Lügen haben lange Ohren - Gisa Pauly - E-Book

Lügen haben lange Ohren E-Book

Gisa Pauly

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Beschreibung

Statt Vollpension in der Toskana wartet ein tierisches Abenteuer Es wird turbulent im »Albergo Annina« in Siena, als plötzlich eine deutsche Touristin mitsamt Esel in Annas heißgeliebtem Hotel Unterschlupf sucht. Natürlich findet Anna Platz für die beiden neuen Gäste, doch damit nicht genug. Weitere Überraschungen lassen nicht lange auf sich warten, als Anna in den Satteltaschen des Esels eine höchst brisante Entdeckung in Form eines weißen Pulvers macht, hinter der plötzlich alle her sind. Selbst ihre Brüder reisen extra aus Deutschland an, um sich die ganze Geschichte aus der Nähe anzusehen! Und ein rätselhafter neuer Gast im Hotel scheint mit allen Mitteln ein Geheimnis hüten zu wollen … Jede Menge Aufregung für Anna! Band 3 der Siena-Reihe von Bestsellerautorin Gisa Pauly.  »Eine herrlichst schräge und amüsante Komödie von Gisa Pauly, der Unterhaltungsqueen unter den deutschen Autorinnen« literaturmarkt.info über »Jeder lügt, so gut er kann«

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© Pendo Verlag in der Piper Verlag GmbH, München 2021

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: u1 berlin / Patrizia Di Stefano

Covermotiv: Patrizia Di Stefano unter Verwendung mehrerer Motive von Alamy Stock Foto und Robin Piniek, Enrage Media / hum3D Studio

 

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Inhalt

Cover & Impressum

Ein wolkenloser Himmel …

Danksagung

Ein wolkenloser Himmel wölbte sich über Siena, glockenblumenblau wie der Frühling, noch nicht im sommerlichen Kobaltblau. Die Sonne war blass, sie stach nicht vom Himmel, sie ging noch sanft über die gelben Rapsfelder, neckte in Kirsch-, Pflaumen- und Apfelbäumen, brachte aber schon die Blumenwiesen zum Leuchten.

Anna Wilders stand neben ihrem weißen Fiat und betrachtete die Hügel, die sich vor ihren Augen wellten, jeder mit nebelähnlichen, hellen Umrissen. Während der Olivenbauer das kleine Ölfass heranrollte, die Dosen mit den Oliven, den Pecorinokäse und die Salamis in den Kofferraum stapelte, schaffte sie es nicht, sich von dem Blick auf Siena zu lösen, auf die verschachtelten Häuser am Fuß des Doms mit seinem in dunkelgrünem und weißem Marmor verblendeten Turm. Ihre Stadt! Das hätte Anna niemals laut ausgesprochen, um keinen alteingesessenen Bürger von Siena zu kränken. Wer gerade erst seit einem halben Jahr in Siena lebte, durfte so etwas nicht sagen, auch dann nicht, wenn er sich keineswegs zu den Touristen, sondern zu denen zählte, die bleiben wollten. Siena war Annas Lebensmittelpunkt geworden, der Ort, an dem sie leben und ihr Leben beenden wollte.

»Basta, Signora!«

Sie drehte sich um und lachte dem Olivenbauern ins Gesicht. »Grazie.« Und schon waren die Angst und alle drängenden Fragen weggelacht.

Der Bauer zeigte auf die Silhouette der Stadt, und aus seinem professionell freundlichen Gesicht wurde ein verklärtes, seine Augen bekamen einen Blick, mit dem er wohl auch seine Tochter am Tag der Hochzeit und seinen Enkel bei der Einschulung betrachtet hatte.

»Siena ist die schönste Stadt der Welt. Ich kann verstehen, dass Sie hierbleiben wollen.« Er riss sich von den vielen terrakottafarbenen Häuserwürfeln los. »Läuft das Hotel?«

Anna zuckte mit den Schultern. »Geht so. Ich hoffe auf den Sommer, auf die Hochsaison.«

Diesmal wurde es ein schiefes Lächeln. Die Hochsaison würde zeigen, ob das Albergo Annina seine Besitzerin ernähren konnte. Und was, wenn nicht? Es gab keinen Plan B. Anna hatte alles auf eine Karte gesetzt. In Stuttgart alles aufgegeben, sämtliche Brücken hinter sich abgebrochen, in Siena ganz neu angefangen. Noch in Stuttgart hatte sie die Haare abschneiden und in Siena blondieren lassen, vor dem Verkauf der Eigentumswohnung hatte sie alle Hemdblusen und die praktischen Baumwollhosen in einen Secondhandladen gebracht, die damenhaften Kleider einer Nachbarin geschenkt, die warmen Mäntel der Caritas gespendet. Mit leichtem Gepäck war sie nach Siena gezogen. Zufrieden, nur noch das zu besitzen, was ihr etwas bedeutete. Und überglücklich, sich das kaufen zu können, was ihr gefiel. Nur ihr!

Sie winkte zurück, als sie mit durchdrehenden Rädern anfuhr, wie man eben startete, wenn man sich wie eine Italienerin fühlte. Mit aufheulendem Motor und spritzendem Schotter. Ein herrliches Gefühl. Clemens hätte ihr jetzt vorgerechnet, wie viel Sprit sich sparen ließ, wenn man auf rasantes Gasgeben verzichtete, aber er konnte sie nicht mehr einschränken. Das war vorbei.

Sie schickte einen Blick zum Himmel. »Sorry, Clemens!« Dann gab sie noch einmal Gas, bremste hart vor der nächsten Kurve, beschleunigte erneut und bremste erst, als es unbedingt notwendig war. Ein ganz neues Lebensgefühl! Schon ein halbes Jahr alt, aber dennoch immer wieder neu, dieses Gasgeben und Bremsen. Vor allem das Gasgeben …

Sie kam von Osten her. Der Olivenbauer, der sie mit den wichtigsten Zutaten für ihr Frühstücksbüfett versorgte, wohnte am Rande von Rapolano. Wie so oft verzichtete sie auf das schnelle Vorankommen über die E 78, die eng, stark befahren und voller Schlaglöcher und Baustellen war. Sie nahm lieber die Landstraße über Vescona, wenn sie Zeit hatte. Das war am späten Vormittag normalerweise der Fall. Das Frühstücksbüfett im Albergo Annina war dann abgeräumt, die Gäste hatten sich mit ihren Reiseführern auf den Weg zu den Sehenswürdigkeiten gemacht, die Siena zu bieten hatte. Graziella, das Zimmermädchen, arbeitete zwar schneller und sorgfältiger, wenn man ihr auf die Finger sah, aber Anna behandelte sie stets großzügig. Immerhin war Graziella auch in der Lage, ein Telefongespräch anzunehmen, Schlüssel herauszugeben oder in Empfang zu nehmen, und sie kam sogar schon mit dem Buchungsprogramm des Computers zurecht und konnte eine Zimmeranfrage beantworten. Dass die Hotelchefin deswegen gelegentlich die Rezeption im Stich lassen und das Kommando an Graziella abtreten konnte, war ein großer Vorteil. Dafür sah Anna darüber hinweg, dass ihr Zimmermädchen schwatzhaft und neugierig war und mit der Musik aus ihrem Smartphone gelegentlich die Gäste verärgerte.

