Wie geht es Georg Laub? - Silvia Bovenschen - E-Book

Wie geht es Georg Laub? E-Book

Silvia Bovenschen

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Beschreibung

Nach dem Bestseller »Älter werden« der zweite Roman von Silvia Bovenschen - die Geschichte eines rasanten Scheiterns, das vielleicht ein Aufbruch ist. Georg Laub war erfolgreich, ein Schriftsteller, den man lesen, den man kennen wollte. Dann sank sein Stern. Jetzt wohnt er in einem heruntergekommenen Haus, in dem die Zeit still zu stehen scheint. Aber ein unerwünschter Besuch wirft ihn aus der Bahn. Er wird von einem seltsamen Schwindel ergriffen. Rätselhafte Ereignisse und Begegnungen häufen sich. Taumelnd zwischen Angst und Hoffnung trifft er eine Entscheidung und bald schon stellen sich viele die bange Frage: Wie geht es Georg Laub?

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Seitenzahl: 304

Veröffentlichungsjahr: 2011

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Silvia Bovenschen

Wie geht es Georg Laub?

Roman

Fischer e-books

Die Verkargung oder: Georg Laub erwacht

Georg Laub erwachte, und die Welt war sofort bei ihm. Er wußte, wo er war, und er wußte, wer er war – so gut man das wissen kann.

Er streckte den Arm aus, fand sogleich den Schalter seiner Nachttischlampe, schlug die Decke zurück, richtete den Oberkörper auf, schwang die Beine aus dem Bett und kam steil in den Stand.

Mit gradem Rücken und durchgedrückten Knien verharrte er für einen Augenblick völlig reglos, fast ehrfürchtig und lächelte mönchisch in sich hinein – man hätte meinen können, er spalte sich und begrüße sich selbst als ein Erwachter.

Dies war der Moment, mit dem für ihn der Tag begann.

Ganz bewußt.

Und so hatten auch die Tage in den letzten fünf Monaten begonnen.

Und so gefiel es ihm.

Noch besser gefiel ihm der Gedanke, daß es seit dieser Zeit niemanden gab, der ihm den so gewollten Start in ein versammeltes Sein zerreden konnte.

Dann vollzog er drei oder vier unerhebliche Dehnübungen.

Nach diesem noch jungen Ritual tat er das Übliche und das Notwendige, bediente Zivilisation und Natur, und beim Zähneputzen holte ihn die kleine Zufriedenheit noch einmal ein.

Jedoch, daß er sich nicht täusche: hinter seinem kleinen Alltagsbehagen stauten sich schon etliche Sorgen, die der kommende Tag mit sich bringen würde. Nicht bedrohlich, eher in der Gestalt leise anklopfender Befürchtungen, aber eine kleine Stimmungseintrübung war mit dem Ausblick in die nahe Zukunft doch verbunden.

Und als er zwanzig Minuten später, genauer: um 7.10 Uhr gut geduscht, schlecht gekleidet und unrasiert vor einer Tasse mit heißem Kaffee, die er vorsichtig zu seinem Schreibtisch getragen hatte, auf seinem einzigen komfortablen Stuhl zurückgelehnt mit ausgestreckten Beinen mehr lag als saß – den ersten Schluck hatte er schon genommen –, dachte er, daß er doch einmal bilanzieren sollte. Das hatte er in letzter Zeit vermieden, ohne die Übersicht ganz zu verlieren.

Vordringlich wäre an die Finanzen zu denken. Das kleine Geldpolster, das er in seine neue Existenz retten konnte, schmolz schneller als gedacht.

Da war einmal mehr gewesen, eine beeindruckende Zahl hatte seine Kontoauszüge geschmückt, ein beträchtliches Sümmchen, wie man so sagt, nicht gerade ein stolzes Vermögen, aber von einem Notgroschen hätte man auch nicht sprechen können.

Dieser Besitz, gegründet auf väterlichem Erbe und vorübergehend gespeist mit üppigen Honorarzuflüssen, lag einst geringfügig verzinst, aber sicher gehortet auf einem Festgeldkonto, bis er bei einem wundersamen, aber verheißungsvollen Geldvermehrungsmanöver, das er, wie er jetzt wußte, nicht richtig verstanden hatte, mehr als hundertzehntausend Euro verloren hatte – sein Gedächtnis gab kurz noch einmal die verführende Diktion des Bankangestellten wieder:

»Sagen Sie mal, Herr Dr. Laub, Sie sind doch ein kluger Mann, wollen Sie wirklich Ihr Geld einfach so untätig herumliegenlassen? Machen Sie etwas daraus! Lassen Sie es arbeiten! Wir hätten da eine Anlage, die nur speziellen Kunden vorbehalten ist, ich sage nur: 19 % Rendite!« –

110 000 Euro auf einen Schlag verloren!

Noch jetzt befiel ihn bei der Erinnerung ein leichter Schwindel. Er mußte sich nicht einmal die vielgescholtene Gier anlasten, es war eher so gewesen, daß auch er einer hatte sein wollen, der so etwas Schlaues macht, ein spezieller Kunde eben. –

Der Verkauf des sieben Jahre alten BMWs hatte weniger als erhofft eingebracht. Magere Zeiten für kräftige Autos.

Zudem mußte er die 1200 Euro abziehen, die er für den gebrauchten Kleinwagen aus dritter Hand investieren mußte. Ein bißchen Mobilität in der großräumigen Stadt, die er kaum kannte, hatte er sich gönnen wollen. Darüber hinaus hatte er sich nichts gegönnt. Nicht einmal die gewohnte exklusive Kaffeesorte. Er hatte in ein bescheidenes, sparsames Leben gefunden, hatte sich beweisen wollen, daß man im Grunde nicht viel braucht zum Leben, hatte gleichwohl erfahren müssen, daß selbst die unvermeidbare Anschaffung zahlreicher Haushaltsutensilien, von der Gabel bis zum Kehrbesen – jeweils nur das Notwendigste und das Schlichteste –, Cent auf Cent ins Geld ging. Das wußte er jetzt.

Was er nicht wußte, vielmehr sich nicht eingestanden hätte: daß ihm die Verkargung inzwischen zum Bedürfnis geworden war.

Zum Stil, zum Prinzip.

