4,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 4,99 €
Sie will ihre Vergangenheit hinter sich lassen. Er wird von seiner eingeholt. Als Dakota nach Blue Water kommt, will sie nochmal ganz von vorne anfangen. Nachdem ihr etwas Schreckliches zugestoßen ist, fällt es ihr schwer, sich anderen Menschen zu öffnen. Als sie Logan begegnet, leugnet sie zunächst die aufkommenden Gefühle. Doch seine einfühlsame und verständnisvolle Art macht es ihr schwer, sich ihm zu entziehen. Zum ersten Mal in ihrem Leben lernt sie, zu vertrauen und zu lieben. Doch als Logan in die Fänge einer Gang gerät und von seiner Vergangenheit eingeholt wird, steht nicht nur ihre Beziehung auf dem Spiel.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2021
Dieses Werk ist reine Fiktion. Jegliche Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen, sowie Schauplätze sind zufällig und nicht beabsichtigt. Alle darin beschriebenen Vorkommnisse sind frei erfunden, ebenso wie die Städte New Town und Blue Water.
1. Auflage© Copyright 2021 Janina SchlickGeorgstraße 29, 86316 Friedberg
Erschienen bei Tolino MediaTolino Media GmbH & Co. KGAlbrechtstr. 14, 80636 München
Cover: Kiwibytes Buchdesign, Kiwibytesdesign.de
Lektorat: Astrid Töpfner, Lektorat Meerwörter
Buchsatz: Constanze Kramer, Coverboutique.de
Sie will ihre Vergangenheit hinter sich lassen. Er wird von seiner eingeholt.
Als Dakota nach Blue Water kommt, will sie nochmal ganz von vorne anfangen. Nachdem ihr etwas Schreckliches zugestoßen ist, fällt es ihr schwer, sich anderen Menschen zu öffnen. Als sie Logan begegnet, leugnet sie zunächst die aufkommenden Gefühle. Doch seine einfühlsame und verständnisvolle Art macht es ihr schwer, sich ihm zu entziehen. Zum ersten Mal in ihrem Leben lernt sie, zu vertrauen und zu lieben. Doch als Logan in die Fänge einer Gang gerät und von seiner Vergangenheit eingeholt wird, steht nicht nur ihre Beziehung auf dem Spiel.
Ich bin Janina, 25 Jahre alt und hab Bücher schon geliebt, bevor ich selber lesen konnte. Seit der zweiten Klasse schreibe ich eigene Geschichten. Das Schreiben ist für mich in den letzten Jahren mehr und mehr zu einer Leidenschaft geworden, die ich neben meinem Beruf als Gärtnerin ausübe.
Falls ihr euch mit mir über Bücher und das Schreiben austauschen möchtet, findet ihr mich auf Instagram unter dem Namen @Janina.is.reading.
Das Buch enthält Themen, die triggern können: Drogen, Gewalt, Sexuelle Belästigung
Das war ein Neuanfang. Sie spürte es.
Dakota zog den schweren Rollkoffer hinter sich her, als sie aus dem Zug stieg. Ihr ganzes Leben befand sich in diesem Koffer und dem alten zerfledderten Rucksack, dessen Gewicht auf ihre Schultern drückte. Jedenfalls alles, was davon noch übrig war. Nichts von dem, was sie in New York zurückgelassen hatte, bedeutete ihr etwas. Es war vorbei. Ein für alle Mal. Von nun an würde sie nur noch nach vorne schauen.
Zielstrebig bahnte sie sich ihren Weg zwischen den Menschen, die sich am Bahnsteig und in der großen Wartehalle drängten. Ein flaues Gefühl machte sich in ihr breit, als sie draußen auf der Treppe stand und über den Platz vor dem Bahnhofsgebäude schaute. Erst jetzt wurde ihr so richtig klar, dass sie sich in einer fremden Stadt befand. Niemand würde ihr helfen. Nein, niemand durfte ihr helfen. Das würde sie nicht zulassen. Sie würde es allein schaffen.
Ihr Blick fiel auf die Taxis, die in einer Reihe vorne an der Straße standen. Einige Fahrer waren ausgestiegen und beobachteten die vorbeilaufenden Menschen, in der Hoffnung, einen Kunden zu gewinnen.
»Brauchen Sie ein Taxi?«, rief ihr ein weißhaariger Mann mit einer Zigarette im Mund zu. Dakota drehte sich weg und beschleunigte ihre Schritte. Ein Taxi konnte sie sich nicht leisten. Eigentlich konnte sie sich gar nichts leisten. Nicht mal ein Dach über dem Kopf, aber das würde schon irgendwie gehen. Hier einen Job zu finden, dürfte nicht allzu schwer sein.
Als sie den Bahnhof ein Stück hinter sich gelassen hatte, fiel ihr ein kleiner Park auf. Eigentlich war es nur eine Wiese, auf der ein paar Menschen in Gruppen zusammensaßen. Sie suchte sich eine freie Bank und stellte mit einem erleichterten Seufzer den schweren Trolli neben sich ab. Sie steckte ihre linke Hand in die Tasche ihres schwarzen Rocks und umklammerte den Zettel. Das war alles, was sie hatte. Nur eine Adresse und eine Handynummer.
Mit zitternden Fingern holte sie den Zettel aus ihrer Tasche und faltete ihn auseinander. Lange starrte sie die Adresse an, die sie längst auswendig konnte. Sie wusste sogar ganz genau, wo sie hin musste. Den Weg hatte sie sich auf Google Maps mindestens hundertmal angeschaut, sich die Gebäude eingeprägt und war ihn in Gedanken mehrmals abgelaufen. Damit sie bloß niemanden nach dem Weg fragen musste.
Ich schaffe das allein. Ich bin von niemandem abhängig. Immer wieder sagte sie diese Worte in ihren Gedanken auf. Sie wusste, sie würde es schaffen. Hier, weit weg von ihrem Zuhause, das nie eins gewesen war, konnte sie ganz von vorne anfangen. Niemand kannte sie. Niemand wusste, was sie durchgemacht hatte.
Blue Water war klein verglichen mit New York. Die Glasfronten der Hochhäuser, die in der Sonne glitzerten, würden neben den Wolkenkratzern in der Fifth Avenue mickrig wirken. New York war gigantisch, beeindruckend und Blue Water war … nur eine Stadt.
Ihre neuen Mitbewohnerinnen und Mitschüler würden sie fragen, warum sie aus der Stadt der Träume weggegangen war. Jeder wollte nach New York, jeder glaubte, dass man dort etwas erreichen konnte. Viele Menschen wollten jedoch nur das schöne schillernde New York mit seinen tausend Möglichkeiten sehen. Doch die Stadt hatte auch ihre Schattenseiten. Wenn jemand fragte, würde sie einfach behaupten, dass all ihre Verwandten tot waren und nichts und niemand sie dort gehalten hatte. Noch besser sorgte sie dafür, dass niemand sie fragen konnte.
