stadt in mildes Licht.

Fast schon befreundete ich mich mit dem blauen Tod. Ich überlegte, wann diese Farbe zum ersten Mal in mein Bewusstsein getreten war – abgesehen von der Tönung des Wassers, an die ich seit meiner Kindheit gewöhnt war, die jedoch nie als klares, reines Blau sichtbar war, sondern oft ins Grünliche oder in schmutziges Grau kippte.

Dann kam mir ein geliebtes Buch aus den achtziger Jahren in den Sinn, »Flauberts Papagei« von Julian Barnes. Er erwähnte darin den Reverend George M. Musgrave, der wiederum Blau als die Farbe Frankreichs identifizierte: »Der Gesamteindruck war ein helles, aber äußerst strahlendes Ultramarin.« Er fand es in der Kleidung von Frauen und Männern, in den Geräten der Landwirtschaft, dem Geschirr von Pferden und in den Städten, wo die Häuser »den azurnen Farbton innen wie außen« zeigten.

Bis zum Wohnort von Frau Winkler waren es anderthalb Kilometer, die ich ebenfalls zu Fuß zurücklegte, um etwas meinen Gedanken nachzuhängen. Die angegebene Adresse fand sich an der Ortsgrenze zu Oftersheim.

Schließlich stand ich vor einem Doppelhaus, das zwar zweigeschossig, aber wohl in schlechteren Zeiten aufgeteilt worden war und deshalb nur je eine Breite von fünf Metern aufwies. Die schäbigere, schon länger nicht renovierte Hälfte bewohnte Frau Winkler.

Ich erschien unangemeldet. Die Tür ging auf mein Klingeln hin dennoch rasch auf. Vor mir stand eine klein gewachsene ältere Dame im zerschlissenen Morgenrock, der eine gewisse Verwahrlosung noch betonte. Im Hintergrund beschallte Heino mit »Blau, blau, blau blüht der Enzian …« die Behausung. Frau Winkler legte den Zeigefinger auf die Lippen, bat mich jedoch mit einer Geste der anderen Hand hinein.

Ob Heino der Frau aus der Seele sang? Jedenfalls hatte es das Lied bislang nicht in das immaterielle Weltkulturerbe geschafft, allein deswegen nicht, weil es ja ebenso gelb blühenden Enzian gab, aus dessen Wurzeln übrigens der gleichnamige Schnaps destilliert wurde, der jede Magenunpässlichkeit sofort beseitigte, allerdings mit dem Kollateralschaden, dass man selbst nach sieben Stunden beim unwillkürlichen Aufstoßen den bitteren Geschmack wieder im Rachen hatte. Danke, Heino.

Das Wohnzimmer lag in der hinteren Hälfte des Häuschens und bot durch ein Fenster Ausblick in einen verwilderten Garten. Im Inneren war alles in dunkelbraunem Holz gehalten, die Regale waren mit Nippes vollgestellt, Erinnerungsstücke an Reisen in den Süden. Das einzige Zugeständnis an die Moderne war ein ehemals weißer Flokati, der sich dem Grau düsterer Gedanken angepasst hatte. Indessen war das Lied zu Ende gesungen, und man konnte zu bedeutsameren Themen übergehen.

Ich stellte mich vor. Sie nannte ihren Namen. Rosamunde Winkler, kurz Rosa.

»Ich wurde nach meiner Großmutter getauft. Sie können mir glauben, als Mädchen in den sechziger Jahren mit einem Vorkriegsnamen aufzuwachsen … Es gibt Erfreulicheres.«

»Bauer als Nachname ist im 21. Jahrhundert auch nicht das Gelbe vom Ei«, heuchelte ich Sympathie.

Sie schaute mich irritiert an, weil es plötzlich nicht mehr um sie ging. Sie schien das persönlich zu nehmen.

Die Erwähnung von Gunther Winkler brachte ein fernes Leuchten in die Augen der alten Dame.

