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Zwei Lebensgeschichten, eine gemeinsame Erinnerung. Ein Buch für die Freundin. Silvia Bovenschen erzählt von ihrer Freundin, der Malerin Sarah Schumann. Sie erzählt von einer ungewöhnlichen Freundschaft, die seit vierzig Jahren besteht, und im Erzählen erfährt sie, was sie sonst vielleicht nie erfahren hätte. Es sind Bilder eines bewegten Lebens, Bilder von Krieg und Flucht und Rebellion. Sarah Schumann zeigt darin immer eine Haltung, manchmal dezidiert, oft hat sie etwas Wildes, aber sie ist keine Despotin, sie erlässt keine Gesetze. Sie IST das Gesetz. ›Sarahs Gesetz‹ ist die Hommage an eine außergewöhnliche Frau und die Geschichte einer Freundschaft. Zu endgültigen Befunden kommt es nicht. Bei aller Liebe nicht.
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Seitenzahl: 202
Veröffentlichungsjahr: 2015
Silvia Bovenschen
Sarahs Gesetz
FISCHER E-Books
Silvia Bovenschen + Sarah Schumann. 1979
Vielleicht beginnt das Unglück in dem Augenblick, in dem einer den anderen zu durchschauen glaubt. Solange wir wissen, dass wir unerkundbar sind, ist Liebe.
(Ilse Aichinger)
Meine Freundin Sarah Schumann hatte Geburtstag gestern.
Zu den Gerüchten, die ich verwerfe, gehört, dass sie achtzig Jahre alt geworden sein könnte. Gestern soll das gewesen sein. (War unsere erste Begegnung nicht vorgestern erst?)
Zu den Wundern, die ich ehre, gehört ihre Regie, die kluge und barmherzige Lenkung unseres gemeinsamen Lebens. Woche für Woche, Tag für Tag, Stunde für Stunde – so lange es gehen mag.
Wohl gemerkt! Liebe und Klugheit führen Regie (mit einer sanften Beimischung preußischen Pflichtempfindens).
Ja, ich will erzählen von meiner Freundin Sarah Schumann.
Das habe ich heute, an diesem Tag, vor einer Stunde erst, beschlossen.
An diesem Tag, dem 13. August 2013, ist der Himmel blau. Ich sehe nur einen Fensterausschnitt davon. Ich hätte gerne mehr Blau.
An diesem Tag liege ich im Bett. Daran ist nichts außergewöhnlich.
Ich war oft, sehr oft, genau besehen immer krank während der gemeinsamen Jahre. Mal mehr, mal weniger. Jetzt, in diesem Sommer des Jahres 2013, ein Sommer, den ich versäume, hat es mich wieder hart getroffen. Jetzt bin ich sehr krank, sehr schwach und sehr dünn, ein Skelett geradezu.
Als ich Sarah kennenlernte, das ereignete sich (nach menschlich verabredeter Zeitmessung) vor vierzig Jahren, war ich auch schon krank. Unheilbar. Aber für Unvoreingenommene noch nicht sichtbar. Einige Zeit nach diesem Ereignis (anders kann ich den Zufall unserer ersten Begegnung im Rückblick nicht nennen) habe ich ihr von diesem dauerhaften Kranksein gesprochen.
Ich habe die Szene in ihrer Wohnung im alten Westberlin – Steckschlüssel – vierter Stock – Kohleöfen – noch genau vor Augen.
Der große hölzerne Arbeitstisch, der zu einem kleinen Teil auch als Esstisch dient und übersät ist mit Farbspuren. Wir löffeln ihre Möhrensuppe. Die Suppe ist angereichert und gekräftigt mit Fleisch aus einer »Senatskonserve«. Eine Notversorgung, die zurückweist auf die Erfahrung der Blockade 1948/49.
(Im Zuge der zyklischen Erneuerung des verderblichen Vorrats werden die Dosen kostengünstig an die Stadtbevölkerung verkauft.)
Vor mir steht die Suppe. In einem tiefen Teller. Ich bewundere den Teller. Der stamme, so sagt Sarah Schumann, noch aus der Zeit, als sie in London lebte, viele Jahre bevor wir uns begegneten. Ein schöner Teller. Ich studiere das Dekor unter der Glasur. Ein zartes Ornament in Rot und Blau.
