Love & Order - Dietmar Krönert - E-Book

Love & Order E-Book

Dietmar Krönert

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Beschreibung

Der illegale Handel mit waffenfähigem Plutonium gerät zum Fiasko für die Verbrecher. Und das Auffinden einer Mädchenleiche führt auf die Spur eines anderen entführten Mädchens und auf die eines pathologischen Frauenmörders, dem beinahe auch die ermittelnde Polizistin zum Opfer fällt.

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Vorgänge, wie sie in diesem Roman beschrieben werden, können sich so oder so ähnlich Tag für Tag ereignen. Die Handlung dieses Romans ist jedoch fiktiv. Etwaige Übereinstimmungen mit Personen, Plätzen oder Geschehnissen sind rein zufällig und von mir nicht beabsichtigt.

Einige der Beschreibungen resultieren jedoch aus Beobachtungen und Erlebnissen, die sich

in den Jahrzehnten eines Lebens unweigerlich einstellen.

Dietmar Krönert

Inhaltsverzeichnis

Erster Teil: Ewas Brüste

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Zweiter Teil: Die Kommissarin Und Das Mädchen

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Dritter Teil: Der Kunsthändler Und Seine Dominante Frau

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

ERSTER TEIL

EWAS BRÜSTE

1

Ewa Krkova dreht ihre künstlich aufgepolsterten Brüste hin und her, lässt sie vor Ivans Augen tanzen. Ihre neuen Körperteile fühlen sich immer noch schmerzhaft überdehnt und angespannt an. Aber Ewa ist bereit, für Ivan, dessen Wünsche und für ihr eigenes Aussehen zu leiden. Hat sie doch kaum eine andere Wahl.

Ewa ist Ivans aktuelle Lebenspartnerin oder besser gesagt, seine Favoritin. Laut allgemeinem Sprachgebrauch, die »Geliebte eines Herrschers«. Damit wäre das Verhältnis zwischen Ewa und Ivan ziemlich genau umrissen. Ihre einzige Alternative wäre, von Ivan an irgendeinen Zuhälter verkauft zu werden. So lebt sie aber in der Hoffnung, auf unbestimmte Zeit die Nummer eins in Ivans Leben zu bleiben. Aber auch ohne Ivan als ihren Besitzer und Beschützer wäre ein Leben in wechselnden Bordellen für sie besser als das armselige Dasein in ihrer Heimatstadt, ganz weit hinten in der rumänischen Provinz; da ist sich Ewa sicher.

Wegen der ausweglosen Armut und dem Elend, hatte sie sich willig von Ivans Leuten anwerben lassen. Ewa hatte weder Bildung noch Ausbildung. Zu der Zeit war sie eine schlanke, langbeinige Schönheit wie so viele andere Sechzehn-, Siebzehnjährige auch, ohne jede Hoffnung, dass sich an ihrer Lage jemals etwas verbessern würde. Das einzige, was Ewa gut konnte war Kartoffeln schälen, wenn es mal Kartoffeln gab, und Schwänze lutschen, was immer noch besser war als eine angefickte Geschlechtskrankheit. Mit so einem Makel hätte sie ihre alleinerziehende Mutter sofort auf die Straße geworfen.

Inzwischen ist Ewa schon fast 18 Jahre alt, immer noch eine schlanke, gut gebaute Schönheit und seit Neuestem mit enorm großen Brüsten bestückt. Diese wie aufgesetzt wirkenden, unnatürlichen Dinger, vermitteln einen so prall überdehnten Eindruck, als müssten sie jeden Augenblick platzen.

Über den nächsten Tag, oder was die Zukunft für sie bringen mag, macht sie sich weder Gedanken noch Illusionen. Seit jeher hatte Ewa immer nur für den Moment gelebt. So wie die meisten anderen Bewohner in ihrem heruntergekommenen Stadtviertel auch, aus dem sie es geschafft hatte zu entkommen, bevor sie zwanzig oder noch älter geworden war. Denn danach würden die Chancen, dem elenden Dasein zu entfliehen, von Tag zu Tag geringer werden. Es wachsen einfach zu viele langbeinige Schönheiten ohne Perspektive nach. So gesehen hat Ewa ihre Möglichkeiten voll ausgeschöpft und, wie gesagt, Gedanken über das, was kommt, hatte sie sich noch nie gemacht. Sie nimmt sich, was sie kriegen kann, ohne auch nur einen Augenblick darüber nachzudenken.