Ein Kind rannte fröhlich lachend an ihr vorbei und riss sie aus ihren Gedanken. Ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen, als sie dem Jungen hinterherschaute. Als seine Mutter ihn in die Arme nahm und sich mit ihm im Kreis drehte, wandte sie schnell den Blick ab, stand auf, packte ihren Koffer und ließ den Park hinter sich. Als würde sie schon immer hier wohnen, marschierte Dakota durch die Straßen. Gut so. Sie wollte nicht auffallen.
Ihre neue Bleibe befand sich in einem fünfstöckigen, gelb gestrichenen Wohnblock etwas abseits der großen Einkaufsstraße, die durch die Stadtmitte verlief. Die Farbe und die niedrigen ordentlich geschnittenen Hecken ließen die Anlage freundlich wirken. Zum ersten Mal, seit sie aus New York weggefahren war, stahl sich ein Lächeln auf ihre Lippen. Es würde schon alles gut gehen. Die beiden Mädchen erwarteten sie. Ihre Email hatte nett geklungen.
Ihr Finger schwebte über den Namenschildern. Da war es. Miller & Gregson. Dakota atmete noch einmal tief durch und klingelte. Ihr Herz raste. Der Lautsprecher an der Tür knackte.
»Hallo?«, meldete sich eine verzerrt klingende Stimme.
»Äh, hallo … ich …« Dakota schluckte. Ihr Hals war staubtrocken. »Ich bin Dakota«, krächzte sie. »Ich bin …«
»Ah, die neue Mitbewohnerin. Ich lass dich rein. Vierter Stock.«
Es knackte wieder. Dann surrte der Türöffner. Eilig drückte Dakota die Tür auf und hievte ihren Koffer über die Türschwelle. Ein frischer, zitroniger Duft wehte ihr entgegen. Die Stufen glänzten noch feucht vom Wischen. Ihre Schultern brannten vom übervollen Rucksack, den sie seit ihrer Ankunft permanent auf dem Rücken trug. Wer in einer großen Stadt wie New York aufwuchs, ließ sein Gepäck nie irgendwo unbeaufsichtigt stehen.
Dakota schaute sich im Hausflur um. Obwohl das Gebäude sowohl von außen als auch von innen sehr modern und gepflegt wirkte, gab es keinen Aufzug.
»Scheiße«, murmelte sie. Mit einem gequälten Aufstöhnen legte sie den Kopf in den Nacken und starrte die Treppe an, die sich scheinbar endlos in die Höhe wand. Vier Stockwerke. Aber nur dieses eine Mal. Danach blieb der Koffer oben.
Nach einer gefühlten Ewigkeit kam sie völlig verschwitzt oben an. Ihr Gesicht glühte und war wahrscheinlich rot wie eine Tomate.
Im Türrahmen stand ein Mädchen mit blonden Locken und lächelte sie bedauernd an. »Sorry. Dass wir keinen Aufzug haben, ist echt blöd. Wir sollten eigentlich einen bekommen, aber angeblich hat die Hausverwaltung kein Geld.«
»Schon gut.« Dakota rang sich ein Lächeln ab, das das andere Mädchen mit einem breiten Grinsen erwiderte.
»Hi, ich bin Amber.« Peinlich berührt ergriff Dakota die Hand, die ihr Amber zum Gruß entgegenstreckt. Sie war so verschwitzt, während Ambers Hand warm und trocken war. Amber ließ sich nichts anmerken, doch Dakota fühlte sich eklig, klebrig. Sie brauchte dringend eine Dusche. »Komm, ich zeig dir dein Zimmer.«
Dakota zog die Wohnungstür hinter sich zu und stellte den Koffer in den Flur. Den würde sie später holen, wenn sie geduscht und sich ein bisschen ausgeruht hatte.
Sie folgte Amber durch einen kurzen, hellen Flur. Die ganze Wand war voll mit Fotos. Auf einigen erkannte sie Amber, meistens mit irgendwelchen Freunden. Im Vorbeigehen erhaschte sie einen kurzen Blick in die Küche, die ebenfalls sehr hell und sauber war.
Amber blieb stehen und deutete auf eine Tür. »Hier ist dein Zimmer. Das Bad ist gegenüber. Es gibt einen Putzplan, aber den besprechen wir nachher, wenn Jamie da ist.« Dakota nickte nur. Zu fragen, wo Jamie war, erschien ihr zu neugierig. Amber kam ihr sowieso zuvor. »Sie gibt Nachhilfe in der Nachbarschaft und kommt wahrscheinlich erst in einer Stunde.«
»Ach, das macht doch nichts …«
»Na ja, sie hätte dich schon gern begrüßt«, meinte Amber und wirkte beschämt. Jetzt entschuldigte sie sich schon zum zweiten Mal für etwas, für das sie nichts konnte.
»Das holen wir später nach«, entgegnete Dakota, »Ich muss sowieso erst duschen und mich ein bisschen einrichten.«
»Klar, kein Problem. Wir reden dann nachher.« Amber lächelte wieder und ließ sie dann allein. Sie war wirklich nett und gab sich so viel Mühe, doch Dakota würde nicht viel Zeit mit ihren beiden Mitbewohnerinnen verbringen. Sie würden neugierig sein. Wissen wollen, wo sie herkam und was sie nach Blue Water führte. Alles Dinge, über die sie nicht reden konnte.
Dakota schloss die Zimmertür hinter sich, warf den Rucksack aufs Bett und schaute sich im Zimmer um. Gegenüber dem Bett stand ein großer, zweitüriger Kleiderschrank an der Wand und vor dem Fenster ein Schreibtisch mit einem hohen, schmalen Regal daneben. Es gab keine persönlichen Gegenstände. Auch der Kleiderschrank war komplett leer. Nichts deutete darauf hin, dass hier wahrscheinlich vor Kurzem noch jemand anderes gewohnt hatte. Als hätte dieses Zimmer nur darauf gewartet, dass Dakota hier einzog.
Sie drehte sich einmal um sich selbst und ließ sich rückwärts aufs Bett fallen. Die Bettwäsche war so weich, dass sie darin versank. Sie hatte ihr eigenes Zimmer. Einen Ort, an den sie sich zurückziehen und ungestört sein konnte. Nie wieder musste sie irgendwo auf der Straße oder auf einem Spielplatz sitzen, wenn sie allein sein wollte. Hier würde niemand einfach in ihr Zimmer platzen. Sie konnte die Tür zumachen und sich sicher fühlen.
In ihrem zerfledderten Rucksack wühlte sie nach Unterwäsche zum Wechseln und ihrem alten, dünnen Handtuch. Im Bad stellte sie allerdings fest, dass bereits saubere, weiße Handtücher im Schrank lagen. Genauso wie Flaschen mit Flüssigseife und Shampoo. Kurz war Dakota versucht, einfach ein Handtuch und eine der hellrosa Flaschen zu nehmen. Amber würde sicher nichts sagen. Doch als sie mit ihren Finger zart über den Stapel weicher Handtücher strich, packte sie die Angst. Es stand ihr nicht zu, einfach fremdes Eigentum zu benutzen. Amber wirkte nett, aber was war mit Jamie? Vielleicht würde es ihr gar nicht gefallen, wenn eine Fremde einfach ihr Zeug nahm.