Die Tankstelle auf der rechten Seite gehörte Graziellas Vater. Anna erlaubte sich niemals, woanders zu tanken, ihr Zimmermädchen würde sie glatt damit bestrafen, auf der Gardinenstange und den Bilderrahmen keinen Staub zu wischen.

Graziellas Vater kam eilfertig angelaufen. »Pieno, Signora?«

»Ja, volltanken bitte. Grazie.«

Signor Pancole war genauso redselig wie seine Tochter. Da Anna mittlerweile auch den Rest der Familie kannte, die Friseurin, den Kioskbesitzer, den Metzger, die Sekretärin im Bürgermeisteramt, den Gemüsehändler und die Kosmetikerin, wusste sie, dass alle Pancoles so waren. Wie diese Tankstelle waren auch die anderen Ladenlokale, die der Sippe Pancole gehörten, Umschlagplätze für Neuigkeiten. Anna machte sich nichts vor. Was im Albergo Annina geschah, wurde im Nu in ganz Siena herumgetragen. Umso wichtiger also, sich mit Graziella gutzustellen und darauf zu achten, dass sie nur das mitbekam, was dem guten Ruf des Hotels nicht schadete.

Bis jetzt war es Anna gelungen, die Besonderheiten der Familie, aus der sie stammte, geheim zu halten. Graziella wusste nur, dass das Hotel nach ihrer Chefin benannt worden war und den Namen erhalten hatte, den Annas Eltern einst für sie ausgesucht hatten. Annina! Warum Tante Rosi, bei der sie aufgewachsen war, daraus den soliden Namen Anna gemacht hatte, ahnte Graziella nicht. Und das durfte sie unter gar keinen Umständen erfahren. Nicht auszudenken, welches Gerede in Siena einsetzen würde, wenn sie dahinterkäme. Graziellas Mutter hatte schon ihre liebe Mühe, für eine Frau von über sechzig Verständnis aufzubringen, die Miniröcke trug und auf einen BH verzichtete.

Signor Pancole hängte die Zapfpistole in die Tanköffnung und lehnte sich an die Beifahrertür. Das sichere Zeichen dafür, dass er etwas zu erzählen hatte. Anna erfuhr in atemberaubendem Tempo, dass Signor Pancole dem Sohn des reichsten Hotelbesitzers von Siena Kredit gewähren musste, wenn der Ragazzo tanken wollte, weil der von seinem Vater ziemlich kurzgehalten wurde. Aus gutem Grund, wie Anna gleich hinterher erzählt bekam. Sie musste sich anhören, dass Signor Pancole mal wieder betrogen worden war, und das sogar von einem Porschefahrer. Dass noch am selben Tag eine Dame seine Toilette benutzt hatte, die sehr vornehm ausgesehen, sich aber auf seinem stillen Örtchen einen Schuss gesetzt hatte. Und dass er von seinem Bruder, dem Metzger, erfahren hatte, dass Signora Baracchi gern Fleischabfälle für ihre beiden Hunde mitnahm, aber im Verdacht stand, daraus eine Suppe für ihren Mann zu kochen.

Schließlich folgte die Lobhudelei auf sein Töchterchen, damit Anna nicht auf die Idee kam, Graziella anders als fleißig, ehrlich und emsig zu bezeichnen, dann war der Tankprozess beendet. Bevor Signor Pancole mit Annas Kreditkarte in das kleine Häuschen ging, in das neben dem ganzen Zubehör, das er dort lagerte, nur noch er selbst, aber kein Kunde mehr passte, zeigte er zur Straße und tippte sich dann an die Stirn. »Schauen Sie sich das an! Die Leute werden immer verrückter.«

Anna drehte sich um und lächelte. Ja, diese Eselwanderungen, die neuerdings in der Toskana erfolgreich angeboten wurden, kamen ihr selbst auch kurios vor. Angeblich war das Wandern an der Seite eines solchen Grautieres stressfrei, viel entspannter als an der Seite eines Ehepartners, das leuchtete natürlich spontan ein. Man konnte, wenn man wollte, seine Führungsqualitäten testen, was neben einem Lebensgefährten ja nicht selten zum Abbruch des Urlaubs, wenn nicht gar zur Trennung führte. Man übte, sich mit einem störrischen Lebewesen zu einigen, was für die meisten Ehefrauen ohnehin zum täglichen Allerlei gehörte, und man begriff, dass Esel intelligente Wesen waren, die gern ihre Grenzen austesteten. Es war also beim Eselwandern viel für den Verlauf einer zufriedenstellenden Ehe zu erlernen. Vielleicht war so eine Eselwanderung auch eine gute Erfahrung für Eltern pubertierender Kinder.

Aber für Anna? Nein, sie war Witwe und hatte es nicht mehr nötig, für den glücklichen Verlauf ihrer Ehe zu ungewöhnlichen Mitteln zu greifen, und ihre Tochter war weiß Gott aus der Pubertät heraus. So war das einzige Argument, das sie wirklich vom Eselwandern überzeugte, die Tatsache, dass man sein Gepäck nicht selber tragen musste. Das übernahm der Esel, ohne zu murren, was man ja von einem Ehemann im Allgemeinen nicht erwarten durfte. Der buckelte sich das Gewicht zwar auf, weil er schließlich zum starken Geschlecht gehörte, murrte aber gewöhnlich ohne Unterlass.

Der Eselwanderer, der gerade an der Tankstelle von Signor Pancole vorbeitrottete, war ein deutscher Tourist. Anna hörte, wie er mit dem Tier schimpfte. »Wenn du noch einmal furzt, kannst du was erleben! Dann lasse ich die Leine los und gehe ohne dich weiter, das sage ich dir.«

Der Esel schien seine Worte für bare Münze zu nehmen. Er wechselte in einen munteren Trab, als fühlte er sich nicht mehr verpflichtet, sich dem Tempo seines Leinenhalters anzupassen.

»Stopp! Langsamer!«

Aber der Esel dachte nicht daran. Er beschleunigte sein Tempo sogar. Anna konnte beobachten, wie sich gut dreihundert Kilogramm Eselmasse die Serpentine hinabbewegte, verfolgt von knapp hundert Kilogramm Touristenmasse. Der Mann hatte längst die Leine fahren lassen und rannte nun wohl hauptsächlich seinem Gepäck hinterher.

Lachend nahm Anna die Kreditkarte aus den Händen des lachenden Signor Pancole in Empfang, bestieg lachend ihr Auto, wendete lachend und bog lachend in die Straße ein. Ein paar Hundert Meter weiter sah sie lachend, dass der Esel friedlich graste und der Tourist auf ihn einredete, weil er weiterwollte.

Sie lachte noch, während sie sich der Stadt näherte. Vor ihr lag eine lange, sandige Piste, auf die mehrere schmale Wege zuliefen, die gelegentlich von niedrigem Gehölz gesäumt waren. Geradezu ideale Pfade für Eselwanderungen. Verrückt, worauf sich Menschen einließen, die ihre Mitte finden wollten, ohne zu ahnen, was sich ihnen dort zeigen würde. Häufig waren hier Menschen unterwegs, die sich nicht von Touristenströmen mitreißen lassen wollten, allerdings nicht ahnten, dass die Alternativen von denselben Anbietern ausgedacht worden waren, die auch Kegeltouren in die Türkei organisierten.

