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Jonathon de Mountfords Besuch bei seinem Onkel Dominic im Dorf Merrychurch steht von Anfang an unter einem schlechten Stern. Bei seiner Ankunft wartet Dominic nicht am Bahnhof, und als Jonathon ihn schließlich tot in seinem Arbeitszimmer auffindet - offenbar infolge eines Sturzes -, stellt sich seine ganze Welt auf den Kopf. Zum einen ist Jonathon der nächste Erbe des Herrenhauses, zum anderen bezweifelt er, dass es sich bei dem Tod seines Onkels um einen Unfall handelt. Mithilfe von Mike Tattersall, dem Besitzer des Dorfpubs, macht sich Jonathon daran, seine Theorie zu beweisen - soweit er sich konzentrieren kann, ohne von dem gut aussehenden Mike abgelenkt zu werden. Die beiden stoßen auf eine immer länger werdende Liste von Leuten, die Grund hatten, Dominic den Tod zu wünschen. Als die Ereignisse schließlich eine unerwartete Wendung nehmen, sind die Amateurdetektive ratlos. Erschwerend kommt hinzu, dass der ermittelnde Inspektor der Letzte ist, den Mike sehen möchte, und die beiden strikt angewiesen werden, sich aus den Polizeiangelegenheiten herauszuhalten. Doch Jonathon fühlt sich durch dieses Verbot erst recht angestachelt, die Wahrheit ans Licht zu bringen …
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Seitenzahl: 352
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Inhalt
Zusammenfassung
Widmung
Danksagung
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Epilog
Biographie
Von K.C. Wells
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Copyright
Von K.C. Wells
Jonathon de Mountfords Besuch bei seinem Onkel Dominic im Dorf Merrychurch steht von Anfang an unter einem schlechten Stern. Bei seiner Ankunft wartet Dominic nicht am Bahnhof, und als Jonathon ihn schließlich tot in seinem Arbeitszimmer auffindet - offenbar infolge eines Sturzes -, stellt sich seine ganze Welt auf den Kopf. Zum einen ist Jonathon der nächste Erbe des Herrenhauses, zum anderen bezweifelt er, dass es sich bei dem Tod seines Onkels um einen Unfall handelt. Mithilfe von Mike Tattersall, dem Besitzer des Dorfpubs, macht sich Jonathon daran, seine Theorie zu beweisen - soweit er sich konzentrieren kann, ohne von dem gut aussehenden Mike abgelenkt zu werden.
Die beiden stoßen auf eine immer länger werdende Liste von Leuten, die Grund hatten, Dominic den Tod zu wünschen. Als die Ereignisse schließlich eine unerwartete Wendung nehmen, sind die Amateurdetektive ratlos. Erschwerend kommt hinzu, dass der ermittelnde Inspektor der Letzte ist, den Mike sehen möchte, und die beiden strikt angewiesen werden, sich aus den Polizeiangelegenheiten herauszuhalten.
Doch Jonathon fühlt sich durch dieses Verbot erst recht angestachelt, die Wahrheit ans Licht zu bringen …
Für meinen Ehemann als Dankeschön für all die Zeit, die er mit diesem Buch verbracht hat, für die Diskussionen über die Handlung und die vielen genialen Einfälle, die ich gar nicht alle aufzählen kann.
VIELEN DANK an meine wunderbaren Testleser/-innen Jason, Helena, Daniel, Mardee, Sharon und Will.
Mein besonderer Dank gilt Daniel für ein Kaffeekränzchen, das sich zum Planungstreffen für das Buch entwickelte.
JONATHON DE Mountford hatte ganz vergessen, wie schön der Bahnhof von Merrychurch war. Bunte Wimpel schmückten den gewölbten Türsturz an der malerischen schwarz-weißen Flechtwerkwand, und wohin er auch sah, befanden sich Tröge, Töpfe und Hängekörbe, die mit Blumen gefüllt waren. Die gelbe Warnlinie am Rande des Bahnsteigs leuchtete wie frisch gestrichen, und das dunkelblaue Bahnhofsschild mit der weißen Schrift war frei von dem Graffiti, das Jonathon noch vor Kurzem in Winchester an jeder Ecke gesehen hatte.
Nur eines passte nicht: Von seinem Onkel Dominic fehlte jede Spur.
Jonathon schaute auf seinem Handy nach der Uhrzeit. Vor zehn Minuten hatte er den Zug verlassen und mittlerweile war der Bahnsteig menschenleer. Der Wachmann hatte sich in sein Büro zurückgezogen, aber Jonathon konnte ihn noch munter vor sich hin pfeifen hören. Seine Gedanken kehrten zu Dominic zurück. Zwar war Jonathon mit einem besonders frühen Zug angereist, aber Dominic hatte ihm versichert, dass es ihm als chronischem Frühaufsteher überhaupt nichts ausmachen würde, seinen Neffen vom Bahnhof abzuholen.
Vielleicht wartet er ja draußen.
Jonathon rückte den Riemen seines Rucksacks zurecht, packte den Griff seines Koffers und schritt durch die offene Tür in die Bahnhofshalle mit dem Fahrkartenschalter und den bunten Plakaten. Das Einzige, was nicht ins Bild passte, war der Selbstbedienungs-Ticketautomat, aber selbst Merrychurch musste sich wohl früher oder später den Anforderungen des einundzwanzigsten Jahrhunderts beugen.
Als Jonathon durch die breite Holztür auf den Bürgersteig trat, war er immer noch allein. Zu seiner Linken befand sich ein eingezäunter Parkplatz. Sonst gab es nichts zu sehen außer der Straße, die von hohen Bäumen gesäumt war. Kein Lärm, kein Verkehr - nur das Zwitschern der Vögel war zu hören.
Und von Dominic fehlte immer noch jede Spur.
Jonathon sah wieder auf sein Handy, aber er hatte keine neuen Nachrichten empfangen. Seufzend scrollte er zu Dominics Nummer. Als nur die Bandansage seines Onkels ertönte, machte sich langsam ein flaues Gefühl in seinem Magen breit. Das sah Dominic überhaupt nicht ähnlich.
Nach einem erneuten Blick über die leere Landstraße stand sein Entschluss fest. Es hatte wenig Sinn, noch länger zu warten. Am besten würde er sich selbst auf den Weg ins Dorf und von da aus weiter zum Herrenhaus machen. Er wusste, dass Merrychurch nur etwa zwanzig Gehminuten entfernt lag, und erfahrungsgemäß lohnte es sich nicht, auf den Linienbus zu warten, der nur einmal pro Stunde fuhr. Zum fröhlichen Zwitschern der Vögel machte sich Jonathon mit seinem Koffer im Schlepptau auf den Weg ins Dorf.
