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»Ich liebe mein Buch, aber ich kann es nicht empfehlen.« Silvia Bovenschen Ein sonderbares Haus. Die alte Alma schreibt und zetert, ihre Nichte Agnes ist erschöpft, der kleine Max erforscht die Wunderwelt des Dachbodens, in den der große Mr. Odino einzieht. Im Keller tobt Herr von Bärentrost. Max, Alma und Mr. Odino reisen nach Mispelheim. Sie besuchen eine abendliche Gala, ein Panoptikum, einen Mummenschanz – und ihnen blüht ein Flammenwunder. Silvia Bovenschen zelebriert eine Walpurgisnacht. In aufblitzenden Szenen verwirbelt sie ramponierte Mythen, urtümliche Gespenstergeschichten und Zukunftsängste. Ein Hexentanz in den Kulissen der Zeiten und der Legenden – und wir erkennen darin den Spuk unserer Gegenwart.
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Seitenzahl: 183
Veröffentlichungsjahr: 2018
Silvia Bovenschen
Roman
Meinen ungewöhnlich duldsamen Eltern.
Teil I
Die Belehrung
So wird es erzählt
Agnes Lupinski
Agnes Lupinski ist müde
Agnes Lupinski grübelt
Agnes Lupinski staunt
Agnes Lupinski bezwingt sich
Agnes Lupinski raucht
Agnes Lupinski sortiert
Agnes Lupinski schreckt auf
Agnes Lupinski bekommt Besuch
Teil II
Maximilian Artem freut sich
Alma Lupinski flucht
Alma Lupinski bekommt Besuch
Alma Lupinski und Maximilian Artem
Alma Lupinski lenkt ab
Großschwager von Bärentrost
Alma Lupinski doziert
Mr. Odino schaudert
Mr. Odino flieht
Mr. Odino hat eine Frage
Mr. Odino kennt die Antwort
Bärentrost notiert
Agnes Lupinski wundert sich abermals
Mr. Odino wundert sich nicht
Der Pakt
Mr. Odino in Not
Und nun?
Bärentrost und Alma Lupinski
Mr. Odino und Maximilian Artem forschen
Truhe I
Mr. Odinos erbärmlicher Versuch einer pädagogischen Unterweisung
Agnes Lupinski fröstelt
Geselliges Beisammensein
Agnes Lupinski ist ratlos, noch immer
Truhe II
Großschwager von Bärentrost unterhält sich
Großschwager von Bärentrost notiert
Das vorläufige Ende der Forschung
Großschwager von Bärentrost will nicht mehr warten
Amerika
Alma Lupinskis kläglicher Versuch einer pädagogischen Unterweisung
Alma Lupinskis Wolfskunde
Das Telefon klingelt bei Bärentrost
Alma Lupinski und Mr. Odino
Agnes Lupinski erinnert sich
Teil III
Die große Wanderung
Mispelheim
Mr. Odino erwacht
Mr. Odino bricht auf
Die Dorfkneipe
Mr. Odino erschrickt
Alma Lupinski bricht auf
Alma Lupinski sucht
Maximilian Artem findet einen Freund
Maximilian Artem verliert einen Freund
Alma Lupinski sucht immer noch
Heute große Gala im Colosseum Mispelheim
Maximilian Artem unterhält sich mit einem Schauspieler
Undinen oder was?
Alma Lupinski und Maximilian Artem wieder vereint
Der Turm
Der letzte Auftritt
Der Sportplatz
Der Eremit
Der Rückweg – Erleichterung? Enttäuschung?
Teil IV
Agnes Lupinski blickt zurück
Agnes Lupinski bekommt Besuch
Agnes Lupinski lernt Dr. Silbermuth kennen
Agnes Lupinski ist mildtätig
Agnes Lupinski ist erschöpft
Agnes Lupinski – Ja, was denn noch?
Agnes Lupinski ist misstrauisch
Agnes Lupinski
Teil V
Eine gesellige Runde
Agnes Lupinski hat keine Kopfschmerzen mehr
Der gerettete Hund
Allerlei Fragen
Die unterlassene Frage
Maximilian Artem wird älter
Alma Lupinski und Dr. Silbermuth
Alma Lupinski und die Erinnerung I
Alma Lupinski und die Erinnerungen II
Und noch ein oder zwei Fragen
Alma Lupinskis Bilder
Agnes Lupinski im Pech
Agnes Lupinski wird belehrt
Bärentrosts Schriften
Und dann?