»Gunther stand eines Tages vor der Tür, genau wie Sie«, begann Rosa. »Er wollte wissen, ob jemand aus seiner Familie die schweren Zeiten überlebt habe. Sein Großvater hatte sich rechtzeitig vor den Nazis in die Schweiz abgesetzt, sodass nur ein loses Band Gunther an die hiesigen Winklers knüpfte. Mein Großvater ist an der Front umgekommen, die Oma in den Nachkriegsjahren am Kummer verstorben. Ich habe sie beide nicht gekannt. Meine Eltern, die in den Kriegsjahren selber Kinder waren, wollten von dieser Zeit nichts mehr hören. In einem alten Karton unten im Büfett verstauben das Silberbesteck und das Meißner Porzellan mit dem blauen Zwiebelmuster, deren Herkunft immer schon ein Tabu war. Ich habe meine innere Ruhe erst gefunden, nachdem meine Eltern gestorben waren, keine vorwurfsvollen Blicke, kein beredtes Schweigen mehr. Da stand dieser Mann vor der Tür.«

Ich wusste längst nicht mehr, was ich sagen sollte, versuchte es dann. »Gunther?«

»Ja. Er hat sich hier einfach hineingedrängt, hat sich breitgemacht. Ein fröhlicher, lauter, aber gehetzter Mensch, eine ständige Herausforderung für mich, die ich die Letzte unserer Familie bin, zum Glück kinderlos, dann wird das Elend wenigstens nicht vererbt. Doch Ansprüche hatte der Mann. Er verlangte, nicht bat, verlangte, dass ich die hellblaue Bettwäsche durch eine andere ersetze. Dabei hätte er um die Beherbergung dankbar sein dürfen. Nun begann das Gedankenkarussell, sich von Neuem zu drehen.«

»Sie haben von seinem Tod gehört?«, fragte ich unsicher.

»Es stand in der Zeitung«, erklärte sie. Die plötzliche Kälte in ihrer Stimme ließ mich aufhorchen. Rosa Winkler erhob sich, öffnete die mittlere Schublade eines Sekretärs und kehrte mit einer zerknitterten Postkarte zurück. »Gunther hat sie mitgebracht als Beweis für sein plötzlich erwachtes Interesse. Sie stammt von meiner Großmutter, ist datiert auf den 2. Juni 1946, an seinen Großvater gerichtet.«

»Mit einem Zensurvermerk«, stellte ich fest. »›U. S. Civil Censorship Germany, passed 30125.‹ Doch ich kann den Text nicht lesen.«

»Das ist Sütterlin.« Sie nahm mir die Karte aus der Hand und deklamierte:

»Unsre Lieben!

Aus Schwetzingen grüßt euch herzlich die ganze Fam. Winkler.

Ihr werdet erstaunt sein von uns was zu hören. Wir sindalle in bester Gesundheit, unser lieber Vater ist am 11.2. 1945 an Lungenentz. gestorben. Der Schmerz ist furchtbar. Wenn nur Emil kommen würde, aber da wird wohlschlechte Hoffnung sein. Er ist seit Nov. 1943 verm. aufder Krim. Wir haben schon viel versucht etwas zu erfahren. Herbert ist schon vor Kriegs.Schluß nach Hause entk.

Er ist versehrt am rechten Arm. Seine beiden MädelsErika u. Gudrun sind schon groß. Elise ihr Mann ist inEgiybtien in Gef. Er schreibt immer gut. Sie hat einen Gerhard und eine Gudrun. 6 + 5 Jahr. Edwin ist in Nordfrk. (Nordfrankreich).

Wird gesung. Und will auch

heim. Irmgard wurde die-

ses Jahr konfirmiert. Unser

Haus ist 50% artiller. beschädigt

wir wohnen eng beisammen.

Unsere Landwirtsch. treiben wir

fort und nicht mehr so groß.

Eben gibt’s nichts anders.

