Saving you - Janina Schlick - E-Book

Saving you E-Book

Janina Schlick

5,0

Beschreibung

Für sie ist die Liebe eine Lüge. Kann er sie vom Gegenteil überzeugen? April will nur eins: Das Trauma ihrer Kindheit überwinden und endlich ohne Ängste durchs Leben gehen. An die Liebe glaubt sie nicht. Deshalb wehrt sie die Annäherungsversuche von Cameron, dem ein Ruf als Bad Boy und Gangster vorauseilt, zunächst ab. Bis sie einen Blick hinter die Fassade wirft und erkennt wer Cameron wirklich ist. Zum ersten Mal im Leben schlägt April alle Vorsicht und alle Zweifel in den Wind und gibt ihren Gefühlen für Cameron nach. Doch er zieht sie in eine Welt hinein, vor der sie seit Jahren flieht.

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Seitenzahl: 312

Veröffentlichungsjahr: 2022

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April und Cameron

Inhaltsverzeichnis

1. KAPITEL

April

2. KAPITEL

Cameron

3. KAPITEL

April

4. KAPITEL

Cameron

5. KAPITEL

April

6. KAPITEL

Cameron

7. KAPITEL

April

8. KAPITEL

Cameron

9. KAPITEL

April

10. KAPITEL

Cameron

11. KAPITEL

April

12. KAPITEL

Cameron

13. KAPITEL

April

14. KAPITEL

Cameron

15. KAPITEL

April

16. KAPITEL

Cameron

17. KAPITEL

April

18. KAPITEL

Cameron

19. KAPITEL

April

20. KAPITEL

Cameron

21. KAPITEL

April

22. KAPITEL

Cameron

23. KAPITEL

Ein halbes Jahr später

Cameron

April

EPILOG

Fünf Jahre später

April

Cameron

1. KAPITEL

April

Absätze klackerten über das Laminat. April kroch noch weiter unter das Bett. So weit, dass sie mit den Füßen an die Wand stieß. Spitze braune Lederschuhe tauchten in ihrem Blickfeld auf. Sie stoppten direkt vor ihren Augen. Ihr Herz raste. Er durfte sie nicht entdecken, denn er hasste es, wenn sie sich in Moms Schlafzimmer versteckte.

„Charlie!“, schrie er und April zuckte zusammen. Sie lauschte. Es blieb still.

„Charlie! Verdammt nochmal, komm sofort her, du Miststück!“

Irgendwo im Haus fiel eine Tür ins Schloss. Für ein paar Sekunden herrschte ohrenbetäubende Stille. Dann verließ Ramon mit schnellen Schritten den Raum. Dabei rief er immer wieder nach Mom und mit jedem Rufen wurde seine Stimme lauter und bedrohlicher. Es knallte, als ob jemand eine Tür an die Wand geworfen hätte. Wieder näherten sich Schritte. Neben Ramons Füßen sah April die ihrer Mom, die in blauen Flip-Flops steckten.

„Lass mich los!“, schrie sie. Das Klatschen von Haut auf Haut folgte. April rollte sich zusammen. Stumme Tränen liefen über ihr Gesicht. Ramon machte ihr Angst. Sein schwarzer stechender Blick war gruselig und seine Stimme kalt wie Eis. Aber wenn er Mom schlug, hasste sie ihn. Da wünschte sie sich größer und stärker zu sein. Am besten ein Junge. Dann würde sie ihm eine verpassen, damit er Mom in Ruhe ließ. Leider war sie nur ein kleines ängstliches Mädchen, das sich unter dem Bett versteckte.

„Du hast mich heute schon genug geärgert“, zischte Ramon.

„Wo ist April?“, fragte Mom schwach. Ihr Widerstand war gebrochen. Gegen Ramon konnte sie nichts ausrichten.

Ramon lachte leise. „Sie wird sich irgendwo verstecken.“

Ob er wusste, dass sie hier war? Hoffentlich fand er sie nicht.

April legte sich flach auf den Boden und atmete kaum, während Ramon Mom aufs Bett warf. Es quietschte. Ramon stöhnte und nannte Mom seine Göttin. Manchmal lachte er. Mom stöhnte auch, doch sie lachte nicht. Was Ramon mit ihr machte, gefiel ihr nicht.

Die kleinen Hände auf die Ohren gepresst, verharrte April unter dem Bett und wartete, bis es vorbei war.

Es war dunkel im Zimmer, als April aus dem Schlaf hochschreckte. Wie immer hatte sie die Rollläden ein Stück offen gelassen, aber kein Licht kam ins Zimmer. Die nächste Straßenlaterne war so weit weg, dass ihre Helligkeit nicht bis zu ihrem Fenster reichte.

Sie tippte auf das Display ihres Handys neben ihrem Bett. Die grellen Leuchtziffern zeigten ihr die Uhrzeit an. Halb sieben. Also noch viel zu früh, um aufzustehen und in die Schule zu fahren.

Mit einem Aufstöhnen ließ sie sich zurück in die weichen Kissen fallen. Das Poster an der Decke war eine dunkle verschwommene Masse, doch sie hatte es schon so oft angesehen, dass sie jedes Detail kannte. Der schlanke Stamm einer Palme, grüne Wedel, die sich im Wind bogen, die Wellen, die sich am Strand brachen, die zarten Wölkchen, die auf dem strahlend blauen Himmel kaum zu sehen waren. Es war ein Strand, wie es ihn tausendmal auf der Welt gab. April wusste nicht mal, wo dieses Bild aufgenommen worden war. Auf jeden Fall weit weg von hier und all ihren Sorgen und Ängsten.