Noch schlappe 33 000 Euro waren ihm geblieben. Darin war der Vorschuß für den nächsten Roman, den er voraussichtlich nicht schreiben würde, schon enthalten.

Ohne weitere Zuflüsse könnte sein Geld bei fürderhin sparsamer Lebensführung eine gute Weile reichen, wenn nicht, womit er rechnete, eine Inflation es vor der Zeit aufzehrte, aber – so oder so – er würde sich etwas einfallen lassen müssen. Vielleicht hatte er eine Idee.

Aber von seiner derzeitigen Lebensweise wollte er vorläufig nicht abweichen.

So wie es war, gefiel es ihm.

Eine nahezu kultische Bedürfnislosigkeit.

Wie geht es Georg Laub?

Georg Laub sitzt reglos vor einem riesigen Flachbildschirm.

Reglos?

Ja, so sitzt er schon seit langer Zeit.

Ist er tot?

Nein, jetzt hat er sich ein wenig bewegt.

Sicher?

Ja, sein Brustkorb hebt und senkt sich ein wenig.

Hört er etwas?

Wahrscheinlich, er hat Kopfhörer auf den Ohren. Sie sind dick gepolstert.

Vielleicht will er sich nur vor jeglichem Lärm schützen?

Nicht zu entscheiden.

Sieht er etwas?

Vermutlich das, was sich auf dem großen Schirm abspielt.

Was ist denn da auf dem Schirm zu sehen?

Eine Katastrophe. Einstürzende Gebäude. Aufgerissene Münder. Krankenwagen mit pulsierendem Blaulicht. Leute mit rot leuchtenden Schutzwesten tragen Bahren. Menschen rennen aus dem Bild.

Sitzt er immer noch so totenstarr?

Ja.

Was fühlt er?

Das kann man nicht erkennen. Seine Miene: völlig ausdruckslos, wie eingefroren.

Merkwürdig.

Jetzt kommt Leben in seine Gestalt. Er richtet sich auf.

Was ist in ihn gefahren?

Ein Ton hat die Ohrpolsterung durchdrungen. Er reißt die Kopfhörer herunter. Er wendet den Kopf mehrfach hin und her.

Panisch?

Nein, aber beunruhigt.

Ein unbekanntes, durchdringendes Geräusch?

Ja.

Die Türklingel?

Ja. Er steht auf. Er verläßt den Raum.

Der Passagier oder: Hier kommt Fred Mehringer

Nach sechzig Metern links abbiegen. »Sie haben Ihr Ziel erreicht«, sagte die Frauenstimme. Sanft, fast schmeichelnd sagte sie das.

Fred Mehringer setzte den Wagen in eine freie Parklücke, unmittelbar vor dem Reihenhaus Agniweg 46, der einzigen freien Stelle am Straßenrand, so weit das Auge reichte, als habe die Stimme sie vorausschauend reserviert. Ein anderes Fahrzeug war gerade weggefahren. Ein mattes hellgraues Rechteck hob sich vom nassen Asphalt ab. Er ließ den Motor laufen. Dunkle Wolken, sie hatten sich in der letzten Stunde bedrohlich getürmt, verfinsterten die Sicht. Regen prasselte auf das Wagendach. Die Scheibenwischer trieben kleine Flutwellen vor sich her und luden sie beidseitig der Frontscheibe ab.

Er schaute auf seine Armbanduhr. Noch nicht einmal 16 Uhr.

Dann schaute er auf das Haus. Er schüttelte den Kopf, lehnte sich zurück, streckte das linke Bein aus, um besser in die Tasche seiner engen Jeans greifen zu können, und kramte einen stark verknitterten Zettel hervor. Den Zettel, auf dem er vor fünf Monaten während eines Telephonats eilig bei schlechtem Licht mit verzogener Schrift die neue Adresse von Georg Laub notiert hatte. Er strich das Papier auf seinem Oberschenkel glatt und schaltete die Innenbeleuchtung seines Wagens ein. Die erste Ziffer der Hausnummer befand sich in einem Knick.

Doch. Ja. Nummer 46.

Er schaute mit zusammengekniffenen Augen aus dem Seitenfenster. Ein enges Muster aus glitzernden Tröpfchen, die sich regellos mal hier, mal da in dünne Rinnsale auflösten, verzerrte seine Sicht. Er ließ das Fenster herunter und versuchte, die beiden Zahlen auf dem verkratzten blauen Schildchen neben der Haustür zu identifizieren. Er hatte sich nicht geirrt. Eine Vier und eine Sechs.

Er schien den Regen, den ein scharfer Ostwind durch das geöffnete Fenster peitschte, kaum zu bemerken.

Er konnte, er wollte es nicht glauben.

Hier wohnte Georg Laub?

Ein zweistöckiges Giebelhäuschen, wie sie zu Abertausenden in den frühen sechziger Jahren im ganzen Land errichtet worden waren. Ein Heim für all jene, die in der Westhälfte des Landes überraschend schnell aus Trümmern heraus wieder zu bescheidenem Wohlstand gekommen waren und eilig in die Gemütlichkeit gewollt hatten. Für den bösen Blick: Eine baulich belanglose Wohnform, die schon in den Jahren ihrer Entstehung unter Spießerverdacht gestanden hatte. Schon in jenen Jahren, als adrette junge Männer und Mädchen einander in Eisdielen suchten. Aber das war lange vor seiner Zeit gewesen.

Warum wohnte Georg hier? Vielleicht ging es um ein Experiment. Vielleicht nutzte der Autor Georg Laub diese unerwartet geerbte Immobilie, um sich in einen kleinbürgerlichen Helden einfühlen zu können. Das kleine Leben eines kleinen Mannes in einem kleinen Haus.

Fred Mehringer suchte nach einem Wort für das Haus.

Er fand es zu schnell.

Nett!

Nett?

Für die Bezeichnung »nett« sprach zwar die architektonische Harmlosigkeit des zweistöckigen Giebelbaus, dagegen jedoch die abweisende Fassade, deren grauschwarz gealterter Verputz an einigen Stellen in großen Placken abgeplatzt war und ein schmutziges Ziegelwerk freigab. Das Haus wirkte krank, als treibe es eine chronische Plage in die Räude.