Der eingewanderte Gewohnheitsverbrecher Ivan Cukzarek ist von so etwas wie Sozialisation weit entfernt. Er verhält sich wie ein Tier. Alles was er sieht, ob es nun Gegenstände sind oder Menschen, sieht er als sein Eigentum an. Wie das ungefähr zu verstehen ist? Ein Beispiel:

Stellen Sie sich vor, Sie befinden sich im Urlaub, irgendwo im Süden, in der Levante. Ihnen sieht ein hungriger Straßenköter beim Essen zu. Das Tier, falls es noch nicht vom Personal verjagt worden ist, tut Ihnen leid, und Sie werfen ihm ein Stück von dem zu, was Sie gerade verspeisen. Ein Stückchen Fleisch zum Beispiel. Das Tier hat schon so manche schlechte Erfahrung gemacht. Es ist vorsichtig, läuft misstrauisch witternd darauf zu und schnappt sich den unverhofften Leckerbissen. Das ist seine Beute, sein Eigentum. Jetzt sollten Sie aber nicht den Fehler machen, das Tier streicheln zu wollen. Der Hund könnte das als Aggression, als Angriff auf seine Beute auslegen und Sie warnend anknurren. Wenn Sie Pech haben, schnappt er nach Ihrer Hand. Denn Tiere kennen keine Dankbarkeit. Zuneigung vielleicht, Dankbarkeit aber ist einem Tier fremd.

In Ihrer Welt, da beißt man nicht die Hand, die einem gibt. Aber woher soll dass so ein Tier wissen, wenn es nur den täglichen Kampf um das nackte Überleben kennt. In der Situation dieses Tieres kann jeder andere ein potenzieller Konkurrent, ein Feind sein.

Ivan Cukzarek ist ein lebender Anachronismus, ein Überbleibsel aus jenen Urzeiten, als der Mann noch Jäger und zugleich auch Beute und Nahrung war. So wie die meisten Gangster und Verbrecher war auch Ivan einstmals ein liebes Kind, das seiner Mutter Freude und Glück bereitete. Doch dann kam das Kind mit der Welt in Kontakt, Straße und Schule formten fortan Ivan zu dem, was er heute ist.

2

Elf Monate zuvor, im vorigen Jahr, warten fünf Mädchen in einer Wohnung, die so etwas wie eine Arztpraxis sein soll, auf ihre Untersuchung. Fünf Mädchen, das ist eine Lieferung. Ewa ist eine von ihnen, man hat ihr gesagt, der Gesundheitscheck sei notwendig. Die Arbeitgeber im Westen wollen nur gesunde Frauen einstellen. Na dann!

Der Dicke, in einem angeschmuddelten, ehemals weißen Kittel, scheint der Arzt zu sein. Seine Arbeit als Mediziner treibt ihm offenbar den Schweiß auf die Stirn. Er atmet stoßweise und trägt einen gequälten Gesichtsausdruck zur Schau. Eigentlich ist er es, der medizinische Hilfe benötigt. Seine Untersuchungsmethoden haben dann auch mehr mit Befummeln zu tun als mit einer gründlichen, seriösen Untersuchung. Selbst Ewa, die schon einiges gewöhnt ist, ekelt sich vor seinen schwitzigen Händen. Der Arzt, nun ja, bleiben wir mal bei dieser Berufsbezeichnung, scheint sich dann auch zwischen den Untersuchungen der einzelnen Mädchen selbst zu befummeln oder was auch immer. Auf alle Fälle ist Ewa, trotz ihres jugendlichen Alters, ziemlich gut darin, Gerüche zu unterscheiden und zuzuordnen. Und der Duft an seinen Händen ist kein antiseptischer. Aber auch das geht vorüber, und der Mann im Kittel überreicht dem Fahrer, der die Mädchen herkutschiert hatte, zum Schluss fünf offizielle, oder besser gesagt, fünf offiziell anmutende Papiere. Der gute gesundheitliche Gesamtzustand der Mädchen ist damit attestiert.

Die Fahrt in ein besseres Leben ist für Ewa anfänglich fast wie eine Ausflugsfahrt. Hatte sie doch niemals zuvor ihr Stadtviertel verlassen. Zehn Minuten lang hielt das Staunen über das vorbeiziehende, unendliche Grün an, dann überkam sie bereits die Langeweile, die bis zum Ende der Fahrt nicht mehr nachlassen wollte.

Ivan holt und vermittelt gerne Mädchen von der Straße, die zu allem bereit sind, um ihre Situation zu verbessern. Für den Anfang sind die dann auch schon mit etwas Geld für Zigaretten, Klamotten und Schminksachen zufrieden.

Für den Anfang.

Erstaunt stellt Ewa fest, dass alle Deutschen komplette Zigarettenpäckchen kaufen. Nicht nur einzelne Zigaretten, wie das so viele heruntergekommene Gestalten an den vergitterten Kiosken tun, in deren Nähe sie sich mit anderen Jugendlichen tagsüber herumgetrieben hatte. Der doppelte Preis für eine Zigarette. Das war die unterste Ausbeutungsstufe innerhalb der Strukturen ihres Stadtviertels.

Unter solchen Umständen haben Cukzareks Leute nur wenig Probleme, Mädchen zu finden, die davon träumen, eine ganze Packung Zigaretten zu kaufen, die Miniversion eines Minirocks, dazu kniehohe, rote Stiefel und einen Doppelfleischburger obendrauf. Das sind dann auch die Traumbilder, die »elegante«, hochnäsige Kindsdamen den Mädchen auf der Straße vermitteln. Die lässig den Limousinen ihrer Zuhälter entsteigen, um sich hoch erhobenen Hauptes im Fastfood Restaurant ihr Essen zu holen. Anstatt Kartoffeln für eine wässerige Suppe zu schälen und danach vom Cousin, dem Opa oder einem Nachbarn sexuell belästigt zu werden. Da wundert es niemanden, dass Ivan und seine Truppe so gut wie keine Überzeugungsarbeit leisten müssen.