Das Traumbild der Alma Lupinski
Meinen ungewöhnlich duldsamen Eltern.
Ein verspäteter Dank.
»Die Lüge hat sich wahr gelogen.«
Günther Anders
Und dann kamen sie zurück.
Und dann vermehrten sie sich.
Und dann lebten sie das ihnen gemäße Leben.
Und dann schien Frieden.
Und dann war Krieg.
Sagte der Greis: … und alsbald machten sich unsere Vorväter eilends auf und suchten ihr Heil in allen Teilen der Welt. Sie liefen und liefen und liefen.
Durch die Wälder, durch die Sümpfe, durch die Stürme, durch die Zeiten.
Sagte der Junge: … und warum wollten diese Monster uns ausrotten damals?
Sagte die gute Tante: Sie hatten die Ängste und bösen Träume mit uns bestückt und sich allerlei schaurige Mären erdacht. Die haben sie von Generation zu Generation weitergesponnen. Ein riesengroßes Lügengespinst … Aber das verstehst du noch nicht.
Sagte der Greis: Böse, böse, sehr böse.
Agnes Lupinski verstand sich nicht mehr.
Warum nur war sie so ruhelos? Warum war sie so verstört? Warum strich sie ziellos durch die Räume? Was trieb sie an?
Was trieb sie um?
Was trieb sie hin?
Was trieb sie her?
Was, um Himmels willen, trieb sie?
Verdammt nochmal, was war denn das mit ihr?
War es die SMS?
»Komme Dienstag. Gruß, Ulli«
Mehr nicht.
Eine Mitteilung. Sehr knapp. Harmlos.
Eine abwinkende Handbewegung.
Kein Grund zur Beunruhigung.
Ein fahriger Griff zum Kopf.
Kopfschmerzen. Den ganzen Morgen schon.
Wenn da wenigstens stünde, ob auch Max …
Agnes schmiss sich auf den Küchenstuhl. Sie lehnte sich zurück, rutschte vor mit dem Gesäß fast bis zur Stuhlkante, streckte die Beine aus, weit gespreizt, und ließ die Arme beidseitig herunterhängen.
Ihr war bewusst, dass sie in diesem Moment nicht sonderlich vorteilhaft aussah.
Unwichtig. Es war ja niemand anwesend. Und dennoch, sie wusste sich deutlich in einem – auch für sie selbst – befremdlichen Zustand.
Die Haare müsste sie waschen. Das hatte sie sich gestern schon vorgenommen. Die Fingernägel?
Sie spreizte die Finger der rechten Hand und hielt sie sich vor die Augen.
Die Nägel – zu lang, der Lack – schadhaft.
Sie schloss die Augen.
Kopfschmerzen.
Ein merkwürdiger Tag. Nicht dramatisch, niemand war gestorben, niemand hatte eine fürchterliche Diagnose hören müssen, niemand hatte einen Unfall.
Kopfschmerzen.
Ob sie noch eine Tablette nehmen sollte? Das wäre dann die dritte heute schon. Wohin hatte sie die Schachtel gelegt? Sie mochte nicht aufstehen und suchen.
Aber merkwürdig war er doch, dieser Tag. Ein Verschleißtag. Ein beschissener, verschlissener Tag.
Es begann mit der elektrischen Zahnbürste, die schon am Morgen unter rasselndem Protest den Geist aufgab. Dann, als sie eine E-Mail an Ulli schrieb, stürzte der Computer ab, und er war auch nach etlichen Neustartbemühungen nicht zu weiterer Arbeit zu bewegen. Mehr wusste sie nicht zu tun in diesem digitalen Problemfall. Sie würde um Hilfe bitten müssen. Ulli oder Frederic.
Etwas später streikte die Spülmaschine, dann gab der Kühlschrank seinen Geist auf, und als schließlich auch der Staubsauger nicht funktionierte, war sie bereit gewesen, an einen Fluch zu glauben.
Aber das war natürlich Unsinn. Da gab es eine plausible Erklärung. Die Gerätschaften hatten ihr vorbestimmtes Alter erreicht. Acht – sie überlegte – nein sogar neun Jahre waren ins Land gegangen, seit sie ihr altes Mobiliar hier platziert hatte. Nur die Geräte hatte sie teils ersetzt, teils erstmalig angeschafft.