Mehringer empfand jetzt sogar einen kleinen Ekel.

Der faulige Zustand des Häuschens wirkte auch deshalb so abweisend, weil er sich drastisch von der benachbarten Baunorm in dieser gleichförmigen Straßenzeile abhob. Ja, das waren allesamt wahrhaft und wehrhaft nette Häuser und Vorgärten, Schmuckstücke ihrer eigenen Art, die vorzeigbar eine kraß gegensätzliche Entwicklung genommen hatten. Uniform gepflegt, selbstbewußt die ganze Straße hinunter, so weit das Auge reichte.

Nur bei der Gestaltung der Hauseingänge war Abweichung zugelassen und sogar gewollt. In Farbe, Form und Material. Heimelige Laternen schwankten an schmiedeeisernen Henkelkonstruktionen, altertümliche Türklopfer und Klinken blinkten in rostresistentem Messing auf dunklem Landhausgrün, neckisch versetzte Hausnummern tanzten auf sauber verputzter Wand …

Wie armselig wirkte dagegen die Haustür Nummer 46, mit ihrer häßlichen Umkleidung aus verrotteten Glasbausteinen.

Fred Mehringer stieg aus dem Wagen. Auch jetzt scherte er sich nicht um den heftigen Regen. Nur den Kragen seines Wettermantels schlug er hoch, um die Nässe abzuwehren.

Diesen Gaul hätte ich geschenkt nicht genommen, dachte er.

Von den Vorgartentürchen – das der Nummer 46 hing schief in nur noch einer Angel – führten zwischen kleinen strauchwerkgesäumten Rasengevierten schmale Plattenwege zu den Haustüren. Er studierte auch hier amüsiert den harten Kontrast zwischen der überanstrengten Sorgfalt, mit der die umliegenden Vorgärten bearbeitet worden waren, und der Brache vor der Nummer 46. Hier kaum noch ein Grashalm und lückenhaftes Strauchgrün, das nur an wenigen Stellen fransig aus schwärzlichem Strunkholz wucherte, dort ein gepflegter Rasen und dichte Heckeneinfassungen.

Als geschätzter Filmausstatter, hauptsächlich für Fernsehproduktionen mit Anspruch – auch für drei beachtete Spielfilme war der Szenenbildner Fred Mehringer schon herangezogen worden –, hatte er ein professionelles Interesse an solchen Orten. Vielleicht würde er diese Straße einmal einem Regisseur andienen können für einen spießigen spießerkritischen Film.

Er schaute mehrfach hin und her. Was war abstoßender: Hüben oder drüben?

Sein Blick wechselte endgültig zur Nummer 46. Dachgeschoß und erstes Stockwerk schienen unbewohnt. Die Fenster: schwarze Höhlungen, verrammelt mit schweren hölzernen Rolläden. Nur im Erdgeschoß waren sie hochgezogen. Weitgehend. Vor einem Fenster hatte sich der Laden verkantet und hing nun schräg auf halber Höhe.

Aus diesem und einem benachbarten Fenster drang schal etwas Licht. Hätte es den armen Schimmer nicht gegeben, er hätte gedacht, daß das Haus für die Abrißbirne freigegeben sei, er wäre wieder weggefahren.

Wahrscheinlich.

Mehringer stand jetzt vor der Haustür. Er starrte auf drei leere Klingelschilder. Dann drückte er auf den untersten Knopf, in der Annahme, daß er dem Erdgeschoß zuzuordnen war, aus dem das Licht kam. Zu seiner Überraschung ertönte, gerade als er sich schon zum Gehen wenden wollte, ein leises Schnarren, und das rissige Holz der Haustür gab dem Druck seiner Hand nach.

Er tastete im Dunklen nach einem Lichtschalter. Eine hoch an der Wand befestigte Neonröhre flackerte begleitet von einem bösen Summen kurz auf, aber nur um sogleich wieder zu erlöschen und ihn erneut in die Dunkelheit zu tauchen. Dann aber – er hatte gerade seine Hand erneut tastend ausgestreckt – erhellte sie notdürftig einen kahlen Flur. Es war eher ein länglicher Vorraum, denn wenige Meter vor ihm führte eine Holztreppe in den ersten Stock. Linker Hand gab es jetzt eine weitere Lichtquelle. Er hatte kaum vier kurze Schritte getan, als er Georg Laub in einer Türöffnung stehen sah.

»Hallo«, sagte Georg nicht gerade überschwenglich. Mehringer hatte den Eindruck, daß er fast erschrocken, jedenfalls sehr erstaunt war.

»Entschuldige den Überfall«, sagte er, »ich konnte dich übers Handy nicht erreichen, und deine neue Festnetznummer kenne ich nicht.«

»Ich habe hier noch kein Telephon beantragt und besitze kein Handy mehr. Woher hast du diese Adresse?«

»Du selbst hast sie mir vor einiger Zeit einmal gegeben. Am Telephon. Da hast du noch in Frankfurt gewohnt und gerade erfahren, daß deine Tante gestorben war und du eine Immobilie in Berlin erben würdest. Damals hast du mich gefragt, ob ich mir diese Gegend und das Haus mal ansehen könnte. Habe ich aber irgendwie nicht geschafft …«

Er brach ab. Was stammelte er so blöd herum? Mußte er sich rechtfertigen?

Georg hatte jetzt doch zu einem erfreuten Gesichtsausdruck gefunden.

»Ach ja, ich erinnere mich.«

»Willst du mich nicht hereinbitten?«

»Ja, sicher. Komm herein. Du bist mein erster Besucher.«

Beinahe hätte er hinzugefügt: »Und hoffentlich auch der letzte deiner Art.«

Offensichtlich war die Nummer 46 ursprünglich als Einfamilienheim erbaut worden und man hatte die Etagen erst später einzelnen Bewohnern zugeordnet, denn Mehringer trat jetzt, nachdem Georg einladend zur Seite gewichen war, unmittelbar in ein Zimmer. Aber schon nach dem ersten Schritt war er jäh wieder stehengeblieben.

Nach einer kurzen Pause sagte er:

»Bemerkenswert.«

Und er war stolz, daß er das so locker brachte, einfach nur bemerkenswert zu sagen, zu dem, was er da sah. Er starrte nämlich auf ein Loch. Gigantisch, schief, ungehörig, absurd – ja, obszön.