Ich spüre, sie nimmt fälschlich an, dass mir die schlichte Suppe nicht schmeckt. Und bald schon (sagen wir: drei Monate später) werde ich ahnen: Sie hält mich, die Jüngere, für eine verwöhnte Bürgertochter, die teure Restaurants bevorzugt. Wenig (sagen wir: ein Jahr) später werde ich wissen, dass sich in ihrem mentalen Haushalt solche Annahmen leicht zur Gewissheit steigern und verhärten können. So auch in diesem Fall. Sie hat lange daran festgehalten. Gegen jede Evidenz. Schließlich hätte sogar sie (sie, die arme Künstlerin, die damals oft nicht wusste, ob sie die Miete und den Kohlenhändler wird zahlen können) jede Gelegenheit gehabt zu bemerken, dass ich (zu dieser Zeit mit einem Promotionsstipendium ausgestattet) zwar besser situiert bin, aber doch auch sparsam sein muss, dass auch ich am Monatsende klamm bin, dass auch ich keineswegs im Luxus lebe und dass ich überdies auch kein Luxusleben ersehne. Erst als ich nach ein paar Jahren erduldeter Fehleinschätzungen die Causa gezielt aufrufe, eine Art Privatgericht erzwinge, vehement Empörung an den Tag lege, einen harten Indiziennachweis aufbaue und die Ungerechtigkeit an vielen Beispielen veranschauliche, erst dann wird sie schleppend eine inwendige Korrektur herbeiführen. Solche Korrekturen sind mir nicht in allen Fällen gelungen.
Zurück zu dem Winter des Jahres 1975 in Berlin-Charlottenburg. Zurück zum Arbeitstisch und zur Möhrensuppe. Wir sind uns fremd. Ich lege den Löffel ab und schaue verlegen aus dem Fenster. In dem gegenüberliegenden Altbau wird der Dachboden ausgebaut. Überall in Westberlin werden jetzt die Dachböden ausgebaut, in den alten Häusern, die zwei große Kriege bestanden haben.
Ich frage Sarah Schumann, um ein wenig ins Gespräch zu kommen, ob auch ihr Hausbesitzer Derartiges angekündigt habe. Sie sagt: Nein.
Iss, sagt sie. Ich fahre zusammen. Gut, dass ich den Löffel abgelegt habe, er wäre mir sicher aus der Hand gefallen. Nie, wirklich nie, nie hat jemand bei Tisch einen so nackten Imperativ auf mich gerichtet. Sie aber schaut freundlich aufmunternd bei diesem strammen Wort.
Ich führe den Löffel zum Mund. Ich will mich in ein gutes Licht stellen (Warum eigentlich?) und überlege, was ich sagen könnte. Es müsste etwas sein, das sie beeindruckt. Mir fällt nichts ein. Um die Verkrampfung zu lösen, rede ich, rede ungewollt Belangloses, und schließlich – ganz gegen die Gewohnheit! – rede ich von meiner Krankheit.
Sie legt den schönen Kopf etwas schief und sagt:
Ist in Ordnung.
Ich weiß, sie meint nicht, dass es in Ordnung sei, von solch einer Krankheit befallen zu sein, sie meint, dass sie damit zurechtkommen wolle. Jedenfalls etwas in der Richtung.
Ich freue mich.
Meine Freundin Sarah ist zwölf Jahre älter als ich.
»Das spielt keine Rolle«, sagte einmal einer, der uns kennt.
»Doch! Das spielt eine Rolle«, sagte ich damals.
»Meine Freundin Sarah – nur mal so zum Beispiel – hat in ihrer Kindheit niemals ein Micky-Maus-Heft gelesen. Ich weiß gar nicht, wie man sich mit einem Menschen verständigen soll, der nie …«
Das war, sagt die Erinnerung, meine frivole Antwort. Auch erinnere ich, dass ich sie bereute. Zu Recht. Ich weiß nicht mehr, was mich in diese törichte Äußerung trieb, hatte ich doch immer schon Freunde, die erheblich älter waren als ich.
Einen größeren Blödsinn habe ich selten von mir gegeben. Da könnte meine Freundin Sarah weitaus Trennenderes ins Feld führen.
Meine Freundin Sarah war in Nöten, die ich – geboren 1946, als der große Krieg gerade vorbei war – nicht kennenlernen musste.
