Lückenfüller - Simona Turini - E-Book

Lückenfüller E-Book

Simona Turini

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Beschreibung

Lovecraft ist tot, aber sein vielarmiges Monster Cthulhu ist lebendiger denn je. Das grausige alte Wesen aus der Tiefe regt sich überall da, wo man nicht mit schleimigen Tentakeln rechnen würde - selbst im amerikanischen Wahlkampf mischt Cthulhu munter mit. Auch unsere Autoren haben sich von ihm in einen Abgrund aus Horror und Schrecken, Lust und Leidenschaft, Ironie und Körperflüssigkeiten ziehen lassen. Also taucht mit uns ab in glitschige Welten jenseits des guten Geschmacks, denn dieses Buch steckt voll praller Tentakelgeschichten, mal dreckig, mal fies, mal witzig - und fast immer mit einem Augenzwinkern. Der perfekte Lückenfüller eben …

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Ähnliche


LÜCKENFÜLLER

- eine Tentakelporn-Anthologie - 

Herausgeber: Claudia Rapp

Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Leonie Landvogt - Schatten über Travernmünde
Markus Kastenholz - Doppelleben
Torsten Exter - Tochter der Blüte
Isa Theobald - R‘yleh Rodeo Riot
Germaine Paulus - Torben hatte ein Tentakel
Doctores Milano - Tentakel mit Sicherheit
Mark G. Rummel - Leck mich Cthulhu
Sascha Schlüter - Main Event
Simona Turini - Auf dem Dach
Claudia Rapp - California Screaming
Thomas Williams - Showdown im Hentai-Tower

© 2016 Amrûn Verlag

Jürgen Eglseer, Traunstein

Herausgeber: Claudia Rapp

Lektorat: Claudia Rapp

Korrektorat: Jürgen Eglseer

Umschlaggestaltung: Jürgen Eglseer

Alle Rechte vorbehalten

ISBN – 978-3-95869-258-9

Besuchen Sie unsere Webseite:

amrun-verlag.de 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar

1 16

G(e)leitwort

Liebe nichts ahnende und ahnungsvolle Leser,

taucht mit uns ganz tief ab und lasst euch von den Tentakeln der Großen Alten umschlingen … Schlüpfrig wird es und düster, aber auch albern und kurzweilig. Dieser kleine, schleimige Band vereint Geschichten, die unterschiedlicher kaum sein könnten, aber alle eins gemeinsam haben: TENTAKELSEX!!!

Nein, eigentlich noch nicht einmal das, denn in manchen der Texte machen die Tentakel auch ganz andere Dinge, aber sie spielen immer eine zentrale Rolle, und sie benehmen sich immer irgendwie daneben. Sie schlüpfen und gleiten, grapschen und schleimen, züngeln und klüngeln …

WIE ZUR HÖLLE KOMMT MAN DENN AUF SO EINE IDEE?

Wieso schreibt jemand Geschichten, die vom guten alten Lovecraft inspiriert sind, in denen Cthulhu auf vielfache Weise sein Unwesen treibt, und in denen es oft ganz schön (oder auch weniger schön) zur Sache geht?

Na ja, wieso eigentlich nicht?

Die Idee dazu wurde an einem müden Abend nach einem langen Messetag in Leipzig bei einem guten Italiener geboren, bei Pasta und Rotwein, wenn die Zungen sich lösen und das Hirn langsam zerfließt. Unter anderem wurde „Liebe und kranker Scheiß“ als das neue Motto des Amrûn Verlags vorgeschlagen, aber das hat sich leider nicht durchgesetzt. (Noch nicht?) Und von da aus war es nicht mehr weit bis zum amourösen Stelldichein mit einer mythischen Gottheit aus der Tiefsee, die dir den Verstand raubt und auch sonst nicht zimperlich ist.

Oder?

Es gibt alles, irgendwo da draußen, meist nur ein paar Klicks entfernt.

Fifty Shades? Gähn.

Dino-Porno? Ja doch, Ravaged by the Raptor und ähnlich Alliteratives.

Splatter, Gore, Gothic, Grusel? Noch und nöcher.

Cthulhu ist dieser Tage auch überall zu finden. Auf T-Shirts, als aufblasbare grüne Tentakel, die man sich über den Arm stülpen kann, als Lufterfrischer (Wunderbaum mit Brackwasser-Duft? Au weia.) Es gibt sogar eine Kampagne, um Cthulhu zum nächsten Präsidenten der USA zu wählen.