Ja, klar, deren Ableben war Programm. Sollbruchstellen. Das hatte ihr mal jemand erklärt. Eingebaute Schwächen, die garantieren, dass das Elektroding nach einer gewollten Frist irreparabel verreckt.
Sollbruchstellen. Ob es die auch im menschlichen Sein gab …? Eine künstlich verknappte Lebenszeit …? Wer könnte dieses Sollen wollen? Sie war nicht gläubig. Sie schüttelte den Kopf. Unsinn!
Sie schüttelte nochmals den Kopf.
Aber sie spürte – wie könnte sie sich das verdeutlichen? – so etwas wie einen feinen Riss im Gebäude ihrer Alltäglichkeit. Eine diskrete Störmeldung, diskret zwar, aber doch unabweisbar. Eine leise bohrende Beunruhigung, die sich an ihren Nervenbahnen voranarbeitete.
Kopfschmerzen.
Sie fühlte sich gedrängt, kleine Klagelaute abzugeben –, aber das würde sie nicht tun.
Nein, das würde sie nicht tun.
Selbstverständlich nicht.
Lächerlich.
Ein Anruf unterbrach ihre Empfindungen. Besser: den schlappen Versuch einer Bezähmung ihrer Empfindungen.
Sie fand das Mobiltelefon nicht sofort.
Nervöse Kopfdrehungen. Schließlich entdeckte sie es. Sie hatte, nachdem die SMS heute Morgen eingetroffen war, achtlos ein Küchenhandtuch darübergeworfen.
Sie drückte hektisch auf die Taste für die Annahme …
Da war niemand mehr …
Sie war müde. Sie hatte keine Lust, dem entgangenen Anruf nachzuforschen.
Zu müde.
Sie ließ sich wieder auf den Stuhl fallen.
Wahrscheinlich Frederic …
Sagte der Junge: Aber sag doch mal – warum ausgerechnet uns?
Sagte die gute Tante: Ach, das ist ein ewiges Übel. Hör auf mit der Fragerei. Das macht nur schlechte Träume. Es ist Zeit. Du musst jetzt schlafen.
Sagte der Junge: Ich wäre gerne ein Stern.
Sagte der Greis: – nichts.
Sie saß noch immer auf dem Küchenstuhl.
Sie müsste aufräumen. Das schmutzige Geschirr stapelte sich im Spülbecken. Die Arbeitsplatte machte auch keinen hygienischen Eindruck.
So ging das nicht weiter mit ihr.
So kannte sie sich nicht.
So war sie nicht.
So wollte sie nicht sein.
Sie ließ den Blick über die Küche schweifen. Auch die Einrichtung machte jetzt auf sie einen unschönen, ja geradezu lieblosen Eindruck.
War lieblos das richtige Wort?
Nein, Frederic hatte recht. Ihre Küche wirkte nicht nur lieblos, sondern heruntergekommen. So hatte er es ausgedrückt. Heruntergekommen? War das übertrieben? Mit ein bisschen Farbe …
Aber sie wusste, ein bisschen Farbe würde nicht genügen.
Ja, Frederic hatte recht.
Noch am Vormittag war er aufgetaucht, wie üblich gehüllt in affige Klamotten und in diese aufgesetzte Munterkeit, die ihr heute besonders auf die Nerven gegangen war. Dann hatte er sie zu einer Ausstellung hochmoderner Küchen verschleppt und einem öligen Verkäufer überantwortet, der sie durch seine Küchenwunderwelt leitete.
Sagte der Junge: Aber warum wollten sie gerade uns ausrotten? Warum nicht alle Katzen oder irgendwelche Pflanzen oder Mond und Sonne?
Sagte die gute Tante: Mond und Sonne kann man nicht ausrotten.
Sagte der Greis: Wer weiß?
Küchen? Sahen die Küchen jetzt so aus? So stellte sie sich einen Weltraumoperationssaal vor oder ein Geheimlaboratorium für verdunkelte Forschungen mit dem Ziel einer Optimierung der Menschengattung.