Wieder sah sie auf die Uhr. Keine fünf Minuten waren vergangen. Eigentlich könnte sie jetzt noch eine Stunde schlafen, aber sie war hellwach. Wie immer, wenn sie von früher träumte. Diese Träume waren so real. Es fühlte sich an, als würde sie das alles nochmal erleben. Als wäre sie wieder in jenem Haus. Ein kalter Schauer lief durch ihren Körper. Sie schloss die Augen und stellte sich vor, wie es wäre, an dem Strand auf ihrem Poster zu sein. Oder einfach nur am Strand von Blue Water. Mit warmem Sand unter den Füßen und einer leichten Brise, die über ihr Gesicht strich. Fast hörte sie das Rauschen der Wellen. Außer ihr war niemand am Strand. Trotzdem fühlte sie sich plötzlich unwohl.

„Ich bin noch da“, dröhnte seine dunkle Stimme in ihrem Kopf.

April riss die Augen auf und knipste die Nachttischlampe an. Die Wand und das Bett wurden in dämmriges Licht getaucht. Niemand war hier. Der Druck auf ihrer Brust ließ nach. Aber ein ungutes Gefühl blieb. Wie immer, wenn sich Ramon in ihre Gedanken schlich. Ramon. Das war er für sie. Nicht mal in Gedanken nannte sie ihn Dad. Ein Mensch wie er verdiente diese Bezeichnung nicht.

Eine halbe Stunde früher als sonst stand sie im Bad und wühlte in ihrem Schminktäschchen. Routiniert trug sie Make-up, Mascara und Eyeliner auf. Schüchtern lächelte sie ihrem Spiegelbild zu. Heute sollte das ängstliche Mädchen zu Hause bleiben. Das nahm sie sich ganz fest vor.

„April?“ Mom kam aus der Küche. In der Hand hielt sie ihre minzgrüne Lieblingstasse, aus der Dampf aufstieg.

April stockte mitten in der Bewegung. Eigentlich hatte sie heute einfach unbemerkt das Haus verlassen wollen, aber Mom entging nichts. Wie auch, nachdem sie fast zehn Jahre lang auf jedes Geräusch gelauscht und sich lautlos durch Ramons Haus bewegt hatte.

Der Blick ihrer Mutter fiel auf Aprils Hände, die die Träger des Rucksacks krampfhaft umklammerten, wanderte dann über ihr Gesicht. Ihre Augenbrauen zogen sich sorgenvoll zusammen. Mom ließ sich nicht von einer Schicht Make-up darüber hinwegtäuschen wie es April wirklich ging.

„Wieder schlecht geträumt?“

„Das Übliche“, murmelte sie abweisend.

Mom legte vorsichtig die Hand auf ihren Ellbogen. „Du sagst das so, als wäre es normal.“

„Ist es das nicht?“

Energisch schüttelte Mom den Kopf. Eine Locke löste sich aus ihrem Pferdeschwanz. „Da siehst du, was er angerichtet hat. Du glaubst, es wäre normal mit diesen Albträumen zu leben?“

April trat einen Schritt zurück. „Ich hab keine Lust, darüber zu reden.“

„April …“

„Ich muss jetzt in die Schule.“ Sie wartete Moms Antwort gar nicht ab, sondern flüchtete nach draußen, ließ die Wohnungstür hinter sich zufallen und polterte durchs Treppenhaus in die Tiefgarage.

Stolz lächelnd ließ sie sich auf den Fahrersitz ihres Wagens fallen, den Mom ihr zum siebzehnten Geburtstag letzten Monat geschenkt hatte. Endlich ein neues Auto und nicht mehr den klapprigen hässlichen Oldtimer, den sie sich vor zwei Jahren hart mit Putzen und Kellnern erarbeitet hatte.

Eine Weile saß sie mit geschlossenen Türen da und betrachtete die kleinen Deckenleuchten, von denen eine unaufhörlich flackerte. Die massive Metalltür fiel mit einem dumpfen Krachen ins Schloss und Schritte näherten sich. Dann lief der Nachbar aus dem Stock über ihnen an ihrem Auto vorbei. Einem ersten Impuls folgend duckte sie sich hinter dem Lenkrad und schüttelte dann den Kopf über sich selbst. So viel dazu, das ängstliche Mädchen zu Hause zu lassen. Es war nur der Nachbar, verdammt nochmal. Dieses schreckhafte Verhalten musste aufhören.

***

„Hi Süße.“ Addy zog sie in eine kurze Umarmung. Strahlend hielt sie ihr einen braunen Kaffeebecher mit einem Berg Sahne hin. „Dunkle Schokolade mit extra viel Sahne und wenig Zucker. So wie du sie liebst.“

„Danke.“ April nahm ihr den Becher ab und nippte an der heißen bitteren Flüssigkeit. Addy dachte wirklich immer an alles.

„Ich seh dich eben gerne glücklich“, sagte Addy. Sie trank ihren Becher leer und stellte ihn in den Spind, der fast überquoll von leeren Kaffeebechern.

„So ein Vollidiot.“ Katy zwängte sich zwischen Addy und April.

„Wer?“, fragte April.

Mit dem Kinn deutete Katy auf drei Jungs, die gerade den Gang hinaufschlenderten.

„Du meinst Cameron?“ Ein Grinsen erschien auf Addys Gesicht.

„Er hat mich abblitzen lassen. Hält sich wohl für was Besseres.“

„Cam kann jede haben“, entgegnete Addy, „Aber ich kann dir nicht verübeln, dass du es versucht hast.“ Ihre Augen blitzten, als sie April ansah. „Du bist die Einzige, die ihm widerstehen kann. Wie machst du das?“

„Ganz einfach.“ Mit energischen Bewegungen öffnete sie ihren Spind, holte ein paar Bücher heraus und schlug ihn wieder zu. „Er interessiert mich nicht.“

Katy riss erstaunt die Augen auf. „Das glaub ich dir nicht.“

„Ich weiß nicht, was an ihm so toll sein soll.“ Demonstrativ schlug April ihr Englischbuch auf und blätterte darin, als würde sie etwas suchen. Trotzdem konnte sie nicht anders, als kurz einen Blick auf Cameron zu werfen, als er mit seinen beiden Kumpels im Schlepptau vorbeiging. Ein paar Strähnen seiner kaffeebraunen dicken Haare fielen ihm ins Gesicht. Der Wuschellook war typisch für ihn und lenkte den Blick direkt auf seine ozeanblauen Augen. April verstand, was Katy, Addy und hundert andere Mädchen an ihm so sehr faszinierte. Cameron sah gut aus. Sehr sogar. Aber die Geschichte ihrer Mom, und das Leid, das sie beide zehn Jahre lang hatten ertragen müssen, hatte sie gelehrt, sich nicht von Äußerlichkeiten beeindrucken zu lassen.