(Der dazugehörige Twitter-Account ist @cthulhu4america, denn ihr wollt es doch auch.)

Und dann sind da noch Hentai und Hokusai. Die Story aus Japan mit der Frau des Fischers und dem Oktopus stammt immerhin schon aus dem früher 19. Jahrhundert, wir machen also im Grunde gar nichts Neues, wenn wir hier Sex und Vielarmiges vereinen. Wir hoffen allerdings, dass diese absurden kleinen Ausgeburten unserer kranken Hirne der Sache ein paar neue Twists verleihen können. Wenn’s euch kitzelt, graust, schüttelt oder einfach nur ein Grinsen aufs Gesicht zaubert, dann ist unser Werk getan.

Ihr könnt nun also in Schatten über Tavernmünde einen Ausflug ins Sommercamp machen, oder bei Doppelleben böse Überraschungen erleben. Steht euch der Sinn mehr nach Monster-Wrestling? Dann ist Main Event genau das Richtige. Wer lieber Seemannsgarn lesen will, beginnt mit Leck mich, Cthulhu. Ein bisschen Jackass für Mädels gibt’s bei R‘yleh Rodeo Riot und die Geschichte einer schrägen Kindheit serviert Torben hatte ein Tentakel. Auf dem Dach führt euch in die Freuden und Gefahren autogenen Trainings ein und Tochter der Blüte schildert einen Fiebertraum. Tentakel mit Sicherheit ist eine weinselige Satire und das Highlight wartet zum Schluss auf: Showdown im Hentai Tower. Ein episches Abenteuer in Stil von John Carpenter der 80er-Jahre.

Ja, zur letzten Geschichte fällt es schwer, nur ein Stichwort zu schreiben. Denn sie ist der längste Text in dieser Anthologie und wurde sofort mit Begeisterung verfasst, als wir noch nicht viel mehr als nur die vage Grundidee hatten. Es gab zu dem Zeitpunkt noch keine Details, keinen Termin, im Grunde keinen Plan. Daher lege ich euch die ganz besonders ans Herz.

Aber alle anderen eigentlich ganz genauso sehr. Ihr habt die Qual der Wahl. Immer wieder. Denn jeder hat doch ein paar Lücken zu füllen.

In diesem Sinne,

PFLATSCH … SCHLURP … CTHULHU FTHAGN. Viel Vergnügen!

Claudia Rapp

SCHATTEN ÜBER TAVERNMÜNDE

Leonie Landvogt

Auf dem Rückweg Richtung Strand konnte er sie wieder hören. Diese merkwürdige, fremdartige, halb atonale Melodie. War das Gesang? Oder ein Tier? Vielleicht sogar eine Maschine? Was auch immer es war, es schien aus dem Hof hinter der alten Schule zu kommen. Er zögerte. Eigentlich wollte er ja nur schnellstens zurück zum Lager, zum Feuer. Zum Abendessen. Und zu Gina, natürlich. Gina mit den Endlosbeinen, den leuchtend blauen Augen. Aber dieses Geräusch war so - anders. Es half nichts, er musste herausfinden, was das war.

Vorsichtig näherte er sich dem steinernen Torbogen. Als wäre der Wilde Wein, der die gesamte Fassade der Schule bedeckte, nicht genug, wucherte in der Durchfahrt auch noch Efeu. Naja, bei dem Klima hier trugen halt wohl sogar alte Häuser gerne Pelz, genau wie die alten Leute. Heute war‘s allerdings recht warm, und kaum Wind. Sogar die dichte Wolkendecke hatte aufgelockert, flog in schwarzgrauen Fetzen über den Himmel und erlaubte es einzelnen Sonnenstrahlen, bis zur Erde durchzudringen. Endlich mal.