Es war ein wunderschöner Tag Ende Juli, gerade warm genug, dass er keine Jacke brauchte. Unterwegs ließ er sich die letzten E-Mail-Verläufe und Gespräche mit Dominic durch den Kopf gehen. Er konnte nicht genau sagen, woran es lag, aber ihn beschlich eindeutig das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Alleine die Tatsache, dass Dominic dem Besuch seines Neffen verdächtig schnell zugestimmt hatte, deutete darauf hin.
Warum ist er also nicht hier, um mich wie besprochen abzuholen?
Jonathon erinnerte sich an ihr letztes Gespräch vor einer Woche. Sie hatten sich über das Dorffest unterhalten, das Anfang August auf dem Gelände des Hauses stattfinden sollte. Dominic liebte es, in die Rolle des Gutsherrn zu schlüpfen, und soweit Jonathon sich an frühere Besuche erinnern konnte, war das Fest jedes Mal ein lustiges Event. Sie hatten auch über Jonathons neuestes Buch gesprochen, eine Sammlung von Fotografien, die vor Kurzem auf einer Reise nach Indien entstanden waren. Mehr als einmal hatte Dominic seinen Stolz über Jonathons Arbeit zum Ausdruck gebracht.
Vielleicht hätten wir darüber sprechen sollen, was ihn beschäftigt. Jonathon war es nämlich keineswegs entgangen, dass Dominic etwas auf dem Herzen hatte.
Da hörte Jonathon hinter sich das Geräusch eines Fahrzeugs und quetschte sich mitsamt seinem Koffer an eine Hecke. Er war ganz überrascht, als das Auto neben ihm anhielt.
„Brauchen Sie eine Mitfahrgelegenheit?“, fragte eine tiefe, heitere Männerstimme.
Jonathon musterte den Fahrer des Geländewagens. Er war Ende dreißig, vielleicht Anfang vierzig, und hatte kurze und gepflegte braune Haare. Warme Augen blickten Jonathon durch eine randlose Brille an. „Wenn Sie nach Merrychurch fahren, dann ja.“
Der Fahrer lächelte. „Ich hatte auch nicht gedacht, dass Sie noch weiter gehen würden. Das nächste Dorf nach Merrychurch ist Lower Pinton, und das liegt sechs Kilometer entfernt.“ Er nickte in Richtung des Beifahrersitzes. „Rein mit Ihnen. Hinten ist noch Platz für Ihr Gepäck.“
„Vielen Dank.“ Jonathon verstaute den Koffer und kroch auf den Vordersitz. „Es war sehr nett von Ihnen anzuhalten.“ Den Rucksack mit seiner wertvollen Kamera hielt er fest umklammert.
„Ich habe mir schon gedacht, dass Sie den Bus verpasst haben. Seit der Fahrplan reduziert wurde, passiert so was ständig.“ Er fuhr erst weiter, als Jonathon sich angeschnallt hatte. „Wo kommen Sie im Ort unter?“
„Wie bitte?“ Jonathon runzelte die Stirn.
Der Fahrer lachte. „Na gut, vielleicht war das etwas anmaßend von mir, aber der Koffer hat Sie verraten. Und ich frage nur, weil mir der Dorfpub gehört und es freie Zimmer gibt, falls Sie noch keinen Schlafplatz haben.“
„Ach so.“ Jonathon hielt seinen Blick weiter auf die vorbeiziehende Landschaft gerichtet. „Ich werde bei meinem Onkel unterkommen, aber trotzdem vielen Dank.“
Die Straße Richtung Merrychurch hatte sich in all den Jahren, in denen Jonathon seinen Onkel besucht hatte, nicht verändert: Bäume, die sich in einem grünen Bogen über die Straße spannten, hier und da ein Haus …
„Waren Sie schon mal in Merrychurch?“
Jonathon lächelte in sich hinein. „Ja, ein paarmal.“
„Dann kennen Sie sich hier wahrscheinlich besser aus als ich. Ich bin erst vor elf Monaten hergezogen.“
In diesem Moment sprang ein Kaninchen aus einer Hecke hervor und der Fahrer wich in einer abrupten Bewegung aus. Jonathon hielt den Atem an, aber glücklicherweise erreichte das Kaninchen unversehrt die andere Straßenseite.
Mit einem leisen Grummeln blickte der Mann zu Jonathon herüber. „Ich hasse es, wenn diese kleinen Racker das tun. Irgendwann kommt noch der Tag, an dem ich nicht schaffe, rechtzeitig zu reagieren.“
Alleine aufgrund der Tatsache, dass er überhaupt ausgewichen war, hatte er bei Jonathon schon Pluspunkte gesammelt.
Kurz darauf erreichten sie das Dorfzentrum. Der Fahrer kam vor dem malerischen Pub zum Stehen, ließ den Motor aber laufen. „Also, kann ich Sie irgendwo absetzen? Wo wohnt denn Ihr Onkel?“
Jonathon überkam ein plötzliches Nervenflattern. Er wusste, dass es im Dorf Leute gab, die seinen Onkel nicht ausstehen konnten – das hatte Dominic mehrmals angedeutet –, und er wollte nichts Falsches sagen, was dazu führen könnte, dass sein barmherziger Samariter sich als Psychopath entpuppte. Dann riss er sich zusammen. Der Fremde hatte bereits erwähnt, dass er erst seit Kurzem im Dorf lebte, also war es sehr unwahrscheinlich, dass er einen Groll gegen Dominic hegte.
„Eigentlich wollte mein Onkel mich vom Bahnhof abholen“, erklärte Jonathon. „Aber …“
„…aber als Sie ankamen, war er nicht da“, schlussfolgerte der Mann. Als Jonathon erneut die Stirn runzelte, musste er lächeln. „Das lag auf der Hand, andernfalls wären Sie ja nicht zu Fuß ins Dorf gelaufen. Hat er Ihnen denn wenigstens mitgeteilt, dass er sich verspätet?“
Jonathon schüttelte den Kopf. „Und das ist echt merkwürdig.“
Der Mann nickte verständnisvoll. „Ja. In dem Fall bringe ich Sie zu ihm. Falls er nicht da ist, kann ich Sie wieder mit hierher nehmen und Sie können im Pub auf ihn warten, bis er auftaucht. Was halten Sie davon?“
Jonathon fand, dass es höchste Zeit war, den Namen seines gnädigen Retters zu erfahren. „Klingt prima.“ Er streckte die Hand aus. „Jonathon. Jonathon de Mountford.“
Der Mann schüttelte die Hand. „Mike. Mike Tattersall. Freut mich, dich kennenzulernen, Jonathon.“ Seine Augen weiteten sich. „Aha. Dann muss ich wohl nicht fragen, wer dein Onkel ist.“
Das hatte Jonathon schon vermutet. Selbst wenn Mike erst seit Kurzem in Merrychurch lebte, hatte er sicher schon von de Mountford Hall gehört, dem eindrucksvollen Herrenhaus am Ortsrand.