Anna wurde von einem flotten Cabrio mit Münchner Kennzeichen überholt, an dessen Steuer eine Frau saß, die wild gestikulierte, neben ihr ein Mann, der sich duckte, als hätte er Angst vor jeder Kurve, die sie waghalsig schnitt. Anna nahm das Gas weg, um den Abstand zu vergrößern. Wenn sich eine Fahrerin mit ihrem Beifahrer stritt, musste man immer mit einer unmotivierten Vollbremsung rechnen, mit leichtsinnigen Überholmanövern und jeder Menge Unaufmerksamkeit.

Da geschah es auch schon! Ein ganzes Stück vor ihr kam das Cabrio in einer Staubwolke zum Stehen. Die Fahrerin sprang heraus, eine große, schlanke Frau mit atemberaubender Figur, das war sogar auf die Entfernung zu erkennen. Sie riss den Kofferraumdeckel hoch, zerrte zwei Reisetaschen heraus, ließ sie achtlos zu Boden fallen und schwang sich wieder hinters Steuer. Währenddessen war ihr Beifahrer ausgestiegen, so bedächtig wie jemand, der sich auf einen Streit nicht einlassen will oder sich durch pures Aushalten als Sieger fühlt. Er schaffte es gerade noch, die Tür zuzuwerfen, bevor die Fahrerin wieder Gas gab. Mit den Händen in den Hosentaschen stand er da und sah dem Cabrio nach wie jemand, der eine schwere Arbeit vollbracht und sich den Feierabend verdient hatte.

Anna bremste, um ihm ihre Hilfe anzubieten, in diesem Augenblick trat eine Frau mit einem Esel an der Leine aus einem Seitenweg. Sie sprach ihn an, und er ließ die beiden Reisetaschen stehen, die er gerade anheben wollte. Die Eselwanderin schenkte dem Mann ein Lächeln, und er beantwortete es mit zwinkernder Zustimmung, als hätte sie ihm ein Kompliment gemacht. Nicht einmal der Esel konnte das Knistern banalisieren, obwohl er es versuchte. Er tat genau das, was vor wenigen Minuten der andere Eselführer schimpfend beanstandet hatte, und ließ so laut einen fahren, dass es durch die geschlossenen Scheiben in Annas Auto zu hören war. Ob Gasansammlungen in den Gedärmen dieser Tiere etwas Typisches war? Sie wusste es nicht, schließlich hatte sie noch nie näheren Kontakt mit einem Esel gehabt.

Auch das Lachen der beiden war im Auto zu hören. Anna drehte die Seitenscheibe herunter. »Wollen Sie nach Siena? Soll ich Sie mitnehmen?«

Der Mann drehte sich um und sah sie an, als fragte er sich, warum sie Chinesisch redete. Zwar war er aus einem deutschen Auto geworfen worden, aber Anna versuchte es trotzdem noch mit Italienisch und dann auch mit Englisch. Der Augenausdruck des Mannes veränderte sich nicht. Er schaute ähnlich drein wie der Esel an der Leine der Frau, der ein paar Gräser abgerupft hatte und die Welt betrachtete, als interessierte ihn nichts anderes als die Vorgänge in seinem Darm. Dösig schaute er gen Himmel, malmte gedankenvoll mit seinen gelben Zähnen und gab schließlich das charakteristische Geräusch von sich, das Kinder mit iah nachahmen.

Anna wurde schlagartig klar: Hier hatte vor ihren Augen die Liebe auf den ersten Blick zugeschlagen. Ein Magic Moment zwischen einer Eselführerin in unkleidsamen Bermudas und derben Wanderschuhen und einem Mann, der bereit schien, seine Gucci-Slipper beim Eselwandern zu ruinieren. Nur gut, dass die Eselführerin nicht wusste, dass der Mann von einer Frau mit Modelmaßen ausgesetzt worden war, sonst wäre ihr womöglich der Mut abhandengekommen. So aber blieb der Blick der Frau, wie er war: optimistisch, klar und zu allem bereit.

Sie war um die vierzig, schätzte Anna, auf eine natürliche, schlichte Art sehr hübsch, mit kinnlangen aschblonden Locken, die ihr Gesicht umrahmten, als wollten sie auf die blauen Augen und die lustigen Grübchen hinweisen. Der Mann war eindeutig hingerissen von ihrem Lächeln, das ihre Grübchen tanzen ließ. Und dass ihm ihre kleine, zierliche Figur mit der schmalen Taille und den kecken Brüsten gefiel, war auch nicht zu übersehen. Er selbst war groß und schlank, mit blonden Haaren, die sich an der Stirn bereits lichteten. Sein gutes Aussehen verdankte er vor allem seiner sympathischen Ausstrahlung, dem schmalen, intelligenten Gesicht, dem freundlichen Blick und dem vollen Mund, der so perfekt geschnitten war, dass jede Frau, die von ihm angelächelt wurde, sofort daran dachte, wie es sein mochte, von diesen Lippen geküsst zu werden. Er war geschmackvoll und teuer gekleidet, während sie nur darauf geachtet hatte, sich etwas Praktisches überzuziehen.

Anna legte den Gang wieder ein. »Soll ich wenigstens Ihr Gepäck mitnehmen?«

Der Mann schien nun in der Lage zu sein, einen vollständigen Satz zu bilden. Trotzdem war es die Frau, die antwortete: »Die beiden Taschen schafft Griseldis ohne Weiteres.«

»Griseldis?«

»So heißt mein Esel.«

»Schöner Name«, sagte der Mann und zeigte, dass seine Stimme so attraktiv war wie der Rest seiner Erscheinung. Er schien zu glauben, dass die Eselführerin Griseldis hieß.

Anna winkte zum Abschied und fuhr langsam an, für den Fall, dass die beiden es sich anders überlegen sollten. Sie sah in den Rückspiegel, dann gab sie Gas. Nein, sie hatten nur Augen füreinander. Er würde ihr folgen, wohin der Esel wollte, oder sie würde den Esel in die Wüste schicken, wenn der Mann es wollte. Die beiden würden schon zurechtkommen.

Anna fühlte sich mit einem Mal so gut, als wäre ihr selbst die Liebe begegnet. Oder ihrer Tochter. Oder ihrer Freundin. Dass sie die beiden nicht kannte, spielte keine Rolle. Sie war trotzdem mit ihnen zusammen glücklich.

»Liebe heißt das Lied …«

Der Text war nur eine schwache Erinnerung, die Melodie würde Peter Maffay vermutlich nicht wiedererkennen, aber das spielte keine Rolle. Sie war allein in ihrem Auto, niemand konnte hören, dass sie keinen Ton traf und ihre Stimme schrill wurde, wenn der Refrain auf die Hauptaussage des Liedes zusteuerte. »So, wie man anderen Briefe schreibt, weil man nicht weiß, wie man sie sonst erreicht, verschenken manche einen Ring, weil sie sicher sind, dass Gold Verständnis bringt …«

Himmel! Konnte es sein, dass Peter Maffay so schlecht gereimt hatte? Und so banal?