Je näher er kam, desto mehr formten sich die Töne zu einer Melodie, dann zu Stimmen, Wörtern sogar. Nur verstehen konnte er so gut wie gar nichts - irgendwas mit »Relief«, »Nagel« und »taggen«? Sonderbar. Vielleicht könnte er mal vorsichtig reinschauen, so unauffällig, dass er nicht weiter störte? Bevor er jedoch den Mut gefasst hatte, sprintete plötzlich ein enorm schlaksiges Mädchen an ihm vorbei. Es winkte ihm kurz zu, mit einem eindeutig hypermobilen, viel zu langen Arm. Er grinste. Ja, an das Alter konnte er sich auch noch erinnern. Blöd, wenn einzelne Körperteile plötzlich schneller wachsen als andere. Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar und rollte die Schultern zurück. Zum Glück hatte sich das dann alles wieder eingespielt, zumindest bei ihm.

Und es war total albern, hier herumzuschleichen. Der Hof war vermutlich nicht mal Privatgrund. Energisch schob er den Pflanzenvorhang zur Seite und trat hindurch. Um sich dann erst einmal zwei Spinnen aus dem Nacken zu wischen. Elende Mistviecher!

Auf dem Hof war anscheinend das halbe Dorf versammelt - Männer, Frauen, Alte und Kinder. Zumindest nahm er an, dass in diesem Kaff kaum mehr als doppelt so viele Leute wohnen konnten, wie hier versammelt waren. Trotzdem konnten sie noch alle im Kreis stehen, sich an den Händen halten und singen. Sonst taten sie nichts. Das überschlanke Mädchen ging um den Kreis herum, seine Schritte immer im Takt, und gleichzeitig fing die ganze Truppe an, in die andere Richtung zu rücken, langsam und bedächtig, wie in Trance. Schließlich legte sie ihre Hand auf die Schulter einer ungefähr Gleichaltrigen, und mit einer geübten, fließenden Bewegung tauschten sie die Plätze, ohne den Tanz zu stören. Das abgelöste Mädchen schien ein paar Mal tief durchzuatmen, dann lief es mit ungelenken Schritten an ihm vorbei und die Straße hinab zum Meer.

Er drehte sich um und ging in dieselbe Richtung, peinlich darauf bedacht, nicht den Eindruck zu erwecken, als würde er ihr folgen. Er musste ja wirklich zum Strand. Oder was sich hier so »Strand« nannte. Nichts als Felsen und hundekopfgroße Kiesel. Und er hatte Gina noch ausgelacht wegen ihrer extradicken Isomatte. Er grinste wieder. Na, wenn er sich nicht ganz blöd anstellte, würde er heute Nacht sowieso zusammen mit ihr da drauf schlafen …

Als er das Wasser erreichte, war die Einheimische verschwunden. Vermutlich irgendwo zwischen den Felsen, Tang sammeln, oder was in dieser gottverlassenen Einöde sonst so als Zeitvertreib gelten mochte. Aber das Zelt konnte er sehen, und dass Gina immer noch kein Feuer gemacht hatte. Wenigstens die Harpunen hatte sie gereinigt, sie lehnten an dem Felsen, auf dem sie die Taucheranzüge zum Trocknen ausgebreitet hatten, und glänzten, wenn die letzten schwachen Sonnenstrahlen sie trafen. Aber jetzt saß sie einfach nur da, vor dem offenen Zelteingang, und schaute abwechselnd auf das im letzten Abendlicht leuchtende Meer raus, und dann wieder auf ihr Handy. Na toll. Fische schießen war ja Spaß, aber essen wollte man sie dann doch auch irgendwann mal. Sie drehte sich um, als sie ihn kommen hörte, und ihr Lächeln ließ ihn seinen Ärger vergessen. »Da bist du ja! Was hat denn so lange gedauert?« »Ich musste nur mal kurz nachschauen, was die da auf dem Schulhof treiben. Schon ziemlich ungewöhnlich, dieses Tavernmünde, oder?« Sie lachte. »Das ist nur wegen dem Volksmusik-Festival. Ist hier jedes Jahr.« »Ach - du kennst dich hier aus?« Sie nickte. »Ja, klar. Du weißt doch, ich bin aus Erkheim. Ich bin jeden Sommer hier um diese Zeit. All den Fisch hast du ja eh gesehen, und das Festival ist die andere lokale Spezialität. Jedes Jahr fallen die Ethnologen in Scharen ein, aber nach wie vor hat kein Mensch ‚ne Ahnung, aus welcher Tradition das Zeug überhaupt stammt.« Er lachte. »Ja, kann ich mir vorstellen. Ich hab‘ jedenfalls noch nie auch nur was Ähnliches gehört. - Machen wir jetzt Abendessen?«