Es kommt natürlich immer mal wieder vor, dass ihnen ein gut behütetes Kind in die Hände fällt, deren Mutter oder die Großeltern sich die Kosten für den Ballettunterricht oder die Musikschule vom Munde abgespart hatten. Da müssen Ivans Leute dem Mädchen dann in kürzester Zeit all jene Lektionen beibringen, die den anderen Mädchen während der Zeit ihrer Pubertät so ganz nebenbei vermittelt wurden. Die sehen dann den Mädchen eher unbeteiligt oder gar voller Schadenfreude zu, wie »so einer« beigebracht wird, auf Zuruf die Beine breit zu machen. Das gelingt aber nicht immer ohne Komplikationen und führt manchmal dazu, dass ein Mädchen spurlos verschwindet.

Marco und Burhan lassen niemanden verschwinden, weil sie geborene Killer wären. Es gehört ganz einfach zu dem, was sie für ihr Geschäft halten. Das haben sie von Grund auf mit Ivan gemeinsam. Auf den Gedanken, regelmäßig einer normalen Arbeit nachzugehen, ist bisher noch keiner von beiden gekommen. Im Gegenteil, sie haben frühzeitig gelernt, dass in ihrem Weltbild derjenige Recht und Einkommen hat, der die Macht über andere rigoros ausübt. Und dass der, der die dicke Limousine fährt, jener ist, der skrupellos seine Interessen durchdrückt. Jedem Mitspieler in der Welt von Marco und Burhan ist natürlich auch bewusst, dass man niemandem trauen kann, am allerwenigsten dem, der eine Krawatte als Ausweis seiner Stellung im Rudel vor sich herträgt.

Ivan ist ein gnadenlos hartes Schwein, wenn es um seine Interessen und um seine Vormachtstellung geht. Selbst die eigenen Leute benehmen sich in seiner Nähe äußerst vorsichtig. Keiner von ihnen möchte vor dem Boss unangenehm auffallen oder gar in Ungnade fallen. Ein leichtes Anzeichen von Unwilligkeit auf Ivans Gesicht und die Stimmung kippt ganz schnell bei seinen Leuten. Da sind Raubtiere unter sich. Die Kerle lachen und feiern zusammen. Aber ohne mit der Wimper zu zucken schießt einer dem anderen das Hirn weg, falls es notwendig sein sollte.

Ewa hat einige Freiräume, dessen ist sie sich bewusst. Sie genießt ihre Stellung und ihre Wirkung auf Ivan. Für ihn ist die Frau so etwas wie eine Trophäe oder ein Vorzeigestück, ein hübsches Ding. Er muss nicht um sie werben und braucht sie zu nichts überreden, sie ist ja sein Eigentum. Seinem Hund würde er mehr Aufmerksamkeit entgegenbringen, wenn er je einen gehabt hätte. Was ihn aber nicht daran hindert, Hundehalsbänder und Leinen für unwillige oder aufsässige Mädchen bereitzuhalten. Dass sie zu seinem Warenbestand gehört, weiß Ewa natürlich, es ist ihr bewusst. Trotzdem hält sie sich für etwas Besseres und blickt ziemlich herablassend auf die anderen Mädchen herab. Sie weiß, wie sich die anderen Mädchen nach der Stellung, die sie innehat, verzehren. Ihr ging es ja noch vor einem Jahr nicht anders, wenn sie zusah, wie die aufgepimpten Nutten in ihren kurzen Röcken den Autos ihrer Zuhälter entstiegen. Wobei es das eine oder andere Mädchen darauf angelegt hatte, während der »Limousienenausstiegsprozedur« den Mitbürgern ihre intimsten Körperregionen zu präsentieren. Ganz so, wie man es auch immer mal wieder in den Boulevardsendungen im TV sehen kann. Wo etablierte, weltbekannte Künstlerinnen in L.A. oder in N.Y. der Weltbevölkerung ebenso intime Einblicke gewähren. Die Konkurrenz unter den Damen ist in New York eben genauso unerbittlich wie in Crasna oder Brasov.

Menschen- und Frauenhandel1 gehören bei den Leuten, die ohnehin wenig Respekt vor den Grundrechten und dem Eigentum anderer haben, neben Waffen- und Drogenhandel zum festen Standardrepertoire. Es gibt einfach zu viel Konkurrenz in diesem Metier. Jeder dahergelaufene Vorstadtganove steigt doch als Erstes in den Drogen- und Frauenhandel ein. Und es gibt zu viele, die sich für talentiert genug halten, um in bestehende Reviere einzubrechen. Das führt immer mal wieder zu heftigen Bandenkriegen oder Hinrichtungen. Wenn man wie Ivan schon etwas länger im Geschäft ist, schwinden unweigerlich die Lust und der Spaß daran, sich mit dem Verbrechernachwuchs herumzuschlagen. Gut, Ivan war über die Jahre seines Tuns stets clever und schlau genug, die Oberhand zu behalten. Doch dann brachte der Kontakt eines alten Kunden, der den Bruder eines Onkels kennt, der in früheren, besseren Sowjetzeiten Oberst der russischen Armee war, frische Bewegung in seine Geschäfte.