Das abnorme Lochoval befand sich vis-à-vis ungefähr vier Meter entfernt von der Tür, auf deren Schwelle er so abrupt innegehalten hatte. Es klaffte ihm entgegen aus den Resten einer Wand, die einmal zwei Zimmer getrennt hatte und jetzt auf brutale Weise miteinander verband. Auf einer Seite reichte der unregelmäßige Zackenrand des Lochs dicht an die Fensterfront beider Zimmer, auf der anderen Seite war noch ein knappes Viertel des Mauerwerks übriggeblieben.

Da hat sich ein Wahnsinniger ausgetobt, dachte er, ein Rasender, ein Tollwütiger, ein Berserker, der sich blindwütig in brennendem Furor auf eine verhaßte Wand gestürzt und immer wieder weit ausholend auf sie eingeschlagen hatte. Aber warum hatte er sein zerstörerisches Werk nicht vollendet?

War er gestört worden?

Hatte sich sein Haß auf halbem Weg verbraucht?

Die Werkzeuge des Täters lagen noch in einer Ecke des ersten Raums: ein gewaltiger Vorschlaghammer, ein scharfblinkendes Stemmeisen, eine große Schaufel und zwei andere Geräte, für die er keine Namen hatte.

Für einen kurzen Moment lag in dem Blick, mit dem Fred Mehringer Georg Laub ansah, eine Nachdenklichkeit, vielleicht sogar eine Besorgnis.

Dann aber grinste er und fand es cool, die bizarre Räumlichkeit nicht weiter zu kommentieren. Georg grinste auch und fand es offensichtlich gleichfalls cool, seine eigentümliche Wohnform mit keinem Wort zu erklären. Er bot seinem Besucher einen wackligen Holzstuhl an und setzte sich ihm gegenüber auf die einzige andere Sitzgelegenheit, die sich im Raum befand. Ein eleganter Arbeitssessel. Dieses noble Sitzmöbel, ein filigraner Schreibtisch – Glasplatte und geschwungenes Trägersystem aus mattiertem Chrom –, ein Computer nebst Drucker, ein großer, sehr großer, ja gewaltiger Plasma-Fernseher und ein DVD-Player prunkten in die Schäbigkeit dieses Raumes.

Mehringer zog seinen feuchten Mantel aus, und da er keine andere Aufbewahrungsmöglichkeit sah, legte er ihn über die Lehne seines Stuhls. Das wird dem Tuch nicht gut bekommen, dachte er, selbst wenn er es vermied, sich zurückzulehnen. Er hatte den Übergangsmantel erst kürzlich während eines Aufenthalts in New York bei einem angesagten Herrenausstatter erstanden. Aber er hätte nicht gewagt, nach einer Garderobe zu fragen, und bezweifelte auch stark, daß es etwas dergleichen in dieser Behausung geben könnte.

»Hier hast du dich also verkrochen«, sagte er, immer noch um den Ton lässiger Beiläufigkeit bemüht. Eine Feststellung, die eine Erwiderung wollte.

Georg sagte nichts.

Um eine Reaktion zu erzwingen, wechselte er zur Frage:

»Warum hast du gar nichts mehr von dir hören lassen?«

»Hatte viel um die Ohren. Der Umzug und so …«

Dieser Umzug kann nicht sehr zeitaufwendig gewesen sein, dachte Mehringer mit dem Blick auf die karge Einrichtung.

Es entstand eine lange Pause, in der der bizarre Raum zum Vorwurf wurde. Als verhöhne er ihre Coolness. Sie würden es ja doch nicht lange vermeiden können, von seiner Sonderbarkeit zu sprechen. Der Besucher spürte, daß diese absichtsvolle Aussparung langsam lächerlich wurde.

Er stand auf, machte drei Schritte auf das Loch zu, blieb dann aber stehen, als halte ihn eine mysteriöse Scheu davon ab, durch die ungehörige Öffnung in den zweiten Raum zu gehen. In dessen Tiefe, in die das Licht der Leselampe auf Georgs Schreibtisch nur schwach noch dringen konnte, glaubte er die Umrisse eines schmalen Bettes zu erkennen.

»Willst du ein Bier?« fragte Georg, der sich jetzt in Mehringers Rücken befand.

»Ja, gerne.«

Mehringer fühlte sich unbehaglich, wie er da so unmotiviert im Raum stand. Und er war froh, übertrieben froh – diese Übertreibung empfand er auch – über Georgs Angebot. Es erschien ihm, er hätte es nicht anders ausdrücken können, angenehm alltäglich und ja, geradezu versöhnlich.

Georg stand auf, lief mit knirschenden Schritten an ihm vorbei und verschwand durch eine schmale Tür, die sich in dem unzerstörten Teil der Wand befand.

Mehringer sah sich um. Er drehte sich dabei einmal um die eigene Achse. Auch unter seinen Sohlen knirschte das feinsandige Gebrösel, das stetig rings aus den getreppten Rändern des Lochs rieselte und sich bereits wie ein Film auf dem gesamten Fußboden verteilt hatte. Die Fetzen einer alten Strukturtapete lappten an einigen Stellen in die Lochöffnung. Für ihre Farbe hätte Mehringer kein Wort gehabt. Irgendwas zwischen gelb, braun und grau.

Nackte Wände. Nur neben der Tür, jener, die Georg sofort hinter sich zugezogen hatte, war ein Straßenplan der Stadt Berlin an die Wand getackert. Darunter lehnten neben den Tatwerkzeugen des Irren eine Sackkarre und drei große prall gefüllte Müllsäcke. Er zog mit spitzen Fingern die dicke Plastikfolie auseinander und schaute in einen der Säcke. Schutt. Nichts als Schutt. Auf der gegenüberliegenden Seite des Raums, der Fensterseite, hinter Georgs exklusivem Schreibtisch waren sperrige Gegenstände mit einem alten Bettlaken abgedeckt worden. Er ging in die Knie und hob es vorsichtig an. Ein Waschbecken und eine Kloschüssel. Beides in einfachster Ausführung, aber fabrikneu.