Am Schluß grüßt euch und wünscht

alles gut im Namen Aller

Rosa.«

Später im Hotel lud ich YouTube auf das TV-Gerät und zog mir als Enzian-Kontrastprogramm »Nothing Matters« von The Last Dinner Party rein, und zwar die Liveaufnahme vom Glastonbury Festival 2023, in der Abigail Morris, die Sängerin der Frauenband, in einem knöchellangen weißen Kleid mit blutüberströmtem Saum über die Bühne hetzt und ins Publikum brüllt: »And I will fuck you like nothing matters.«

Ich wiederholte den Song so oft, bis jemand an die Wand hämmerte.

5

Das Polizeirevier Schwetzingen mit einer Außenstelle der Kriminalpolizei befand sich im barocken Marstall, der um 1750 als Pferdestall des Kurfürsten erbaut worden war. Heute diente das u-förmige Gebäude mit den Gärten des Hofs verschiedenen Zwecken.

Ich hatte mich als Reporter angemeldet und wurde von einem Herrn in Zivil empfangen. Er begrüßte mich höflich, aber doch mit einem gewissen Erstaunen darüber, dass ein lokaler Todesfall die Schweizer Presse interessierte.

Ich wurde in ein schmuckloses Besprechungszimmer gebeten, wo man sich mangels irgendwelcher Ablenkungen voll und ganz auf das Gespräch konzentrieren konnte. Mein Ansprechpartner hatte sich ohne Dienstgrad als Meier vorgestellt. Ich erwähnte in einem Nebensatz, dass mich die Familie des Verstorbenen engagiert und mit einer Vollmacht ausgestattet hatte.

Als unsere Vorfahren noch Jäger und Sammler waren, lagen die obere und die untere Zahnreihe parallel aufeinander. Man nannte es Kopfbiss, und der war zum Zerreißen von rohem Fleisch unabdingbar. Mit der Entdeckung des Feuers und somit gekochter Nahrung sowie dem Anbau von Getreide wurden die Kauflächen wichtiger als die Reißzähne, und es entwickelte sich der uns geläufige Überbiss. Interessanterweise ermöglichte erst das Zurückweichen des Unterkiefers die Bildung der f-Laute oder der stimmlosen labiodentalen Frikative, wie die Phonetiker zu sagen pflegten.

Das hatte jedoch auch zur Bildung von Karies geführt, was mir mein Zahnarzt nach einem entsprechenden Vortrag mitgeteilt hatte, also nicht der Überbiss, sondern die Ernährungsumstellung. Welche evolutionäre Entwicklung hingegen zum massiven Überbiss des Herrn Meier geführt hatte, ließ sich nicht rekonstruieren, genauso wenig, ob damit bisher unerkannte Zahnerkrankungen verbunden waren. Jedenfalls hatten sich die f-Laute in seinem Rachen so weit zurückgezogen, dass sie zu einem kaum erträglichen »fchu« erweitert worden waren. Begriffe, in denen f oder v ausgesprochen werden sollten, waren kaum zu verstehen. Allerdings machte Herr Meier nicht den Eindruck, dass es ihn stören würde.

Ich war also eher auf sein mahlendes Gebiss und die daraus hervorgehenden Geräusche konzentriert als auf den Inhalt des Gesagten und musste deswegen nachfragen, als Meier aus dem Bericht der Rechtsmedizin zitierte.

»Entschuldigen Sie. Ich habe gerade etwas verpasst, weil ich an die Sterbeurkunde dachte, die die Familie erhalten hat. Dort steht: ›Natürliche Todesursache: Kreislaufversagen‹.«

»Das stimmt schon«, entgegnete Meier, »aber was dazu geführt hat, war eine Zyanose.«

»Und die äußert sich in einer Blaufärbung der Haut?«

»Sie wissen Bescheid«, stellte Meier fest. »Zuerst gibt es eine Unterversorgung des Bluts mit Sauerstoff. Dadurch entsteht hämoglobinarmes Blut, das wiederum die Blaufärbung bewirkt. Eine Herzinsuffizienz lässt dabei eine Blauverfärbung an den Extremitäten entstehen, also zum Beispiel an den Fingern. Wobei, so sagt es der Obduktionsbericht, nicht immer klar ist, ob der Sauerstoffmangel durch die verminderte Herzleistung erzeugt wurde oder umgekehrt.«

Der Polizist räusperte sich. Ich ließ ihm Zeit.