Der Oberst befehligte ein Regiment, das unter anderem auch für die Bewachung und Sicherung einer Nuklearfabrik im Uralgebiet eingeteilt war, die ziviles und waffenfähiges Uran aufbereitete und anreicherte. Als das Sowjetreich an seinem eigenen Starrsinn und an dem kompletten nicht Vorhandensein von konkurrenzfähigen Industrieprodukten für die Weltmärkte zerbröselte, machte Oberst Semjuk, der sich ziemlich sicher war, wie es von nun an mit der Sowjetunion weitergehen wird, gar nicht lange rum. Er entwendete zusammen mit einem Kumpel eine größere Menge angereichertes Plutonium. Semjuk und sein Kumpel, der bösartige und leicht pervers veranlagte Physiker Orloff, mauerten das Material im Keller der Datsche des verkommenen Wissenschaftlers ein.

Das Verschwinden von Waffen, von Geldern oder Plutonium beunruhigte in jenen Tagen der Nach-Ära der UdSSR niemanden. Wer die Macht und etwas zu sagen hatte, der bediente sich ganz einfach an dem, was man zuvor noch Volksvermögen2 nannte. Besonders die Gewinne aus Öl- oder Gasgeschäften wanderten zügig in private Taschen. Ehemalige Technokraten und Funktionäre ließen sich ganz schnell schlossähnliche Häuser bauen. Als Beweis ihres neuen Reichtums ließen sich nicht wenige dieser Leute goldene Wasserhähne in ihre Bäder einbauen. Ein untrügliches Zeichen, dass man es hier mit Neureichen zu tun hat. So ähnlich verhielt es sich auch in Afrika, als die Potentaten plötzlich massenhaft Entwicklungshilfe zugesteckt bekamen. Auch in jenen Regionen der Welt, fanden sich in kurzer Zeit goldene Wasserhähne in weitläufigen Palästen. Die Entwicklungshilfe diente so der Entwicklung von Firmen, die all die exklusiven Produkte lieferten, und dem Profit von Transporteuren und Logistigern obendrein. Ein schönes Geschäft. Die Steuern der Bürger wanderten schnurstracks auf Treuhandkonten oder direkt nach Südamerika, China oder sonst wohin, kamen dann postwendend als Aufträge wieder zurück und dienten somit der Entwicklung der liefernden Industrie. Und obendrein wurde auch noch so mancher Arbeitsplatz gesichert, was per se ja auch nicht schlecht ist.

Doch nun zurück zum bösen Tun. Um es kurz zu machen, Semjuk und Orloff hatten unterschiedliche Ansichten über die Verwendung der radioaktiven Materialien. Einig war man sich nur, dass man das Zeug erst einmal unangetastet in dem Versteck belassen sollte und dass man es keinem politischen Hasardeur und auch nicht unkontrolliert an Extremisten verhökern wollte. Abwarten war die Devise, um das Material bei Bedarf als Druckmittel oder zum Zwecke einer Erpressung zu benutzen.

Es waren ohnehin sehr verworrene Zeiten nach dem Zusammenbruch der alten Union. Es herrschte so etwas wie Anarchie. Soldaten und Offiziere bekamen oft ihren Sold mit monatelangen Verspätungen oder gar nicht ausbezahlt. Dafür verkauften sie militärisches Gerät oder Waffen an jeden, der mit barer Münze zahlen konnte. Auch Semjuk und Orloff behalfen sich mit allerlei Tricks, um sich über Wasser zu halten. Den Wegfall eines regelmäßigen Einkommens steckten Offiziere und Wissenschaftler meist besser weg als die einfache Bevölkerung. Genügend Rubel hatte man ja, weil es in den alten Ostblockländern nur wenige Möglichkeiten gab, sein Geld auszugeben. Es fehlte ganz einfach an Konsumgütern, und die Waren des täglichen Bedarfs waren eine gewisse Zeit lang noch billig. Das Problem der Menschen lag dann schon bald darin, dass für westliche Güter mit westlichen Währungen bezahlt werden musste. Dollar, Mark und später Euro entwickelten sich eine Zeit lang zu Nebenwährungen. Die Jahre vergingen und die Bevölkerungen arrangierten sich in der neuen Situation. Auch die politischen Kräfte sortierten sich in neue politische Strömungen, die dann doch wieder in die alten Ströme mündeten. Angelegt an den alten, überkommenen Machtstrukturen. Eine Dekade später war die neue Union fast schon wieder ein Abklatsch der alten. Völlig neue Wege einzuschlagen fällt eben schwer, und den Beton bekommt man oft gar nicht aus den Köpfen heraus.