Cameron sah nur kurz in ihre Richtung. Katy lächelte breit. Addy winkte. Cameron hob nur ganz leicht einen Mundwinkel. Er lächelte selten. Wahrscheinlich schadete das seinem Image als Bad Boy. Meistens lief er mit einem düster-nachdenklichen Ausdruck im Gesicht herum, den viele Mädchen wohl heiß fanden. Für April hingegen verkörperte er die Art Männer, die sie hasste. Die Männer, die dachten, sie hätten das Recht, sich alles zu nehmen, was sie wollten. Wen sie wollten. Und dann alles und jeden zerstörten.

Addy stieß ihr den Ellbogen in die Seite. „Du starrst ihn an“, flüsterte sie.

„Das bedeutet nichts“, behauptete April. Lieber würde sie sich die Zunge abbeißen, bevor sie zugab, dass sie Cameron attraktiv fand. Katy und Addy würden unermüdlich darauf herumreiten. Ihr war es am liebsten, wenn sie nichts mit Cameron oder irgendwelchen anderen Typen zu tun haben musste. Besonders nicht mit Cameron. Dem wollte sie unter allen Umständen aus dem Weg gehen.

„Und ob das was bedeutet.“ Katys blaue Augen leuchteten. „Sag mir nicht, dass du ihn hässlich findest.“

April lehnte den Kopf an ihre Spindtür und seufzte. „Katy.“

„Na los, sag mir ins Gesicht, dass du Cam hässlich findest.“

„Lass uns gehen. Der Unterricht fängt bald an.“

„Du weichst aus. Ich weiß, was das bedeutet.“

„Lass sie doch.“ Addy nahm Katy am Arm und zog sie von April weg. „Vielleicht schrecken sie die Gerüchte ab.“

Eilig packte April die Bücher in ihren Rucksack und warf ihn sich über die Schulter. „Wir reden später“, sagte sie und wandte sich zum Gehen. Es war ihr egal, ob Addy und Katy ihr folgten. Solange sie nur aufhörten, über Cameron zu reden.

April legte das Englischbuch aufgeschlagen vor sich auf den Tisch und gab vor, darin zu lesen. In Wirklichkeit verstand sie den Sinn der Worte nicht. Was Mr. Beckett erzählte, war nur ein Rauschen im Hintergrund. Immer wieder hob sie den Blick, direkt auf Camerons Rücken vor ihr, und wandte ihn gleich wieder ab. Bisher hatte es sie nie gestört, dass sie denselben Englischkurs besuchten. Er war einfach nur irgendein Typ gewesen, für den sie sich nicht interessierte.

Zum gefühlt hundertsten Mal starrte sie auf seinen breiten Rücken. Das schwarze T-Shirt spannte über seinen Schultern. In seinem Nacken prangte ein Tattoo, das zur Hälfte verdeckt wurde. Es war ein seltsam verschnörkelter Kreis mit einem kleinen Schriftzug darin. Mit zusammengekniffenen Augen versuchte April die Schrift zu entziffern. Sie glaubte, das Wort Fighter zu erkennen. Dabei beugte sie sich so weit nach vorne, dass sie ihr Englischbuch an die Tischkante schob. Mit einem dumpfen Laut fiel es auf den Boden.

Mr. Beckett sah sie streng an. Zu allem Überfluss drehte sich auch noch Cameron zu ihr um. Seine Augen scannten ihr Gesicht ab.

„Sorry“, murmelte sie und schob den Stuhl zurück, um das Buch aufzuheben. Bevor sie unter den Tisch kriechen konnte, griff Cameron nach dem Buch und legte es mit einem kaum erkennbaren Lächeln auf ihren Tisch. Dann drehte er ihr wieder den Rücken zu.

Die restliche Stunde hielt sie das Buch auf dem Schoß. Nur zur Sicherheit. Angestrengt schaute sie nach vorne auf die Tafel, sorgfältig darauf bedacht, Mr. Becketts Blick auszuweichen. Vielleicht bildete sie sich auch nur ein, dass er sie ständig prüfend ansah. Zwischenfälle wie dieser verunsicherten sie eben.

Als es klingelte, packte sie eilig ihre Tasche und verließ das Klassenzimmer, bevor Cameron aufstehen oder Mr. Beckett sie ansprechen konnte. Sie wusste, dass ihre Flucht lächerlich war, aber sollte er doch denken, was er wollte. Es konnte ihr egal sein, was andere über sie dachten. Schließlich war es Cameron auch egal, was andere von ihm hielten. Die Gerüchte schienen ihn nicht zu interessieren. Angeblich war er in einer Gang und verkaufte an der Schule Drogen. April schüttelte sich bei dem Gedanken daran. Cameron war zwar ruhig und unauffällig. Er war nie in Schlägereien oder sonstige Streitereien verwickelt. Aber von jemandem, über den solche Gerüchte im Umlauf waren, sollte sie sich besser fernhalten. Es war dumm genug gewesen, sich sein Tattoo anzusehen, das vielleicht etwas mit dieser Gang zu tun hatte.

„Hey, Vorsicht“, raunte jemand. Erschrocken riss April den Blick vom Boden und stieß in diesem Moment schon gegen Cameron. Was machte er hier? War er vorhin nicht in die andere Richtung gelaufen?

Sie schlang die Arme um ihren Körper und wich einen Schritt zurück. „Tut mir leid.“

„Heute ist wohl unser Tag, was?“ Cameron grinste. Der Blick seiner dunkelblauen Augen lag auf ihr.