Schnell zog sie die Hand zurück und hängte ihr grünes Handtuch über den Stuhl, der gegenüber der Dusche an der Wand stand. Sie war ihr ganzes Leben ohne Luxus ausgekommen, hatte immer gebrauchte Klamotten getragen und alte Handtücher benutzt. Das konnte sie auch weiter tun.
Dakota kam gerade aus dem Bad, als die Wohnungstür aufging und ein Mädchen mit einem hellbraunen Pferdeschwarz hereinkam. Das musste Jamie sein. Bevor Dakota in ihrem Zimmer verschwinden konnte, entdecke Jamie sie und lächelte ihr zu. Ihre Hände fingen schon wieder an zu schwitzen. Wenigstens hatte sie sich im Bad vollständig angezogen und stand nicht halbnackt vor ihrer neuen Mitbewohnerin.
»Hey, du bist die neue Mitbewohnerin. Dakota, stimmts?« Sie stellte ihre Schuhe ordentlich in den Flur und kam auf Dakota zu. »Ich bin Jamie.«
»Hallo.« Zögernd streckte Dakota ihr die Hand hin, doch Jamie winkte lachend ab und zog sie in eine Umarmung.
»Willkommen in der WG.«
Sofort versteifte Dakota sich. Mit allem hatte sie gerechnet, nur nicht damit, dass eine Fremde ihr gleich um den Hals fallen würde.
»Wundere dich nicht«, sagte Amber, die gerade aus der Küche kam, »So ist Jamie nun mal.« Mehr als ein Nicken brachte Dakota nicht zustande.
»Du gewöhnst dich dran«, behauptete Jamie, doch Dakota bezweifelte das. Körperliche Nähe konnte sie schon lange nicht mehr mit Freundschaft und Zuneigung verbinden. Wahrscheinlich würde sie es nie mehr können.
»Alles in Ordnung?«, fragte Jamie und betrachtete sie prüfend, als sie weiterhin schwieg.
»Äh, ja. Na klar. Ich muss nur gleich weg.«
»Du musst weg? Wohin denn?«
»Ich bin auf Jobsuche.« Das war nicht mal gelogen. Dakota brauchte dringend eine Arbeit. Ihre mickrigen Ersparnisse reichten nicht mal für eine Monatsmiete.
»Lass uns doch zusammen gehen«, schlug Jamie vor. »Wir können dir einiges zeigen.« Amber nickte zustimmend und griff bereits nach ihrer Jacke.
Die Begeisterung der beiden machte es Dakota schwer, ihr Angebot abzulehnen, doch sie musste allein sein, um einen klaren Kopf zu bekommen und über alles nachzudenken. Wenn Jamie und Amber die ganze Zeit auf sie einredeten, konnte sie nicht abschalten.
»Danke. Vielleicht ein andermal.« Sie schlüpfte in ihre abgetragenen Turnschuhe und flüchtete regelrecht aus der Wohnung, die ihr auf einmal viel kleiner vorkam. Bevor sie die Tür zuzog, hörte sie noch Jamies Protest.
***
Scheiße! Was hatte sie getan? Da war sie noch nicht mal eine Stunde in der WG und hatte schon ihre beiden Mitbewohnerinnen verärgert. Vielleicht war es doch kein guter Plan, sich so sehr abzuschotten. Wie sollte sie Amber und Jamie aus dem Weg gehen, wenn sie sich mit ihnen eine Wohnung teilte?
Die Sonne brannte heiß auf den Asphalt. In den Straßen war wenig los um die Mittagszeit. Selbst auf den Terrassen der Restaurants waren nicht alle Tische besetzt. Die meisten Menschen verbrachten den heißen Nachmittag lieber in klimatisierten Cafés und Geschäften. Ein paar Kinder standen vor einem Hotdogstand. Es roch verführerisch nach frischen Brötchen und gebratenen Würstchen. Da sie kein Geld bei sich hatte, ließ sie den Stand schnell hinter sich.
Während sie durch die breite Einkaufsstraße schlenderte, hielt sie nach Anzeigen in Schaufenstern Ausschau. Ihre Ansprüche, was Jobs anging, waren gering. Hauptsache, es reichte, um die Miete zu zahlen. In einem Supermarkt wurde jemand zum Regale auffüllen gesucht, doch als sie nachfragte, sagte man ihr, der Job wäre schon vergeben. Auch woanders hatte sie kein Glück. Entweder es gab den vermeintlichen Job nicht mehr oder das Gehalt, das ihr angeboten wurde, war so gering, dass es kaum für die Miete reichte. Für Essen schon gleich gar nicht. Für einen Ferienjob war sie sowieso zu spät dran. Schließlich fing in weniger als einer Woche die Schule an.
Nach über zwei Stunden hätte sie schon wieder eine Dusche vertragen können. Frustriert kickte sie einen Stein über den Gehweg. Eine Frau warf ihr einen empörten Blick zu, doch Dakota ignorierte sie.
»Verdammt«, fluchte sie leise und lehnte sich an eine kühle Hauswand. Wenn sie kein Geld verdienen konnte, blieb ihr nichts anderes übrig, als Amber und Jamie die Miete für die nächsten drei Wochen zu überweisen und Ende September wieder auszuziehen. Dann stand sie wieder vor dem nichts und einen Plan B hatte sie nicht. Zurück nach New York zu gehen, kam nicht in Frage und woanders würde es sicher nicht besser laufen als hier.
Sie vergrub das Gesicht in den Händen, die sich schon wieder feucht und klebrig anfühlten. Eigentlich musste sie weitersuchen, doch sie war erschöpft von den vielen Absagen. Noch eine Niederlage konnte sie nicht ertragen.
Ihr Blick fiel auf ein Café auf der anderen Straßenseite. Mr. Percy Cookies & More stand in großen Buchstaben auf einem leuchtend bunten Schild. Daneben war ein grinsender Schoko-Cookie abgebildet. Auf der Terrasse standen die Tische dicht an dicht und alle waren besetzt. Auch vor der Tür standen ein paar Menschen, die wahrscheinlich auf einen freien Tisch warteten. Ein Kellner und eine Kellnerin hasteten zwischen den Tischen durch. Es sah fast so aus, als könnten sie Unterstützung brauchen. Dakota beschloss, noch einen letzten Versuch zu unternehmen.
Sie rannte zwischen den an der Ampel stehenden Autos über die Straße und betrat das Café. Stimmen und das Geklapper von Geschirr erfüllte den Raum. Irgendwo hinter dem Tresen summte eine Kaffeemaschine. Es roch nach Kaffee und frisch gebackenen Keksen. Ihr lief das Wasser im Mund zusammen und sie verfluchte sich dafür, nicht mal ein bisschen Kleingeld mitgenommen zu haben.