Mikes Gesicht verfinsterte sich und er schaltete den Motor ab. „Dein Onkel ist im Moment ein schwieriges Thema.“
Jonathon hielt inne. „Warum?“
„Meine Schwester Sue ist seine Putzfrau. Sie hat die letzten drei Jahre in seinem Haus gearbeitet. Alles war in Ordnung, bis letzten Monat.“
Jonathon hatte den Eindruck, dass Mikes plötzlicher Stimmungswechsel mehr mit seiner Schwester als mit Dominic zu tun hatte. „Was ist passiert?“
Mike seufzte. „Sue ist Mitglied in einer Tierschutzgruppe. Ich versuche, mich da rauszuhalten, auch wenn es mich ganz verrückt macht, wenn ich höre, dass sie wieder zu irgendeiner Demo geht. Je weniger ich darüber weiß, desto ruhiger kann ich schlafen.“ Als Jonathon ihn schräg anschaute, zuckte er mit den Schultern. „Das liegt an meinem früheren Beruf. Ich bin ehemaliger Polizist. Es ist nicht einfach, ihr klarzumachen, dass sie nicht mit dem Gesetz in Konflikt geraten darf. Sie kann ganz schön stur sein. Jedenfalls hat sie letzten Monat von etwas Wind bekommen und sich dann sofort auf den Weg zum Herrenhaus gemacht, um deinen Onkel zur Rede zu stellen. Er hatte offenbar die Erlaubnis erteilt, dass auf seinem Grundstück gejagt werden darf - wodurch die Jagd auch dem Dorf sehr nahekommt.“
„Aber … wurde die Fuchsjagd nicht verboten? Inzwischen wird doch nur noch mit Hunden gejagt, oder?“
Mike nickte. „Sue ist davon überzeugt, dass die Jagdbosse sich nicht um dieses Verbot scheren. Keine Ahnung, wie sie darauf kommt. Jedenfalls ist die Lage ein wenig eskaliert.“
Das bestätigte Jonathons ungutes Gefühl. Also war tatsächlich etwas vorgefallen. „Dann würde ich jetzt gerne zum Herrenhaus.“
Mike schien sich wieder gefasst zu haben. Mit einem entschlossenen Nicken richtete er sich hinter dem Lenkrad auf. „Sehr gerne. Ich bring dich hin.“ Er ließ den Motor an und fuhr wieder auf die Straße.
Jonathon betrachtete seine Umgebung. Das Dorf sah aus wie immer: ein paar aneinander gedrängte Läden, der Pub und die Postfiliale. Dann gab es da noch die Häuser, viele von ihnen mit Strohdach. Der Kirchturm ragte mit harten Kanten über die Bäume hinaus, und der Fluss schlängelte sich wie immer in einem eleganten Bogen unter der malerischen Steinbrücke hindurch durchs Dorf. Am Ufer hockten ein paar Enten, die Köpfe unter den Flügeln versteckt, während andere gemächlich im klaren Wasser schwammen, wobei sie den Kopf ins Wasser tauchten und das Hinterteil in die Luft reckten. Es sah immer noch genauso drollig aus wie in Jonathons Kindheitserinnerungen.
„Merrychurch hat sich überhaupt nicht verändert“, murmelte er, als sie durch die schmalen, grünen Gassen fuhren.
Mike schmunzelte. „Ach ja, findest du? Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die Dinge selten so sind, wie sie scheinen. Man weiß nie, was sich unter der ruhigen Oberfläche verbirgt.“ Dann schnaubte er. „Da spricht wohl der Ex-Polizist aus mir, der immer vom Schlimmsten ausgeht.“
Jonathon musterte ihn eingehend. Mike war offensichtlich noch zu jung, um im Ruhestand zu sein. „Wie kommt es, dass du nicht mehr bei der Polizei bist? Wo warst du im Einsatz?“
„Bei der Metropolitan Police in London. Ich wurde ausgemustert, nachdem ich bei einer Razzia meinen Fuß verloren habe.“
Jonathon konnte nicht verhindern, dass sein Blick zu Mikes Füßen huschte.
Mike entging der Blick nicht. „Ich habe jetzt eine Prothese. Wenn man sie sieht, würde man nie auf den Gedanken kommen, dass der Fuß nicht echt ist.“ Dann seufzte er. „Zumindest rede ich mir das jeden Abend ein, wenn ich mir die Schuhe ausziehe. Na ja, jedenfalls wusste ich überhaupt nicht, wohin mit mir, nachdem ich meine Entschädigung erhalten hatte. Ich war seit meinem neunzehnten Lebensjahr Polizist gewesen, und da stand ich nun, fast vierzig, und hatte keine Ahnung, was ich mit dem Rest meines Lebens anfangen sollte.“
„Also hast du einen Dorfpub gekauft. Ein ziemlicher Kontrast zu London, kann ich mir vorstellen.“
Mike lachte. „Wenn du wüsstest. Der Pub war Sues Idee. Sie war mit ihrem Mann Dan hierhergezogen, aber ihre Beziehung ging schnell in die Brüche. Nachdem er fort war, blieb sie hier, auch wenn das bedeutete, dass sie sich Arbeit suchen musste. Der Pub stand zum Verkauf, und da dachte sie an mich. Ich habe ihr vorgeschlagen, dass sie dort arbeiten könnte, aber die Idee hat sie schnell verworfen.“ Er entrang sich ein gequältes Lächeln. „Damit lag sie nicht falsch. Früher oder später wären wir uns an die Gurgel gegangen. Wir sind wie Tag und Nacht.“ Mike nickte in Richtung der Windschutzscheibe. „So, da wären wir.“
Jonathon folgte seinem Blick. Auf beiden Seiten der Straße standen die alten steinernen Torpfosten mit dem Familienwappen, die er nur zu gut aus seiner Kindheit kannte. Nur war das Wappen in den zwei Jahrhunderten, in denen die Familie das Herrenhaus besaß, abgetragen worden, und auch die Torpfosten begannen zu bröckeln. Sie markierten die Grenze des ursprünglichen Anwesens. Nachfolgende Mitglieder der Familie de Mountford hatten Teile davon verkauft, und nun waren nur noch die hundert Morgen übrig, die de Mountford Hall umgaben.
„Und da ist es“, raunte Jonathon. Das Herrenhaus, das auf der Spitze eines leicht abfallenden Hügels stand, ragte noch gerade so hinter den Baumkronen hervor. Die weiße Fassade hob sich vom Grün ab und leuchtete in der frühen Morgensonne. Während Mike durch die Torpfosten fuhr und dem Kiesweg folgte, warf Jonathon einen Blick auf das Haus. „Ich kann mir nicht vorstellen, was er da drin den ganzen Tag macht. Wahrscheinlich geistert er ganz unruhig herum.“ Dominic war ein eingefleischter Junggeselle und lebte dort allein, seit er das Haus geerbt hatte. Bis vor fünfzehn Jahren war er in London in der Anwaltskanzlei der Familie tätig gewesen, ehe er im Alter von fünfundvierzig Jahren alle mit der Ankündigung seines Ruhestandes überrascht hatte.