„Ich denke nicht“, wich sie aus und stolzierte an ihm vorbei. So ein arroganter Idiot. Zum Flirten sollte er sich gefälligst jemand anders suchen. Katy hätte sich gefreut, wäre sie mit ihm zusammengestoßen.

***

„Kommst du noch mit zu Mr. Percy?“ Addy hackte sich bei ihr ein.

„Ich hab gehört, Cam ist heute auch dort.“ Katy zwinkerte ihr zu. Ein Glück, dass sie nichts von Aprils Zusammenstoß mit Cameron wusste. Sonst würde sie einen richtigen Aufstand machen.

„Hör auf, Katy. Ich bin wirklich kein bisschen an diesem blöden, arroganten …“

„Du findest Cam arrogant?“ Entsetzt riss Katy die Augen auf.

April atmete heftig aus. „Klar, schau ihn dir doch an, wie er durch die Schule stolziert. Als würde sie ihm gehören.“

„Jetzt übertreibst du aber“, wandte Addy ein.

Ja, vielleicht machte sie das, aber anscheinend musste sie so deutlich werden, um Addy und besonders Katy klarzumachen, dass sie nichts von Cameron wissen wollte.

Ein diebisches Grinsen erschien auf Katys Gesicht. „Ich weiß, was hier gespielt wird. Du tust so, als würdest du Cam schrecklich finden, weil du auf ihn stehst.“

„Verdammt noch mal, Katy! Ich stehe nicht auf CAM.“ Sie spuckte seinen Spitznamen aus, als wäre er ein Schimpfwort, und sie bereute schon, ihn in den Mund genommen zu haben. Nie und nimmer würde sie diesen Kerl Cam nennen, als wäre er ein Freund.

„Lass gut sein.“ Addy legte Katy eine Hand auf den Arm. „Gehen wir einfach.“

Genervt rollte April mit den Augen. „Zu Mr. Percy, wo ER ist? Ihr werdet nur über ihn reden.“

„Werden wir nicht“, versprach Addy.

April seufzte. „Aber Katy wird es.“

Katy legte den Kopf in den Nacken und atmete laut aus. „Das war doch nur Spaß. Sei nicht immer so empfindlich.“

Empfindlich. War sie das? Wollte sie wirklich die Beleidigte spielen und davonlaufen? Dann würde sie Katy recht geben. Wenn Cameron ihr egal war, konnte sie auch zu Mr. Percy gehen. Egal, ob er da war oder nicht.

„Ok, gehen wir.“

Das Café war um diese Zeit voll mit Schülern und Schülerinnen der Blue Water High School. In den letzten Jahren war das Mr. Percy ein beliebter Treffpunkt für Jugendliche geworden. Eine gestresste Kellnerin stellte ein Tablett auf den Tisch, an dem April mit Addy und Katy saß. Der verführerische Duft von heißem Kaffee stieg ihr in die Nase. Sie liebte die dunkle Schokolade, aber hin und wieder brauchte sie einen Kaffee mit Karamell und Sahne.

„Die werden immer besser.“ Addy biss in ihren Bagel, der dick belegt mit Salat, Tomaten und Eiern war. „Der ist sogar noch warm“, verkündete sie mit leuchtenden Augen.

April nahm einen Schluck Kaffee und widmete sich dann ihrem Donut mit Erdbeerfüllung. Ihre Lieblingssorte. Im ganzen Café roch es nach frischgebackenem Kuchen, Salatdressing, Kaffee und Schokolade. Am Nachbartisch aß jemand einen Bagel mit Avocado und Kräutern. In Gedanken machte April sich eine Notiz. Am Wochenende würde sie ihre Mom mit frischgebackenen Bagels überraschen. Sie arbeitete so viel, dass sie oft unterwegs einfach Fastfood aß. Zum Kochen blieb ihr kaum Zeit. Das übernahm April.

„Du grinst schon wieder so“, neckte Katy sie. Von ihrem Muffin hatte sie bisher nur die Schokostückchen heruntergepflückt.

„Bevor du irgendwas sagst, ich hab nicht an ihn gedacht.“

Die Art, wie Katy nickte und den Mund verzog, machte klar, dass sie ihr kein Wort glaubte. April warf ihr einen vernichtenden Blick zu.

„Er sitzt übrigens am Nebentisch“, raunte Katy.

„Katy“, warnte Addy und schüttelte den Kopf.

Fast hätte April Katy ihre Besessenheit von Cameron unter die Nase gerieben, aber im letzten Moment wurde ihr klar, dass sie die Diskussion damit weiter befeuern würde.

„Kommt ihr morgen zu Allisons Party?“, fragte Addy.

Ihre Erleichterung über den Themenwechsel versteckte April in ihrem Kaffeebecher. „Sicher. Ich kann mich gar nicht mehr an die letzte Party erinnern, so lange ist das schon her.“ Sie lächelte. Spaß war die beste Ablenkung von unerwünschten Gedanken.

Katy schaute zum Nachbartisch und biss sich auf die Unterlippe.

„Bevor du fragst“, sagte Addy. „Ich hab keine Ahnung, ob er auch kommt.“

Hoffentlich nicht. Wenn Cameron auf der Party war, würde er das Thema Nummer eins sein. Und wenn Katy dann auch noch betrunken war …

Katys Schultern waren angespannt. Es fiel ihr sichtlich schwer, nicht zum Nebentisch zu schauen. April riskierte einen kurzen Blick und stellte erleichtert fest, dass weder Cameron noch seine Freunde das geringste Interesse an ihnen zeigten.

„Vergiss ihn. Er hat dich heute Morgen erst abblitzen lassen“, erinnerte Addy sie.

„Er ist ein Arschloch“, fügte April hinzu. Das hatte sie sich nicht verkneifen können.

„Vielleicht mag ich Arschlöcher“, murmelte Katy kaum hörbar.