Die Schlange wartender Kunden reichte fast bis zum Eingang. Dakota gab vor, sich anzustellen, und hielt nach jemandem Ausschau, der nicht allzu beschäftigt war, was gar nicht so einfach war. Die Mitarbeiter hinter dem Tresen hatten alle Hände voll zu tun. Ja, zwei Hände mehr würden tatsächlich nicht schaden. Und wenn sie nur abwaschen durfte. Selbst das würde sie machen.
Als nur noch zwei Leute vor ihr standen, trat sie aus der Schlange und ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. Der Typ hinter ihr zuckte mit den Schultern und rückte einen Schritt vor. Die zwei Bedienungen huschten alle paar Minuten wieder mit vollen Tabletts auf die Terrasse oder zurück in die Küche. Eine von ihnen, ein Mädchen etwa in Dakotas Alter mit einem blonden Pferdeschwanz, verlangsamte kurz ihr Tempo, um das Tablett auf ihrem Arm umzulagern.
Dakota machte einen Schritt auf sie zu. »Äh, hallo«, sagte sie. Ihre Stimme klang in ihren Ohren piepsig und dünn. Das Mädchen blieb stehen und schaute sie stumm an. »Habt ihr hier nur zwei Bedienungen?«, fragte Dakota schnell, bevor sie der Mut doch noch verließ und bereute ihre Direktheit sofort, als das Mädchen ihr einen säuerlichen Blick zuwarf.
»Dauert es dir zu lange, oder was?«, fragte sie sichtlich genervt und wandte sich schon zum Gehen, doch Dakota würde sich nicht abwimmeln lassen.
»Nein. Ich hab mich nur gefragt, ob ihr Unterstützung gebrauchen könntet. Der Laden scheint gut zu laufen.« Sie lächelte, doch ihr Gegenüber seufzte nur, als würde die Last der ganzen Welt auf ihren Schultern liegen.
»Du hast ja keine Ahnung.«
»Das heißt, ihr braucht Hilfe?«
Das Mädchen musterte sie von oben bis unten und zog eine Augenbraue hoch, als wäre sie nicht ganz überzeugt von dem, was sie sah. »Weißt du was? Komm einfach mit. Perc soll das entscheiden.« Dakota konnte sich ein breites Grinsen nicht verdrücken, während sie dem Mädchen in die Küche folgte. «Perc!», rief sie, ließ Dakota stehen und verschwand hinter einer Tür. »Da ist jemand, der einen Job braucht.«
Unauffällig schaute Dakota sich um. Alles wirkte sauber und ordentlich. Drei Mitarbeiter – zwei Frauen und ein Mann –, die mit Mehl und großen Schüsseln hantierten, beäugten sie neugierig.
Mit wippendem Pferdeschwanz kam das Mädchen zurück in die Küche und wies auf die Tür hinter sich. »Du kannst zu Percy gehen.« Ihr Blick war abweisend, als hätte sie schon entschieden, dass sie Dakota nicht leiden konnte. Na, hoffentlich war sie zu den Kunden nicht so unfreundlich.
Ein Typ, der Dakota um mehr als einen Kopf überragte, lehnte im Flur an der Wand, als würde er nur auf sie warten. Er trug ein weißes Hemd mit einer roten Schürze darüber. Es war dasselbe Rot, dass alle Mitarbeiter trugen.
»Hey.« Er streckte ihr die Hand zum High Five hin. »Perc.«
»Dakota.« Gezwungenermaßen schlug sie ein.
»Du suchst Arbeit?« Perc musterte sie neugierig, aber freundlich. Nicht so abschätzig wie die hochnäsige Blondine. Er wirkte viel netter. Und er war sehr jung für einen Chef. Das machte es einfacher.
»Ja, ich hab das Gefühl, dass zwei zusätzliche Hände nicht schaden könnten.«
»Du hast Glück. Wir mussten erst gestern jemanden rausschmeißen und brauchen dringend Ersatz.« Perc steckte lässig die Hände in die große Tasche seiner Schürze. »Hast du schon mal gekellnert oder sowas?«
Dakota dachte an ihre leidige Erfahrung als Kellnerin in einer Eisdiele, die das scheußlichste Eis auf der Welt verkaufte. Nachdem sie sich endlich getraut hatte, sich bei der Chefin über den Schleim zu beschweren, der den Kunden dort vorgesetzt wurde, war sie fristlos entlassen worden.
»Klar, ich hab schon mal in einem Café gearbeitet.«
»Super. Wann kannst du anfangen?«
Sie musste sich zusammenreißen, um ihn nicht mit offenem Mund anzustarren. Der Typ wollte sie tatsächlich einstellen. Einfach so.
»Ich hab Schule ab nächster Woche. Aber ich könnte vielleicht ab und zu abends arbeiten. Und am Wochenende.«
»Wie wärs, wenn du morgen einfach mal zum Probearbeiten kommst. Falls es gut läufst, kannst du ab sofort jeden Samstag hier arbeiten und unter Woche, wenn ich dich brauche.« Das musste ein Traum sein. Hoffentlich würde sie nicht gleich aufwachen. »Deal?«, fragte Perc und streckte ihr die Hand hin.
»Deal.« Dakota schlug ein. »Dann sehen wir uns morgen. Wann soll ich anfangen?«
»Wir haben auch vormittags geöffnet. Komm einfach um zehn. Du musst den Vordereingang benutzen. Für Samstag bekommst du dann den Schlüssel für die Hintertür.«
»Danke, Percy.« Sie grinste breit.
Perc lächelte. »Gern, ich freu mich auf morgen.«
Als sie die Küche verließ, konnte sie nur schwer dem Drang widerstehen, durch das Café zu hopsen. So viel Glück konnte man doch garnicht haben. Kurz kam ihr der unsinnige Gedanke, Amber anzurufen und ihr von dem Job zu erzählen, aber die war wohl nicht gut auf sie zu sprechen, nachdem sie vorhin so schnell abgehauen war. Außerdem war es nicht gut, sich jemandem sofort anzutrauen. Das würde sie unvorsichtig machen.
Komm runter, sagte sie sich, Benimm dich ganz normal.
Die letzten Schritte bis zum Ausgang legte sie in einem normalen Tempo zurück. Gerade als sie die Tür aufzog, lief jemand direkt in sie hinein. Dakota wich erschrocken zurück, als wäre sie gegen eine Wand gelaufen. Ohne den Kerl auch nur anzusehen, drängte sie sich an ihm vorbei und stolperte auf den Gehweg.
»Hey«, rief er ihr hinterher, doch Dakota drehte sich nicht um. Was wollte dieser Typ von ihr?