Sie hingegen hat als Kind den Krieg noch erlebt. Sie kennt den Schrecken von Bombennächten und den einer langen Flucht. Sie musste auf dieser Flucht – elf Jahre alt erst – durch einen Fluss (die Mulde) schwimmen. Ihre Mutter hatte bei dieser Tortur Sarahs einjährige Schwester auf dem Rücken festgebunden. Ein junger Mann, dem die Mutter die letzten Zigaretten dafür gab, lud sich den Kinderwagen auf den Buckel. Da hieß meine Freundin Sarah noch Maria.
Ja, sagt Sarah, da hat meine Mutter einmal funktioniert. Das hat sie gut gemacht. Einzig das hat sie gut gemacht.
Und meine Freundin Sarah hat in den Nachkriegsjahren den Hunger kennengelernt. Ihm war ich nie ausgesetzt.
Es gibt eine Fotografie (ein kleines Schwarzweißbildchen mit einem gezackten Rand) von meiner nahezu ausgezehrten Mutter. Sie musste den Hunger nach dem Zweiten Weltkrieg auch kennenlernen. Vor ihr sitzt der vergleichsweise gutgenährte Säugling, der ich einmal war. Wenn ich die Fotografie ansehe, schäme ich mich.
Ich erinnere mich. Sarah hat einmal, das ist schon einige Jahre her, von ihrem Hunger erzählt.
Sarah erzählt:
Ich war noch ein junges Mädchen, eine Schülerin. Ich lebte mit meiner Mutter und meiner Schwester auf einem Dorf. Einmal traf ich am Abend ein Mädchen aus der Nachbarschaft. Das Mädchen war ein oder zwei Jahre älter als ich. Wir gingen eine kurze Wegstecke nebeneinander her. Das Mädchen sagte, dass es nicht mehr zur Schule gehe, dass es kürzlich gegen Bezahlung Arbeit in einem Fischrestaurant angenommen habe und dass es dort den Abwasch mache.
Die Mitteilung des Mädchens war getragen von einer gewaltigen Geruchswolke, einer Ausdünstung von altem Fisch und fauligem Abwaschwasser.
Da überwältigte mich mein Hunger.
Sarah erinnert sich an die Flucht 1945. Sie dauerte zwei Jahre. Von Senftenberg in der Lausitz über das zerbombte Dresden weiter nach Hamburg und noch weiter, bis sie schließlich in einem Dorf endete.
Sarah erzählt:
Ich sitze erhöht auf einem Wagen, gezogen von einem müden alten Gaul. Jemand hat uns, meine Mutter, meine kleine Schwester und mich, aufgeladen und mitgenommen. Immer mal werden wir mitgenommen, aufgelesen, aufgeladen – immer mal, immer nur für eine kurze Strecke.
Ich sehe aus hoher Position gebannt, wie ein Rotarmist am Straßenrand eine Frau vergewaltigt. Ich habe kein Wort für das, was ich sehe, keine Vorstellung, um was es sich da handelt, ein Schock ist es jedenfalls. Allein wegen der spürbaren Gewaltsamkeit. Allein wegen der spürbaren Angst der Frau. Allein wegen der Pistole. Ich weiß schon, was eine Pistole kann. Ich bin gefesselt von dem, was ich sehe. Der Rotarmist sieht, dass ich es sehe. Dass ich ihn, die Frau und das, was er tut, anstarre. Er richtet seine Pistole auf mich. Ich tue intuitiv das Richtige: Ich schaue ruckartig weg. Wir fahren vorüber. Ich sehe nicht zurück.
Eigentlich haben mir die Rotarmisten gefallen. Wilde Burschen mit gezwirbelten Bärten. Solche Menschen hatte ich zuvor nicht gesehen.
»Wie hat das alles begonnen?«, frage ich. Und ich schicke gleich noch eine Frage hinterher. »Wie kamst du nach Senftenberg, du bist doch in Berlin geboren?«
Meine Eltern, beide Bildhauer, erhielten dort Aufträge. Du kannst in Senftenberg einen Brunnen besichtigen, den mein Vater gestaltet hat.
»Kann man das, was deine Eltern schufen, einer Kunstrichtung zuordnen?«
Sie kamen aus der Tradition der ›Neuen Sachlichkeit‹, mein Vater hatte zeitweise an der Bauhaus-Hochburg in Dessau studiert.