Addy und April sahen sich kopfschüttelnd an. „Wie auch immer. Wir sollten hingehen. Wir gehen morgen nach der Schule in die Mall, kaufen uns was Heißes zum Anziehen und zeigen denen dann, wie man richtig feiert“, bestimmte Addy und sah Katy fragend an.

„Ja, na klar“, antwortete sie viel zu schnell.

„Dann wird morgen gefeiert“, rief April. Sie stießen mit ihren Kaffeebechern an.

***

Die Wohnung war dunkel, als April nach Hause kam. Wie immer machte sie als Erstes die große helle Lampe an, um die Erinnerungen zu vertreiben, die sich in den Schatten versteckten. Moms schwarze Pumps standen nicht im Flur. Auch ihre Arbeitstasche hing nicht an der Garderobe.

Obwohl sie wusste, dass sie allein war, schlich sie auf Socken durch die Wohnung. Selbst nach sieben Jahren fühlte es sich noch komisch an, abends allein zu sein, da half selbst das Licht nichts. Bis Mom nach Hause kam, schloss sie sich in ihrem Zimmer ein und schaute sich eine Serie an. Mit einem Ohr lauschte sie auf Geräusche im Haus. Schritte polterten durchs Treppenhaus. Dann wurde im Stockwerk unter ihr eine Tür aufgesperrt und zugeschlagen. Erst gegen acht fiel die Wohnungstür ins Schloss. Moms Absätze klackerten auf dem Laminat im Flur. April fuhr den Laptop herunter und gesellte sich zu ihr in die Küche.

„April.“ Mit einem warmen Lächeln küsste Mom sie auf die Wange. Erleichtert schloss April sie kurz in die Arme. Die Angst, ihrer Mutter könnte etwas passieren, war allgegenwärtig.

„Wie war die Schule?“, fragte Mom, während sie eine Packung Scheibenkäse aus dem Kühlschrank zog. Sie bereitete sich aus Käse, Salat und Toast ein Sandwich zu. Wieder nichts Richtiges zum Essen. Vielleicht hätte sie die Bagels heute machen sollen, anstatt vor dem Laptop zu sitzen.

„Eigentlich wie immer. Wir waren danach noch bei Mr. Percy.“ Die Schule war das Letzte, worüber sie jetzt reden wollte. Ihren Zusammenstoß mit Cameron oder den peinlichen Vorfall im Englischunterricht wollte sie am liebsten vergessen.

„Morgen Abend ist eine Party bei Allison“, erwähnte sie beiläufig. Sie akzeptierte, dass Mom regelmäßig Überstunden machte, um nicht so viel Zeit zum Nachdenken zu haben, und Mom akzeptierte, dass April Partys brauchte, um sich abzulenken.

„Komm aber nicht zu spät heim.“ Mom stellte den Teller mit ihrem Sandwich auf die Arbeitsplatte und strich April über die Wange. „Und sei vorsichtig.“

„Das bin ich doch immer.“

Über das Thema Alkohol sprachen sie schon lange nicht mehr. Mom wusste, dass April niemals zu Drogen, egal welcher Art, greifen würde. Nicht, nachdem sie gesehen hatte, was Drogen anrichten konnten und wie gewissenlos diejenigen waren, die damit reich wurden.

2. KAPITEL

Cameron

Cameron stand auf und brachte den nervigen Wecker zum Schweigen. Seit einer Stunde lag er wach im Bett und hörte über sein Handy leise Musik. Er war noch nie ein Langschläfer gewesen. Eigentlich brauchte er den Wecker nicht.

In der Küche roch es nach billigem Filterkaffee. Chase saß auf dem Tisch, die Füße auf den Stuhl vor sich gestellt, und kaute an einem dick mit Schokocreme bestrichenen Toast. Im letzten Moment verkniff Cameron sich den Kommentar, dass er nicht so verschwenderisch sein sollte. Obwohl Chase der Ältere war, konnte er nicht mit Geld umgehen, doch er war unbelehrbar. Diskussionen über dieses Thema endeten meistens im Streit.

„Hey Chase.“

Ein mürrisches Brummen war die Antwort.

„Du bist schon wach?“

Chase hob die Schultern und schluckte den Rest von seinem Toast runter. „Heute ist ein wichtiger Deal. Da darf ich nicht zu spät kommen.“

Es ging also um einen wichtigen Kunden. Jemand, der große Mengen bestellte und ein Vermögen dafür bezahlte. Solche Geschäfte machten selbst Chase noch nervös, obwohl das alles Routine für ihn war. Cameron war selbst schon dabei gewesen und wusste, was auf dem Spiel stand.

„Ich hab nichts mehr von Derek gehört seit Dienstag. Bin ich gefeuert?“ Grinsend schenkte Cameron sich eine Tasse schwachen Kaffee ein.

„Vielleicht braucht er dich am Wochenende. Er wird sich schon melden.“ Ächzend, als wäre er ein alter Mann, stand Chase vom Tisch auf und klopfte Cameron im Vorbeigehen auf die Schulter. „Viel Spaß in der Schule. Lern was Vernünftiges.“ Lachend verließ er die Küche. Als wäre das alles nur ein Witz. Als hätte das Leben, das sie führten, nicht schon genug Schaden angerichtet. Aber es schien die einzige Möglichkeit zu sein, hier zu überleben.

Mit der Kaffeetasse in der Hand setzte Cameron sich auf den Tisch und ließ den Blick durch den kleinen Raum schweifen, in dem außer der kleinen Küchenzeile mit dem undichten Wasserhahn nur noch ein winziger viereckiger Tisch mit zwei Stühlen Platz hatte. Die Wohnung war klein, aber seit nur noch er und Chase hier wohnten, kam sie ihm nicht mehr so beengend vor.