Monate und Jahre gingen ins Land. Die anfängliche Euphorie einer grundlegenden Erneuerung und die Change einer am westlichen Muster orientierten Massenkonsumgesellschaft mit einhergehender allgemeiner Glückseligkeit aller war bald verflogen, fast so schnell, wie die Ideen aufgekommen waren. Eine Handelsbilanz, getragen von Öl- und Gasverkäufen, ersetzen nun mal keine hochwertigen Industriearbeitsplätze. Nur die neue, angepasste Nomenklatura und die Neureichen schwammen in goldenen Barken über einer elenden Menschensuppe. Und ebenso ist ein überspitzter Nationalstolz, ähnlich dem der USA, kein Ersatz für eine wettbewerbsfähige, hochentwickelte Industrie. In diesem Punkt ähneln sich die Supermächte auf frappierende Weise. Aber Stolz allein macht die Menschen nicht satt.

Da kann es dann schon mal dazu führen, dass der eine oder der andere sich übergangen fühlt. Man beginnt sich unweigerlich Gedanken zu machen, wie man in dem großen Spiel mitspielen könnte. Der eine, ein Oberst a. D., der immer noch in seiner alten Zweieinhalbzimmerwohnung wohnt, zusammen mit einer lethargisch gewordenen Frau. Der andere, ein Physiker, der vom zweifelhaften Fortschritt in einer vergleichbaren Weise übergangen wurde. Der kann allerdings keine lethargische Frau vorweisen, weil unverheiratet. Der Wissenschaftler treibt seine Spielchen lieber mit wechselnden Gespielinnen, auf die eine oder andere Art. Die beiden beginnen sich also mit dem Gedanken anzufreunden, das gefährliche Material zu verhökern. So etwas beginnt meist damit, dass einer einen kennt, der auch jemanden kennt …

Auf diese Weise kam Cukzarek zu der Ehre, hochbrisantes giftiges Material zu transportieren, was sich ja im Grunde auch nicht allzu sehr von seinem üblichen Geschäftsmodell unterschied. Ob er nun junge Frauen und Mädchen oder strahlendes Material transportierte, Geschäft ist Geschäft. Das Zeugs vorübergehend zu lagern und dann an eine noch zu benennende Organisation weiterzureichen; ein Kinderspiel, das ihm obendrein und nach Abzug der Unkosten eine schöne sechsstellige Summe einbringen wird. Seine Leute kennen die verschlungenen Wege und die richtigen Grenzbeamten, einschließlich deren Dienstzeiten. Und seit es Handys gibt, ist vieles noch leichter geworden. Ein kurzer Anruf zur richtigen Zeit am richtigen Schlagbaum, und die Sache ist gebongt.

Ivan ist ein schlauer Bursche. Was die Logistik und deren Verknüpfung mit dem freien Handel anbelangt, macht ihm kaum einer seiner Konkurrenten etwas vor. Geistige Großtaten sind von keinem seiner Handlanger zu erwarten, es genügt vollauf, die Kerle ihren Fähigkeiten entsprechend, zielgerichtet einzusetzen. Da sich dieser Transport teilweise außerhalb seines gewohnten Bewegungskorridors abspielt, setzt er vorsichtshalber seine zwei besten Leute auf den Job an. Karan Suliman und Sergej Krull. Die beiden sind nicht gerade die besten Freunde, entstammen sie doch völlig unterschiedlichen Kulturkreisen, aber eine andere Kombination von Männern, die für den Job geeignet wären, hat er nicht. Sie müssen es also eine Zeit lang miteinander aushalten.

Es sind Berufsverbrecher, das ist das Einzige, was die Männer verbindet. Normalerweise gehen sie sich aus dem Wege, und große Denker sind beide nicht, aber schlau und abgebrüht. Sie erahnen den Schlag eines Gegners, bevor dieser ihn ansetzt, und sie haben ein untrügliches Gefühl, wenn unübersichtliche Situationen entstehen, die gefährlich werden könnten. Sie erkennen in einer Menschenmenge den Typ, der sich für sie und ihren Job interessiert, ganz instinktiv. Es ist eben diese Schläue, die die beiden befähigt, gefährliche Situationen zu bestehen, meistens jedenfalls.

Sergej und Karan machen sich also mit einem geschlossenen Ford Transit Kleinlaster auf den Weg ins Uralgebiet nach Balakowo an der Wolga. Eine ereignislose Fahrt. Solange man nichts zu verbergen hat, bleiben die Nerven entspannt, man muss eigentlich nur darauf achten, nicht am Steuer einzuschlafen. Das ist auf der Hinfahrt so ziemlich der schwierigste Teil des Unternehmens. Der Treffpunkt ist dann in Balakowo das Restaurant »Roter Horizont«. Soll eines der besten am Platz sein, sieht aber nicht danach aus. Außerdem hat man hier in der Stadt die alte Sowjetunion ganz fachmännisch konserviert. Alles zusammen erinnert an die gute alte Ostblock-Ära. Plattenbauten und protzige Behörden mit dem Charme des fortgeschrittenen Verfalls. Denkmäler, die noch am ehesten vom städtischen Bauhof in Schuss gehalten werden, und Fahrzeuge aus russischer Produktion. Die halten auf Dauer auf den schlaglöcherigen Straßen länger durch, ohne auseinanderzufallen.