»Unsere Rechtsmedizin befindet sich in Heidelberg, deswegen hat die Überstellung des Leichnams in die Schweiz ein wenig länger gedauert, auch weil niemand von einer Fremdeinwirkung ausgegangen ist und die Untersuchung deshalb nicht prioritär war. Dafür möchten wir uns entschuldigen. Und im Prinzip darf ich solche Informationen nur Angehörigen im Rahmen der Akteneinsicht zur Kenntnis geben. Da Sie mit einem Mandat der Familie kommen und die Sache nicht heikel ist, geht das wohl in Ordnung.«

»Herr Winkler hatte seine Ausweispapiere bei sich?«, fragte ich.

»Ja. Leider wissen wir nicht, wo er genächtigt hat, und wir haben kein Gepäck gefunden.«

6

»Sagen wir mal so, die Küche in den Lokalen hat wenig regionales Profil: Pfälzisches neben Bayrischem, Flammkuchen neben Pizza, Brotzeitteller à la Was-der-Kühlschrank-so-hergibt. Hier sogar ein Schweizer Worschtsalat – wen überrascht’s? – mit Käse.«

Ich hatte Henriette Berg am Freitagmittag zum Lunch ins Restaurant »Zum Grünen Baum« eingeladen, das sich praktischerweise im selben Haus befand wie die Schwetzinger Zeitung. Wir stießen mit einem hellen Kurpfalzbräu an.

Auf der Kurpfälzer Schnitzelkarte wurde ich fündig und bestellte dreihundert Gramm Schnitzel »nach Art eines fahrenden Volkes« mit Paprikasoße und Kroketten.

»Wer wohl ›ein fahrendes Volk‹ sein mag?«, rätselte Henriette.

»Das kann sich nur auf den deutschen Urlauber beziehen, der stundenlang den Stau vor dem Gotthardtunnel genießt«, gab ich zurück.

Das aufgetischte Menü war vielversprechend, aber nicht ganz so vielversprechend wie die taubenblauen Augen meiner Kollegin, in die ich offenbar zu lange gestarrt hatte.

»Hast du Angst vor meinen Augen?«, fragte Henriette.

»Nein, davor nicht«, sagte ich, »doch du bringst mich auf eine Idee.«

Und bevor ich wusste, was noch hätte daraus werden können, hatte ich mein Smartphone in der Hand und googelte mich durch psychiatrische Fachbegriffe.

»Fertig lustig«, sagte ich dann. »Gunther Winkler litt an einer Zyanophobie.«

»Was meinst du damit?«

»Das ist die panische Angst vor Blau. Im Deutschen redet man allgemein von Chromatophobie. Einzig die Amerikaner unterscheiden die einzelnen Farben, und je nach kultureller Prägung sowie der jeweiligen Bedeutung können die Symptome milder oder heftiger ausfallen.«

»Die da wären?«

»Die psychologischen Anzeichen der Krankheit reichen von Wut über Hoffnungslosigkeit bis zur Angst vor dem Sterben. Körperlich äußert sich das in Schwäche- und Schwindelanfällen, Kopfschmerzen bis zu erhöhtem Blutdruck. Gehen wir einmal davon aus, dass es auch bei einem im Alter vorgeschädigten Herzen zu einer Insuffizienz und zum Infarkt kommen kann, in unserem Fall verbunden mit einem Sauerstoffmangel im Blut, also der Zyanose, dann haben wir die Todesursache.«

»Dann war es ein natürlicher Tod, obschon nicht unbedingt erwartbar«, meinte Henriette.

»Da wäre ich mir nicht so sicher. Frau Winkler hat davon gewusst. Gunther verlangte nämlich, dass sie die hellblaue Bettwäsche wechselte. Und sie begriff sofort, wer mit der blau angelaufenen Leiche gemeint war, obwohl in eurem Artikel kein Name stand.« Ich nahm den letzten Schluck Kaffee. »Kommst du mit, Henriette?«

7

Wir nahmen ein Taxi. Bald standen wir vor Rosa Winklers Häuschen. Auch diesmal öffnete sie die Tür schnell, doch der zurückweisende Ausdruck in ihrem Gesicht verhieß nichts Gutes.