Mit zwei großen Schlucken schüttete er den ekligen Kaffee runter und riss den Kühlschrank auf. Gähnende Leere starrte ihm entgegen. Chase hatte wieder nichts eingekauft. Aus einer Packung abgelaufenem Käse und einem Energydrink ließ sich kein Pausenbrot machen. Seufzend warf er den Kühlschrank wieder zu. Dann musste er sich eben auf dem Weg zur Schule etwas kaufen.

Aus dem Geldtopf im Flur nahm er sich zwanzig Dollar. Das musste für ein Sandwich und einen Kaffee reichen. Für den Einkauf am Nachmittag war dann immer noch genug übrig. Dabei warf er einen flüchtigen Blick auf das eingerahmte Foto auf dem Flurschrank. Ein fröhlich lächelndes Mädchen sah ihm entgegen. Schnell wandte Cameron den Blick von dem Lächeln ab, das viel zu früh erloschen war, und verließ die Wohnung.

***

Das klapprige alte Fahrrad stellte er neben die anderen Fahrräder, ohne es abzusperren. Niemand würde so ein hässliches Gestell klauen. Ein schwarzer Pick-up hielt neben ihm. Das Fenster wurde heruntergelassen und Colin grinste ihn an. Eine große schwarze Sonnenbrille verdeckte sein halbes Gesicht.

„Was hältst du von dem Baby?“ Sein Grinsen wurde breiter. Ungläubig betrachtete Cameron das nagelneue Auto. Colin war fast genauso pleite wie er selbst. Das bisschen Geld, das er für seine kleinen Deals und Lieferungen bekam, konnte niemals für so einen Wagen reichen. Er musste sich hoch verschuldet haben. Nur mit Mühe verkniff Cameron sich eine bissige Bemerkung.

„Sieht cool aus. Du hast gar nichts erzählt.“

„Natürlich nicht. Dann wäre mir ja dein dämlicher Gesichtsausdruck entgangen.“

Cameron stieß ein Lachen aus. Es war anstrengend, von verschwenderischen Menschen umgeben zu sein, doch Colin war sein bester Freund. Auch wenn Colin sich selten etwas anmerken ließ, wusste Cameron, dass er versuchte, irgendetwas zu verdrängen. Diese demonstrative Lockerheit war nichts weiter als ein Schutzmechanismus.

„Wow, Colin“, rief Lucas quer über den Parkplatz. Mit wenigen Schritten war er bei ihnen und betrachtete bewundernd den Wagen. „Ich hätte nicht gedacht, dass du dir so was leisten kannst.“

Colin hob lachend die Schultern, als wäre das alles kein Problem. Jetzt würde er sich um die großen Aufträge reißen, die viel Geld einbrachten. Dabei brauchten sie alle Geld.

„Lass uns reingehen. Wir haben nur noch zehn Minuten“, sagte Cameron.

„Cam, der Korrekte“, spottete Lucas, „Du kannst wohl nicht anders.“

„Los, komm.“ Cameron zog Lucas an der Kapuze von Colins Pick-up weg.

„Wir sehen uns später.“ Colin fuhr das Fenster nach oben und setzte das riesige Auto in Bewegung. Betont langsam fuhr er über den Parkplatz, um von jedem gesehen zu werden. Kopfschüttelnd wandte Cameron sich ab.

Um kurz vor neun strömten Massen von Schülern über den Schulhof ins Gebäude. Jemand stieß Cameron in den Rücken.

„O nein, das tut mir leid“, flötete eine hohe Stimme. Cameron drehte sich um und schaute in Katys himmelblaue Augen. „Ich wollte das nicht“, plapperte sie weiter. „Ich dachte nur, wir könnten vielleicht …“ Abwartend sah sie ihn an und senkte dann demonstrativ die Lider. Sie hatte schon öfter versucht, mit ihm zu flirten. Dass er kaum darauf einging, schien sie nicht abzuschrecken. Im Gegenteil.

„Sag doch einfach, was du willst“, entgegnete er trocken.

Katy blinzelte verwirrt, bevor sie wieder ein strahlendes Lächeln aufsetzte. „Na ja, eigentlich ist es ganz einfach.“ Ihre Hand lag auf seinem Arm. Auch, dass er sein Tempo beschleunigte, störte sie scheinbar nicht. Sie hüpfte neben ihm her wie ein kleines Mädchen.

„Katy.“ Er sah sie eindringlich an. „Falls du mit mir ausgehen willst, vergiss es.“

Das Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht. „Aber … ich dachte …“

„Bemüh dich nicht. Ich werde nicht mit dir ausgehen. Auch mit sonst keiner. Sag das deinen Freundinnen.“

Ihr Blick verdunkelte sich. Sie schob die Unterlippe vor und zeigte ihm den Mittelfinger. „Arschloch“, zischte sie und war im nächsten Moment durch die Tür verschwunden.

Lucas stieß ihn an. „Sie ist doch süß. Was ist dein Problem?“

„Sie will nur mit mir ins Bett.“

„Na und?“ Lucas verzog das Gesicht, als hätte Cameron etwas unglaublich Dummes gesagt.

„Ich bin nicht der Typ für One-Night-Stands. Das weißt du doch.“ Er war es mal gewesen. Vor ein paar Monaten hätte er sich sofort auf Katy eingelassen. Aber inzwischen war er es leid, von den meisten Mädchen nur als Sexobjekt betrachtet und benutzt zu werden. Und Katys Absichten waren eindeutig.

Colin holte sie ein. „Da ist die Kleine, die dich so scharf findet“, raunte er Cameron zu.