Mike bog nach links ab, und der Kiesweg ging in eine Einfahrt über, die sich vor dem Haus um einen kleinen Grashügel mit einem trockenen, kunstvoll verzierten Brunnen schlängelte. Vor dem breiten, gewölbten Eingang kam er zum Stehen. „Bis vor die Haustür. Wenn das mal kein guter Service ist.“
Jonathon lächelte und streckte erneut die Hand aus. „Vielen Dank, Mike.“ Er blickte sich um. Es waren keine Autos in Sicht, aber vielleicht standen sie auch einfach nur in der Garage.
„Ganz schön ruhig hier. Aber andererseits ist es ja auch noch ziemlich früh. Vielleicht hat er einfach verschlafen.“
Jonathon legte den Kopf schief und lauschte. Selbst die Vögel schienen ihren fröhlichen Gesang eingestellt zu haben. Das trug nur weiter zu seinem Unwohlsein bei. Er stellte seinen Rucksack ab, stieg aus dem Auto und ging auf die schwere Eichentür im Schatten des Steinbogens zu. Jonathon zog am mittleren Knauf der Messingklingel und hörte das klirrende Geräusch im Inneren. Er trat einen Schritt zurück und wartete, den Blick auf die Tür gerichtet.
Nach einer Minute des Schweigens wandte er sich Mike zu. „Sieht aus, als sei er nicht da.“
„Er hat doch Hauspersonal, oder? Zumindest hat Sue das mal erzählt.“
Jonathon versuchte, sich zu erinnern. „Früher ja, aber das ist schon eine Weile her. Ich war vor zwei Jahren zum letzten Mal hier, also bin ich mir nicht sicher. Zumindest hat er nie erwähnt, dass er die Angestellten entlassen hat.“ Also mussten sie heute entweder ihren freien Tag haben oder sie waren noch gar nicht eingetroffen, was eher unwahrscheinlich war.
„Versuch’s mal mit der Tür. Vielleicht hat er sie ja nicht zugeschlossen.“ Als Jonathon ihn anstarrte, musste Mike kichern. „Ja, schon gut. Wer würde so ein Haus schon verlassen, ohne die Tür hinter sich abzusperren? War nur eine Idee.“
Dennoch wollte Jonathon nichts unversucht lassen. Er griff nach dem schweren Türknauf und drehte ihn …
Die Tür schwang mit einem Knarren auf.
„Oh-oh“, flüsterte er.
Im Nu war Mike aus dem Auto ausgestiegen und an seine Seite getreten. „Das ist etwas seltsam. Soll ich mit reingehen?“, fragte er mit leiser Stimme. „Nur für den Fall, dass hier …“
„Was? Nur für den Fall, dass hier was?“ Jonathon lief ein Schauer über den Rücken.
„Dass hier womöglich Einbrecher sind?“ Mike warf einen Blick auf die Tür. „Vielleicht geht auch meine Fantasie wieder mit mir durch. Es gibt bestimmt eine ganz einfache Erklärung, zum Beispiel, dass dein Onkel vergessen hat, beim Rausgehen die Tür abzuschließen.“
Jonathon hoffte inständig, dass Letzteres der Fall war. „Okay, du kannst mitkommen.“
Mike blähte seine breite Brust förmlich auf. „Und bleib am besten hinter mir. Wenn jemand da drinnen ist, regele ich das, okay?“
Jonathon brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, dass Mike sich ihm zuliebe so tapfer verhielt, um ihn zu beruhigen. Er stieß einen gespielten Seufzer der Erleichterung aus. „Natürlich.“ Zwar hatte er keine Angst davor, es mit einer Handvoll Schurken aufzunehmen, aber dafür müssten sie kleiner sein als er - und da er 1,70 Meter groß und dürr wie eine Bohnenranke war, hielt er das für äußerst unwahrscheinlich.
Mike betrat das kühle Innere. Der weiße Marmorboden reflektierte das Sonnenlicht, das durch die offene Tür hereinfiel. Seine Stiefel quietschten leicht auf den Fliesen, als er vorwärts schlich, den Kopf lauschend zur Seite gelegt.
Das Haus war so still wie ein Grab, und Jonathon fand die Situation langsam überhaupt nicht mehr lustig. „Ich glaube nicht, dass er hier ist.“
Mike blieb stehen und spähte die Treppe hinauf. „Also falls hier Einbrecher sind, machen sie echt keinen Mucks“, flüsterte er. „Ich werde oben nachsehen, aber ich glaube nicht, dass jemand hier ist.“
Jonathon nickte. „Ich sehe mich auch mal um.“ Auf keinen Fall würde er hier warten, wo er sich so überflüssig vorkam wie ein Kropf.
Mike warf ihm einen ernsten Blick zu. „Sei vorsichtig.“
Dafür, dass Mike ihn erst seit ein paar Minuten kannte, empfand Jonathon diese Geste als ziemlich süß. Tja, auch er selbst konnte süß sein. „Nur, wenn du das auch bist.“ Ohne Mikes Antwort abzuwarten, schlich Jonathon zur Wohnzimmertür. Ein Blick in alle Richtungen überzeugte ihn davon, dass der Raum leer war. Er ging von Zimmer zu Zimmer, wobei die Sohlen seiner Turnschuhe ebenso quietschten wie Mikes Stiefel.
Keine Anzeichen für ein Verbrechen. Keine Anzeichen für einen Einbruch. Nichts.
Vor der Tür zum Arbeitszimmer seines Onkels hielt er inne. In seiner Kindheit war dieser Raum immer tabu gewesen. Es war Dominics Zufluchtsort, wenn ihm die Besucher zu viel wurden - sein Heiligtum. Die Tatsache, dass die Tür einen Spalt offenstand, verstärkte nur noch die Panik, die sich in seinem Bauch ausbreitete.
„Dominic?“ Vorsichtig drückte er die Tür auf, machte zwei Schritte ins Zimmer - und erstarrte.
„Was ist los?“, zischte Mike von irgendwo hinter ihm.
Jonathon schluckte schwer. „Ich glaube, wir müssen die Polizei rufen. Und einen Krankenwagen.“ Er versuchte, einen weiteren Schritt zu machen, aber seine Beine waren wie Blei.
Mike drängte sich an ihm vorbei und hielt inne. „Oh Gott.“
Onkel Dominik lag zusammengekauert neben dem Kamin, die grelle Blutlache um seinen Kopf im starken Kontrast zum weißen Marmorboden. Jonathon konnte nur regungslos zusehen, wie Mike zu der liegenden Gestalt eilte und sich vorbeugte, um zwei Finger an Dominics Hals zu legen. Die Stille dehnte sich aus, während Jonathon wartete, unfähig, den Blick loszureißen.
Schließlich richtete sich Mike auf und sah Jonathon in die Augen. „Es tut mir so leid. Er ist tot.“
Seine Worte ergaben keinen Sinn. Dominic konnte nicht tot sein.