Manchmal war es meiner Mutter erlaubt, zu helfen bei solchen Aufträgen. Niedere Dienste. Sie durfte zum Beispiel Inschriften meißeln. Aber der Brunnen in Senftenberg hat keine Inschrift. Irgendwann, als ich noch sehr klein war, haben sich meine Eltern getrennt. Und meine Mutter hat den Bürgermeister von Senftenberg geheiratet. Ich glaube, sie wollte aus der Armut raus, eine Armut, die meinen regimekritischen Vater, wie ich weiß, nicht quälte.
Sarah macht eine Pause.
Plötzlich befand ich mich in einer Bürgermeister-Villa.
»Hat dir das gefallen?«
Sarah überlegt.
Die Eingangshalle gefiel mir. Wahrscheinlich war es gar keine Halle. Wahrscheinlich erschien mir dieser Raum damals nur so riesig im Vergleich mit den Behausungen, die ich kannte. Sie gefiel mir auch deshalb so gut, weil das Mobiliar, die Stühle, Tische und der gewaltige Deckenleuchter, zu großen Teilen aus allerlei Spieß, Geweih und Gehörn bestand. Da waren riesige Schaufeln an den Sesseln. – Ob die von Elchen kamen?
Sarah hat ihre Mutter nicht gemocht. Ich kann das verstehen. Das wenige, das sie über ihre Mutter sagte, klang gar nicht gut. Traurig war das, was sie erzählte: all die kleinen, auch größeren Gleichgültigkeiten und ja: Grausamkeiten – Nein, erzählen kann man das nicht nennen. Zuweilen warf sie mir ein oder zwei Sätze zu, in unterschiedlichen Zusammenhängen.
Immer log sie mich an, sagte sie nachwirkend empört und verletzt.
Meine Mutter brachte mich ins Bett und versicherte, dass sie in der Nacht anwesend sein werde, aber sie ist dann doch vergnügungssüchtig ausgegangen. Wenn ich nachts aus einem bösen Traum hochschreckte und sie suchte, fand ich mich verlassen. Ich hatte oft Angst. Einmal bin ich sogar auf die Straße gelaufen, um sie zu suchen, und wurde von der Polizei aufgegriffen.
Und schlimmer noch war diese Schilderung:
Mit ihrem scharfen Schnitzmesser ist sie mir, als ich noch sehr klein mit einer Angina im Fieber lag, an die Mandeln gegangen.
Ein anderes Mal sagte sie:
Ein halbes Jahr nach meiner Geburt haben mich meine ungläubigen Eltern für das nächste halbe Jahr zu den Nonnen gegeben, weil sie verreisen wollten. Dort, im Kloster, fand mein erster Geburtstag statt.
Ja, ich kann ihren Zorn verstehen. Und ich glaube ihr, weil eine tiefe Enttäuschung sie begleitet, weil kein Grundvertrauen bei Sarah ist, weil sie, wenn es ihr schlechtgeht, faucht wie ein angeschossener Tiger, als wäre da menschlicherseits nichts Gutes zu erhoffen, ich glaube ihr, weil es aufs Ganze so schwer ist, Sarahs Vertrauen zu gewinnen. Wahrscheinlich ist mir das bis heute nicht vollends gelungen.
Aber ich gebe nicht auf.
Ich vertraue Sarah mehr als mir selbst.
Wie gesagt, ich kann ihren Zorn verstehen; um ihn auch zu erfühlen, muss ich mir das Schnitzmesser und die Bilder von den bösen Müttern aus den Märchen vor die Augen holen.
Ja, ich habe Mühe, mir so eine Mutter zu vergegenwärtigen, weil ich meine Mutter sehr geliebt habe. Meine Mutter hat ihre Mutter auch sehr geliebt. Sie hat gerne von ihr gesprochen. Die Mutter meiner Mutter war bei meiner Geburt schon sechs Jahre tot. In jungen Jahren dachte ich manchmal, ich sollte diese Tradition fortsetzen, weil das gute Mutter-Tochter-Verhältnis, wie mir scheint, so selten ist. Die meisten meiner Freundinnen haben kein gutes Verhältnis zu ihren Müttern, wenn auch nicht so katastrophal zerrüttet wie in Sarahs Fall. Aber ich hatte nicht die Chance einer Traditionsbestätigung, die Ärzte haben mir das Kinderkriegen früh, bevor ich mich in einen hochgradigen Wunsch steigern konnte, verboten.