Dann kam er wieder hoch und schaute aus dem Fenster. Der Regen hatte nicht nachgelassen. Die Straße war noch immer der Tageszeit unangemessen in ein schieferblaues Dunkel getaucht. Die gegenüberliegenden Häuser und die Bäume am Straßenrand waren durch den dichten Regenschleier nur verschwommen zu erkennen. Aber im Scheinwerferlicht eines vorbeifahrenden Lastwagens sichtete er deutlich seinen Wagen: teuer, neu, rot, glänzend. Gut. Außerhalb dieser Wohnung schien die Welt noch der Erwartung zu entsprechen.

Als er sich wieder in den Raum wandte, bemerkte er, daß seine nassen Schuhsohlen eine feuchte Spur auf dem feinkörnigen Mörtelsand des Fußbodens hinterlassen hatten. Jeder seiner Erkundungsschritte war genau nachvollziehbar, und in ihrer Folge bildeten sie die Form einer Ellipse.

Georg kam zurück. Er schien die Fußspuren, Zeugnisse der kleinen Inspektion seines Gastes, nicht zu bemerken.

Er hielt zwei Bierflaschen an ihren Hälsen in einer Hand. Keine Gläser. Aber das hatte Mehringer auch gar nicht erwartet. Georg holte einen flachen Kapselheber aus der Hosentasche, öffnete eine Flasche und stellte sie neben den Stuhl, auf dem Mehringer gesessen hatte. Dann ließ er sich auf seinen Hightechsessel fallen, öffnete die zweite Flasche und setzte sie an den Mund.

Wird er auch noch rülpsen?

Aber nein, das tat Georg nicht.

Er fuhr sich jedoch mit dem Handrücken derb über den Mund, wischte ihn an seiner Hose ab, lehnte sich etwas zu breitbeinig zurück und grinste.

Schäbig? Herablassend? Könnte es sein, daß er sich an der – Verwirrung? Verunsicherung? Unbehaglichkeit? – seines ungebetenen Gasts weidete?

Das war jedenfalls nicht auszuschließen.

Georg zündete sich eine Zigarette an.

Mehringer erinnerte sich, daß Georg ihm, dem Nichtraucher, einst ausgiebig und nicht ohne dogmatische Untertöne auseinandergesetzt hatte, daß es leicht sei, die Nikotinsucht zu überwinden, wenn man sich gleichzeitig ein strenges Fitneßprogramm verordnete. Damals war Georg jeden Morgen mindestens fünf Kilometer gelaufen und hatte dreimal die Woche in einem Studio an diversen Geräten trainiert. Sehnig war er gewesen, kein Gramm Fett. Ein agiler und zäher Bursche. Das mußte jetzt etwa sechs Jahre her sein.

»Du hast wieder mit dem Rauchen angefangen?«

»Ja«, sagte Georg. Er grinste nicht mehr. Er hatte dieses »Ja« freundlich gesagt, zeigte jedoch keinerlei Neigung, den Rückfall zeitgeistkonform zu rechtfertigen.

Auch Mehringer hatte sich wieder gesetzt. Er starrte auf die Spitzen seiner rehbraunen Cowboystiefel, die wie der Fersenbereich mit dunkelbraunen Krokodillederapplikationen versehen waren. Der feine Mörtelstaub hatte sich schlierig in die Rillen des feuchten Echsenleders gesetzt. Kaum sichtbar, aber doch außerordentlich störend.

Von draußen war jetzt das tiefe Grollen eines fernen Gewitters zu hören. Er erinnerte sich, daß der Wetterbericht am Morgen vor Unwettern gewarnt hatte. Das Wetter war in letzter Zeit deutlich unberechenbarer geworden. Fast allabendlich kündeten Nachrichtensprecher dramatisch von verheerenden Stürmen und Überschwemmungen.

Vielleicht, so dachte er, würden Menschen jetzt, im selben Augenblick, zu dem er in dieser nicht gerade anheimelnden Häuslichkeit saß, nur wenige Kilometer entfernt gänzlich ihrer Behausung beraubt.

Dann wunderte er sich über das, was da so apokalyptisch durch sein Hirn strich. Dergleichen lag nicht auf seinen gewohnten gedanklichen Wegen.

Er schaute zu Georg.

Der kratzte sich am Kinn. Er hatte sich in der kurzen Zeit seiner Anwesenheit schon mehrfach an Wange und Kinn gekratzt.

»Läßt du dir einen Bart wachsen?«

»Nein, ich vergesse in letzter Zeit oftmals das Rasieren. Muß es aber gelegentlich wieder tun, immer dann, wenn es anfängt zu jucken.«

Mehringer betrachtete ihn genauer: Georg Laub erinnerte ihn mit seinem rötlich schimmernden Fünf-Tage-Bart auf sehr heller Haut und den rotblonden Haaren, die er jetzt etwas länger und zurückgekämmt trug, an eines der Selbstbildnisse Vincent van Goghs, das hagere Gesicht, die tiefliegenden Augen, der bohrende Blick.

Zwar erschien er ihm nicht mehr ganz so durchtrainiert wie zur Zeit ihrer letzten Begegnung, er hatte sogar den Eindruck, als habe er etwas zugenommen, soweit man das unter dem weiten T-Shirt und der ausgeleierten Jeans erkennen konnte. Georgs Gesicht war jedoch immer noch das eines Asketen.

Mehringer fiel weiterhin nichts ein, was er fragen oder sagen könnte. Er verspürte eine Leere, fast schon so etwas wie eine geistige Lähmung.

Er drehte verlegen die Bierflasche in seinen Händen, betrachtete das Etikett, ohne etwas zu sehen, trank dann, als sei er sich gerade erst dieser Möglichkeit bewußt geworden, einige Schlucke, ohne etwas zu schmecken.

Um sich aus seiner Verkrampfung zu lösen, sah er Georg herausfordernd ins Gesicht und sagte dann pampiger, als er gewollt hatte:

»Was machst du überhaupt hier?«

Er vollzog dabei unbeholfen mit der Bierflasche in der Hand eine kreisende Bewegung. Etwas Schaum sammelte sich an der Flaschenöffnung.