Sie schüttelte den Kopf, und die dunklen Locken tanzten um ihr Gesicht wie zierliche Tentakel. »Nee, wir gehen jetzt erst mal baden, würde ich sagen.« Wie, was jetzt? »Baden gehen? Wir waren doch schon den ganzen Tag im Wasser, und die Anzüge haben wir auch schon abgespült …« Sie klimperte mit den Wimpern. »Ich will ja auch nicht tauchen, ich will baden! Das Wasser ist warm, der Mond voll, wir sind verschwitzt - komm schon!« Er zögerte noch. »Muss das sein? … ich hab‘ Hunger.« Warum konnten sie nicht einfach etwas essen, dann ins Zelt kriechen und Spaß haben? Gina legte das Handy weg und sprang auf. »Mach was du willst«, hauchte sie und beugte sich zu ihm, »aber eins sag‘ ich dir: Ich schlafe heute Nacht nicht neben dir.« Noch im Umdrehen zog sie sich ihr T-Shirt über den Kopf, nur wenige Schritte weiter fielen auch Rock und Unterwäsche auf die Felsen, dann lief sie ins Wasser.

Er folgte ihr so schnell er konnte, aber sie hatte schon ziemlich viel Vorsprung. Auch ohne Flossen war sie verdammt schnell, er musste sich anstrengen, auch nur wenige Meter gutzumachen. Mühsam pflügte er durch die höher werdenden Wellen, musste sich aber immer wieder aufrichten, um das silbrige Schimmern ihres Körpers im Licht des aufsteigenden Mondes zu lokalisieren. Er durfte sie jetzt nicht verlieren, das würde wirklich den Abend verderben. Zum Glück wurde ihm schnell klar, dass sie auf eine kleine Insel zuhielt. Damit konnte er arbeiten, und als er schließlich die ersten glitschigen Felsbrocken unter den Zehen spürte, war sie noch nicht mal ganz ans Ufer gewatet. Was allerdings auch nicht so einfach war, der Schlamm zwischen den Steinen saugte an seinen Füßen, als wolle er sie behalten.

Zu seiner Erleichterung wartete sie diesmal auf ihn, auf einem Felsen sitzend wie Venus im Mondschein. Er strich sich die nassen Haare aus dem Gesicht. »Und jetzt?«, fragte er anzüglich. »Jetzt zeig‘ ich dir ein Geheimnis.« Ihre Stimme klang merkwürdig feierlich, aber der Trampelpfad, auf den sie dabei deutete, verschwand ganz unzeremoniell hinter ihr im dichten Unterholz. »Komm mit, das ist der Hammer. Versprochen!« Klang gut. Auch wenn der Pfad eng war, und irgendwie schmierig. Als ob Wald und Meer sich zusammengetan hätten, auch noch dieses schmale Stückchen Erde zurückzuerobern, die letzten schwachen Spuren der Menschheit zu beseitigen. Er fühlte eine gewisse Nervosität in der Magengrube - oder war das Vorfreude? Vermutlich beides.

Die Frische des Meeres wich mehr und mehr einer schweren Süße, die in der Luft hing wie ein nasser Vorhang. Große, blasse Blüten im Gebüsch verströmten leicht faulige und doch betörende Gerüche, und er war sich nicht ganz sicher, ob die kleinen tanzenden Lichter wirklich echt waren, oder doch nur Ausgeburten seiner überdrehten Fantasie. Gina vor ihm schien zu gleiten, fast schon zu schweben, während er ungeschickt über Wurzeln stolperte, sich die Zehen anstieß und auf Dornen trat. Endlich blieb sie stehen.

Vor ihr war ein Loch, ein geöffnetes Maul im Gestein. Eine Höhle. Sie drehte sich zu ihm um und lächelte ihn an. »Da müssen wir rein. Keine Angst, die Augen gewöhnen sich schnell an das Dunkel. Und ganz ehrlich, du wirst es nicht bereuen. So was hast du noch nicht erlebt, und wirst es auch nirgendwo anders.« »Okay …«, sagte er zögerlich, »bist du sicher, dass das nicht gefährlich ist? Woher weißt Du überhaupt davon?« Sie zuckte mit den Schultern. »Die Jugendlichen im Ort waren alle schon hier. Die Alten vermutlich auch, genau genommen, halt schon was länger her. Sie nehmen nur selten Fremde mit - das ist eine Ehre. Aber wie du willst - ich geh‘ jedenfalls rein.«