Eine eindringliche Farblosigkeit. Bis auf ein leises Grau und ein gebrochenes Weiß, hin und wieder, als Hervorhebung ein Anthrazit. Matter Chrom. Glatte Wände, in denen Aufbewahrungsgelasse vermutet werden durften, darin verborgen, auch das war zu vermuten, allerlei technische Gerätschaften tief versenkt und den Blicken entzogen. Alles zeugte von einer fanatischen Zurückhaltung der Funktionen, alles war übertrieben dezent, als schämten sich die smarten Apparate ihrer Brauchbarkeit.
Hier und da ein formbewusster Roboterarm.
Große Arbeitsflächen aus matt schimmernden undefinierbaren, aber zweifellos teuren Materialien.
Sie war staunend durch große hallende Räume gegangen.
Ein Gefühl der Öde. Sie fröstelte.
Bis sie plötzlich vor eine tiefschwarze Wand kam.
An der hingen magnetisch gehalten Messer.
Messer!
Messer in allen Formen.
Große und kleine Messer. Gestaffelt von riesig zu winzig.
Messerklingen. Blitzend, scharf und blank und frei meldeten sie ihre unschöne Funktion:
Schneiden. Stechen. Töten.
Zugleich – dem ekelerregend unterlegt – die weiche Stimme des Lackaffen, eine scheinkultivierte Verkaufsförderungssuada.
Angst!
Jetzt war Angst bei Agnes. Ein Überfall lähmender Angst.
Und:
Mit einem Schlag wähnte sie sich um Jahrzehnte zurückversetzt in eine Widerfahrung ihrer Kindheit. Das Reh.
Das Reh auf der Lichtung.
Wundersam beleuchtet von einem Sonnenstahl, der jäh zwischen dräuenden Wolken hervorgebrochen war.
Das Reh in einem Lichtkranz. Eine Märchenbotschaft einzig für sie geschaffen.
Sie war der Erscheinung in den verbotenen Wald gefolgt, als das Gewitter, das sich grollend angekündigt hatte, den Himmel verfinsterte.
Peitschende Zweige, krachender Donner, Blitze, die sie inmitten des Waldes Dunkel zwar nicht deutlich sehen konnte, wohl aber deren grellen Widerschein, wie er durch die Zweige zuckte. Sie lief und lief und lief. Immer weiter war sie tief hinein in den düsteren Wald geraten.
Das Reh war verschwunden.
Stattdessen ragte eine riesige schwarzverhüllte Gestalt vor ihr auf. Schlagartig.
Mächtig. Grausig.
Der Wald rings um sie begann zu flimmern.
Sie hatte geschrien und die Hände vor die Augen geschlagen.
Als sie nach unendlicher Zeit wieder einen Blick gewagt hatte, war sie allein.
Ganz allein.
Mutterseelenallein.
Sie löste den Blick von der schwarzen Messerwand.
Sie löste die Verbindung zu den lange vergangenen Tagen.
Sie löste sich aus der Kralle der Kinderangst.
Sie rief sich zur Ordnung.
Wie so oft an diesem Tag.
Was hatte diese Messerwand mit ihren Kindheitsängsten zu tun?
Nichts!
Rätselhaft.
Sie hätte sich gerne geschüttelt, wie die Hunde, wenn sie aus dem Wasser kommen.
Sie musste, als sie weiter hinter dem Verkäufer, der ihren Angstanfall nicht bemerkt hatte, durch die Küchenräume stolperte, an einen Ausspruch von Max denken.
Was hatte Max früher oft gesagt?
»Das geht mir am Arsch vorbei!«
Genau das war es, was sie jetzt abwehrend empfand. Oder besser: empfinden wollte: Diese Küchenlandschaft mitsamt der Messerwand geht mir am Arsch vorbei.
Sie lachte humorfrei in sich hinein.
Und sogleich wusste sie, warum ihr diese Wortwahl, die nicht in ihrer Vokabelwelt heimisch war, in den Sinn gekommen war. Es war die Sprache eines trotzigen Kindes, das sich seiner Not bewusst in stolzer Aufbäumung zu einem in den Ohren der Erwachsenen nicht so recht geduldeten Ausdruck fand.
Ein Mut-Willen.
Diese Wand geht mir am Arsch vorbei. So ein geschwärzter Wald – wie bedrohlich er einst auch wirkte – schien ihr rückblickend fast als ein Hort der Geborgenheit.
Vergleichbar war nur die Angst.
Und dann: so ein beleuchtetes Reh, das konnte man ja gar nicht ernst nehmen und schon gar nicht erzählen, da stünde man sofort unter Kitschverdacht.