»Liebe heißt das Lied …«

Würde sie sich auch gern so heftig und spontan verlieben? War ihr das überhaupt schon mal passiert? Sie gestattete sich keine Antwort. Immerhin war sie über sechzig! Sie hatte eine Ehe hinter sich, die nicht mit einer spontanen Liebe begonnen hatte, eher mit Tante Rosis Ermahnungen, dass ein Mann wie Clemens genau das Richtige für Annina Kolsky sei. Die konnte schließlich froh sein, wenn sich ein solider Mann fand, der über ihre Abstammung hinwegsah. Doch hier in Siena hatte Anna sich immerhin einen Flirt mit Konrad erlaubt! Und es gab sogar einen höchst attraktiven Commissario, der sie einmal geküsst hatte. Dabei hatte sie doch gedacht, in ihrem Alter wäre so was längst vorbei.

Sie schoss die Via Garibaldi hinunter, bog vorm Hotel Minerva links ab und gleich wieder rechts. So schaffte man es, die Ampeln kurz vorm Wechsel auf Rot zu überlisten. Kurz darauf aber musste sie vor der Brücke auf der Via Memmi warten, das ließ sich leider nicht umgehen, so raffiniert man auch fuhr, durch die Kurven schlitterte oder Gas gab, wenn es objektiv unvernünftig war. Die Brücke war noch immer nicht repariert worden, und Anna hatte längst den Verdacht, dass es gar keine diesbezüglichen Absichten mehr gab. Die Stadt Siena war hoch verschuldet und gab nur dort Reparaturarbeiten in Auftrag, wo es absolut notwendig war. Es existierte eine Fahrspur, das musste reichen. Der Verkehrsfluss wurde durch eine Ampelanlage geregelt, und wer sich darüber aufregte, erreichte nichts, sondern hatte nur seine schlechte Laune abgebaut. Oder ausgebaut, je nachdem.

Anna spielte mit den Fingerspitzen eine Tonleiter auf dem Lenkrad und summte sie mit. »Liebe heißt das Lied …«

Nein, die Liebe auf den ersten Blick hatte sie weder bei Konrad noch bei Emilio gefunden, aber sie war glücklich, mit ihnen zwei gute Freunde in Siena gewonnen zu haben.

Waren Sie schon mal in Siena? Nein? Dann sollten Sie dieser wunderschönen Stadt unbedingt bald einen Besuch abstatten. Siena ist zauberhaft. Wer einmal auf dem Campo gesessen hat, wird immer wieder hinfahren wollen. Sie fragen, warum ich mir ausgerechnet Siena ausgesucht habe, wo es in Italien doch so viele andere schöne Städte gibt? Nein, nicht ich habe Siena ausgesucht, das waren meine Eltern. Sie haben den Traum von Siena jahrelang, bis zu ihrem Tod, in sich getragen, ohne ihn sich erfüllen zu können. Ich aber konnte es. Nicht nur für mich, sondern vor allem für meine Eltern.

Sie waren noch sehr jung, als sie zueinanderfanden, einer war der Handlanger des anderen. Meine Mutter stand meist Schmiere, während mein Vater zusammenraffte, was nicht niet- und nagelfest war. Als meine Mutter schwanger wurde, haben sie sogar geheiratet. Ganz spießig! Obwohl Verhaltensnormen ihnen nicht nur egal waren, sondern sogar verächtlich zurückgewiesen wurden. Es gibt ein Foto von ihrer Heirat, das der Standesbeamte gemacht hat. Meine Mutter in einem fadenscheinigen Sommerkleid und mein Vater in einem Frack, der aussah, als wäre er einem Zirkusdirektor geklaut worden. Das Rosengebilde, das meine Mutter in Händen hielt, kann unmöglich echt gewesen sein. Vermutlich eine Schaufensterdekoration, die den beiden gefallen hatte und daher mit dem übrigen Diebesgut bei ihnen gelandet war.

Jetzt stellen Sie sich das mal vor. Ein junges Pärchen mit einem Baby und bald schon mit zwei kleinen Kindern, meist ohne festen Wohnsitz, selten mit genug Geld und ständig auf der Flucht vor der Polizei! Einmal – das muss noch vor ihrer Hochzeit gewesen sein – waren sie bis nach Siena gekommen. Manchmal sehe ich sie vor mir, wenn ich selbst durch die Gassen gehe, wenn ich im Dom vor Ehrfurcht stumm werde oder auf dem Campo stehe und mich von der Sonne bescheinen lassen. Zwei junge Menschen, eher große Kinder, die sich an den Händen hielten und alles bestaunten, was sich ihnen bot. Eigentlich hatte ihnen Siena kein Glück gebracht, denn dort waren sie einem Polizisten aufgefallen und verhaftet worden. Dennoch war der Traum wach geblieben, der Traum von einer Zukunft in Siena. Wenn sie eines Tages genug zusammengestohlen hatten, wenn ihnen eine Entführung ein Vermögen eingebracht hatte, wenn sie sich auf Juwelendiebstahl spezialisiert hatten … dann wollten sie ein Hotel in Siena aufmachen.

Immer, wenn Anna in die Via Valdambrino einbog, entstand dieses leuchtende Gefühl in ihr, auch nach Monaten noch. Dieses rosagoldene Glück, den Traum ihrer Eltern erfüllt zu haben, die mokkabraune, süße Zufriedenheit, wenn sie die Buchstaben Albergo Annina leuchten sah, und der himmelblaue Triumph, wenn das Telefon läutete und es eine Buchungsanfrage gab. Leider noch nicht besonders häufig, aber Anna war zuversichtlich. Ihr Optimismus kämpfte unverdrossen gegen die Angst an, die manchmal den Sieg davontrug, zum Glück aber meist dem Zukunftsglauben unterlag. Wenn die Sommerferien anbrachen und die großen Hotels der Stadt ausgebucht waren, würde es viele Touristen geben, die im Albergo Annina anfragten. Ganz sicher! Und wer einmal bei Anna Wilders gewohnt hatte, würde wiederkommen!

Sie machte es auch diesmal so, als wäre sie eine waschechte Italienerin, gab an der Kurve Gas, raste bis zum Hoteleingang, bremste in einer Staubwolke und fuhr auf den Platz neben dem Haus, ohne den Blinker zu setzen. Clemens wäre vom Schlag getroffen worden, wenn er das hätte miterleben müssen.

Als sie in die Lobby trat, stand Graziella an der Rezeption und telefonierte. Anna hoffte auf eine Anfrage, bemerkte aber schnell, dass ihr Zimmermädchen mit einer ihrer zahlreichen Freundinnen redete, die sie gern von der Arbeit abhielten, wenn die Chefin nicht im Haus war. Graziella glaubte wohl wirklich, sie könnte Anna weismachen, mit einem potenziellen Gast, einem Lieferanten oder Reiseveranstalter zu telefonieren, wenn sie plötzlich den Tonfall veränderte und das Gespräch zügig beendete.

»Jemand, der ein Hotel mit Pool suchte«, behauptete sie und griff nach ihrem Staubwedel.