»Jetzt warte doch mal!« Konnte er sie nicht einfach in Ruhe lassen? Im letzten Moment sprintete sie über die Straße, bevor die Ampel rot wurde. Erst als das Café aus ihrem Blickfeld verschwunden war, gönnte sie sich eine Pause. Nach Atem ringend lehnte sie sich an eine Hauswand und schaute sich um. Er war ihr nicht gefolgt. Erleichtert atmete sie auf. Ihr Herz raste. Hoffentlich tauchte er nicht doch noch irgendwo auf.
»Hey, Dakota, Schätzchen«, hallte eine Stimme in ihrem Kopf, »Du musst dich doch vor mir nicht verstecken.« Seine Stimmte klang lieb und lockend, als würde er mit einem verängstigten Tier sprechen, doch er meinte es nicht gut. So wie es die meisten Menschen nicht gut mit ihr meinten.
»Geh weg«, murmelte Dakota und verbannte diese Gedanken aus ihrem Kopf. Hier würde ihr niemand etwas antun. Niemand kannte sie und sie teilte sich ihre Wohnung mit zwei Mädchen. Es würde schon nichts passieren.
***
Amber und Jamie saßen in der Küche und aßen Pizza, als Dakota heimkam.
»Ich bin wieder da«, rief sie und steckte den Kopf kurz zur Tür herein. Beim Anblick der Pizza knurrte ihr Magen. Wie schön wäre es, sich einfach zu ihren Mitbewohnerinnen an den Tisch zu setzen, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. Aber sie waren Fremde und Dakota fühlte sich, trotz des quälenden Hungers, noch nicht bereit, mit ihnen gemeinsam am Tisch zu sitzen.
»Möchtest du was?«, fragte Jamie mit einem strahlenden Lächeln.
»Nein danke. Ich hab keinen Hunger«, log Dakota. In ihrem Rucksack war noch eine Packung Kekse. Die würden als Abendessen reichen müssen. »Ich bin müde«, sagte sie und flüchtete in ihr Zimmer.
Sie hätte sich ohrfeigen können für ihr schreckliches Verhalten. Wenn ihre Mitbewohnerinnen sie jetzt schon hassten, konnte sie es ihnen nicht mal verübeln. Normalerweise hätte sie sich entschuldigen müssen, aber nichts in ihrem Leben war normal. Sie war nicht normal. Nicht nach dem, was man ihr angetan hatte. Wie konnte jemand so etwas erleben und danach so tun, als wäre nichts passiert? Nie würde sie so sein wie andere Mädchen in ihrem Alter und sie brauchte auch nicht so tun, als wäre es anders.
Im Gehen zog sie die Schuhe aus und stellte sie mitten ins Zimmer. Ihr Koffer stand immer noch draußen im Flur, doch sie konnte sich nicht überwinden, ihr Zimmer zu verlassen und noch mal an Amber und Jamie vorbeizugehen. So nett Jamie auch war, Dakota fehlte jetzt einfach die Energie, sich mit irgendjemandem zu unterhalten.
Zur Ablenkung würde sie sich einfach ein paar sinnlose Videos auf YouTube anschauen, doch als sie in ihre Rocktasche nach dem Handy griff, war dort nichts.
Keine Panik. Sicher hatte sie es auf dem Weg ins Zimmer verloren. So ruhig wie möglich suchte sie den Boden zwischen Bett und Tür ab, schaute sogar nach, ob es unter den Schreibtisch gefallen war. Nichts. Dann lag es wohl im Flur. Auf Zehenspitzen schlich sie zur Tür und öffnete sie einen Spalt. Sie steckte nur den Kopf heraus und warf einen Blick in den Flur. Auch dort lag außer dem fliederfarbenen Läufer nichts am Boden.
Bevor die Mädchen sie bemerkten, machte sie die Tür wieder zu und schloss ab.
Ganz ruhig Dakota. Wo könnte es sein?
Vielleicht lag es draußen im Treppenhaus. Aber sie hätte es doch merken müssen, wenn es ihr dort aus der Tasche gefallen wäre. Ihre Schritte waren das einzige Geräusch gewesen. Oder vielleicht …
Verdammt! Was, wenn dieser Typ ihr nur ihr Handy hatte wiedergeben wollen? Vielleicht war er ihr deshalb nachgelaufen. Und sie war geflüchtet, als wäre ein Axtmörder hinter ihr her.
Sie schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. Wie blöd konnte man eigentlich sein? Er hatte ihr nur ihr Handy geben wollen und sie war in blinder Panik geflüchtet.
Da half nur eins: Wenn sie morgen zum Probearbeiten ging, musste sie einen ihrer neuen Kollegen fragen, ob dieser Kerl ehrlich genug gewesen war, ihr Handy im Café abzugeben. Das hatte er sicher. Sonst wäre er ihr nicht nachgelaufen, um es ihr zurückzugeben. Bestimmt bekam sie ihr Handy morgen wieder. Also ein Grund mehr, sich auf den morgigen Tag zu freuen.
Verdutzt schaute Logan dem Mädchen hinterher, das ohne irgendeine Reaktion davonrannte. Aber sie hatte ihn gehört, sonst würde sie nicht so rennen. Er fragte sich nur, warum sie es so eilig hatte. Logan schaute an sich herunter. Nichts an ihm war so furchterregend, dass jemand vor ihm flüchten musste. Wahrscheinlich hatte sie sich einfach erschreckt.
Mit einem Schulterzucken schaute er auf das Handy in seiner Hand und betrat das Mr. Percy. Er würde es einfach an der Kasse abgeben. Sie würde es schon abholen, wenn sie es vermisste.
Eine Tüte mit Bagels und eine mit Mr. Percys berühmten Riesencookies in der Hand, verließ Logan kurze Zeit später das Café. Hoffentlich hatte Matt nichts für sich gekocht. Allein würde Logan das viele Essen nicht schaffen. Matt dagegen war fast zwei Meter groß und dünn wie eine Bohnenstange. Er konnte Unmengen an Essen verdrücken.
»Hey Matt«, rief er und ließ die Wohnungstür ins Schloss fallen. Im Flur war es stickig. Kein Wunder. Matt saß wahrscheinlich wieder vor dem Fernseher und hatte seit Stunden nicht gelüftet. »Hier stinkt’s. Wo bist du überhaupt?«
Ohne anzuklopfen, platzte Logan ins Wohnzimmer und tatsächlich saß Matt dort auf dem Sofa. Dunkle, zerzauste Haare unter schwarzen Kopfhörern lugten über die Rückenlehne. Logan schlug mit den Fingerknöcheln gegen den Türstock. Keine Reaktion. Das war typisch Matt. Selbst wenn er allein war, schaute er immer mit Kopfhörern fern.