Natürlich musste er mit. Neugier und Erregung waren viel zu stark, was kümmerte es ihn da, dass der merkwürdige Geruch in Schwaden aus der Höhle drang, warm und feucht und klebrig. Er tastete sich mit den Händen an der rauen Felswand entlang, immer dem leisen Klatschen von Ginas Füßen auf dem nassen Stein hinterher. Der Durchgang wurde enger, er musste sich schon fast hindurchzwängen. Oh Himmel, er hoffte wirklich, dass sie wusste, was sie tat! Aber vor ihm platschte und rauschte es eindeutig - ein sicheres Zeichen, dass sich der Gang wieder weiten würde. Es gab offensichtlich ein Echo.

Der Fels unter seinen Füßen schien jetzt durchzogen von Adern, zunächst kleine, dann kräftiger werdende Unregelmäßigkeiten, glatt und rutschig. Nun tastete er auch mit den Zehen, und musste sich an der Wand festhalten - was war das hier eigentlich? Hatte der völlig entfesselte Urwald da draußen es geschafft, seine Wurzeln bis hier rein zu schieben? Er trat auf eine besonders dicke Erhebung, und mit einem leisen »pi-quitsch« verschob sie sich, bewegte sich zur Seite wie ein Gummiboot.

Und dann konnte er es fühlen - diese Stränge, sie tasteten nach seinen Füßen, schlangen sich um seine Waden. Seine Hände glitten über den Stein, offensichtlich wurde er langsam, fast sanft tiefer in diesen engen Trichter gezogen. Er ließ los, ließ sich fallen, und wie auf Wellen trug es ihn davon. Für einen kurzen Moment kam ihm noch der Gedanke, dass das hier doch eigentlich fürchterlich unheimlich sein müsste, doch er fühlte nur Glück, Euphorie sogar. Gina hatte recht gehabt - was auch immer das hier war, es war der absolute Oberhammer. Die Höhle weitete sich, und auch die Lichter waren wieder da, tanzten an den Wänden auf und ab wie besoffene Glühwürmchen.

In ihrem Schein konnte er Gina sehen, halb begraben unter einer Vielzahl von Tentakeln. Sie legten sich um ihre Schenkel, bedeckten ihre Brust, zupften sanft an ihrem Hals. Gina hatte die Augen geschlossen, und das Lächeln auf ihrem Gesicht ließ keinen Zweifel daran, dass es ihr genauso gut ging wie ihm. Er sah an sich hinunter - die Tentakel, so weich, so warm und doch so kräftig, wanden sich um seine Beine und in seinem Schritt, strichen zärtlich über seine Haut. Durchsichtig schimmernde, feinfühlige Saugnäpfe küssten die zarte Haut auf der Innenseite seiner Oberschenkel, hinterließen kleine Knutschflecken wo sie sich festsaugten. Ein kurzes Ziepen, fast wie ein kleiner Stich, und eine neue Welle des rauschartigen Wohlgefühls flutete seinen Körper, er entspannte sich einfach nur. Eine dunkle, rauchige Stimme raunte ein paar Worte, doch er konnte nichts verstehen. »Hmm?«, brummte er. »Keine Angst«, wiederholte die Stimme, etwas deutlicher jetzt, »tut gar nicht weh. Du wirst es kaum merken.« Gina setzte sich auf. »Oh Mann, Alter! Du lernst es auch echt nicht mehr, oder? ‚Du wirst es kaum merken‘ ist nicht gerade 1a- Reklame für Sex!« Die Tentakel erstarrten, ein bleiches Grün verdrängte ihr tiefes Blau. »Was??«, grollte die tiefe Stimme. Gina verdrehte die Augen. »Ja, Mädel, was denkst du denn, warum ich jedes Jahr wieder herkomme und dir ‚nen Kerl mitbringe?«