»Wie weit sind Sie?«, fragte Anna.

»Nur noch Zimmer sieben und acht.«

Graziella ging durch die Lobby auf die Tür zu, die zu den Hotelzimmern führte, mit wiegenden Hüften und einem Gang, als sähe ihr nicht die Hotelbesitzerin, sondern ein Eheaspirant nach. Signor Pancole hatte Anna schon mehrmals sein Herz ausgeschüttet. Wenn das so weiterging, hatte er Anna anvertraut, würde Graziella eher ein Kind angehängt als die Ehe versprochen. Da war Signor Pancole noch sehr konservativ. Seine Enkelkinder hatten gefälligst ehelich zur Welt zu kommen.

Anna wandte sich zum Eingang ihrer Wohnung, vor dem ein eiserner Krieger stand, der ihn bewachte. Als sie ihn auf einem Flohmarkt gekauft hatte, war sie tatsächlich der Meinung gewesen, er könne Gäste davon abhalten, in ihre Wohnung zu kommen, wenn die Rezeption gerade nicht besetzt war. Diese Hoffnung war leider nicht erfüllt worden, aber immerhin kündigte der rostige Ritter einen Besuch an, denn man kam nicht an ihm vorbei, ohne ein Klirren auszulösen, das Anna davor bewahrte, in Unterwäsche oder mit einer Gesichtsmaske über den Flur zu laufen.

Ihre Wohnung war klein, nicht zu vergleichen mit der geräumigen Eigentumswohnung, die sie mit Clemens in Stuttgart bewohnt hatte. Aber diese gehörte ihr allein, darauf kam es an. Sie konnte darin tun und lassen, was sie wollte, vor allem aber die Türen offen stehen lassen, was Clemens wahnsinnig gemacht hatte. Er schloss jede Tür hinter sich, weil es sich so gehörte, und wollte nicht einsehen, dass Anna sich bei geöffneten Türen am wohlsten fühlte. Sie hatte ihm einmal gestanden, warum das so war, und er hatte es sogar nachvollziehen können. Dennoch hatte er Abend für Abend während des Fernsehens missbilligend zur Wohnzimmertür geblickt, die halb offen stand. Und dass Anna den Schlüssel zurückdrehte, wenn Clemens vor dem Schlafengehen die Wohnungstür so verschloss, wie es eine Versicherung von ihren Versicherungsnehmern verlangte, durfte er nicht merken. Letztlich konnte er einfach nicht einsehen, dass Anna das Gefühl haben musste, jederzeit flüchten zu können.

»Flüchten? Wovor? Du wirst es niemals nötig haben zu flüchten.«

Natürlich hatte er recht. Dennoch brauchte sie den Blick auf das, was hinter der Tür lag, und die Sicherheit, die Tür aufreißen zu können, ohne erst nach dem Schlüssel greifen oder gar nach ihm suchen zu müssen. Ihre Mutter hatte oft davon gesprochen, wie das Gefühl gewesen war, wenn der Wärter den Schlüssel umdrehte. Zweimal! Giftgrün war die Verzweiflung gewesen, grell lodernd, in schwarzer Asche entstanden, mit einem rot glühenden Kern. Wut, Angst, Mutlosigkeit! Ihre Mutter hatte Gefühle oft in Farben ausgedrückt. So wie auch Anna es tat. Als sich herausgestellt hatte, dass sie die Synästhesie von ihrer Mutter geerbt hatte, war Anna gerührt gewesen. Konrad hatte den Begriff im Internet gefunden, und ihren Brüdern, die gelegentlich mit der Mutter zusammengelebt hatten, war in Erinnerung gewesen, dass die Gefühle und Eindrücke ihrer Mutter immer farbig gewesen waren.

»Sie war nicht zornig«, hatte Valentino erzählt, »sondern hatte eine holzkohleschwarze Wut im Bauch. Und sie freute sich nicht, sondern spürte ein hagebuttenrotes Pochen im Kopf.«

Auch Filippo hatte eine Erinnerung parat gehabt. »Sie hat mal erzählt, dass sie immer, wenn du sie im Gefängnis besucht hast, Gedanken in Zuckerwatterosa hatte und dass das Gitter, das euch trennte, so lange hellgelb schimmerte, bis du ein letztes Mal zurückgewinkt hattest. Und dann wurde alles, außen und innen, grafitgrau.«

Anna trat auf die Terrasse, deren Tür sie nicht abgeschlossen hatte, ehe sie ging. Die Sicherheit, die sie in Siena empfand, schimmerte in freundlichem Apfelgrün. Wenn in italienischen Touristenzentren auch viel gestohlen wurde, in der Via Valdambrino fühlte sie sich sicher. So unsinnig diese Zuversicht auch sein mochte.

Sie griff in ihre Haare, bog sich nach hinten und schüttelte den Kopf, als gäbe es eine lange Mähne, die in Form geschüttelt werden musste. Dabei war sie froh, dass sich ihr Pixie-Cut mit den Fingerspitzen frisieren und der Pony zurechtpusten ließ. Basta!

Im selben Augenblick bemerkte sie eine Bewegung am Zaun, hoch über ihr. Das Grundstück war deshalb erschwinglich gewesen, weil es viele Nachteile hatte. Der gravierende: Es war steil. Auf der Höhe der Terrasse gab es eine schmale ebene Fläche, dann stieg das Grundstück bergan bis zum nächsten, das sich hinter dem Zaun fortsetzte. Der Garten von Konrad Kailer und seinem Sohn Levi. Deren Haus lag an der Via Boninsegna, der Straße oberhalb der Via Valdambrino. Auf der Mitte des steilen Hangs stießen ihre Gärten aneinander.

Gerade stieg Konrad mit einem großen Schritt über den Zaun, kam ins Rutschen und wäre beinahe auf dem Hosenboden vor ihren Füßen gelandet. Wer auf dem steilen Gartenstück zu Fall kam, hatte Probleme, sich zu fangen. Starke Pflanzen, die Halt boten, gab es nicht, die Steine, mit denen der Vorbesitzer dem Hang etwas Stabilität hatte geben wollen, machten die Sache eher schlimmer. Aber Konrad fing sich rechtzeitig und stieg langsam und auf Sicherheit bedacht zu ihr herab.

»Da bist du ja wieder, Liebes. Soll ich dir beim Auspacken helfen?«

»Das wäre super.«

Typisch Konrad! Immer hilfsbereit, stets fürsorglich, selbst dann noch, wenn sie ihm am Abend vorher einen Korb gegeben hatte. Deswegen beschwerte Anna sich ausnahmsweise nicht darüber, dass er sie »Liebes« nannte, was sie nicht leiden konnte. Sie kam sich dann gegenständlich vor, wie etwas, was zum Liebkosen gemacht worden war, etwas, was sich leicht festhalten ließ. Ein Kuscheltier! Eine Steigerung wäre in diesem Fall nur noch »Kleines« gewesen.

Konrad erlaubte ihr nicht einmal, die leichten Salamis zu tragen. Als er alles in die Küche gebracht hatte, schlug er sich in die Handflächen, als hätte er staubige Backsteine gestapelt. »Bekomme ich dafür einen Espresso?«

Er bekam ihn. Und außerdem Annas Zusage, mit ihm ins Lampada Rossa zu gehen, der Pizzeria in seiner Straße.