Die dunkel verhüllte Gestalt?
Noch immer sprach der Gelackte auf sie ein. Da er sie zu Recht für eine Netzidiotin hielt, malte er ihr eine Tischlein-deck-dich-Idylle aus, schilderte wortreich eine Küchenzukunft der digitalen Dienstbarkeit.
Aber da hatte er sich ein wenig getäuscht, der Lackaffe. Hatte sie doch erst kürzlich eine Reportage gesehen über smarte Häuser, über die automatisierte Haushaltsführung der Zukunft, über den Segen, den all die intelligenten Maschinen über die kommende Wohnwelt bringen würden, eine vernetzte Cyberflotte, die bereitstand für den Nachweis ihrer hausfraulichen Überflüssigkeit.
Was wäre die Folge eines Stromausfalls? Das Haus würde vollständig ins Dunkel sinken, in die Unbrauchbarkeit aufs Ganze.
Was hatte Tante Alma neulich düster orakelt?
In der Regel ergriff sie sofort die Flucht, wenn Tante Alma zu einer ihrer furchterregenden Tiraden ansetzte, aber diese Drohworte waren offensichtlich zu ihr durchgedrungen.
Dass es sie schon bald vermehrt geben würde, die digitalen Kriegsschäden, hatte sie behauptet, und dass jede milde Regung zerrieben werde im Terrorverbund von Barbarei und Spitzentechnik. Da bliebe kein Raum mehr für das Erbarmen und die Schönheit und die Wohltat und die Wahrheit … Tante Alma hatte noch Weiteres aufgefahren, das da angeblich verlorengehe.
Musste man das glauben? Oder kam es nur aus dem Groll einer alten Frau, die spürt, dass sie den Neuerungen nicht mehr gewachsen ist?
Vielleicht, so dachte sie jetzt im Rückblick auf ihr Küchenabenteuer, ist doch etwas dran. Sie sollte mal darüber nachdenken.
Aber nicht jetzt.
Kopfschmerzen.
Sagte die gute Tante: Hör zu. Es geht wieder los. Du musst aufpassen. Es wurden wieder welche gesehen. Halte dich verborgen. Sobald du einen witterst, verschwindest du geräuschlos.
Geh nicht zu der Lichtung. Bleib bei den Erwachsenen. Sie dürfen uns nicht finden.
Sagte der Greis: Hab acht, hab acht, hab acht!
Agnes Lupinski saß noch immer auf dem Küchenstuhl. Oder besser: wieder. Denn kurz zuvor war sie aufgestanden und hatte sich eine Zigarette geholt. Die fast vergessene Sucht hatte sie wieder erreicht. Ein Freund hatte neulich eine halbleere Packung bei ihr vergessen. Auf dem Balkon. Der war freiwillig dorthin ausgewichen. Fast automatisch. Sie hatte ihn nicht darum gebeten. Möglicherweise schmeckten ihm die Zigaretten nur noch in der Exilkühle.
Sie setzte sich wieder.
Sie zündete sich die Zigarette an. Der Ausflug in das Küchenglück hatte Nerven gekostet. Anders konnte sie sich diesen Rückfall nicht erklären.
Ein tiefer Zug.
Die erste Zigarette seit vier Jahren. Jetzt war ihr schwindlig. Jetzt war sie beunruhigt. Jetzt war sie beunruhigt, hatte Kopfschmerzen, und ihr schwindelte. Außerdem war sie müde. Nervös und müde gleichermaßen. Seltsam. Sie drückte die Zigarette auf einer Untertasse aus. War das schon das erste Symptom einer einsetzenden Verwahrlosung? Sie rief sich zur Ordnung. Oder besser: Sie versuchte, sich zur Ordnung zu rufen.
Aber der Ruf drang nicht zu ihr durch.
Frederic kam ihr in den Sinn. Sie hatte ihn beschimpft. Gefaucht hatte sie. Was ihm denn eingefallen sei, wie er überhaupt darauf hatte kommen können, sie in eine so absurde Ausstellung zu schleppen.
Das tat ihr leid. Er hatte es gut gemeint. Sie würde sich entschuldigen müssen.
Nicht nur für die heutige Beschimpfung. Schon in den letzten Wochen war sie nicht sehr freundlich gewesen. Richtig attackiert hatte sie ihn einige Male. Zu geringfügigen Anlässen. Schäbig hatte sie sich verhalten. Hysterisch.