»Weil ich’s gern laut mag und das würde die Nachbarn stören«, erklärte er immer. Matt hatte seine Eigenarten, doch er war der Logans einziger richtiger Freund in Blue Water. Er war für ihn da gewesen, als er ohne Zuhause, ohne irgendwelche Kontakte und ohne Zukunftsperspektiven aus der Entzugsklinik entlassen worden war. Da die Klinik in Blue Water war, war Logan einfach hier geblieben, anstatt in seine Heimatstadt New Town zurückzugehen. Mit einem Alkoholiker zusammenzuleben, war auch das Dümmste, das man nach einem Entzug machen konnte. Sollte Mike doch allein klarkommen. Wahrscheinlich merkte er noch nicht mal, dass seit einem Jahr auch sein jüngster Sohn weg war. Wenn der Alte überhaupt noch lebte. Aber selbst das kümmerte Logan nicht. Schließlich war Mike nie ein Vater gewesen. Er hatte ihn nie unterstützt, ihm nie etwas beigebracht, außer dass es wohl eine gute Lösung war, all seine Probleme in Unmengen Billigschnaps zu ertränken. Und eins wusste Logan jetzt: Das war es nicht. Seit seinem Entzug vor acht Monaten hatte er keinen Tropfen Alkohol mehr angerührt und das würde auch so bleiben. Nie wieder wollte er erleben, was er während seiner Sucht und dem Entzug erlebt hatte.
Logan grinste, während er zum Sofa schlich und Matt die Kopfhörer vom Kopf riss. Erschrocken drehte der sich um und starrte ihn mit offenem Mund und aufgerissenen Augen an. »Hey, was soll das?«
Logan ließ wortlos die zwei Tüten aufs Sofa fallen.
Gierig wühlte Matt darin. »Na endlich«, sagte er und biss im selben Atemzug in einen Cookie mit extragroßen Schokostückchen.
»Ohne mich würdest du verhungern», behauptete Logan und da war sehr wohl etwas Wahres dran. Matt konnte sich stundenlang in irgendwelche Kochshows vertiefen und bekam dann überhaupt nichts mit.
»Hey, vergiss nicht, dass ich kochen kann«, rief Matt empört. Wieder wühlte er in einer der Tüten und holte einen Lachsbagel heraus. »Die mag ich am liebsten.«
»Das weiß ich doch, Mann. Du vergisst es nur, wenn du vor dem Fernseher sitzt.« Logan ließ sich neben seinen Kumpel aufs Sofa fallen. Der Fernseher lief noch. Allerdings ohne Ton, da der Kopfhörer noch steckte. Ein höchstwahrscheinlich berühmter Koch, den Logan nicht kannte, briet ein riesiges Steak.
Matt zeigte mit dem Finger auf den Bildschirm. »Ich bekomm immer so Hunger, wenn ich mir das anschaue.« Er schüttelte den Kopf, verwundert über sich selbst.
Schulterzuckend griff Logan in die Tüte und biss von seinem Bagel mit Salat und Tomaten ab. Seit dem Entzug achtete er allgemein darauf, nicht zu viel zu konsumieren und auszugeben. Erstens war er chronisch pleite und zweitens wollte er nicht, dass seine Alkoholsucht in etwas anderes umschlug. Er wollte von nichts mehr abhängig sein. Nicht von Alkohol, nicht von Computerspielen, Zucker oder irgendetwas anderem.
»Alles klar?«, fragte Matt zwischen zwei Bissen. Matt war oft unaufmerksam und ließ sich leicht ablenken, aber wenn Logan nachdenklich oder schlecht gelaunt war, bemerkte er es sofort.
»Sicher. Die alten Sachen kommen nur wieder hoch.« Lustlos biss er nochmal in seinen Bagel.
»Wegen deinem Dad?«
»Nenn ihn nicht immer so. Er ist kein Vater«, knurrte Logan. Dad! So eine Bezeichnung verdiente der Typ nicht.
»Ok, sorry.« Eine Weile schwiegen sie. »Logan?« Matt schaute ihn fragend an, fast schuldbewusst. »Isst du deinen Cookie gar nicht?«
»Bedien dich. Und iss den hier auch.« Er warf den halb gegessenen Bagel auf die Tüte und verschwand in seinem Zimmer. Plötzlich konnte ihn nicht mal das Fast Food reizen, das er sonst so liebte. Ohne die Schuhe auszuziehen, legte er sich aufs Bett.
Verdammt! Warum musste Matt ausgerechnet nach Mike fragen? Und warum wollte er einfach nicht verstehen, dass Mike ihm nie ein Vater gewesen war? Matt war naiv. Sein Glauben an das Gute in jedem Menschen war unerschütterlich, doch bei Mike war dieser Glaube vergeblich. Seit Logan denken konnte, hatte Mike immer einen Flasche mit irgendeinem billigen Fusel in der Hand gehabt. Für Logan war es das Normalste der Welt gewesen, mit seinen Geschwistern zwischen leeren und halbvollen Flaschen zu spielen. Seine Mom hatte wohl ab und zu einige Flaschen weggeräumt, aber daran konnte er sich nicht erinnern. Er war noch zu klein gewesen, als sie starb.
Und Charlie? An sie wollte er gar nicht denken. Auch sie hatte er verloren. So wie seine gesamte Familie. In einem Anflug von Wut schlug er mit der Faust aufs Kissen. Das Blut rauschte in seinen Ohren. Die Welt war ungerecht! Warum musste er immer so viel Pech haben?
Schnell versteckte er die Fäuste in den Taschen seines Kapuzenpullis. Was nützte es, sich über die Vergangenheit aufzuregen? Sie ließ sich nicht ändern. Alles, was er tun konnte, war nach vorne zu schauen. In sieben Tagen fing die Schule an. Ein neues Jahr voller Chancen. Dieses Jahr würde über seine Zukunft entscheiden. Er brauchte einen Plan. Und ein Stipendium für die Uni in Blue Water. Er durfte sich nicht ablenken oder von seiner Wut überrennen lassen. Alles, was zählte, war seine Zukunft, und die hatte er von nun an selbst in der Hand.
Der Dienstag war ein voller Erfolg. Mit einem Lächeln auf den Lippen verließ Dakota am frühen Nachmittag das Mr. Percy. Sie spürte das Gewicht ihres Handys in ihrer Jackentasche, das ihr Percy heute Morgen im Namen des Unbekannten gegeben hatte. Daneben klimperte ein kleiner Schlüsselbund. Ihre Finger glitten in die Tasche und umschlossen das warme Metall. Eigene Schlüssel bedeuteten Verantwortung, und es fühlte sich gut an, ein bisschen Verantwortung zu tragen. Nicht nur für sich selbst, sondern auch für Percys Café.
Nicht mal, dass Milly sie offensichtlich nicht leiden konnte, hatte ihr die gute Laune heute verderben können. Heute war sie mit Sam eingeteilt gewesen, die neben ihrem Studium jobbte und auch meistens samstags da war. Dakota verstand sich auf Anhieb mit ihr, und innerhalb kürzester Zeit konnte sie die komplexe Kaffeemaschine bedienen, Milchshakes zubereiten und durfte sogar schon Kunden am Tresen bedienen. Und anderes als erwartet, war die Arbeit nicht nur ein nötiges Übel, sondern machte ihr tatsächlich Spaß. Millys böse Blicke hatte sie einfach ignoriert. Von ihr würde Dakota sich das nicht kaputtmachen lassen.