„Halt die Klappe.“ Cameron warf einen kurzen Blick auf die Dreiergruppe, die vor einem Spind herumstand. Katy tuschelte mit zwei anderen Mädchen, die beide einen Kaffeebecher in der Hand hielten. Er starrte auf die dicken schwarzen Locken. April drehte ihm demonstrativ den Rücken zu. Erst als er fast an ihr vorbei war, drehte sie sich um und sah ihn an, ein wütendes Funkeln in den dunklen Augen. Katy winkte fröhlich, als hätte es die Diskussion auf dem Pausenhof gar nicht gegeben. Ihre Freundin Addy lächelte. Cameron ließ sich zu einem angedeuteten Lächeln herab und wandte den Blick ab. Kurz fragte er sich, warum April ihn so böse angesehen hatte. Sonst schenkte sie ihm keine Beachtung. So wie sie den meisten Typen kaum Beachtung schenkte. An ihr konnte man sich nur die Zähne ausbeißen. Laut Gerüchten war sie nur an One-Night-Stands interessiert. Hin und wieder war ihr also einer gut genug fürs Bett. Im Gegensatz zu Katy stellte sie es aber so diskret an, dass niemand etwas mitbekam. April war die Geheimnisvolle. Die Unnahbare, an die niemand herankam. Unter anderen Umständen hätte er sie vielleicht sogar interessant gefunden.

Im Englischunterricht saß sie direkt hinter ihm. Er spürte ihren Blick im Nacken und fragte sich, ob er vielleicht der Nächste war, den sie ins Bett bekommen wollte. Cameron entspannte sich so gut wie möglich und ignorierte auch die Blicke der anderen. Na toll. Bald würde die ganze Schule wissen, dass ausgerechnet April es auf ihn abgesehen hätte. Aber diesmal würde sie sich eben die Zähne ausbeißen müssen. Nie wieder wollte er einfach nur ein abgehakter Punkt auf einer Liste sein.

Umso mehr wunderte es ihn, dass sie ihn kaum ansah, als er ihr das Englischbuch auf den Tisch legte, das ihr hinuntergefallen war. Nach der Stunde flüchtete sie aus dem Klassenzimmer. Als sie kurz darauf im Flur zusammenstießen, hatte sie auch nur einen kühlen Blick für ihn übrig.

„Heute ist wohl unser Tag, was?“, sagte er, in dem Versuch, die ganze Situation so normal wie möglich wirken zu lassen.

„Ich denke nicht“, zischte sie und ließ ihn stehen. Verwirrt sah er ihr nach, wie sie mit erhobenem Kopf den Flur entlang stolzierte. Es war fast, als hätte er etwas verbrochen und sie hätte das Recht, auf ihn wütend zu sein. Dass ihr abweisendes Verhalten nicht zu den Geschichten über die angeblichen One-Night-Stands passte, verwirrte ihn noch mehr. So benahm sich kein Mädchen, das nur an Sex interessiert war. Dafür war sie zu distanziert. Zu wenig freizügig. Was auch immer mit diesem Mädchen nicht stimmte, er würde es sowieso nicht herausfinden. Warum sollte er sich also weiter den Kopf darüber zerbrechen?

„Wir sollten mit meinem neuen Baby bei Mr. Percy vorfahren“, schlug Colin vor.

„Willst du vor der Tür parken?“ Lucas lachte.

„Nein, nur angeben.“

Cameron schnaubte. „Krieg dich mal wieder ein. Du hast keinen Porsche und das Mr. Percy ist kein Countryclub.“ Das neue teure Auto schien Colins Selbstwertgefühl erheblich zu pushen. Eigentlich wollte Cameron sich für ihn freuen, solange er sich nicht überschätzte.

„Früh übt sich, oder?“

Jetzt brach Lucas in schallendes Gelächter aus. „Träum weiter.“

Das Handy in Camerons Hosentasche vibrierte. Da Colin und Lucas weiter diskutierten, holte er es raus und las die Nachricht von Derek.

Morgen Abend um zehn beim Treffpunkt.

„Scheiße“, fluchte Colin, ebenfalls mit dem Handy in der Hand. Er zeigte Lucas und Cameron das Display mit der Nachricht. „Das war´s dann wohl mit der Party.“

„Wieso, die Party bei Alison fängt um acht an. Wir gönnen uns eine Stunde Spaß, bevor es ernst wird.“ Lässig lehnte Lucas sich an Colins Jeep. Colins bösen Blick ignorierte er.

Schweigend sahen sie sich an. Dass dieses Treffen kommen würde, war klar gewesen. Die Spannungen zwischen Derek und Jackson, dem Boss der Blue Killers, waren unübersehbar.

„Ich bin gespannt, wann Derek dieses Arschloch endlich umlegt.“ Lucas hielt sich zwei Fingern an die Schläfe.

„Nicht hier“, raunte Cameron. „Wir besprechen das später.“

„Da gibt es nichts zu besprechen. Wir gehen einfach hin und überlassen Derek das Reden.“

„Tolle Idee. Jetzt lasst uns fahren“, drängte Colin und riss die Fahrertür seines Pick-ups auf. „Wer will mitfahren?“

Cameron sperrte sein Fahrrad an eine Straßenlaterne und betrat das Mr. Percy. Es war voll und laut und roch nach Kaffee. Er zwängte sich an der Warteschlange vorbei. An einem Tisch mitten im Raum saßen Colin und Lucas. Beide schauten in Colins Handy und lachten. Sie sahen nicht mal auf, als Cameron sich ihnen gegenüber auf einen Stuhl setzte.

„Hey.“

„Hast du schon bestellt?“, fragte Lucas, ohne den Blick vom Display loszureißen.“

„Ihr wart doch vor mir da.“

„Colin hatte keine Lust, sich anzustellen.“

„Was?“ Erst jetzt schien Colin zu merken, dass Cameron da war. „Hey Cam.“ Colin deutete auf sein Handy, auf dem ein Video lief. Er lächelte entschuldigend. „Wir sind beschäftigt.“

„Ich versteh schon.“ Cameron stand auf und stöhnte, als er die Schlange sah, die fast bis zum Eingang reichte. „Was wollt ihr?“

***

Das Erste, was Cameron machte, als er die Wohnung betrat, war, den Bilderrahmen auf der Kommode im Flur mit dem Foto nach unten hinzulegen. Abends konnte er den Anblick noch schlechter ertragen. Es war halb sieben. Genau die Uhrzeit, zu der man sie gefunden hatte. Hätte er doch besser nicht auf die Uhr gesehen.