Sie betreten den Roten Horizont. Hier ist die Zeit wohl irgendwann einmal stehen geblieben, selbst die verstaubte Uhr an der Wand tickt nicht mehr. Das ist aber offenbar noch niemandem aufgefallen. Stillstand. Sergej und Karan denken bei diesem Anblick wahrscheinlich dasselbe: Was man für Geld nicht alles machen muss. Sie suchen sich einen Platz mit dem Rücken zur Wand, die Eingangstür im Blick. Alte Gewohnheiten eben. Die paar anwesenden Gäste hätten wohl nie darauf getippt, dass man hier drinnen jemals wieder neue Gesichter sehen würde. Es entsteht eine Art feindseliges Stillschweigen. Für die alteingesessenen Gäste mit Stammplatz und Wohnrecht eine Situation, die wegen ein paar unbedachter Worte leicht zur Eskalation führen kann. Aber es bleibt ruhig. Was wird man hier wohl so bestellen?

»Vodicka« sagt Sergej zu der übervollbrüstigen Kellnerin. »Und ein Telefon!«

»Da drüben, im Gang zur Toilette ist die Kabine.«

Sergej kramt den Zettel mit Oberst Semjuks Nummer heraus und die mittzwanzigjährige Serviererin zeigt ihr unverhohlenes Interesse an den neuen Gästen. Zwei Männer, die noch nicht an ihr herumgetatscht oder in den Ausschnitt gefasst haben. Die Alteingesessenen bemerken wohl, dass ihnen die dralle Servierkraft zu entgleiten droht. Die Blicke werden bedrohlicher. Falls einer der neuen Gäste jetzt auch noch mit ihrer Serviererin zu schäkern anfängt, fliegen Stühle oder Fäuste; darüber ist man sich nur noch nicht so ganz einig. Sergej macht sein Telefonat.

Als dann Semjuk und Orloff hereinkommen und sich zu den Fremden setzen, sind mit einem Schlag die Besitzansprüche an der prall ausgeformten Serviererin wieder eingelotet. Orloff legt seine Hand wie selbstverständlich auf ihre hinteren Auslagen, was so viel bedeutet wie: Das Weibchen gehört mir. Die Kellnerin lächelt gequält und starrt dabei Sergej gierig an. Endlich mal ein neuer Schwanz in Reichweite. Doch Sergej und Karan sind die örtlichen Besitzverhältnisse wurscht, um es mal ganz profan auszudrücken. Sie wollen nur ihren Job über die Bühne bringen und baldigst zurück in die westliche Zivilisation, die sie inzwischen zu schätzen gelernt haben und als die ihrige betrachten.

Morgen wird der Transporter mit dem Material beladen werden, so weit ist man miteinander übereingekommen. Für die Nacht quartieren sich Sergej und Karan der Einfachheit halber im Roten Horizont ein. Morgen sieht man dann weiter. Sergej genehmigt sich, um die Traditionen seiner Vorfahren zu wahren, noch einige Gläschen Vodicka oder Wässerchen, wie man zu einem Glas Wodka auch verniedlichend zu sagen pflegt.

Anna, die Kellnerin, wird von Gläschen zu Gläschen hoffnungsvoller, dass es in dieser Nacht noch zu heftigem Geschlechtsverkehr kommen wird. Hauptsache dieser Sergej trinkt nicht zu viel, aber der Kerl sieht kräftig aus, der kann sicher einiges vertragen.

Später in der Nacht, lief es dann ab, wie es eben oft im Zwischenmenschlichen so abläuft. Karan war längst oben in seinem Zimmer. Die beiden Gangster haben seit jeher wenig miteinander zu besprechen. Und daran hat sich während der langen Herfahrt nichts geändert. Die beiden können einfach nicht miteinander. Kellnerin Anna war schon zuvor darauf bedacht gewesen, dass die Männer Einzelzimmer nahmen. Aber Karan und Sergej hätten sowieso niemals ein gemeinsames Zimmer bezogen.

Etwas später überlegt Anna gar nicht lange, um ans Ziel zu gelangen. Sie klopft kurz an und tritt in Sergejs Zimmer ein. Der war schon halb weg im Gangstertraumland. Man fragt sich unweigerlich, was denn schwere Jungs so träumen oder ob überhaupt? Man weiß es nicht, es gibt einfach keine wissenschaftlichen Erhebungen auf dem Gebiet, was Gangsterträume anbelangt. Ein Tipp für unsere Nachwuchsakademiker zum Thema Doktorarbeit. Das Gebiet Gangsterträume ist mit großer Wahrscheinlichkeit wohl noch nicht besetzt worden. Okay. Sergej registriert mit seinem letzten bisschen Verstand, dass er gerade Besuch erhält. Und Anna, ganz clever, fragt unschuldig, ob denn alles in Ordnung wäre, und baut sich mehr oder weniger offenherzig vor seinem Bett auf. Sergej ist ja nicht ganz blöde, um die Situation nicht sofort zu begreifen, und macht darum auch gar nicht lange auf Konversation. Es gibt Angebote, da lehnt ein Sergej gewohnheitsmäßig gar nicht erst ab und greift zu, gleich an der richtigen Stelle.