Er sah auf, in die Richtung aus der die Stimme kam, und sah gerade noch, wie sich blitzartig ein ärgerliches Orange ausbreitete, von den dicksten Wülsten bis in die letzte Tentakelspitze. Die Stimme schwoll zu einem unheilvollen Crescendo: »Weil ich der große Cthulhu bin, der Fürchterliche, Unaussprechliche, der Tausendarmige! Ihr erbärmlichen Sterblichen huldigt mir! Und …« »Unsinn«, unterbrach Gina unhöflich, »Cthulhu träumt tot in seinem Haus in R‘lyeh. ‚Ph‘nglui mglw‘nafh Cthulhu R‘lyeh wgah‘nagl fhtagn.‘ - das singen sie doch dauernd, alle deine Kinder da draußen, wirst du langsam schwerhörig? Du bist nichts weiter als eine ganz gewöhnliche Tulli. Und jetzt mach weiter, sonst geb‘ ich morgen das Tauchen auf und geh‘ stattdessen ins Yoga.« Sie lehnte sich wieder zurück. Die Tentakel blieben eine Weile still, doch das Orange verblasste langsam zu Gelb, dann Grün.

Ein letztes beleidigtes Grollen aus der Ecke, dann begannen sie endlich wieder, sich zu bewegen. Ihm war das doch alles völlig gleichgültig, was interessierte es ihn, wer hier was war - weitermachen, endlich! Jetzt! Er spürte, wie es sich warm um seinen Hals legte, ihm die Haare aus der Stirn strich. Dann wieder dieses leichte, angenehme Brennen - die Wände, die Lichter, sogar Gina, das alles verschwamm vor seinen Augen, als sei er unter Wasser. Die Tulli zog ihn langsam näher an ihren Kopf heran, vorsichtig und doch fordernd, und während er den Weg genoss wie nichts jemals zuvor, konnte er es doch kaum erwarten, anzukommen.

Er bemerkte noch, dass Gina irgendwann aufstand und über ihn drüber stieg. Bevor sie die Höhle verließ, drehte sie sich noch einmal um. »Wo sind die letztjährigen Humanoiden?« Tulli grummelte nur. »Komm schon, du weißt, dass die eh bloß ersaufen, wenn sie bei dir bleiben.« »Hmpf. Na gut. Sie sind alle in der tiefen Bucht, die hinter dem alten Ahorn. Gab nicht viele diesmal, der letzte war wirklich unergiebig. Mal sehen wie lange der hier durchhält. Aber o.k., kannst alle mitnehmen, die freiwillig aus dem Wasser kommen.« Gina nickte. »Schon klar. Die anderen taugen ja eh nicht an Land.« Sie kehrte ihnen den Rücken zu, um zu gehen, doch Tulli rief sie noch einmal zurück: »Ach, Gina?« »Ja?« »Nimm doch grad‘ die Knochen vom letzten Jahr noch mit raus.«

Doppelleben

Markus Kastenholz

Erschöpft schlug sie die Wohnungstür hinter sich zu. Knallend landete sie im Schloss: ein Geräusch, das vielfach im Treppenhaus reflektiert wurde.

Tief atmete Eva durch, presste sich mit dem Rücken fest gegen die Innenseite der Tür.

Sie war endlich zu Hause. Sie hatte es geschafft.

Schon auf dem Heimweg vom Büro hatte sie insgeheim ständig eine andere Gestalt annehmen wollen. Ganz gleich, welche. Nur nicht länger das schüchterne Mauerblümchen sein mit dem langweiligen Sachbearbeiter-Job, das fast nie einen Typen abbekam und jede Betriebsfeier ebenso alleine verließ, wie sie dort hingekommen war. Kein Wunder. Und das lag nicht nur daran, dass sie schüchtern war: Sie war auch flach wie ein Brett und hatte eine krumme Nase. Einen richtigen Zinken, der jeden schon von weitem abschreckte.

Nun, in ihren vier Wände angekommen, begannen ihre Brüste wie von allein zu wachsen, bis ihr BH spannte. Gleichzeitig schrumpfte ihre Nase, wurde zierlich und gerade, während ihre Hüften etwas schmaler wurden, die Beine etwas länger, und der köterblonde Pagenkopf wurde zu langem, rotem Haar, das ihr samten bis über die Schultern reichte.

Bereits in der Straßenbahn hatte sie Mühe gehabt, sich zusammenzureißen. Sie hatte nicht verhindern können, dass sich plötzlich ihre Hautfarbe verändert hatte und sie blau wie ein Schlumpf geworden war. Nur für einen Moment, dann hatte sie sich wieder unter Kontrolle und machte es sofort rückgängig. Glücklicherweise waren die meisten Passagiere viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um groß auf andere zu achten. Und wem ihre kurzzeitige Verwandlung dennoch nicht entgangen war, der nahm wohl an, er habe halluziniert nach einem anstrengenden Arbeitstag.