»Warum, zum Teufel, bist du nicht in deinem schicken Loft geblieben und wärmst dich in deiner Ruhmsonne?«

»Mit meiner Ruhmsonne ist es so weit nicht mehr her.«

»Ach nein?«

»Ach nein!«

»Was soll das heißen?«

»Für mein letztes Buch gab es zwar ein paar laue Kritiken, aber es wurde nicht gekauft. Da kommt nichts mehr rein. Es erreichen mich auch keine Anfragen für Lesereisen mehr. Zudem sind zwei Rundfunkredakteure, die mir regelmäßig Aufträge für Essays und Buchbesprechungen zuschusterten, in den Ruhestand gegangen. In den Sendern sitzen neuerdings smarte Jungs, die von der Notwendigkeit neuer Formate faseln und davon, daß ich viel zu uncool, spaßfeindlich, und verkopft sei und daß die Features jetzt mehr Pep und Glam haben sollten.

Ich denke aber, daß dieser im letzten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts – in der Schaumgummiära, wie ich immer sage, – pubertär verfestigte Lachsacktypus in harter Zeit schneller veralten wird als jeder zuvor. Vielleicht jedoch wünsche ich das nur. Aber noch sitzen sie auf ihren Pöstchen und verhindern Intelligenz.«

Georg brach plötzlich ab, als bereue er, daß er sich in unbeherrschter Rede zu einer so pauschalen Beschimpfung hinreißen ließ.

Mehringer hatte nicht das Gefühl, daß hier ein Kommentar von ihm erwartet wurde.

Gerade als er eine weitere lähmende Pause befürchtete, sprach Georg weiter. Er schien, als habe er sich zur Ruhe ermahnt.

»Mit anderen Worten, auf meinem Konto sieht es mau aus. Warum, glaubst du, bin ich in Tante Charlottes Ruine gezogen?«

Eine rhetorische Frage.

Georg hatte die letzten beiden Sätze sanft gesagt. Ohne giftige Untertöne. Auch sein Blick schien jetzt sanfter. Er seufzte, aber er wirkte überhaupt nicht traurig. Eine glasige Heiterkeit ging von ihm aus.

»Kann man heiter seufzen?« dachte Mehringer. Er wurde nicht schlau aus ihm. Was war das hier? Ein gemütliches Scheitern? Einen Ruinenwonne? Oder zog der Typ nur eine Show ab?

Georg sprach in seine Erwägungen hinein:

»Ja, ja, Tante Charlottes Hinterlassenschaft. Sie war eine liebe Frau. Aber ihr Haus ist marode. In diesem Zustand hätte sich kein Käufer dafür gefunden. Da hielt ich es für einen Glücksfall, daß das Erdgeschoß gerade leer stand. Sie hat wahrscheinlich nicht im Traum daran gedacht, daß ich einmal hier wohnen würde.«

Georg lächelte. Nicht bitter, wie es vielleicht zu seinen Worten und der Räumlichkeit gepaßt hätte, eher versonnen.

»Heißt das, daß die beiden anderen Stockwerke vermietet sind?«

»Ja.«

»Sie sehen aber nicht sehr bewohnt aus.«

Georg zuckte nur mit den Schultern.

»Und deine Tante? Hat sie vor ihrem Tod hier gewohnt?«

»Nein, hier unten weste ein Geisteskranker, der jetzt, wie ich vermute, seine Tage in einer psychiatrischen Anstalt verbringt. Er war wohl auffällig geworden. Heftig und unübersehbar. Nicht nur, weil er diese Schuttsäcke – er wies auf die Ecke, in der drei von diesen Säcken noch immer lagen – auf nächtlichen Streifzügen überall in die Vorgärten gekippt hat, sondern auch wegen gröberer Vergehen. Man hielt ihn sogar für gefährlich. Den Gerüchten nach hat er nicht nur Wände, sondern auch Menschen attackiert. Ich weiß nicht viel über ihn. Ein gewisser Julius Kurrer. Aber ich bezweifle, daß das sein richtiger Name ist. In der Nachbarschaft hieß er nur ›das Tier‹. Er muß über gewaltige Körperkräfte verfügt haben. Aber ich bin diesem Irren dankbar, er hat ohne Erlaubnis und, wie du siehst, ohne handwerkliches Wissen angefangen, die Wand herauszubrechen. Ich kann nur hoffen, daß es keine tragende ist.«

Er sagte das nachdenklich, aber ohne Besorgnis.

»Im Grunde bin ich dem Irren dankbar, denn auf diese Weise entstand der einzig größere Raum im ganzen Haus. Der einzige Raum, in dem man nicht zu ersticken glaubt.«

Georg sah in das Loch, und auf seinem Gesicht lag jetzt tatsächlich so etwas wie eine milde Befriedigung.

Auch sein Besucher betrachtete erneut die riesige ovale Öffnung mit ihren unregelmäßigen Rändern.

»Das Tier ist nicht ganz fertig geworden.«

»Sieht so aus.«

»Wollte es das Haus komplett einreißen?«

»Keine Ahnung.«

»Da wirst du jemanden kommen lassen müssen, der die Sache so oder so zu einem soliden Ende bringt.«

Georg sprach jetzt ganz freimütig.

»Kein Geld.«

Nein, dachte Mehringer, das ist keine Show. Er fragte weiter.

»Ist deine Tante aus Gram über diese brutale Raumvergrößerung verstorben?«

»Nein, ich glaube, sie hat die Verwüstung gar nicht mehr wahrgenommen. Ihre letzten Jahre verbrachte sie in einem Pflegeheim. Ihr Zustand wechselte permanent zwischen Verwirrung und Klarheit. Ich habe sie dort drei- oder viermal besucht, immer wenn ich in Berlin zu tun hatte. Aber sie hat nie über das Haus gesprochen. Ich wußte nicht einmal, daß sie eines besaß. Und ich weiß auch nicht, warum sie das Erdgeschoß an diesen Sonderling vermietet hat.«

Mehringer wies auf den weißen Stoffhügel hinter Georgs Sessel, an dessen Ausbuchtungen er nun, da er wußte, was sich unter dem Bettuch befand, die Kontur von Kloschüssel und Waschbecken erkennen konnte. Es würde ja nicht schaden, etwas Witzigkeit in die angespannte Situation zu bringen.