Mike ging auf ihn zu und griff nach seiner Schulter. „Okay“, setzte er mit ruhiger, gleichmäßiger Stimme an. „Ich bringe dich jetzt zum Auto und dann rufe ich die Polizei.“ Als Jonathon ihn nur blinzelnd anstarrte, tätschelte Mike seinen Arm. „Du kannst nicht hier drinnen bleiben, Jonathon. Es kann sein, dass wir uns an einem Tatort befinden.“
In diesem Moment begann er, am ganzen Körper zu zittern.
JONATHON STARRTE durch die Windschutzscheibe auf das Haus. Sein Körper und sein Geist waren wie betäubt.
Ich kann das einfach nicht fassen.
Mike war gemeinsam mit der Polizei ins Haus gegangen, nachdem er Jonathon die strikte Anweisung erteilt hatte, sich nicht zu rühren. Jonathon hatte seine Worte kaum wahrgenommen. Er sah Dominic immer noch mit offenen Augen dort liegen, und Gott, das Blut …
Es dauerte einen Moment, bis er merkte, dass Mike wieder im Auto saß. Dieser musterte Jonathon sorgfältig, bevor er sprach. „Okay. Du kannst hier gerade nichts tun, also bringe ich dich am besten zurück zum Pub. Constable Billings kommt später vorbei, wenn die Untersuchung des Tatorts abgeschlossen ist. Er wird sicher ein paar Fragen haben.“
Jonathon schluckte. „Was meintest du damit, dass wir uns an einem Tatort befinden könnten?“ Er riss die Augen weit auf. „Was glaubst du, was hier vorgefallen ist?“
Mikes Blick huschte zur Windschutzscheibe. „Auf den ersten Blick sieht es so aus, als wäre er gestürzt und hätte sich den Kopf am Kamin angeschlagen. Seine Füße waren im Teppich verheddert, also ist er vielleicht gestolpert.“
Jonathon runzelte die Stirn. „Auf den ersten Blick?“
Mike zuckte mit den Schultern. „Tut mir leid. Da spricht der Polizist aus mir. Man sollte keine voreiligen Schlüsse ziehen, bevor der Gerichtsmediziner sich ein Bild gemacht hat.“
Gerichtsmediziner. Eine Obduktion. Jonathon erzitterte. Dann ließ er Mikes Worte sacken und schüttelte den Kopf. „Gestolpert? Niemals.“
„Wieso schließt du das aus?“
Jonathon deutete auf das Haus. „Mein Onkel hat den Everest bestiegen! Er war ein Seemann! Gestolpert? Er hatte das Gleichgewicht einer Bergziege.“
Mike hob abwehrend die Hände. „Hey, ich sage ja nur, was ich gesehen habe. Man kann es nie wissen. Vielleicht hatte er einen Schwindelanfall.“
Jonathon reckte das Kinn vor. „Oder vielleicht ist er gestürzt, weil ihn jemand geschubst hat.“
Darauf setzte eine Stille ein, die erst unterbrochen wurde, als Mike sich räusperte. „Ja, gut, das ist auch eine Möglichkeit, aber solange nichts auf einen Kampf hindeutet …“Er seufzte. „Man darf keine voreiligen Schlüsse ziehen. Was zählt, sind die Beweise.“ Sein Blick fiel auf Jonathons Gesicht. „Los, wir sollten jetzt lieber fahren. Bald werden die SOCOs und der …“
„SOCOs?“ Jonathon kramte in seinem Gedächtnis nach dem Begriff.
Mike schenkte ihm ein sanftes Lächeln. „Scenes of Crime Officers - die Spurensicherung. Also, bald werden die SOCOs und der Gerichtsmediziner hier sein, und ich will nicht, dass du dabei bist, wenn die Leiche deines Onkels abtransportiert wird.“ Jonathon erschauderte und Mike stieß einen Seufzer aus. „Puh. Ich weiß ja nicht, wie’s dir geht, aber ich kann jetzt wirklich einen Drink gebrauchen.“ Er ließ den Motor an und fuhr um den kleinen Hügel herum auf die Auffahrt zurück zur Straße.
Jonathon lehnte den Kopf gegen das Fenster und nahm die vorbeiziehende Landschaft nur verschwommen wahr. Es stimmte ihn dankbar, dass er in diesem Moment nicht allein war. Mikes gefasste, pragmatische Ausstrahlung war das Einzige, was ihm gerade Halt gab. Er schloss die Augen, aber in seinem Kopf konnte er immer noch Dominic sehen. Und er war immer noch tot.
Achtundzwanzig ist viel zu jung, um das erste Mal mit dem Tod in Berührung zu kommen.
Als das Auto zum Stehen kam, öffnete er wieder die Augen. Sie befanden sich auf einem Parkplatz hinter dem Pub, auf den etwa zwanzig Autos passten.
Mike sah ihn an und konnte seine Besorgnis nicht verbergen. „Geht es dir gut?“
„Den Umständen entsprechend.“ Jonathon nahm seinen Rucksack und öffnete die Tür.
„Ich hole deinen Koffer.“ Mike war bereits dabei, das Gepäck vom Rücksitz zu heben. „Soll ich dich jetzt auf dein Zimmer bringen oder möchtest du auch einen Drink?“ Als Jonathon erneut unwillkürlich erschauderte, nickte Mike. „Gut, zuerst der Drink.“ Er schloss den Wagen ab und führte Jonathon zur schweren Hintertür. „Ich lasse den Koffer in der Küche. Dort ist er sicher. Abi kommt erst in ein, zwei Stunden, und wir haben noch nicht geöffnet.“
„Abi?“
„Sie macht das Essen.“ Mike zog die Tür hinter ihnen zu, und Jonathon folgte ihm durch die große Küche in die einladend wirkende Bar mit den roten Stühlen, die perfekt zu den weißen Wänden und den schwarzen Balken passten. Die Theke bestand aus dunklem, auf Hochglanz lackiertem Holz. Der gesamte Raum sah gemütlich aus, wie aus alten Zeiten und ganz anders als die Pubs, in denen Jonathon sonst so verkehrte.
„Und du bist also der Besitzer?“ Normalerweise wurden Wirte von der Brauerei ernannt, der der Pub gehörte.
Mike nickte und klopfte leicht auf die Theke. „Ich habe mir sehr viel Mühe gegeben, dem Laden Atmosphäre einzuhauchen. Als ich ihn gekauft habe, gab es kein Essen auf der Karte, und besonders gemütlich war es auch nicht. Allerdings hing ein riesiger Fernsehbildschirm an der Wand. Offenbar war der frühere Besitzer ein großer Sportfan und das war alles, was man hier sehen konnte. Ich fand, dass ein Fernseher nicht zu einem so alten Pub passte, also habe ich ihn abmontiert. Bis jetzt hat sich noch niemand beschwert.“ Er ging hinter die Bar, holte zwei Kognakgläser hervor und hielt sie an einen Getränkespender. „Hier.“ Er stellte die Gläser auf der schwarzen Thekenmatte ab.