Betont langsam schlenderte sie die Einkaufsstraße entlang, um das Zusammentreffen mit Amber und Jamie noch möglichst lange hinauszuzögern. In der Früh waren beide noch in ihren Zimmer gewesen, als Dakota ihren Koffer ins Zimmer geholt und sich im Bad für den Arbeitstag fertig gemacht hatte. Doch heute stand die Besprechung des Putzplans an. Ihr wurde flau im Magen. Wie sollte sie sich den Mädchen gegenüber verhalten? Wenn sie weiter so abweisend war, würde sich das Zusammenleben ziemlich schwierig gestalten. Irgendwie musste sie es schaffen, sich ihnen wenigstens ein bisschen anzunähern. Sie wollte nicht ihre Freundin werden. Denn eine Freundschaft bedeutete, dass man sich gegenseitig alles erzählte, dass man Fragen stellte. Fragen, die sie nicht beantworten wollte und konnte. Es gab Erinnerungen, die sie tief in sich vergraben hatte und dort sollten sie auch bleiben. Niemals würde sie jemandem die Gelegenheit geben, in ihren Wunden zu bohren. So schwer das auch war. Sie musste Amber und Jamie weiter auf Abstand halten, ohne ihnen ständig aus dem Weg zu gehen. Irgendeine Lösung würde sie schon finden.
Fast geräuschlos öffnete sie die Wohnungstür und schloss sie wieder hinter sich. Die Schuhe ließ sie diesmal im Flur stehen und schlich auf Socken durch den Flur. Sie wusste, dass es lächerlich war, was sie tat. Es war egal, ob Amber und Jamie sie hörten. Entkommen würde sie ihnen sowieso nicht. Es war wohl einfach eine alte Gewohnheit. Zu Hause war es ihr am besten ergangen, wenn niemand sie bemerkt hatte.
Leise Stimmen drangen aus der Küche. Dakota legte eine Hand auf die Brust, um ihren wilden Herzschlag zu beruhigen. Ihr Körper spielte ihr einen Streich. Es gab nichts, wovor sie Angst haben musste, doch sie konnte nichts dagegen tun.
Amber sah sie sofort und verzog die Lippen zu einem kleinen Lächeln. Dakota atmete tief durch und erwiderte das Lächeln.
»Hi, da bin ich wieder.« War doch garnicht so schwer.
Jetzt schaute auch Jamie zu ihr. Sie wirkte weniger befangen als Amber. »War die Jobsuche erfolgreich?«
»Ja, ich durfte heute zur Probe arbeiten und fange am Samstag an.« Wieder griff sie in die Tasche ihres Kapuzenpullis und umklammerte die Schlüssel.
»Das ist toll. Wo denn?« Jamie blickte sie so offen an, dass Dakota ein schlechtes Gewissen bekam. Warum nur fühlte es sich so an, als würde Jamie sie verhören? Sie war doch nur neugierig.
»In einem Café in der Stadt«, antwortete sie kurz angebunden. »Ich dachte, wir könnten heute den Putzplan besprechen. Damit ihr mich eintragen könnt.«
Amber nickte, stand auf und ging zum Kühlschrank. »Ich hab einen neuen Plan gemacht. Bad und Küche werden zweimal die Woche geputzt. Wir haben dich schon eingetragen.« Dakota betrachtete den Kalender. Der Plan war für die nächsten beiden Wochen festgelegt. Hoffentlich würde ihr Putzdienst sich nicht mit ihren Arbeitszeiten überschneiden. Vielleicht sollte sie … Nein, es wäre unverschämt, Amber um Änderungen zu bitten, nachdem sie sich seit ihrer Ankunft gestern Nachmittag kaum hatte blicken lassen.
»Ist das ok für dich?«, fragte Amber schließlich.
Dakota riss sich von dem Plan los. »Ja, klar. Sicher.« Ein paar Sekunden stand sie noch unschlüssig in der Küche, während Amber sich wieder an den Tisch setzte. Dann ging sie zur Tür, ohne Plan, wie sie den restlichen Tag verbringen sollte. Wieder allein in ihrem Zimmer? Doch da kam ihr eine Idee. »Soll ich vielleicht noch was einkaufen? Ich wollte sowieso nochmal los.«
Unsicher schaute Amber zu Jamie. »Äh, nein, eigentlich …«
»Klar«, fiel Jamie ihr ins Wort, »Wir könnten zusammen kochen. Ich mach dir schnell eine Liste.«
Notgedrungen kochte Dakota zusammen mit Amber und Jamie Spaghetti Bolognese. Jamie bestand darauf, die Soße aus frischen Zutaten selbst zu machen. Mit angespannten Schultern stand Dakota an der Arbeitsplatte und schnitt Cocktailtomaten in kleine Stückchen. Amber saß am Tisch und zerhackte Kräuter, wobei sie immer wieder verstohlen zu Dakota herüber sah. Obwohl Dakota froh war, dass Amber keine Fragen stellte, konnte sie das Schweigen nur schwer ertragen. Sie schaute sich nach einem Radio um. Ein bisschen Musik oder sinnloses Geschwätz würden die peinliche Stille wenigstens ein bisschen übertönen.
»Hey, ihr habt ja schon angefangen.« Mit einem unbeschwerten Lächeln trat Jamie in die Küche. Die rotbraunen Haare fielen ihr feucht auf den Rücken. Ihr Gesicht strahlte und Dakota fragte sich, wie sie es schaffte, so zu tun, als wäre alles in Ordnung.
»Wir machen die Soße«, entgegnete Amber beiläufig, wahrscheinlich nur, um die allgemeine Anspannung zu überspielen, von der Jamie anscheinend nichts merkte.
»Super, dann mach ich den Salat«, sagte Jamie, schnappte sich den in Folie eingewickelten Salatkopf und begann, die Blätter abzureißen und zu waschen. Sie wirkte dabei so routiniert, dass Dakota sich blöd vorkam, wie sie ungelenk die Tomaten in unterschiedliche große, unförmige Stücke schnitt.
»Möchtest du den Salat waschen? Dann schneide ich die Tomaten«, bot Jamie an.
»Nein, schon gut.« Jamie jetzt auch noch mehr Arbeit aufzubürden, nur weil sie sich so ungeschickt anstellte, war das Letzte was sie wollte.
»Das ist doch nicht schlimm. Dir fehlt einfach nur die Übung.«
»Das krieg ich schon hin.« Dakota drehte Jamie halb den Rücken zu, doch das hielt sie nicht davon ab, weiterplappern.