Manchmal war ich traurig, keine Erinnerungen an meine Großmutter mütterlicherseits haben zu können. Alles, was ich von ihr hörte, hat mir gefallen. Zu Teilen auch imponiert.
In Sarahs Erzählungen kommt keine Großmutter vor. Waren auch ihre Großmütter schon vor ihrer Geburt gestorben? Ich weiß es nicht. Ich muss sie irgendwann einmal danach fragen.
Warum ist mir nicht aufgefallen, dass meine Mutter so gern von ihrer Mutter, aber nie von ihrem Vater sprach? Warum habe ich nie nach ihm gefragt? Warum ist mir die Aussparung nicht aufgefallen? Die Ausrede, dass die Jugend nur Zukunft will und sich in seltensten Fällen für die Vergangenheit Älterer interessiert, greift nicht, denn auch später fragte ich nicht, als ich schon erwachsen war. So konnte es sein, dass ich den Grund, warum sie mir nicht von ihm sprach, erst Jahre nach ihrem Tod erfuhr.
Jetzt. Ich frage Sarah: »1945. Die Flucht. Du wolltest doch von der Flucht erzählen. Du hattest neulich begonnen, hattest von der Bürgermeister-Villa erzählt. Wann und wie begann die Flucht?«
Sarah erzählt:
Wir sind aufgebrochen am 5. Mai 1945, drei Tage vor der Kapitulation. Meine Mutter, meine Schwester und ich.
»Ihr wart allein?«
Allein, ja, allein.
»Wo war dein Stiefvater?«
Der war in administrativem Auftrag des NS-Regimes in der Ukraine.
»Weißt du Genaueres darüber?«
Nein. Er kam später in englische Gefangenschaft. Nach dem Krieg ist er entnazifiziert worden. Er wollte mich adoptieren, aber das hat mein Vater verhindert.
»Und wo war dein Vater 1945?«
Der war gleich zu Beginn des Krieges eingezogen worden und war als gemeiner Soldat in Russland. Auch er kam dort in Gefangenschaft.
»Willst du euren Aufbruch beschreiben?«
Die Volksempfänger verkündeten noch immer den nahen Endsieg. Auch in den Briefen, die mein Stiefvater meiner Mutter aus der Ukraine schrieb, stand, dass ›wir‹ bald endgültig siegen würden. Aber das glaubte niemand mehr. Die aus allen Richtungen einflutenden Gerüchte signalisierten Bedrohliches. Ein einziges brodelndes dunkles Gerüchtemeer ringsumher. Immer lauter wurden die Warnungen vor der herannahenden russischen Armee. Da bekamen sie alle Angst. Da packten sie alle ihre Sachen. Meine Mutter packte auch. Wir zogen los. Zwei Koffer schleppten wir, einen großen und einen kleinen, dazu ein oder zwei Taschen, hoch bepackt waren wir, weit über unsere Kraft, und dann war da ja auch noch der Kinderwagen, in dem meine Schwester saß. Am Anfang wurden wir oft mitgenommen in einem Automobil oder auf einem Pferdewagen. Das glückte immer seltener. Immer länger und immer weiter mussten wir zu Fuß gehen. Immer mal warfen wir Gepäck ab. Immer mehr. Stück für Stück. Alle warfen immer mehr Gepäck ab. Viele vor uns hatten auch schon immer mehr Gepäck abgeworfen. Überall lagen sie herum, die abgeworfenen Gepäckstücke. Aufgerissen, aufgeplatzt, meist schon durchwühlt. Das sah merkwürdig aus. Das sah wild aus. Das hat mir gefallen. Wenn wir etwas brauchten, Strümpfe zum Beispiel, Schuhe zum Beispiel oder ein Handtuch, dann durchwühlten auch wir die Gepäckstücke der Vorangegangenen und oft fanden wir etwas Brauchbares.
Es war ein warmer Mai. Zum Glück. Nachts schliefen wir versteckt im Freien.
»Hattest du Angst?«
Nein.
»Hatte deine Mutter Angst?«
Das denke ich. Denn sie achtete streng darauf, dass unser Nachtlager nicht eingesehen werden konnte, dass es versteckt lag in Büschen oder in sehr hoch bewachsenen Feldern.