»Sie schon wieder.« Winkler stöhnte.

Wenigstens ohne Heino.

»Sie sind immer zu Hause anzutreffen«, stellte ich fest.

Rosa Winkler seufzte. »Die Agoraphobie wird schlimmer. Die Angst vor größeren Menschenmengen. Das liegt in der Familie.«

»Wann hat Gunther Ihnen von seinem Problem erzählt?«, fragte ich ohne weitere Erklärungen.

»Welches Problem?«, versuchte sie abzulenken.

»Von der Zyanophobie!«

»Keine Ahnung, wie man das nennt. Aber als er die Bettwäsche gewechselt haben wollte, wuchs ein bestimmter Verdacht«, erklärte Rosa. »Erwarten Sie jetzt ein Geständnis?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Ich wollte nur helfen, ihm die Panik zu nehmen«, sagte sie so laut, als ob sie die gesamte Nachbarschaft informieren müsste. »Wir haben uns mit der Zeit nämlich ganz gut verstanden.« Etwas gedämpfter fuhr sie fort. »In der Familie haben wir gelernt, dass man sich mit seinen Ängsten auseinandersetzen muss. Wer unter Höhenangst leidet, soll auf Türme steigen.«

»Deswegen haben Sie mit ihm das Museum Blau besucht?«, fragte Henriette.

»Ja. Ich wollte ihn mit der Farbe konfrontieren, um seine Panik zu mildern.«

»Das ist gründlich schiefgegangen«, stellte ich fest.

»Das kann man so sagen.« Sie seufzte, senkte den Kopf und wurde bedeutend leiser. »Bald einmal, noch bevor wir überhaupt ins Haus gehen konnten, entwickelte er eine immer stärkere Atemnot. Er setzte sich auf die Bank und stand nicht mehr auf. Als er erkannte, wie seine Finger langsam blau wurden, hat er wohl seine eigene Hölle gesehen.«

»Und Sie haben ihn einfach vor dem Museum zurückgelassen?«, fragte Henriette, die es augenscheinlich kaum glauben konnte.

Rosamunde Winkler drehte sich von uns weg und beichtete unter Tränen: »Ich wollte doch nur, dass es in mir drin wieder still wird.«

Marlene Bach

Schneckenalarm

Sie war eine von vielen, keine, die den Blick auf sich zog, wenn man ihr in der Straßenbahn gegenübersaß. Doch es gab einen Platz, an dem sich Rosemarie fühlte wie eine Königin: auf der Bank in ihrem Garten.

In Jahren mühevoller Arbeit hatte sie ein Paradies geschaffen, war den Hang keuchend und schweißgebadet wohl tausendmal hoch- und runtergestiegen. Ein Unterfangen, das sich gelohnt hatte. Heute stand hier, zwischen üppigem Grün, überhängenden Rosenbüschen und dem Lavendel, der den Duft der Provence verbreitete, ihre Bank. Weinrot gestrichen wie der Thron einer Königin. Von ihrem Garten aus konnte sie den Neckar im Tal dahinfließen sehen, und auf der gegenüberliegenden Flussseite schimmerte die Schlossruine in rötlichem Sandstein. Im Sommer fuhren unten die weißen Schiffe vorbei, von denen, so schien es ihr manchmal, die Touristen bewundernd zu ihr hochschauten.

Hier oben hatte sie das Sagen, entschied über Leben und Tod, über Schneckenkorn und Bierfallen, gewährte Gnade oder zerteilte die Plagegeister mit der Schere. Eure Majestät Rosemarie, Herrscherin über das grüne Reich.

Das majestätische Gefühl verflüchtigte sich leider schnell, wenn sie nach kurzem Fußmarsch zu Hause die Tür aufschloss.