Ihr gefällt’s, einer der weiß, wo’s langgeht. Da wird dann auch gar nicht mehr viel geredet, es geht zur Sache. Doch was dann geschieht, das kennt die nette Anna schon zur Genüge. Sergej haspelt sich einen ab und schläft alsbald ein. Sein Alkoholspiegel hilft ihm dabei nach Kräften. Anna weiß nun genau Bescheid, der Sergej macht’s ihr auch nicht besser als die ortsansässigen Kandidaten. Schade und ernüchternd. Aber zum Glück gibt’s ja weiterhin den alten Lüstling Orloff. Der ist etwas pervers veranlagt, was meint: Einfach so mal auf die Schnelle sich einen abzuficken ist nicht Orloffs Ding, weil es ihm dann nur selten kommt. Er spielt erst mal eine Weile mit ihr, woran Anna immer wieder Gefallen findet, ganz einfach deshalb, weil sich der Mann längere Zeit mit ihr und ihrem Körper beschäftigt und seine Fantasien an ihr umsetzt.

Semjuk hält diesbezüglich mit seiner Meinung und auch seinem Kumpel gegenüber nicht hintern Berg. »Es liegt vielleicht an eurem Beruf«, meinte er einmal zu Orloff. »Oppenheimer, der Vater der Hiroshima-Bombe, war Physiker, Trinker und Frauenbenutzer wie du«. Es ist nun mal so, dass perverses Gedankengut auf einer höheren Intelligenz aufbaut. Intelligenz und Perversion gehen Hand in Hand, was Orloffs natürlich vorhandenes oder auch angeborenes Verständnis der Dinge meint. Es meint nicht die Art von Intelligenz eines mühsam angelernten Fachwissens und eines Herunterbeten von Formeln und Weisheiten.

Anna zieht sich jedenfalls enttäuscht zurück und hofft auf baldige Lustbarkeiten mit dem »guten alten Orloff«. Der fesselt Anna manches Mal zärtlich, knebelt sie ab und an, was ihr sehr zupass kommt. So muss sie sich nicht zurückhalten und versetzt somit auch nicht mit ihrem Geschrei und Gestöhne die komplette Nachbarschaft in Aufruhr. Ja, der Orloff, denkt Anna. Wenn der seine Baumwollenen runterlässt, ist sein Ding kaum größer als ihr Zeigefinger. Aber das ändert sich fast schlagartig, wenn sie ihre Brüste rausholt und anfängt, ganz unschuldig daran herumzukneten. Anna liebt es, wenn er ihre Busenwogen strafft, indem er ihr die Brustansätze umschnürt. Ihre Brüste laufen dann leicht rosig an und werden auch sensibler. Aber vielleicht bildet sich Anna das auch nur ein. Er ist halt ihr Mann fürs Erotische und Lustbetonte.

Am folgenden Morgen sind Sergej und Karan froh, dass es endlich losgeht. Sergej ist sich zu dieser frühen Stunde nicht ganz sicher, ob da mit der Serviererin in der Nacht etwas gelaufen ist. Sergej hat eine dunkle Ahnung, verdrängt die Gedanken aber schnell wieder. Er hat jetzt Wichtigeres zu tun, als Serviererin Anna nackt mit vor ihr herhüpfenden Brüsten vor seinem inneren Auge defilieren zu lassen. Sie fahren hinter Orloffs Lada ins Ländliche hinaus. Davon lohnt es kaum zu berichten, die Fahrt verlief holperig.

Ihr alter Ford Transit hat ein Geländegängiges Fahrwerk, das auch später noch von Nutzen sein wird. Im Moment wird er gut zur Hälfte entladen, was doch etwas anstrengend ist für die Männer. Die können zwar kräftig zuschlagen, sind aber an das Schleppen schwerer Gegenstände nicht so richtig gewöhnt. Sie haben da eine ganze Menge an Autoteilen und anderem schmierigen, öligen Schrott hinter dem Transporter aufgestapelt. An dem Zeug macht sich kein östlicher oder südöstlicher Grenzer die Finger schmutzig, und für den Notfall haben die beiden ja immer noch ein Dollarnotenbündel dabei. Das könnte ebenfalls hilfreich sein. Ganz davon abgesehen, sind auf ihrer Route zwei Männer mit einer Ladung Autoschrott das Normalste von der Welt. Den Strahlen absorbierenden Behälter hatten der Offizier und der Physiker zuvor schon äußerlich in einen verschlissenen, angerosteten und verdreckten Zustand versetzt. Er wird inmitten des Gerümpels platziert und mit dem öligen Motor- und Karosserieteilen überhäuft.