»Bist du jetzt bei den bildenden Künstlern? Ist das eine Installation?«

Aber Georg lachte nicht.

»Nein, die Teile habe ich aus dem Baumarkt hierhergeschleppt. Es gibt eine Ekelgrenze.«

Er schaute herausfordernd zu seinem Gast:

»Kannst du sie im Bad unkünstlerisch, aber fachgerecht installieren?«

»Nein.«

»Dann bist du auch kein brauchbarer Freund im Moment. Gespräche über Restaurants, Fernreisen, Kunst und Literatur kann ich mir derzeit nicht mehr leisten.«

Auch in diesen Worten lag keine Bitterkeit.

»Aber du hast doch die Mieteinnahmen von den beiden oberen Stockwerken?«

»Daß ich nicht lache. Da kommt kaum was rein. Diese Einnahmen reichen gerade mal für Zigaretten und Kneipenbesuche. Und ich wüßte auch keine schlüssige Begründung für eine Mieterhöhung. Ich muß froh sein, daß hier überhaupt noch jemand wohnen will. Eigentlich müßte ich denen etwas dafür zahlen, daß sie mich hier nicht allein zurücklassen. Ich schätze mal, früher oder später wird das der Fall sein. In diesem Häuschen ist seit den frühen Siebzigern des vergangenen Jahrhunderts kaum etwas erneuert worden. Wenn morgen die Regenrinne herunterfiele, sähe ich keine Möglichkeit, Handwerker mit den nötigen Reparaturen zu beauftragen.«

»Warum hast du die traurige Erbschaft nicht ausgeschlagen?«

»Weil ich dumm war. Weil ich vom Geld nichts verstehe. Weil ich nicht rechnen kann. Weil ich mit mir nichts mehr anzufangen wußte und weil ich gerade zu dem Zeitpunkt, als die Tante starb, die horrende Miete für dieses Frankfurter Luxus-Loft, in das Margit ja unbedingt einziehen mußte, nicht mehr aufbringen konnte.«

»Und wo ist Margy?«

»Weg.«

»Weg?«

»Ja, du hörst doch, sie ist weg, das Margylein ist verduftet, sie hat sich, als der Geldfluß ins Stocken geriet, verabschiedet, hat Kleider, Schmuck und fast alle Möbel, bis auf die wenigen, die du hier siehst, mitgenommen und einen Job in München ergattert. Da ist sie eine von reichen und wichtigen Männern empfohlene und vielseitig in Anspruch genommene Empfangsdame in einem Luxushotel und da wird sich vermutlich auch ihr neuer Lover rumtreiben. Ein Kampfspießer mit Gelfrisur, Rolexuhr und Siegelring.«

Georg machte eine kurze Pause und als er seine Rede fortsetzte, lächelte er immer noch, wenn auch bei den folgenden Worten leicht verächtlich.

»Unser Paardesign: der erfolgreiche Schriftsteller und die sexy Managerin war Show, Klischee, fauler Zauber; es war im letzten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts entstanden und gehörte dort auch hin. Du erinnerst dich. Als alles noch so lustig war. Easy-going. Eine gewaltige Jetlag- und Partyshow. Die Zeit, als Köche, Schneider und Friseure zu Zeitgeistrichtern wurden. Als Schriftsteller sich im Austausch von Informationen über Bordelle in Hanoi oder Wladiwostok gefielen. Seelische Verpolsterung. Durchlachen bis ins Schaumgummigrab. Aber als das verblödete Gelächter verebbte, verebbte auch die Liebe und das Geld. Na ja, ich bin mir inzwischen nicht einmal mehr sicher, ob Liebe je war. Wir gefielen uns als Paar. Wir betrachteten uns auf den Photographien der Lifestylejournale, ließen uns in teuren Hotelsuiten ablichten mit rattenscharfen New Yorker Agentinnen und angesagten Designern und fanden uns medial beglaubigt.«

»Zeig mal.«

»Was?«

»Die Photos.«

»Weggeworfen. Alles weggeworfen, besser gesagt: Margit Maneckel, oder wie sie genannt werden will: Margy hinterhergeworfen.«

Er lachte wieder.

»Wenn ich an diese Margy-Jahre denke, entsteht ein schales Gefühl in mir. Auch mein Schreiben roch schon etwas nach dieser polierten Schreibgeschicklichkeit, dieser pseudokosmopolitischen Überheblichkeit.«

Georg machte eine Pause und senkte bei den folgenden Sätzen den Kopf, als lese er sie demütig vom Boden ab.

»Inzwischen habe ich begriffen, daß zwischen der Gelassenheit und der Coolness eine tiefe, unüberbrückbare Kluft besteht. Du darfst die notwendige Kälte des scharfen Blicks nicht als Alibi ausweisen für eine schäbige Abgebrühtheit und Egomanie. Cool. Das klingt nur etwas netter, aber man sollte sich in diesem Fall nicht scheuen, die naheliegende Übersetzung zu wählen: kalt. Die Nettigkeit ist nur Augenwischerei, zusätzliche Täuschung. Die Sucht kalt, eiskalt zu sein, sich ständig auf Gefriertemperatur zu bringen und sich dort zu halten, ist nicht nur idiotisch, sie ist auf lange Sicht auch unerträglich.«

Fred Mehringer hatte das Gefühl, daß Georg ihn soeben auf der idiotischen und unerträglichen Seite dieser angeblich unüberbrückbaren Kluft angesiedelt hatte. Aber er schluckte seinen kleinen Ärger herunter und schwieg vorsichtshalber. Mit solch meinungsstarken Tiraden hat der Laub früher nicht genervt, dachte er. Er fragte sich, ob Georg ihn mit weiteren Vorträgen angehen wollte.

Nein, wollte er nicht.

Nach einer quälenden Pause sprach Georg wieder:

»Die Wahrheit ist: nicht nur mein Konto, auch ich bin etwas eingebrochen. Margy kommt nur noch in meinen Alpträumen vor.«

Und noch immer entsprach sein heiterer Gesichtsausdruck nicht den traurigen Befunden in seiner Rede.