Eva schämte sich für ihr wahres Aussehen und für das, was sie war. Alles in ihr verlangte danach, sich permanent eine andere Erscheinung zu geben als die, die ihr genetisch in die Wiege gelegt worden war.

Gleichzeitig war sie allerdings auch zu feige, ihre vermeintlichen physischen Makel dauerhaft zu beseitigen und mit großem Busen und Stupsnase einfach im Büro aufzutauchen. Man hätte sie groß angeglotzt. Einige Kolleginnen hätten von ihr wissen wollen, was denn mit ihr geschehen sei, woraufhin sie wohl geantwortet hätte, sie habe sich bei einem Schönheitschirurgen unters Messer gelegt. Doch allein wegen dieses Angeglotztwerdens und der neugierigen Fragen verzichtete sie darauf. Im Büro blieb sie lieber unscheinbar und fiel nicht weiter auf.

Eben ein Mauerblümchen …

Ganz im Gegenteil zu dem Leben, das sie fernab davon führte.

Seufzend entkleidete sie sich, ließ ihre Klamotten einfach an ihrem Körper hinab gleiten auf den Boden. Vor allem ihre prallen Titten dankten es ihr, waren sie inzwischen vom BH doch schmerzhaft eingezwängt worden. Jetzt quollen sie geradezu hinaus in die Freiheit.

Es waren schöne Brüste, wie Eva nicht zum ersten Mal feststellte, während sie sich vor den Spiegel begab und sich bestaunte. Viel zu schön, um von der Natur geschaffen worden zu sein. Sie hatte sie im Online-Katalog eines der berühmtesten Chirurgen der Welt entdeckt. Nicht zu groß, nicht zu klein. Nicht künstlich aufgerichtet, jedoch auch nicht schlaff. Wirklich perfekt!

Wen immer Eva heute Abend noch abschleppen würde, der würde seine Freude daran haben, ihre Titten lecken, liebkosen und sie kaum loslassen. Sie wusste das. Vorausgesetzt natürlich, sie behielt dieses Äußere bei und entschied sich nicht für ein völlig anderes. Gelegentlich hatte sie auch schon das Aussehen eines blonden, italienischen Nackt-Modells angenommen, das regelmäßig in den Zeitungen ihre Titten präsentierte, weil sie sonst keinerlei Talente besaß, jedoch auch keine brauchte. Dann war Eva in jedem Club der absolute Hingucker. Besonders wenn sie zu vorgerückter Stunde so tat, als sei sie betrunken und ihr Top nach oben streifte, so dass jedermann zumindest andeutungsweise ihre Brustwarzen erkennen konnte.

Wann immer sie verwandelt wegging, blieb sie weder lange allein, noch musste sie die Nacht alleine verbringen. Das Mauerblümchen hatte ausgedient. Niemand hätte diesen Vamp mit ihr in Verbindung gebracht.

Ihre alte Identität hatte sie abgestreift wie eine lästige, zweite Haut.

Doch sobald sie wieder ins Büro musste, wo man sie kannte und wo jede Veränderung an ihr aufgefallen wäre, legte sich diese zweite Haut wieder fest um sie, war ein Kokon, der sie einschnürte. Nein. Eher eine Zwangsjacke.

Natürlich hatte sie schon darüber nachgedacht, eine völlig neue Identität anzunehmen. Dauerhaft. Freunde, die sie davon abgehalten hätten, gab es nicht. Sie hatte keine. Ebenso wenig wie Verwandte, die ihr etwas bedeuteten. Letzten Monat, an Evas Geburtstag, hatten ihre beiden Schwestern auf Facebook irgendein dämliches Glückwunschbild auf ihre Pinnwand gepostet und sonst nichts. Von ihren Eltern war nicht einmal ein Bildchen gekommen. Sollten sie in der Hölle schmoren!