»Na, was machen deine Schnecken?«, fragte Werner, während sie die schmutzigen Schuhe abstreifte.

Wie so oft seit seiner Berentung saß ihr Mann Zeitung lesend im Sessel, wenn er nicht zum Boulespielen war. Seine Leidenschaft. So hatte jeder seins, und das war auch gut so.

»Hast du wieder mal einen Massenmord begangen?« Er musterte ihre verdreckte Hose, dann steckte er die Nase wieder in die Zeitung, ohne auf eine Antwort zu warten.

Werner hatte keine Ahnung vom Gärtnern und von Schnecken erst recht nicht. Er nahm die Sache nicht ernst, dabei war sie ernst. Sehr ernst sogar. Die Gier des schleimigen Getiers kannte keine Grenzen. In ihrer Nacktheit wirkten sie so harmlos und konnten doch in einer Nacht alles vernichten, was Rosemarie mühsam gehegt und gepflegt hatte. Werner aber mokierte sich, wenn sie mit Schneckenkorn, Bier oder Kaffeesatz loszog. Ihre Waffen im Kampf gegen den gefräßigen Feind.

Rosemarie ging in die Küche und räumte das Geschirr in die Spülmaschine, das sich während ihrer Abwesenheit angesammelt hatte. Sie schreckte zusammen, als sie Werners Stimme hinter sich hörte.

»Drüben ist jemand eingezogen.«

Die Neuigkeit hatte ihn sogar aus seinem Sessel getrieben.

»Ach ja?«

Das Nachbarhaus stand seit einer ganzen Weile leer. Es gab Rosemarie immer noch einen Stich, wenn sie daran dachte. Mit der alten Lore, die vor einigen Monaten verstorben war, hatte sie so manchen Plausch am Gartenzaun gehalten.

»Das ist Verwandtschaft«, sagte Werner. »Eine Nichte von Lore. Ich habe sie getroffen, als sie aus dem Haus kam. Die habe ich früher schon mal drüben gesehen.«

»Na, irgendjemand muss das Haus ja erben.«

Rosemarie öffnete das Gefrierfach des Kühlschranks und holte die Dose mit dem Eis heraus. Werner redete, sie fuhr mit dem großen Löffel durch die cremige Masse und füllte sie in eine Schale. Ihr kleines Nachmittagsglück. Zart schmelzend umhüllte das Eis die Seele mit einer Schicht aus Sahne und Zucker.

»… stammt aus dem Rheinland. Scheint mir eine interessante Person zu sein«, drang es wie von Ferne an ihr Ohr.

Rosemarie legte die Eisdose zurück ins Gefrierfach, Werner blieb im Türrahmen stehen.

»Ich denke, wir sollten sie einmal einladen. So von Nachbar zu Nachbar. Wäre eine nette Geste.«

Sie hörte, wie er sich wieder in seinen Sessel fallen ließ. Eine nette Geste. Rosemarie schob den Löffel mit dem Eis in den Mund. Diesmal blieb das wohlige Gefühl aus. Werners Lieblingsgeste war der ausgestreckte Mittelfinger, wenn er Auto fuhr. Ihr Werner war kein Mann der netten Gesten.

Die neue Nachbarin erschien pünktlich auf die Minute. Brünett, schlank, in einem Kleid, das handbreit über den Knien endete, einen Blumenstrauß in der Hand. Sie sah aus, als wäre sie einer der Zeitschriften entstiegen, in denen Frauen mit winzigen Fältchen um die Augen belegten, dass sich das Altern aufhalten ließ, wenn man nur die richtige Hautcreme benutzte. Werner hatte es sich nicht nehmen lassen, sie persönlich einzuladen.

»Hallo, ich bin die Erika«, stellte sie sich vor. »Aber meine Freunde nennen mich Eri.«

Eri hatte bislang in Köln gewohnt und war Lores einzige noch lebende Verwandte. Da die Rente nicht mehr lange auf sich warten lassen würde, hatte sie, hocherfreut über das Erbe, ihren Job als Arzthelferin gekündigt und entschieden, fortan in Heidelberg zu leben.