Das hatte ihn irritiert. Was denn in sie gefahren sei. So launisch kenne er sie nicht, hatte er ratlos gesagt. Das Wort hysterisch hatte er sich nicht erlaubt.
Die schlechte Behandlung, die sie ihm, trotz seiner unerschütterlichen Freundlichkeit, zumutete, kam, das wusste sie, aus einer Abwehr. Sie hatte gespürt, dass er sich an schwerwiegende Fragen heranpirschte. Fragen, die vielleicht nicht geradewegs in einem Heiratsantrag münden würden, aber doch auf eine engere Bindung zielten. In letzter Zeit war er übertrieben fürsorglich gewesen. Auch in pekuniärer Hinsicht. Seit die Buchhandlung, in der sie zwölf Jahre Geschäftsführerin gewesen war, Pleite gemacht hatte.
Auch die Superküche wollte er finanzieren, um ihr eine Freude zu machen.
Sie fasste mit den Fingerspitzen an die Schläfen.
Sie sollte mal sortieren.
Wollte sie ihn heiraten?
Eher nicht.
Wollte sie ihn vergraulen?
Eher nicht.
Wollte sie auf den Sex mit ihm verzichten?
Nein.
Wollte sie mit ihm in seinem gnadenlos durchgestylten Penthouse wohnen?
Keinesfalls.
Konnte sie sich vorstellen, dass er hier mit ihr in Tante Almas Häuschen leben würde?
Nein.
Agnes Lupinski war ohne Rat.
Sagte die gute Tante: Das musst du wissen: Alleine bist du verloren.
Das musst du lernen: Es gibt eine Teilung der Arbeit, der Beschaffung, der Fürsorge.
Die musst du ehren: die, die mit dir sind.
Sagte der Greis: So sei es. So sei es.
Agnes saß noch immer auf dem Küchenstuhl.
Plötzlich kam Leben in sie.
Mist, sie hatte Tante Alma vergessen, total vergessen.
Das war ihr noch nie passiert.
Die Einkäufe, die sie pflichtgemäß für Tante Alma getätigt hatte, warteten darauf, oben im 1. Stock abgeliefert zu werden. Sie lagen dort, wo sie achtlos neben der Eingangstür abgestellt worden waren.
Das Ritual verlangte, dass sie Tante Alma, die niemandem ohne Vorwarnung die Türe öffnete, kurz anrief, bevor sie die Einkaufstüten bei ihr abgab. Agnes Lupinski fand das zwar etwas absurd – wie vieles, was mit ihrer Tante zusammenhing –, aber sie beugte sich dem, ohne zu murren. Schließlich verdankte sie Tante Alma, dass sie hier fast mietfrei wohnen konnte.
Sie musste lachen, als sie sich vorstellte, wie sich so eine hypermoderne Küche in diesem Häuschen ausmachen würde.
Sie blickte zur Küchendecke und lauschte. Es war nichts zu hören.
Ja klar. Heute war kein Rumpeltag. Heute war ein Mäuschentag.
Diese etwas alberne Einteilung stammte von ihrem kleinen Neffen Max, den sie oft und gern beherbergte, wenn ihr alleinerziehender Bruder mal wieder keine Zeit für ihn hatte. Die Einteilung in Rumpeltage und Mäuschentage, in Tage, an denen man ständig von einem massiven Getrampel aufgeschreckt wurde, und in Tage, an denen kein Laut – oder wie Max sagen würde: kein Mucks – aus der darüberliegenden Wohnung zu hören war. Auch seine Marotte, immer wenn er Verwandte erwähnte, den jeweiligen familiären Status beizugeben, hatte sie liebevoll übernommen.
Tante Alma hatte auf ihre alten Tage sonderbare Angewohnheiten ausgebildet. An den Tagen, an denen sie hauptsächlich las, war es ruhig. Wenn sie aber schrieb, stand sie nach jedem dritten Satz auf und trampelte durch ihr Zimmer. Offensichtlich konnte sie nur im Takt strammer Gehschritte nachdenken. Dann knallten Tante Almas Blockabsätze hart auf das Parkett.
Sie hatte schon daran gedacht, ihr ein paar Pantoffeln zu schenken. Aber sie wusste, dass das keine gute Idee war.