Jonathon beäugte die bernsteinfarbene Flüssigkeit. „Was ist das?“ Er nahm auf einem der Barhocker Platz.
„Brandy. Und so, wie du aussiehst, kannst du ihn echt vertragen.“
Dem konnte Jonathon nicht widersprechen. Mit einem langen Schluck leerte er das Glas und musste heftig husten, als die feurige Flüssigkeit seine Kehle erreichte. Er wischte sich den Mund ab und schnitt eine Grimasse. „Gott, wie können Leute das gerne trinken?“
Mike schmunzelte. „Tja, man muss es eben runterkippen wie Wasser …“Er nahm selbst einen Schluck und betrachtete dann interessiert Jonathons Rucksack, der immer noch über seiner Schulter hing. „Du passt sehr gut auf deine Tasche auf. Was ist da drin – all deine Ersparnisse?“
Jonathon legte den Rucksack auf seine Knie und öffnete ihn. „Mein wertvollster Besitz.“ Er nahm die Kamera heraus und hielt sie Mike vor die Nase. „Er ist überall dabei, wo ich hingehe.“
„Er?“ Mike grinste.
„Oh ja.“
„Und ist das ein Hobby oder mehr als das?“
Jonathon stellte die Kamera auf die Theke und griff erneut in die Tasche. Er reichte Mike ein großes Buch mit glänzendem Einband. „Das wollte ich eigentlich Dominic schenken. Es ist mein neuestes Buch.“
Mike starrte auf das Cover, das von einem Abgrund mit einem atemberaubenden Wasserfall geziert wurde. Seine Augen weiteten sich. „Oh mein Gott. Ja, natürlich. Du bist der Jonathon de Mountford. Irgendwoher kam mir der Name bekannt vor, und ich wusste, dass es nicht nur an deinem Onkel lag. Ich liebe deine Arbeit.“
„Ach, wirklich?“ Egal, wie oft Jonathon Komplimente für seine Fotografie bekam, es fühlte sich immer noch so ungewohnt an wie beim ersten Mal. Und er hatte sich immer noch nicht daran gewöhnt.
Mike nickte und seine Augen leuchteten. „Ich habe dein Buch über Australien. Manche Bilder darin sind einfach atemberaubend. Du hast wirklich ein Auge dafür, die Essenz eines Ortes einzufangen.“ Dann lachte er. „Das ist so verrückt. Ich habe hier gerade ernsthaft einen Fangirl-Moment mit Jonathon de Mountford.“
Jonathon wurde feuerrot im Gesicht.
Mike gab ihm das Buch zurück. „Es tut mir einfach leid, dass wir uns unter diesen Umständen kennenlernen mussten.“
Damit wurde Jonathon schlagartig in die Gegenwart zurückversetzt. Für einen kurzen Moment hatte er das Unglück des heutigen Tages schon wieder vergessen.
„Ich zeige dir dann mal das Zimmer.“
Es war, als könnte Mike seine Gefühle lesen, und Jonathon war dankbar für sein Einschreiten. Er nickte. „Danke.“ Dann packte er Buch und Kamera wieder ein und stieg vom Hocker.
Mike führte ihn am Schild zum WC vorbei und öffnete eine Tür mit der Aufschrift Privat. Dahinter befand sich eine Holztreppe mit einem roten Teppich, der sich über die Mitte der Stufen zog.
„Das Bett ist noch nicht hergerichtet, aber ich kann mich gleich darum kümmern“, sagte Mike vor ihm. Als sie oben ankamen, sah Jonathon fünf Türen. Mike deutete auf das Zimmer am Ende des Flurs. „Dort schlafe ich, also wenn du etwas brauchst und ich nicht unten bin, kannst du gerne bei mir klopfen.“ Dann öffnete er die nächstgelegene Tür. „Und hier kannst du bleiben, solange du willst.“
Jonathon betrat einen großen Raum mit einem riesigen Erkerfenster am anderen Ende, das vom Boden bis zur Decke von dunkelblauen Vorhängen umrahmt war. Es gab einen großen Steinkamin, der zwar leer geräumt war, neben dem aber trotzdem ein Korb mit Holzscheiten stand. Das breite Bett war von einer geblümten Steppdecke überzogen, und auf beiden Seiten stand ein kleiner Eichenschrank. Die lackierten Holzdielen waren stellenweise von farblich aufeinander abgestimmten Teppichen überdeckt.
„Hier oben gibt es leider nur ein Badezimmer zwei Türen weiter. Ich bin noch nicht dazugekommen, die Zimmer mit einem eigenen Bad zu versehen.“
Jonathon schüttelte den Kopf. „Das würde ich gar nicht wollen. Es würde den Raum nur verschandeln.“ Das Schlafzimmer steckte voller altmodischem Charme. Er ging zum Fenster hinüber und fuhr mit dem Finger über die bleiverglaste Scheibe. Die Verglasung war echt und nicht einfach nur eine moderne Kopie. „Wie alt ist dieses Haus?“ Von seinem Zimmer aus hatte er einen Blick auf die Vorderseite des Pubs und konnte die Menschen unten sehen, die ihrem Alltag nachgingen, ohne zu ahnen, was für eine schreckliche Tragödie sich kurz zuvor abgespielt hatte.
Wie viele von ihnen es wohl bedauern werden, dass er tot ist? Es hatte sich nicht so angehört, als würde Mikes Schwester zu den Trauernden zählen.
„Ich habe Dokumente gesehen, die besagen, dass hier bereits 1458 ein Gasthaus angemeldet war. Unten steht ein Stuhl, auf dem angeblich dein Vorfahre gesessen haben soll.“
Jonathon fuhr herum und starrte ihn an. „John de Mountford, Earl of Hampshire? Das muss im späten achtzehnten Jahrhundert gewesen sein.“
„Deshalb darf dort auch niemand sitzen“, bemerkte Mike trocken. Er verließ kurz den Raum und kehrte mit einem Stapel gefalteter Bettwäsche zurück. „Ich beziehe schnell das Bett. Das mache ich nur, wenn ich weiß, dass ich Gäste erwarte.“
„Kann ich dabei helfen?“ Er würde alles tun, um sich von der aktuellen Situation abzulenken.
„Na klar.“ Gemeinsam streiften sie die Steppdecke ab und bezogen die Matratze mit weichen, frisch duftenden Baumwolllaken. „Wie lange hattest du denn vor, bei deinem Onkel zu bleiben?“
Jonathon war damit beschäftigt, ein Kissen in einen Bezug mit Lavendelduft zu stopfen. „Ein paar Wochen. Er wollte, dass ich ihn zum Dorffest begleite.“ Seine Kehle schnürte sich zu, und Mike verstummte auf der anderen Seite des Bettes.