Wir führen, das behaupte ich, einen soliden Haushalt. Aber in unserem Haushalt gibt es, nach Sarahs Willen, keine Untertassen. Tassen gibt es bei uns nur in der Becherform. Ich habe Sarah gefragt, warum es keine Untertassen geben darf. Noch etwas, das in die Spülmaschine eingeräumt werden muss, hat sie gesagt. Ich beschloss, darin kein Problem zu sehen.
Immerhin: Unsere Trinkbecher sind chinesischer Herkunft, und sie schimmern jadegrün. Da muss man sich nicht schämen. Auch zwei weiße von KPM gibt es. Die hat eine Freundin uns geschenkt. Das Porzellan, das ich vor zehn Jahren, als unser gemeinsamer Haushalt entstand, aus meinem Frankfurter Leben einzubringen gewillt war (einschließlich der Untertassen), fand keine Gnade in Sarahs Augen. Ich hing nicht daran, und ich hätte mich auch andernfalls nicht gewehrt, weil ich für die Hausarbeit kaum noch taugte und diese Bürde ganz bei ihr war (und da blieb sie bis zum heutigen Tag). Auch silbernes Besteck war nicht erwünscht, wegen der anstrengenden Putzerei.
Hier ist eine Anmerkung nötig. Es könnte ein falscher Eindruck entstehen. Meine Freundin Sarah ist keine Despotin. Sie sieht sich nicht als Gesetzgeberin. Sie erlässt keine Gesetze.
Sie IST das Gesetz.
Schlaf ist heilig! Sie sagte es nur einmal, und ich wusste: Dies ist ein Gesetz, das geachtet werden muss. Unbedingt! Niemals habe ich ihren Schlaf gestört.
Soweit ich mich erinnere, ist dies auch das einzige Gesetz, das sie wie eine Gesetzgeberin aussprach.
Andere Gesetze fanden und finden sich häufig in beiläufiger Rede. Man könnte sie leicht überhören. Ich muss sorgfältig unterscheiden. Denn es bleibt mir überlassen, das jeweilige Gewicht eines Gesetzes einzuschätzen. Manche haben mindere Bedeutung, ihre Übertretung ist vergleichsweise ungefährlich. Frauen in fortgeschrittenem Alter sollten keine Jeans und keine Rollkragenpullover tragen. An das Verbot der Rollkragen, zum Beispiel, habe ich mich nicht streng gehalten.
Größere Schwierigkeiten noch bieten Sarahs Fragen, die in vielen, nicht leicht zu erspürenden Fällen keine wirklichen Fragen sind. Syntax und Prosodie dürfen hier nicht täuschen.
Zum Beispiel bei der Frage:
Findest du dieses Bild gut?
Hier steht die Antwort nicht im Ermessen der Befragten. Hier gibt es nur eine Antwort, nämlich die in Sarahs Augen richtige.
Etwas weniger heikel ist die Frage:
Möchtest du einen Nachtisch?
Für diesen Fall ist es günstig, wenn man weiß oder erahnt, ob Sarah ein Dessert in Vorbereitung hat.
Ist dies so, und man beantwortet ihre Frage leichtfertig mit »Nein, danke«, so hat man sich auf ein strenges Warum nicht? gefasst zu machen. Das ist auch keine Frage, eher schon eine Zurechtweisung oder etwas, das in dessen Nähe kommt.
Auch gibt es Fragen, die einfach nur Fragen sind, aber es sind nur wenige.
Im Zuge der Untertassen-Vermeidung entstand, wie man sich denken kann, eine kleine Erschwerung. Wohin mit dem feuchten Kaffee- beziehungsweise Teelöffel? Auch das hat Sarah geregelt. Man kann darin eine fürsorgliche, aber auch eine dirigistische Maßnahme sehen: Unser Gast wird gefragt, ob er Zucker, Milch oder Sahne in sein Getränk haben wolle. Sarah serviert dann die gefüllte Tasse – nicht ohne das Getränk mit der jeweils gewünschten Zutat zu versehen. Auf die Bemessung hat der Gast keinen Einfluss, dafür übernimmt Sarah das Umrühren. Ich weigere mich, das absurd zu finden.
Sarah besteht auf Stoffservietten.
Meine Freundin Sarah war, als ich sie kennenlernen durfte, eine Frau, die ich nicht verstand. Ich glaube, nein, ich bin sicher, ich war nie zuvor einem Menschen begegnet, den ich so wenig deuten konnte. Knapp gesagt: Ich wurde nicht schlau aus ihr.
Nichts fügte sich.
Ratlos.