Wie gefällt Ihnen Konrad? Würden Sie sich widerspruchslos von ihm »Liebes« nennen lassen? Ja, ja, Sie haben recht, Konrad meint es immer gut. Er ist ein durch und durch ehrlicher Mensch, geradlinig, verlässlich, glaubwürdig. Die Frau, die ihn liebt, darf sich glücklich schätzen. Nur … ich liebe ihn nun mal nicht. Ich mag ihn, sehr sogar, ich schätze ihn, ich bin gern mit ihm zusammen. Aber Liebe? Konrad hat mal gesagt, Liebe könne wachsen, aus Freundschaft könne Liebe werden, aber … warum soll ich mich darauf einlassen? Mir geht es gut als Single. Ich brauche keinen Mann. Jedenfalls keinen Lebensgefährten oder gar Ehemann.

Oder raten Sie mir etwa, mich auf Konrad einzulassen? Okay, Sie wissen noch nicht viel von ihm. Da ist es natürlich nicht ganz einfach, Ratschläge zu erteilen. Ich erzähle Ihnen ein bisschen von ihm. Konrad ist … nicht wirklich gut aussehend, aber durchaus präsentabel. Er ist hochgewachsen und grobknochig und hat auffallend große Hände und Füße. Sein riesiger Schädel ist beinahe kahl. Die paar verbliebenen Haare werden von Konrad gehätschelt und getätschelt, damit sie sich noch lange halten. Ein wenig Eitelkeit gibt es also doch bei ihm, was ich nicht für möglich gehalten hätte, bevor ich in seinem Badezimmer ein Mittel gegen Haarausfall entdeckte. Nein, fragen Sie mich bitte nicht, wie ich in sein Badezimmer geraten war.

Sie wollen es unbedingt wissen? Also gut, meinetwegen. Es gab da mal einen Abend, kurz nach meiner Ankunft in Siena, da wäre es beinahe passiert. Wir hatten viel Rotwein getrunken, Konrad hatte mir von seiner verstorbenen Frau erzählt und ich von Clemens, das hatte uns näher zueinander und schließlich ins Schlafzimmer geführt. Im allerletzten Moment war mir klar geworden, dass ich im Begriff war, einen schweren Fehler zu begehen. Ich bin heute noch froh und dankbar, dass Konrad mein Freund bleiben konnte und nicht unversehens mein Geliebter geworden ist.

Ricardo war nur zufällig Wirt geworden, er hätte auch eine Karriere als Heiratsvermittler anstreben können. Er liebte es, zwei Menschen zusammenzubringen, die nach seiner Meinung zueinander gehörten. Und wenn sich diese zwei partout nicht finden wollten, dann bemühte er sich, wenigstens für den einen, der allein bei ihm am Tisch saß, jemanden aufzuspüren, der … na, zumindest ein gewisses Interesse zeigte. Über einen neugierigen Blick, ein kurzes Gespräch, ein Kopfnicken, ein Lächeln konnte Ricardo dann so lange reden, bis man wirklich glauben konnte, da wäre jemand in Liebe entbrannt.

Wenn Anna allein zu ihm kam, setzte er sie immer mitten in den Raum, auch wenn sie um den Tisch in der Nische bat, der ihr am liebsten war. Aber der war angeblich immer reserviert, wenn Anna dort allein sitzen wollte. Nein, Ricardo platzierte sie stets so, dass der Blick jedes Mannes, der hereinkam, zunächst auf sie fallen musste. Und selbst wenn er sofort weiterschweifte, über die roten Lampen an der Theke, die karierten Stofftischdecken, die hölzernen Stühle mit den roten Sitzkissen, behauptete er später, der Mann habe nur deshalb seinen Blick nicht auf Anna ruhen lassen, weil er sich nicht verraten wollte. Ricardo aber war angeblich sofort aufgefallen, dass die Luft im Lampada Rossa zu knistern begonnen habe. »Soll ich ihn an Ihren Tisch bitten, Signora? Soll ich ihn fragen, ob er verheiratet ist? Soll ich …?«

»Unterstehen Sie sich, Ricardo!« Erst wenn sie damit drohte, sich ein anderes Stammlokal zu suchen, ließ er davon ab, sie verkuppeln zu wollen. Den Hinweis jedoch, dass eine Frau von über sechzig so schwer an den Mann zu bringen sei wie ein Rennrad an einen Achtzigjährigen oder ein Segway an die Bewohner eines Altenheims, ließ er niemals gelten. Ricardo war Italiener und hatte somit Charme und Ritterlichkeit mit der Muttermilch eingesogen. Er konnte, ohne rot zu werden, behaupten, eine Frau sei in jedem Alter schön und Anna sehe sowieso zehn Jahre jünger aus. Natürlich glaubte sie ihm kein Wort, aber Ricardo brachte solche Einwände immer mit großem Ernst vor, sodass jedes Mal eine kleine Hoffnung zurückblieb, er könne es vielleicht doch ernst gemeint haben.

Wenn sie mit Konrad im Lampada Rossa erschien, war es Ricardos größtes Anliegen, Anna dazu zu bringen, endlich zu merken, dass sie füreinander geschaffen waren. Dann war auch immer der Tisch in der Nische zu haben, und Ricardo servierte jedes Gericht augenzwinkernd und so, als wäre es ein Aphrodisiakum.

Konrad gefiel das, Anna mochte es nicht. Konrad machte dann gern anzügliche Bemerkungen, die Anna zu überhören versuchte. Erst wenn Ricardo seine Bemühungen endlich aufgab und wenn Konrad nicht mehr darauf reagierte, gab es nur noch diese Freundschaft zwischen ihnen, die Anna genoss. Dann gab es jede Menge Vertrauen und viel Nähe. Dann konnte Konrad ihr erzählen, dass er sich Sorgen um Levi machte, dem noch immer die Aufträge fehlten, damit sein Architekturbüro und die angeschlossene Bauunternehmung ertragreich arbeiteten. Und dann konnte sie ihm anvertrauen, dass ihre Tochter Henrieke noch immer keine Arbeit gefunden hatte und, wenn sie sich verliebte, garantiert wieder an den Falschen geriet. »Jahrelang war sie mit einem Windhund zusammen. Sie hat ihn erst durchschaut, als er in den Knast wanderte.«

Konrad seufzte und grinste gleichzeitig. »Wenn sie keine Kohle hat, kann sie dich wenigstens nicht in Siena besuchen.«

Anna war empört. »Wie kannst du so was sagen! Selbstverständlich freue ich mich, wenn Henrieke nach Siena kommt.«

Aber sie wusste natürlich, was Konrad meinte. Henrieke war mit dem neuen Leben ihrer Mutter nicht einverstanden, sie traute Anna nicht zu, ein eigenes Hotel zu führen, und sorgte sich darum, dass ihre Mutter sich überanstrengte. Sie war sicher, dass Anna zu alt für einen Neuanfang war, und empörte sich über alles, was ihrer Meinung nach für eine Frau in Annas Alter nicht angemessen war: eine freche Frisur, ein auffälliges Make-up, schriller Modeschmuck, Miniröcke, knappe Tops und bunte Flipflops. Wenn Henrieke im Albergo Annina auftauchte, behandelte sie Anna wie eine Mutter ihre heranwachsende Tochter, die gerade Gefahr lief, auf die schiefe Bahn zu geraten.