„Ich hätte dich nicht daran erinnern sollen.“
Jonathon hob den Kopf. „Doch, das war genau richtig. Ich werde mich ohnehin damit auseinandersetzen müssen, also hat es keinen Sinn, das Thema zu vermeiden.“ In diesem Moment fiel ihm etwas ein und die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag. „Ich muss meinen Vater anrufen. Er muss es erfahren, und es ist mir lieber, wenn ich es ihm mitteile und nicht die Polizei.“
Mike nickte. „Ich lasse dich in Ruhe. Komm einfach nach unten, wenn du fertig bist, und dann mache ich uns einen Tee oder Kaffee – was dir lieber ist. Außerdem sollte Constable Billings bald hier sein.“ Er verließ das Zimmer.
Jonathon fischte sein Handy aus der Hosentasche und starrte es an. „Was zum Teufel soll ich ihm sagen?“, flüstere er vor sich hin. Dann scrollte er zur richtigen Nummer, tippte auf Anrufen und ging zurück zum Fenster, um auf das Dorf hinauszublicken.
„Du bist bestimmt schon bei Dominic.“
Die Stimme seines Vaters, so fröhlich und … normal, ließ Jonathons Magen verkrampfen. „Nicht ganz. Du solltest dich lieber hinsetzen, falls du nicht schon sitzt.“
Sein Vater war kurz still. „Was ist los?“
„Es gibt keinen guten Weg, es zu sagen, also spreche ich es einfach aus: Dominic ist tot.“
Sein Vater geriet ins Stocken. „Oh Gott. Was ist passiert?“
„Die Polizei ist gerade vor Ort, aber wie es aussieht, ist er gestürzt und hat sich den Kopf am Kamin angeschlagen.“
Darauf folgte noch mehr Schweigen. Jonathon konnte sich kaum vorstellen, wie es sich anfühlen musste, einen Bruder zu verlieren. Sein Vater war sicher am Boden zerstört.
„Ah … Moment mal. Die Polizei? Welche Polizei?“
„Die aus Merrychurch, nehme ich an.“ Jonathon verstand nicht, warum das von Bedeutung sein sollte.
„Das kann nicht angehen. Die Sache muss von jemandem mit Autorität erledigt werden, nicht von irgendeinem dahergelaufenen Dorfpolizisten. Ich werde mich sofort mit Scotland Yard in Verbindung setzen.“ Die Stimme seines Vaters hatte einen klaren, gebieterischen Ton angenommen, den Jonathon sofort erkannte. Schließlich sprach hier Thomas de Mountford, Anwalt – ein Mann, der kein Nein akzeptierte. Ein Mann, der immer das bekam, was er wollte. Und offenbar ein Mann, der sich von Trauer nicht lange aufhalten ließ.
„Ich glaube nicht, dass das notwendig ist.“ Abgesehen davon konnte Jonathon sich nicht vorstellen, dass die örtliche Polizei es gutheißen würde, Gesellschaft von Ermittlern aus London zu bekommen. Nicht in einer Angelegenheit, bei der alles auf einen Unfall hindeutete.
„Das solltest du aber angesichts der Situation, in der wir uns gerade befinden.“
Etwas in der Stimme seines Vaters ließ Jonathon die Haare zu Berge stehen. „Welche Situation?“, fragte er vorsichtig.
Ein Seufzer ertönte am anderen Ende der Leitung. „Ich sollte es dir wohl besser sagen. Es macht nun keinen Unterschied mehr, da du es ohnehin bald erfahren wirst, wenn das Testament verlesen wird.“
Das ungute Gefühl in Jonathons Magengrube breitete sich weiter aus. „Okay, was ist los?“
„Da Dominic keine direkten Nachkommen hat, geht das Haus an den nächsten männlichen Erben in der Familie über.“
„Also an dich, als seinen jüngeren Bruder.“
Sein Vater hustete. „Tatsächlich nicht. Dein Onkel und ich waren uns einig, dass du das Anwesen erben solltest.“
„Ich?“ Das Wort kam wie ein Quieken heraus, und er räusperte sich. „Warum?“
Einen Moment lang herrschte Schweigen, bevor sein Vater antwortete. „Ganz einfach: Ich habe nicht die Absicht, meine Karriere aufzugeben, nicht, wenn die Möglichkeit besteht, Richter am High Court zu werden.“
Jonathon wusste schon lange von den richterlichen Ambitionen seines Vaters. „Und beides auf einmal geht nicht?“
Die Verwunderung in der Stimme seines Vaters war nicht zu überhören. „Jonathon, de Mountford Hall ist eine große Verantwortung. Was glaubst du, warum das Familienwappen überall im Dorf zu sehen ist? Weil der Besitzer des Hauses die Pflicht hat, sich um die Bewohner zu kümmern. Eine solche Verantwortung erfordert eine physische Anwesenheit.“
„Wir haben darüber bereits gesprochen. Der Titel ist schon vor Jahren ausgestorben. Seit wie vielen Generationen hat es in unserer Familie keinen Earl, Lord oder Viscount mehr gegeben?“
„Der Titel mag sich zwar aufgelöst haben, aber das Haus steht noch immer, und solange die Familienlinie fortbesteht, wird dort ein de Mountford leben.“Er hielt kurz inne. „Und da ich hier mit dem letzten Mitglied der Familie de Mountford spreche, gibt es …“
„Hör auf.“ Die Aufforderung klang schärfer, als Jonathon beabsichtigt hatte. „Wir werden nicht mehr darüber sprechen.“ Nur sein Vater konnte einen tragischen Todesfall zum Anlass nehmen, um Jonathon einzureden, dass er heiraten und sich um das Fortbestehen der Familie kümmern müsse.
Grundsätzlich hatte Jonathon kein Problem mit dem Gedanken an die Ehe. Worüber er und sein Vater sich allerdings nicht einig waren, war das Geschlecht seines zukünftigen Partners.
„Es tut mir leid“, flüsterte er. „Ich weiß, dass ihr euch nahestandet.“ Es fühlte sich gemein an, das Gespräch bewusst wieder auf den furchtbaren Anlass des Telefonats zu lenken, aber das war immer noch besser, als seinen Vater wie üblich gewähren zu lassen.
„Gott, was wir alles angestellt haben, als wir jünger waren.“ In der Stimme seines Vaters lag eine Wärme, die Jonathon schon lange nicht mehr gehört hatte. Dann räusperte er sich, und der sentimentale Moment war wieder verflogen. „Ich möchte, dass du mich über alles, was vor Ort passiert, auf dem Laufenden hältst, hast du verstanden?“ Da war er wieder, der scharfe Ton.
„Ja, Sir.“ Jonathon wusste aus Erfahrung, dass dies die einzige Antwort war, die sein Vater akzeptierte.