»Amber und ich haben schon in der Grundschule zusammen gekocht. Zusammen mit ihrer Mom. Einmal haben wir uns eine Tomatenschlacht geliefert. Weißt du noch, Amber?«
»Ja, das war lustig«, presste Amber hervor und zwang sich zu einem Lächeln.
»Jetzt zieht doch nicht solche Gesichter.« Jamie legte Dakota eine Hand auf die Schulter und sie zuckte zusammen, obwohl sie eigentlich damit hatte rechnen müssen, nachdem Jamie ihr bei ihrer ersten Begegnung gleich um den Hals gefallen war. Jamie runzelte die Stirn und nahm ihre Hand langsam wieder weg. »Hey, Dakota, wenn es irgendwas gibt, das …«
»Mir geht’s gut.«
»Wirklich? Du wirkst so bedrückt. Ich meine, du kennst uns nicht, aber…«
»Lass sie in Ruhe. Sie will nicht mit dir reden«, rief Amber.
Jamie stockte in der Bewegung. Für ein paar Sekunden war nur das Rauschen des Wasserhahns zu hören. Betroffen sah sie zu Amber. Dann zu Dakota. »Stimmt das?«
Dakota schluckte die aufsteigenden Tränen hinunter. Die ganze Situation war noch viel schlimmer als befürchtet. Sie umklammerte das Messer so fest, dass der Griff schmerzhaft in ihre Handfläche drückte. Sie brachte es nicht fertig, Jamie anzusehen. »Nein, tut mir leid. Ich …«
»Schon ok. Du musst nicht reden. Wir verurteilen dich auch nicht.« Jamie klang verständnisvoll, doch Ambers abfälliges Schnauben sprach eine andere Sprache.
Die Stimmung war gedrückt. Beim Essen war Jamie die Einzige, die versuchte, ein Gespräch am Laufen zu halten, doch auch sie war sichtlich geknickt. Amber starrte die meiste Zeit angespannt auf ihren Teller. Kein Wunder. Sie dachte wahrscheinlich zu Recht, dass Dakota sie nicht leiden konnte. Das schlechte Gewissen zerfraß sie und machte sie fast wahnsinnig. Eilig stopfte sie die Spaghetti in sich hinein und verschwand in ihrem Zimmer. Erst als sie sich sicher war, dass Amber und Jamie im Bett waren, wagte sie sich ins Bad.
In den nächsten drei Tagen ging sie Amber und Jamie so gut wie möglich aus dem Weg. Sie streifte wie eine Heimatlose durch die Stadt, kaufte sich ihr Essen bei irgendwelchen Imbissbuden und hielt sich in verschiedenen Parks auf.
Am Samstag verließ sie eine Stunde früher als nötig das Haus und spazierte ziellos durch Blue Water, bevor sie zur Arbeit ging. Sich eine Wohnung zu teilen war schrecklich und es war ganz allein ihre Schuld. Dakota verfluchte sich für ihre Hemmungen und Ängste. Sie hasste ihre Eltern für das, was sie ihr angetan hatten. Eigentlich waren sie schuld. Sie hatten sie zu dem Mensch gemacht, der sie heute war. Ein Mensch, der niemandem vertrauen konnte und anderen aus dem Weg ging.
Den ganzen Sonntag verschanzte sie sich wieder in ihrem Zimmer, da sie sich nicht dazu überwinden konnte, mit Amber und Jamie zu reden, sich bei ihnen für ihr schreckliches Verhalten zu entschuldigen. Nach fast einer Woche war der Zug schon abgefahren. Ihre Mitbewohnerinnen hatten sich ihre Meinung über sie längst gebildet. Es gab kein Zurück mehr. Jetzt ging es nur noch darum, das kommende Schuljahr zu überstehen und einen guten Abschluss zu machen. Vielleicht konnte sie danach wirklich von vorne anfangen. Und beim nächsten Mal, das schwor sie sich, würde sie es besser machen.
Fest umklammerte Dakota die Träger ihres Rucksacks und ging mit langen, sicheren Schritten über den Schulhof der Blue Water High, so als wäre sie schon seit Jahren auf dieser Schule. Niemand achtete auf sie. In der Menge fiel sie nicht auf.
Betont lässig lehnte sie sich an das Treppengeländer vor dem Haupteingang und ließ ihren Blick über das Gelände schweifen. Die meisten Jugendlichen standen in kleinen Gruppen zusammen. Nur wenige saßen allein auf einer Bank oder auf dem Rasen und starrten in ihre Handys oder irgendwelche Bücher.
Hier draußen fühlte sie sich sicher, doch es graute ihr davor, ins Schulgebäude zu gehen und durch den Gang zu laufen. Zwischen all den Möchtegern-Bad-Boys und selbst ernannten Anführerinnen, die an ihren Spinden lehnten und jeden beobachteten, der vorbeikam. Um nicht aufzufallen, blieb sie so lange wie möglich vor dem Eingang stehen und ging erst hinein, kurz bevor es zum Unterrichtsbeginn läutete.
Obwohl niemand wirklich Interesse an ihr zeigte, glaubte Dakota, die Blicke der anderen im Rücken zu spüren. Drei Typen, die vor einem offenen Spind standen, pfiffen ihr hinterher. »Hey Süße«, rief einer, »dich kenn ich gar nicht.«
Unbeirrt setzte Dakota ihren Weg fort und versuchte, ihr heftig pochendes Herz zu ignorieren. Ein Bild flackerte in ihrem Kopf auf. Kräftige Hände, die nach ihren Handgelenken griffen. Jemand lachte hämisch.
Sie schüttelte den Kopf, um das Bild loszuwerden. Niemand würde ihr etwas antun. Die Jungs auf der Highschool fühlten sich einfach nur cool, aber sie würden ihr nicht wehtun. Zumindest redete sie sich das ein.
Kurz bevor sie das Sekretariat betrat, strich sie ihre schwarze Bluse und den leicht zerknitterten, ebenfalls schwarzen Rock glatt. Mist. Vielleicht hätte sie ihn doch bügeln sollen. Wäre sie nicht so unfreundlich zu Amber und Jamie, hätte sie eine der beiden sogar nach einem Bügeleisen fragen können. Innerlich ohrfeigte sie sich.
Reiß dich zusammen. Tu, was du tun musst.
Als auf ihr Klopfen niemand antwortet, öffnete sie einfach die Tür und steckte den Kopf herein. Eine ältere Frau saß am Schreibtisch.
»Guten Morgen«, quetschte Dakota so höflich wie möglich hervor.
Die Frau schaute auf. »Solltest du nicht längst im Klassenzimmer sein?«, fragte sie streng und rückte ihre Brille zurecht.
Dakota erklärte ihr, dass sie neu an der Schule war und ihren Stundenplan noch nicht bekommen hatte. Ihr Gegenüber tippte etwas in ihren Computer ein. Dann forderte sie Dakota auf, schleunigst in ihr Klassenzimmer zu gehen und ihren Stundenplan in der Pause abzuholen.