Anna seufzte. »Du hast recht, es ist immer sehr anstrengend mit Henrieke. Sie hat viel von Clemens. Für ihn musste auch immer alles so sein, wie es sich gehörte. Und was sich gehörte, war das, was die meisten anderen auch taten. Er hätte nie versucht, aus der Reihe zu tanzen.«

Was ihr noch auf der Zunge lag, schluckte sie herunter. Es war ein heroischer Akt für Clemens gewesen, Annina Kolsky zu heiraten, die Tochter von Schwerverbrechern, die Schwester von notorischen Hochstaplern. Sie war zwar bei Tante Rosi aufgewachsen, von ihr zu einer anständigen Frau erzogen worden und nie straffällig geworden, trotzdem musste Clemens über einen riesigen Schatten springen, bevor er Annina, die mittlerweile Anna hieß, einen Heiratsantrag machte. Damit hatte er seine große Liebe zu ihr bewiesen. Tante Rosi war sicher gewesen: »Einen Mann, der dich mehr liebt, findest du nicht.«

Sie hatte recht gehabt. Aber ein Mann, der seine Frau liebte, konnte sie manchmal trotzdem nicht glücklich machen …

Anna zuckte zusammen, als sich die Tür der Trattoria öffnete und ein Paar eintrat, das ihr ziemlich bekannt vorkam. Aufgeregt griff sie nach Konrads Arm. »Schau dir die beiden an!«

Commissario Emilio Fontana legte den Telefonhörer zurück und atmete tief durch. »Santo dio!« Anna hatte ihn angerufen. Seit Tagen suchte er nach einem Grund, sich mit ihr in Verbindung zu setzen, hatte aber bisher keinen gefunden. Vor ihrer Rezeption erscheinen und behaupten, er wäre zufällig in der Gegend gewesen? Ihre Nummer wählen und sich nach ihrer Gesundheit erkundigen? Fragen, wie das Hotel lief? Das alles war ihm so durchsichtig erschienen, dass er sich nicht dazu hatte entschließen können. Und jetzt war sie es gewesen, die ihn anrief! »Meraviglioso!«

Noch besser wäre es natürlich gewesen, wenn sie ihn kontaktiert hätte, weil sie einen Abend mit ihm verbringen, weil sie ihm vorschlagen wollte, mit ihm eine Ausstellung oder ein Konzert zu besuchen. Aber sie brauchte seine Hilfe, das war der Grund. Und das so schnell wie möglich. »Ecco! Besser als nichts!«

Seine Mutter wäre entsetzt, wenn sie wüsste, womit er sich zufriedengab. Sie lag ihm seit Wochen in den Ohren und präsentierte ihm täglich neue Ideen, wie er Anna daran erinnern könnte, dass es in Siena einen Commissario gab, der ein Auge auf sie geworfen hatte. Dabei ahnte Anna womöglich gar nichts von seinen Gefühlen. Mama wollte, dass er Anna ausführte, dass er ihr die Welt oder zumindest die Toskana zu Füßen legte, dass er ihr teure Geschenke machte, dass er sie täglich mit Blumen überhäufte … aber Emilio wusste, dass er Anna damit eher verschrecken als erfreuen würde.

Er stand auf und öffnete die Schranktür, in der er einen Spiegel angebracht hatte. Sorgfältig kontrollierte er den Sitz seiner Kleidung. Sein weißes Hemd war zum Glück makellos, seine dunkelblaue Hose ohne Falten, ohne ausgebeulte Knie. Qualität zahlte sich eben aus! Er fuhr sich durch die Haare, machte aus ihnen eine gepflegte Unordnung, stellte den Kragen seines Hemdes ein wenig auf und fühlte sich gerüstet, Anna gegenüberzutreten. Hoffentlich konnte er allein mit ihr sein. Wenn Konrad Kailer, der deutsche Ex-Kriminalbeamte, bei ihr war, würde es gleich viel weniger Spaß machen, ihr zu helfen. Dummerweise hatte Emilio keineswegs vergessen, dass er und Konrad sich an einem Abend im Lampada Rossa betrunken und anschließend geduzt hatten. Vielleicht dachte Konrad nicht mehr daran oder wollte nicht mehr daran denken? Dann könnten sie sich heute mit Signor anreden und die Distanz wiederherstellen, die vorübergehend verloren gegangen war.

Leichtfüßig begab er sich die Treppe hinab. Mama würde sich wundern, wenn sie ihn sähe. Sie war mit ihren über achtzig Jahren ja flotter unterwegs als er, der eigentlich lieber den Aufzug nahm, als sich auf den Treppenstufen abzumühen. Es sei ein Wunder, sagte sie gelegentlich, dass er mit seinen fast sechzig Jahren trotzdem schlank geblieben sei und aussehe, als verberge sich unter seinen Hemdsärmeln eine gut trainierte Muskulatur. Emilio grinste dann immer zufrieden. Es ging eben nichts über hochwertige Stoffe und Maßanfertigung!

Der Pförtner sah ihn erschrocken an, als er im Erdgeschoss ankam. »Mord? Brand? Terroranschlag?«

Er kannte den Commissario nur in voller Gemütsruhe, Hektik brach bei Emilio Fontana eigentlich nur aus, wenn Gefahr im Verzug war. Dass dieser Mann von seinen Gefühlen getrieben wurde, konnte der Pförtner sich nicht vorstellen. Kopfschüttelnd sah er dem Commissario nach, der nur als typischer Italiener durchging, wenn er am Steuer seines Wagens saß. Während er auf das Auto zutrottete, hätte man meinen können, er hätte alle Zeit der Welt, doch dieser Eindruck änderte sich schlagartig, sobald er den Motor gestartet hatte.

Schon in der engen Gasse am Dom, wo das Polizeirevier untergebracht war, hätte man ihm abgenommen, dass er ein Nachfahre des Formel-1-Fahrers Alberto Colombo war und, bevor er sich für den Polizeidienst entschloss, eine Karriere als Rennfahrer angestrebt hatte. Er verschreckte die Fußgänger mit Gasgeben im Leerlauf, hupte, wenn das allein nicht half, und gestikulierte durch das heruntergelassene Fenster so temperamentvoll, dass seine Mutter ihre helle Freude an ihm gehabt hätte. Und nachdem er dem Gewirr der engen Gassen entkommen war, gab er Gas …

Anna sah zum hundertsten Mal auf die Uhr und anschließend durchs Fenster. »Sie darf nichts merken, ehe wir mit Emilio gesprochen haben.«

Konrad seufzte und verdrehte die Augen. »Ich weiß genauso gut, was in so einem Fall zu tun ist. Schon vergessen, dass ich in Deutschland Kriminalhauptkommissar war?«

»Wir sind nicht in Deutschland, sondern in Italien. Da möchte ich keine Maßnahmen ohne die örtliche Polizei ergreifen.«

Konrad wollte das nicht einsehen, hörte aber auf, sich gegen Annas Wunsch zu wehren. »Hoffentlich beeilt er sich. Unser Commissario ist ja weiß Gott nicht der Schnellste.«

Anna schwieg. Sie blieb in der Nähe der Terrassentür stehen und starrte den Esel an, der auf dem schmalen Rasenstück graste. Die Satteltaschen waren nicht abgeschnallt worden, aber sie hingen schlaff herab. Samantha Lindenbaum und Ole Alfkes hatten ihr Gepäck herausgenommen, ehe sie ihre Zimmer bezogen.