»Da, in diesen Träumen, geht sie auf mich zu im vollen Gucciornat und fragt mich, warum ich es nicht weitergebracht habe.«

Mehringers Aufmerksamkeit nahm wieder ab. Er glaubte nicht, daß Georg das träumte. Er hörte nicht mehr richtig zu. Ihm gefiel nicht, was er zu hören bekam. Als er sich gerade daran zu erinnern versuchte, weshalb er überhaupt hierhergekommen war, löste sich ein Wort aus Georgs fatalen Rückblicken und drang auf ihn ein.

»Vanitas!«

Hatte Georg eben wirklich »Vanitas« gesagt?

Ja, hatte er.

Das war dann doch zu viel für Mehringer. Das muß ich nicht haben, dachte er, so eine exotische Verliererrhetorik.

Er stand auf, klopfte seine schwarzen Jeans ab, auf die sich auch schon ein feiner Mörtelstaubfilm gelegt hatte, hängte sich den noch feuchten Mantel über die Schulter und sagte energisch, wie jemand, der entschlossen ist, Ordnung in eine verfahrene Angelegenheit zu bringen:

»Hör zu. Der Zufall will, daß ich übermorgen mit einem Freund verabredet bin, der Architekt beim Film ist und etwas von Statik versteht. Außerdem ist er handwerklich sehr geschickt. Ich könnte ihn überreden, mitzukommen und sich das hier mal anzusehen und vielleicht kann er dir auch das Waschbecken und das Klo montieren.«

 

Kurz darauf verabschiedete er sich.

Puh! oder: Mehringer flieht

Hatte Mehringer wirklich »puh« gesagt, als er Georgs Haus verließ?

Nein.

Aber er hätte es sagen können, so erleichtert war er, da herauszukommen. Aus dumpfem Dämmer in klares Licht. Die Außenwelt schien ihm gewogen.

Zu seiner Überraschung stand Fred Mehringer jetzt in strahlender Sonne. Es hatte aufgehört zu regnen, und der starke Wind war in ein Wolkenmassiv gefahren, hatte es in zwei Teile zerrissen und ein Stück intensiver Bläue freigeräumt. An den erleuchteten Rändern des geteilten Gewölks, in dessen dunkles Grau sich jetzt ein Violett mischte, brach gerade in dem Moment, als er auf die Straße trat, jäh die Sonne hervor und überglänzte hart die nasse Straße, und ihre jetzt schon tiefstehenden Strahlen trafen die Fenster der Häuser auf der gegenüberliegenden Straßenseite und ließen sie silbrig aufblitzen, als habe sie jemand mit Alufolie ausgekleidet. Er schirmte seine Augen mit einer Hand ab, während er mit der anderen das schiefe Vorgartentürchen hinter sich zuzog.

Seine Erleichterung hielt nicht an. Schon als er die wenigen Schritte zu seinem Wagen zurücklegte, wechselte seine Stimmung wieder. Das Sonnenlicht empfand er plötzlich nur noch als grell, und die Umrisse der Häuser und Bäume erschienen ihm unangenehm scharf, wie mit einem harten Stift nachgezeichnet.

Kurz nachdem er das Handschuhfach seines Wagens vergeblich nach seiner Sonnenbrille durchwühlt hatte, war die Wolkendecke erneut dicht geschlossen. Und gleich darauf war auch ein gewittriges Grollen zu hören, diesmal etwas näher.

Er hatte nicht noch einmal zurückgeschaut. Daher war ihm entgangen, daß inzwischen auch im Dachgeschoß ein Fenster erleuchtet war.

Der Regen trommelte wieder hart auf sein Wagendach.

Er spürte, wie Wut in ihm aufstieg. Aber das war doch übertrieben. Maßlos übertrieben. Da mußte man nicht wütend werden. Das Haus war nur abstoßend und der Niedergang des Autors Georg Laub schlicht deprimierend. Ganz einfach. Nichts weiter. Nichts mehr.

Ja, das wollte er sich jetzt eingestehen, er hatte völlig übertrieben reagiert. Diese ganze Umständlichkeit seines Verhaltens in Georgs Haus. Warum hatte er unbedingt seine Hilfe anbieten müssen? So eng war man doch gar nicht befreundet.

Vor seinen Augen schoben die Scheibenwischer in gleichmütigem Takt wieder Wasser zu den Rändern der Windschutzscheibe.

Die wegweisende Stimme hatte ihn in einen Stau geführt. Eine Ampel in seiner verregneten Sicht wechselte schon zum zweiten Mal alle ihre Farben, ohne daß sich die Autoschlange bewegt hätte. Er hielt sich kurz damit auf, die rothaarige Frau in dem Wagen vor ihm zu hassen. Er konnte von ihr nur einige gelockte Haarzipfel beiderseits der Kopfstütze sehen.

Als die Schlange endlich, wenn auch stockend, etwas vorwärts kroch, bog er bei nächster Gelegenheit rechts ab und schaltete das Navigationssystem aus. Diese Stimme gab ihm den Rest.

Er versuchte es mit den Nebenstraßen und da er sich in diesem Viertel nicht auskannte, fuhr er langsam. Das kam ihm entgegen. Er wollte nachdenken.

Was hatte das alles mit ihm zu tun? Er versuchte weiterhin, seine Empfindungen loszureißen, weg von dem Haus und dem lächelnden Georg.

Aber es gelang ihm nicht.

Er könnte ihm mailen oder ihn anrufen und sagen, daß das nicht klappen werde mit dem Architektenfreund.

Ach nein, könnte er nicht, Georg war ja nicht einmal telephonisch zu erreichen, ans Internet war gar nicht zu denken.

Oder er könnte vorbeifahren und einen Brief einwerfen. Waren da überhaupt irgendwo Briefkästen gewesen? Er konnte sich nicht erinnern – aber er wußte, daß er das alles nicht tun würde, auch dann nicht, wenn die üblichen Kontaktaufnahmen möglich gewesen wären.

Mehringer war kein Heuchler. Auch nicht sich selbst gegenüber. Eine rare Tugend. Die Wahrheit: Er hatte gar nicht helfen wollen. Er hatte nahezu verzweifelt nach einem Vorwand gesucht, um wieder in dieses Haus zu kommen. Dieser Wunsch, wieder hineinzukommen, war genauso heftig gewesen wie das Verlangen, es endlich verlassen zu können. Verrückt.



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