Die Tür zu Chases Zimmer war offen. Er war nicht da. Auch die winzige Küche und das Wohnzimmer waren leer. Cameron leerte die Einkäufe auf den kleinen Tisch. Zwei Tiefkühlpizzas, ein Sixpack Coladosen, eine Packung Bacon, Eier, Milch und Chips. Für mehr hatte das Geld nicht gereicht. Auch im Geldtopf im Flur lagen nur noch ein paar Münzen. Auf seinem Konto sah es nicht besser aus. Hoffentlich kam Chase heute Nacht mit Geld nach Hause.

Cameron schob sich eine Pizza in den Offen. Sein Handy vibrierte, doch anders als erhofft war es keine weitere Nachricht von Derek oder seiner rechten Hand Wyatt, sondern ein Video von Colin, in dem zwei Lamborghinis zu Rapmusik über eine Rennstrecke bretterten. Mit einem Augenrollen klickte Cameron das Video weg. Colin hatte eine Schwäche für teure Autos. Im Gegensatz zu ihm schien er nicht zu wissen, dass kleine Dealer wie sie schlechte Aufstiegschancen hatten und wohl nie zu viel Geld kommen würden. Mal abgesehen davon, dass dealen nicht unbedingt Colins größte Stärke war. So hart er sich gab, traute er sich kaum, eine Waffe abzufeuern, wenn es sein musste.

Nie hatte Cameron es so sehr bereut wie heute, mit Lucas und Colin ins Mr. Percy zu gehen. Die ganze Zeit hatten sie sich Autos angesehen, und gefühlt jedes war Colins absolutes Traumauto. Kaum hatte er sich seinen Pick-up gekauft, jagte er schon dem nächsten Traum hinterher.

So war Colin schon immer gewesen. Seit Cameron ihn kannte, träumte er von einem besseren Leben und hatte kein Problem damit, vorzugeben, er würde zu einer anderen Gesellschaftsschicht gehören. Auf die meisten Menschen wirkte Colin oberflächlich und draufgängerisch. Nur Cameron und Lucas wussten, dass er auf diese Weise versuchte, die Vernachlässigung und bittere Armut seiner Kindheit zu verarbeiten. Irgendwann würde er sich noch in ernsthafte Schwierigkeiten bringen.

Der Ofen blinkte und Cameron holte die Pizza raus. In acht Viertel geschnitten legte er sie auf einen Teller. Er aß nur vier und stellte den Rest für Chase in den Kühlschrank.

Cameron schreckte aus dem Schlaf auf, als ein Schlüssel im Schloss umgedreht wurde. Verwirrt sah er sich im dunklen Zimmer um. Er tastete nach der Nachttischlampe und stieß den leeren Teller vom Couchtisch. Erst jetzt begriff er, dass er auf der Couch eingeschlafen war.

Im nächsten Moment war das Zimmer hell erleuchtet. Mit zusammengekniffenen Augen blinzelte Cameron gegen das weißliche Licht der Deckenlampe an. Eine dunkle Gestalt stand in der Tür.

„Cam? Was machst du hier?“

„Ich wohne hier“, entgegnete Cameron. Ein lahmer Scherz.

Chase kam auf ihn zu und knallte ein Bündel Dollarscheine auf den Couchtisch. „Für die nächsten Wochen haben wir ausgesorgt.“ Ein stolzes Grinsen zierte sein Gesicht.

Vorsichtig nahm Cameron das Geld in die Hand. „Wie viel ist das?“

„Zweitausend Dollar.“ Er nahm Cameron das Bündel aus der Hand und zog einen Schein heraus.

„Hier, mach damit, was du willst. Gönn dir was Tolles.“

Zögernd nahm Cameron das Geld. Hundert Dollar. „Wirklich? Ist das nicht für Miete und Essen?“

„Besteht unser Leben nur aus dieser Bude und Essen?“ Chase klopfte ihm auf die Schulter. „Du bist doch noch jung. Geh mit deinen Freunden was trinken. Feier ein bisschen. Oder noch besser: feier hart.“

„Ok. Danke Mann.“ Cameron rang sich ein Lächeln ab. Wie konnte Chase so locker mit der ganzen Situation umgehen, wenn man bedachte, woher dieses Geld kam? Warum plagten ihn keine Schuldgefühle, nach dem, was mit Mom und Dad und Casey passiert war? Vor allem Casey hätten sie retten können, wären sie nur nicht so leichtsinnig und mit sich selbst beschäftigt gewesen. Casey wäre noch da, wenn Cameron an jenem Abend bei ihr gewesen wäre.

3. KAPITEL

April

„Du siehst richtig süß aus.“ April zupfte an einer von Addys dunklen Locken. Fast eine Stunde hatten sie mit dem Lockenstab im Bad gestanden, bis Addy mit ihren Haaren zufrieden war.

„Will ich süß aussehen?“ Kritisch beäugte Addy ihr Spiegelbild.

„Wir sind siebzehn. Da muss man nicht aussehen wie dreißig.“ Aufmunternd lächelte April ihr zu. Addy war streng mit sich, was ihr Aussehen betraf. Sie strich über das eng anliegende schwarze, mit Glitzerpailletten besetzte Kleid, das kaum bis zur Mitte der Oberschenkel reichte.

April sah an sich herunter. Ihr rotes schulterfreies Kleid hatte lange durchsichtige Ärmel. Der leicht ausgestellte Rock reichte bis zu den Knien. Unauffällig schielte sie hinüber zu Addy. In ihrem freizügigen Kleid würde sie die Blicke der Männer auf sich ziehen und hoffentlich von April ablenken.

„Hey Mädels, seid ihr so weit?“ Katy stieß die Tür auf, drei kleine Sektflaschen in den Händen.

Addy riss ihr eine Flasche aus der Hand. „Na endlich. Ich fühl mich noch viel zu nüchtern zum Feiern.“