Sagte der Junge: Ich habe welche gesehen. Sie machen viel Lärm. Sie bewegen sich plump. Sie riechen komisch. Grundelholm sagt, dass die Einzelnen nicht besonders stark, aber im Rudel mächtig sind. Grundelholm sagt, dass sie sie aus der Entfernung töten können. Grundelholm sagt auch, dass sie alles sehen können – durch die Steine und Bäume hindurch …
Sagte die gute Tante: Nein, sie können nicht durch die Steine und die Bäume hindurchsehen. Das sind Märchen. Du musst nicht alle Geschichten glauben, die die Alten erzählen. Aber wie auch immer, sie sind gefährlich. Bleib in Deckung.
Sagte der Greis: Hab acht, hab acht, hab acht.
Gerade als sie aufstehen wollte, um Tante Alma endlich die Lebensmittel zu bringen, wurde sie abgelenkt durch ein Gejohle, das von der Straße kam.
Sie demonstrierten schon wieder. Was die nur wollten? Mindestens einmal die Woche wollten sie dringlich etwas, oder sie wollten dringlich etwas nicht. Agnes Lupinski konnte die skandierten Rufe nicht verstehen. Was riefen die da nur immer? Was riefen sie?
Sie ging zum Fenster. Nein, Demonstration konnte man das nicht nennen.
Es geschah immer häufiger, dass sich kleine Rudel bildeten und fahnenschwenkend und rufend durch die Straße eilten. Singuläre Rotten.
Mal die, mal die, mal jene.
Was riefen sie? Da war nur Klang, kein Sinn.
Eine Sprache, die sie nicht verstand.
Der Straßenlärm hatte die Türklingel mehrmals übertönt.
Jetzt aber, die Rufe hatten sich etwas entfernt, reagierte sie.
Vor der Tür standen ihr Schwager Ulli und ihr Neffe Max.
Maximilian freute sich. Er freute sich, weil heute der erste Ferientag war. Er freute sich, weil sein Vater ihn abgeholt hatte, aus dem Internat in seinem Jaguar Baujahr 1965. Jedes Mal fuhr der mit einem anderen teuren Schlitten vor. Seine Klassenkameraden fanden das cool. Ihn interessierte es nicht so sehr. Aber speziell dieses Auto gefiel ihm. Hauptsächlich wegen der roten Ledersitze.
Maximilian freute sich auch, weil sie nicht in die väterliche Villa, sondern gleich zu Tante Agnes gefahren waren. Er freute sich auf das Zusammensein mit seiner Tante und zugleich auf die Besuche, die er so oft wie möglich bei seiner Großmutter Alma machen wollte. Seine Freude steigerte sich überdies, weil sein Vater ihm soeben angedeutet hatte, dass er wahrscheinlich während der ganzen Ferienzeit bei Tante Agnes wohnen sollte. Eine längere Dienstreise stand mal wieder an.
Und noch etwas hatte sein Vater in Aussicht gestellt. Aber das wollte er vorläufig vergessen.
Jetzt wollte er sich freuen.
Schon in den letzten Internatstagen hatte er sich oft in das Haus seiner Großmutter phantasiert, hatte sich vorgestellt, wie er die Tage abwechselnd in den Wohnungen seiner Tante Agnes und seiner Großmutter Alma verbringen würde. Manchmal hatten sie ihm während seiner vorangegangenen Besuche erlaubt, in der unbewohnten Dachwohnung herumzuschnüffeln.
Dort war das Glück! Die Mansardenwohnung schien ihm wie eine eigene Welt. Eine Welt voller Geheimnisse, voller Überraschungen.
Niedrige Räume, in denen sich die verblassten fremdartig gemusterten Tapeten teilweise von den Wänden lösten, vollgestopft mit allerlei altertümlichem Mobiliar: ausladende Schränke, mächtige Kommoden, Vitrinen, Truhen, Regale, Sessel, Stühle, Tische, Betten, Uhren, Ähnliches und Verschiedenes, für das er keinen Namen hatte.
Da gab es tiefe Spinde, in denen komische Klamotten hingen; Kommoden, deren Schubladen randvoll gefüllt waren mit Überraschungen – in einer befanden sich nur alte Brillen – in einer anderen dichtbeschriebene Notizhefte … Seine Erkundungen standen noch ganz am Anfang.