Was sie vor allem daran hinderte, permanent jemand anderes zu werden, das waren die fehlenden Unterlagen. Sie konnte nicht kurzerhand nach Australien fliegen, dort eine andere Gestalt und einen anderen Namen annehmen und ein neues Leben beginnen. Dafür fehlten ihr Geburtsurkunde, Schulzeugnisse, Dokumente … Keine Chance! Es sei denn, sie hätte sich dort als Kriegsflüchtling aus Syrien oder sonst woher ausgegeben, der auf der Flucht alles verloren hatte, auch seine Papiere. Spätestens wenn man versucht hätte, sich per Dolmetscher auf Arabisch mit ihr zu unterhalten, wäre ihr Schwindel dann aufgeflogen.

Es kostete sie einige Mühe, sich von ihrem Anblick im Spiegel loszureißen. Sie war von sich völlig fasziniert.

Wahrscheinlich hatte sie diese Fähigkeit bereits ihr ganzes Leben, ging es ihr durch den Kopf. Niemals war sie krank gewesen. Weder kleine Wehwehchen noch große. Ein Teil ihrer Fähigkeiten bestand wohl auch darin, sich selbst zu heilen. Mit neun war ihr Schulbus schwer verunglückt. Sie war die Einzige gewesen, die man völlig unverletzt aus dem Wrack geborgen hatte. Dabei hatte sie durchaus einige Schrammen davongetragen, deutlich hatte sie während des Unglücks gesehen, wie Glasscherben ihr den Arm aufrissen. Doch fast wie magisch hatten sich die Wunden rasend schnell wieder verschlossen. Wie auch sämtliche andere Wunden, die sie sich im Laufe der vergangenen Jahre zugezogen hatte: Lappalien. Dennoch – sie hatte nie ein Pflaster oder einen Verband gebraucht. Das war ihr völlig normal vorgekommen, weil sie es nicht anders kannte. Mitunter wunderte sie sich zwar, dass bei anderen Wunden länger bluteten, doch sie machte darum kein Aufhebens.

Bis vor … ja, etwa zwei Jahre musste das nun her sein. Da hatte sie gemerkt, dass sie anders war. Ein One-Night-Stand. Rückblickend betrachtet fast ein Wunder, dass sich überhaupt jemand ihrer erbarmt hatte. Aber sie beide waren betrunken gewesen, und der Typ entstammte ebenfalls nicht der Kategorie Brad Pitt. Eigentlich eher Ottfried Fischer, so fett, wie der gewesen war. Eva hatte es nichts ausgemacht. Notgedrungen war sie es gewohnt, nicht sonderlich wählerisch zu sein. Und immer nur an sich selbst rummachen empfand sie auf Dauer auch als langweilig. Also hatte sie den Typen mit nach Hause genommen.

Sie war nicht gekommen. Dafür er. Zweimal. Binnen fünf Minuten. Ein Berg aus Schweiß, Fett und schlechtem Atem, der sich auf ihr abrackerte, schnaufte und sie fast unter sich begrub. Konvulsivisches Zucken, das ihm durch Mark und Bein ging, danach noch mehr Schweiß und Schnaufen. Sein Versuch, ihre Brüste zu kneten, blieb erfolglos – dafür waren sie einfach zu klein. Also noch mal angesetzt, den Schwanz in sie reingeschoben und dasselbe Spiel von vorn. Danach hatte der Typ sie grinsend und mit hochrotem Kopf angeschaut, als wolle er sich vergewissern, ob er toll gewesen war.

Ihre Antwort hatte er freilich nicht abgewartet, sondern sich auf die Seite gelegt, um sofort einzuschlafen.

Ebenso wie Eva. Immerhin, wenigstens hatte sie nicht kotzen müssen.

Mitten in der Nacht war sie dann durch einen gellenden Schrei erwacht: ihr Ottfried-Lover!

Er schrie wie am Spieß. Als sei ihm ein Geist begegnet. Oder etwas anderes, das ihn noch mehr verstörte. Tja, und irgendwie war das auch der Fall …

Während er weiter herumkeifte, aufsprang und rasch seine Klamotten zusammen raffte, versuchte sich Eva zu orientieren, versuchte zu begreifen, was gerade vor sich ging. Schrie er etwa, weil er jetzt erst, da der Alkoholspiegel in seinem Blut sank, festgestellt hatte, wie scheiße sie aussah?

Doch dann fiel ihr Blick auf den Kleiderschrank und vor allem auf dessen Spiegeltüren.