Von Stund an begann meine Sarah-Hermeneutik, die nun schon an die vierzig Jahre währt. Ich glaube nicht, dass ich zu endgültigen Befunden kommen werde. Ich glaube nicht einmal an die Möglichkeit endgültiger Befunde. Ich glaube nicht, dass wir einander wahrhaft kennen können. Bei aller Liebe nicht. Und wir sollten es auch nicht wollen.
Aus der Frühzeit unserer Bekanntschaft:
Westberlin. In der Mitte der siebziger Jahre. Ich stehe vor der Wohnungstür. Ein leichter Geruch von Kohle. Die ganze Stadt riecht zu dieser Zeit nach Kohle. Der frisch gefallene Schnee bleibt nicht lange weiß. Schnell schon setzen sich schwarze Rußpartikel auf ihm ab.
Die Stadt steht grau unter tiefhängenden Wolken.
Zu dieser Zeit ahne ich nicht, dass ich später immer einmal wieder viele Tage, Wochen, auch diesen und jenen Monat in Sarahs Wohnung zubringen werde, dass ich sie mit allen ihren Farben, Fugen und Winkeln kennenlernen werde. Dass mich der monatliche Auftritt der schwarzen Kohlenmänner mit ihren schweren hochgefüllten Kiepen, die sie kopfüber in die Kohlenkammer hinein entleeren, beeindrucken wird. Dass ich die Handhabung des Heißwasserboilers im Bad erlernen werde und den des langen Stangenzugs, mit dem sich über das Dach der Kohlenkammer hinweg das kleine Fenster öffnen lässt.
Ich betrachte erstmals Sarahs Berliner Wohnung. Drei Zimmer, Küche, Bad mit Wanne, vormals vermutlich Speisekammer. Der Zuschnitt dieser um die Wende zum zwanzigsten Jahrhundert entstandenen Wohnung lässt vermuten, dass sie einst gedacht war für ein mittleres Beamtentum.
Sie ist nicht groß, aber geräumig. Sie hat einen plausiblen Schnitt. Die beiden zur Straße gelegenen Räume – der helle Arbeits- und Wohnbereich – sind verbunden mit einer hohen verglasten Flügeltür. Im Schlafzimmer mit dem Fenster zum Hof steht ein großer weißer Kachelofen.
Die Einrichtung macht einen leicht verkargten, aber nicht lieblosen Eindruck. (Den Regency-Sessel gibt es heute noch, so auch die schwarze Wedgwoodkanne.)
Das ist leicht zu erspüren: Es herrscht ein Gefüge in Sarahs Wohnung. Nicht pedantisch, nicht lebensfern erstarrt, eher sinnvoll und stimmig. Eine Fügung von Bild, Staffelei, Tisch, Stuhl, Sessel und Kaffeekanne in Sarahs Handschrift. Aber ich kann sie noch nicht gut lesen. Damit einher geht eine Ordnung, zwanglos, nur in den Arbeitsbereichen gestrafft: sortierte Farbtuben und saubere Gläser, gefüllt mit Pigmentpulver in leuchtenden Farben, gereinigte Pinsel, aufgerollte Leinwände, staubgeschützt verwahrt. Es ist leicht und gleich zu sehen: In dieser Wohnung wird nicht fanatisch, aber doch gründlich auf Sauberkeit gehalten in allen Bereichen.
Das widerspricht dem Klischee einer Künstlerbehausung. Aber das ist ja auch ein besonders idiotisches Klischee, damit habe ich nichts zu schaffen.
Kurzum: Sauberkeit und Ordnungsliebe würden mich nicht wundern, wäre da nicht, dem zuwiderlaufend, immer plötzlich aufblitzend, etwas Explosives, Wildes, ja Elementares im Verhalten der Sarah Schumann, immer wieder, hier und da, ist es spürbar, in dieser Äußerung, in jener Reaktion – und in nahezu allen ihrer Bilder.
Ich bringe es zunächst auf eine Formel: Ich habe es zu tun mit einer anarchistischen Preußin oder einer preußischen Anarchistin. Aber bitte sehr, das ist noch sehr hilflos, pauschal und ungenau (rückblickend beurteilt sogar primitiv, auch ganz falsch, aber irgendwie musste ich ja ins Vage hinein anfangen).
Vage blieb auch über vier Jahrzehnte mein Bild von ihrem vorangegangenen Leben.