»Was geschieht, wenn jemand den Behälter öffnet?«, fragt Sergej den Physiker.

»Dann läufst du weg!«, antwortet Orloff ganz simpel.

»Aha, weglaufen?«

»Jou! Genau das tust du. Oder willst du strahlenverseucht werden?«

»Nee! Nicht direkt so. Hm … nee!«

»Na siehst du!«

Eine Tasche voll mit Dollar- und Euronoten wechselt die Besitzer. Die Notenbündel werden nochmals überprüft und grob gezählt. Dann wurden Karan und Sergej mit einem kurzen Kopfnicken verabschiedet.

Satans Geschenk an die Menschheit geht auf die Reise. Wie sagte schon Kawasaki Davidson vor Antritt des langen Marsches? »Auch die längste Fahrt beginnt mit einem ersten Tritt aufs Gaspedal.« Der Transporter setzt sich in Bewegung. Eine lange, ermüdende Fahrt beginnt aufs Neue und endet schon nach kaum fünfzehn Minuten wieder.

»Halt’ da drüben mal an«, sagt Sergej zu Karan.

»Warum denn das, musst du jetzt schon pissen?«

»Red’ keinen Mist. Ich hole uns Beistand, den werden wir brauchen.«

»Das ist doch Blödsinn, Alter!«

»Nenn mich nicht Alter, fahr rüber zu der Basilika, na los, mach schon!«

Osmanisch fluchend steuert Karan den Parkplatz vor dem Gotteshaus an und öffnet die Fahrertür. Trotz der frühen Stunde stiegen die Temperaturen schon merklich an. Schon leicht entnervt klopft er sich eine Zigarette aus seiner Packung heraus. Blöder Russe, großes Maul und rein gar keine Ahnung von nichts, denkt er. Der Teufel soll diesen Russen holen!

Sergej macht sich indes auf die Suche nach dem ortsansässigen Popen. Er klopft an dessen private Tür. Bis der sich endlich blicken lässt, vergeht einige Zeit. Der Geistliche scheint ebenso wie Sergej noch nicht so richtig auf dem Damm zu sein.

»Was denn?«

»Ich brauche deinen Segen für eine lange Reise und für das gute Ende meiner Geschäfte.«

Der Pope wollte Sergej abwimmeln und verweist auf die üblichen Audienzstunden. Sergej will sich aber nicht so einfach abweisen lassen. Östliche Gangster sind gläubige Menschen. Haben zwar in der Schule nie so richtig aufgepasst, aber an den traditionellen Konstellationen ihrer Gesellschaft wird nicht gerüttelt. Der Pope steht als Respektsperson immer noch über dem Bürgermeister und dem Polizeichef. Hauptsächlich auch, weil dieser von Gott die Befugnis hat, die Seelen wieder reinzuwaschen.

Wenn in der weiten katholisch-orthodoxen Welt der Geistliche dem reuigen Sünder auferlegt, seine Missetaten aufrichtig zu bereuen und zu beten, wird die Sündenkartei des Gewissens wieder auf Null gestellt. Der Reuige kann dann aufrechten Ganges neuen Taten entgegenschreiten. Eine feine und faire Sache.

Sergej hat jetzt gerade keine Zeit, auf irgendwelche Audienzzeiten zu warten. Er kramt einige Dollarscheine aus seinen Taschen heraus und wedelt damit vor der Nase des heiligen Mannes herum. Das ändert natürlich alles. Jetzt ist sofort göttlicher Beistand vonnöten. Dollars gehen immer, das hat ja auch eine ganz andere Qualität als die üblichen Naturalien oder die paar Kopeken der Babuschkas.

Karan verzieht derweil im Transit sein Gesicht und schüttelt wiederholt den Kopf. Dieser Gott hilft überhaupt nicht, das weiß er genau, weil es diesen Gott gar nicht gibt. Das weiß er von seinem Vater, und der wiederum von dessen Vater. Aha, da kommt er ja wieder angewackelt. Karan lässt gegenüber Sergej nichts von seinem Wissen heraus. Hat ja sowieso keinen Sinn, mit Sergej über Glaubensfragen zu diskutieren.

Die beiden spulen Hunderte Kilometer ab und reden nur das Nötigste miteinander. Komyschin, Wolgograd. Hinter Wolgograd bis Grosny wechselt Europa über eine Strecke von sechs-, siebenhundert Kilometern unmerklich in archaische Zivilisationsformen über, die sich im Grunde seit Jahrtausenden nur unmerklich verändert haben. Irgendwo voraus befindet sich die alte Route der Seidenstraße mit ihren Karawansereien, was auch nur wenige Generationen zurückliegt. In diesem Teil der Welt haben Jahrhunderte keine Bedeutung. Generationen kommen und gehen. Alles was bleibt, ist der Staub, den der ewige Wind über die Gräber weht.