„Wirst du die Nacht im Herrenhaus verbringen?“
„Im Moment habe ich ein Zimmer im Dorfpub. Ich warte darauf, von der Polizei zu hören.“
„Ich kann mir vorstellen, dass sie jeden Winkel des Hauses gründlich unter die Lupe nehmen. Und das sollten sie auch. Sobald du die Erlaubnis bekommst, das Anwesen zu betreten, möchte ich, dass du dort die Stellung hältst. Ich will nicht, dass das Haus leer steht.“
Jonathon ahnte, worauf das hinauslaufen würde. „Aber … ich wollte nur zwei Wochen hierbleiben. Danach geht es für mich nach Vietnam.“ Auf die Reise hatte er sich monatelang vorbereitet.
„Dein kleines … Hobby kann doch sicher warten, bis die Umstände um Dominics Tod geklärt sind? Und na ja, danach … warten neue Aufgaben auf dich.“
Jonathon rutschte das Herz in die Hose. Manchmal hasste er es, wenn sich sein Gefühl bestätigte. „Können wir ein anderes Mal darüber reden?“
„Natürlich. Du bist sicher ziemlich mitgenommen. Wenn du willst, dass ich vorbeikomme, ruf mich an. Unter diesen Umständen kann ich mich kurz beurlauben lassen.“
Nachdem Jonathon seinen Vater gebeten hatte, seiner Mutter Grüße auszurichten, verabschiedete er sich und legte auf. Schweren Herzens verließ er das Zimmer und ging die Treppe hinunter in den Pub.
Mike saß an einem Tisch bei der Bar und führte ein ernstes Gespräch mit dem Polizisten, der als Erstes am Tatort gewesen war. „Hey, setz dich. Du siehst erschöpft aus.“
Kein Wunder, dachte Jonathon. Er ging auf die beiden Männer zu und starrte Constable Billings fragend an. „Und? Glauben Sie immer noch, dass es ein Unfall war?“ Er setzte sich auf den letzten freien Stuhl.
Constable Billings runzelte die Stirn und sah Mike an, der ihm ein entschuldigendes Lächeln schenkte.
„Wegen des bemerkenswerten Gleichgewichtssinnes seines Onkels hat Jonathon den Verdacht geäußert, dass ihn jemand geschubst haben könnte.“
Die Falten auf der Stirn des Constables glätteten sich. „Oh, ich verstehe.“ Er richtete seine Aufmerksamkeit auf Jonathon. „Für mich sieht es immer noch nach einem Unfall aus, Sir. Natürlich kann der Bericht der Gerichtsmedizinerin neue Erkenntnisse bringen. Wir müssen einfach abwarten.“ Er zückte seinen Notizblock. „Ich habe ein paar Fragen an Sie, wenn das in Ordnung ist. Ich weiß, dass Sie heute Morgen eine Menge durchgemacht haben.“
„Fragen Sie ruhig.“
„Wann haben Sie das letzte Mal mit Ihrem Onkel gesprochen?“
„Letzte Woche. Er hat mich angerufen, um sich zu vergewissern, dass ich immer noch zu Besuch kommen würde. Er wollte mich heute Morgen vom Bahnhof abholen.“
Constable Billings nickte und machte sich Notizen. „Wer ist sein nächster Angehöriger?“
„Mein Vater.“ Jonathon ratterte alle Details herunter und war beeindruckt, dass der Beamte bei dem Tempo mitkam.
„Nur eine Sache noch. Wissen Sie, wo Bryan Mayhew gerade ist?“
Jonathon erstarrte. „Wer bitte ist Bryan Mayhew?“
Constable Billings runzelte die Stirn. „Ich dachte, Sie wüssten davon. Er ist der Student, der aktuell im Herrenhaus wohnt.“
„Oh ja, ich kenne ihn“, warf Mike ein. „Seit ein paar Wochen ist er hier Stammgast. Hat dein Onkel ihn nie erwähnt?“
„Nein, hat er nicht.“ Auch das war merkwürdig. Dominic hatte sich in letzter Zeit äußerst untypisch verhalten. „Warum suchen Sie nach ihm?“
„Ich finde es nur seltsam, dass er nicht da ist. Er hat sich in den letzten vier Wochen mit der Geschichte des Hauses und der Familie de Mountford beschäftigt. Ich bin davon ausgegangen, dass Ihr Onkel Ihnen davon erzählt hat.“
„Und es gibt keine Spur von ihm?“
„Nein. Sein Motorrad ist nirgends zu finden. Er hat ein Motorrad“, fügte Constable Billings hinzu. „Damit brettert er immer durch die Gegend. Der armen alten Mrs Dawkins hat er letzte Woche einen ganz schönen Schrecken eingejagt.“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich wollte ihn fragen, wann er Ihren Onkel zuletzt lebend gesehen hat.“
„Sie … Sie glauben doch nicht etwa, dass er etwas mit Dominics Tod zu tun hatte?“ Auf Jonathon wirkte das wie ein schrecklicher Zufall. Sein Onkel war gestorben, und von diesem Studenten fehlte jede Spur.
„Und schon wieder ziehst du voreilige Schlüsse.“ Mike tätschelte Jonathons Arm. „Was habe ich über Beweise gesagt?“
Jonathon wandte sich an Constable Billings. „Was passiert mit der … Leiche meines Onkels?“
„Er ist nach Fareham in die Leichenhalle des Krankenhauses gebracht worden. Oh, und es besteht keine Notwendigkeit dafür, dass Sie die Leiche identifizieren, da Sie ihn ja selbst gefunden haben.“ Der Constable erhob sich. „Werden Sie hier im Pub übernachten, Sir? Falls noch weitere Fragen aufkommen.“
„Ja, ich bleibe hier. Wann werden die Ergebnisse der Obduktion vorliegen? Die Leiche wird schließlich untersucht, oder?“
„Ich habe doch erwähnt, dass es einen Bericht der Gerichtsmedizinerin geben wird, oder etwa nicht?“
„Ja, das hast du“, warf Mike ein. „Du darfst es Jonathon nicht verübeln, dass er angesichts der Umstände im Moment etwas … neben der Spur ist.“
Daraufhin zog Jonathon die Augenbrauen hoch, sagte aber nichts.
„Ja, natürlich. Völlig verständlich. Ich melde mich, sobald es etwas Neues gibt.“ Constable Billings sprach mit einer ruhigen, besänftigenden Stimme. „Machen Sie sich keine Sorgen, Sir. Ich bin mir sicher, es war nur ein tragischer Unfall.“ Er schüttelte Mikes Hand. „Wir sprechen uns später, Mike.“
„Na klar.“ Mike stand auf und begleitete ihn zur Tür.
Jonathon hätte gerne geglaubt, dass sie recht hatten und es wirklich nur ein Unfall war, aber sein Bauchgefühl sagte ihm, dass es sich dabei um reines Wunschdenken handelte. Eins stand jedoch fest.
Er musste mit diesem Bryan Mayhew sprechen.
JONATHON SCHAUTE