Die beiden hatten Anna sofort erkannt, als sie das Lampada Rossa betraten. Und das, obwohl sie bei dem kurzen Zusammentreffen eigentlich nur Augen füreinander gehabt hatten. Sie waren zu dem Tisch gekommen, an dem Anna und Konrad saßen, hatten sich namentlich vorgestellt und erfreut die Einladung angenommen, sich dazuzusetzen.

»Wo ist der Esel?«, hatte Anna gefragt.

Und Samantha, die sich Samy nennen ließ, hatte geantwortet: »Wir haben Griseldis draußen angebunden. Sie lahmt. Ich glaube, sie braucht einen Tierarzt.«

Sie bestellte ein Glas Rotwein, während Ole Alfkes sich für einen Rosé entschied. Außerdem orderten beide eine Pizza Napoletana.

»Möglichst groß«, fügte Samy hinzu. »Ich habe einen Bärenhunger.« Dann wandte sie sich wieder an Anna und Konrad. »Kennen Sie ein Hotel in der Nähe? Mit einem Garten, wo Griseldis übernachten kann?«

Anna war hocherfreut über ihre neuen Hotelgäste und hoffte nur, dass Griseldis die wenigen Siena-Touristen, die zurzeit bei ihr logierten, nicht durch lautes Iah-Geschrei während der Nachtzeit verschreckte und diejenigen, die gern bei offenem Fenster schliefen, nicht durch unangenehme Gerüche und Darmgeräusche störte.

Während sie die Via Valdambrino entlanggingen, fragte sie sich, was die beiden wollten, ein Doppelzimmer oder zwei Einzelzimmer. Warum nicht nur die Eselführerin, sondern auch Ole Alfkes ins Albergo Annina einziehen wollte, war doch wohl klar.

Im Lampada Rossa hatte sie ihn heimlich beobachtet. Er verhielt sich merkwürdig, nachdem er neben Samy Platz genommen hatte. Es schien ihm wichtig zu sein, mit dem Rücken zu den anderen Gästen zu sitzen. Mittlerweile trug er eine Kappe mit einem großen Schirm, den er sich tief in die Stirn gezogen hatte, starrte auf seine Hände und versuchte, seinen Kopf zwischen den hochgezogenen Schultern zu verbergen. Wollte er nicht gesehen werden? Fürchtete er, dass er von der Frau, die ihn aus dem Wagen geworfen hatte, hier entdeckt wurde?

Auf dem Weg zum Hotel verhielt er sich ähnlich. Nachbarn kamen ihnen entgegen, die stehen blieben und sich nach dem Esel erkundigten, den Samantha mit sich führte. Kinder schlossen sich ihnen an, um Griseldis zu streicheln, Autofahrer hielten und fragten, was es mit dem Esel auf sich habe. Jedes Mal ließ Ole Alfkes sein Kinn auf die Brust sinken, starrte vor sich hin und blickte niemals denjenigen an, mit dem Anna redete, oder wandte sich ab und sah angestrengt in eine andere Richtung. Einmal holte er sogar seine Sonnenbrille hervor und setzte sie auf, obwohl die Sonne sich gerade hinter eine Wolke zurückgezogen hatte. Von der Verliebtheit, die ein paar Stunden vorher noch seine ganze Person durchdrungen hatte, war nichts mehr zu erkennen. Er schaute Samy nur noch selten an und wich ihrem Blick häufig aus.

Als Anna den Esel in den Garten führte und ein Hotelgast das Fenster öffnete, fiel ihr erneut das merkwürdige Verhalten von Ole Alfkes auf. Er drehte sich sofort um und ließ den Gast nur seinen Rücken sehen. Und als jemand hinaustrat, bückte er sich sogar und betastete Griseldis’ Fuß. Anna war davon überzeugt, dass es ihm nicht um den Esel, sondern darum ging, sein Gesicht zu verbergen. Sie wurde unruhig. Wen hatte sie sich da ins Haus geholt?

»Einzelzimmer habe ich nicht«, sagte sie. »Ich gebe Ihnen zwei Doppelzimmer zur Einzelnutzung.« Ohne aufzusehen, ergänzte sie: »Ist Ihnen das recht?«

Sie wartete auf Korrektur, rechnete damit, dass Ole Alfkes sagen würde, ein Doppelzimmer reiche ihnen, aber Samantha Lindenbaum antwortete mit fester Stimme: »Sehr schön! Vielen Dank.«

Nun nickte auch Ole Alfkes bestätigend. »Ich möchte ein paar Tage ausspannen. Dieses Hotel ist genau richtig.«

Vermutlich musste er sich überlegen, wie es für ihn weitergehen würde, nachdem die Beziehung zu der Frau im Cabrio zerbrochen war. Und sicherlich wollte er die Zeit nutzen, Samantha Lindenbaum für sich zu gewinnen. Anna war gespannt, ob es ihm gelingen würde. Der Blick, den er Samantha zuwarf, bevor sie in den Garten gingen, um ihr Gepäck aus Griseldis’ Satteltaschen zu holen, war jedenfalls verheißungsvoll. Seine Scheu und Zurückhaltung waren mit einem Mal vorbei. Sobald er mit Samy allein war, konnte er sogar den Blick heben und lächeln. Anna malte sich schon eine Hochzeit im Albergo Annina aus und einen gerührten Brautvater, der in seiner Rede davon erzählen würde, dass die Liebe der frisch Verheirateten an diesem Ort begonnen habe und deswegen auch im Albergo Annina gefeiert werden solle.

Sie banden den Esel fest und gingen durch den Frühstücksraum ins Haus zurück. Samantha ließ den Blick anerkennend über die hellgelben Wände wandern, über den terrakottafarbenen Fußboden und die Accessoires in Grün und Gelb. Ein frühlingsbunter Raum! Die Lobby schien ihr ebenso zu gefallen. Sie war schlicht möbliert und zurückhaltend gestaltet. Die Rezeption bestand aus hellem Holz, die kleine Sitzecke neben dem Getränkeautomaten aus zartgelbem Leder. Die Eingangstür stand weit offen und bot die Aussicht, die Anna von Anfang an geliebt hatte. Der Blick auf die Basilica di San Francesco war atemberaubend. Auch deshalb hatte Anna sich damals für dieses Haus entschieden und es zu einem Hotel umbauen lassen.

»Sehr geschmackvoll«, sagte Samantha Lindenbaum und eroberte damit Annas Herz. »Dieser Ausblick! Wahnsinn!«

Ole Alfkes war ebenfalls stehen geblieben, auch seine Augen wurden größer, als er die Basilica durch die geöffnete Tür betrachtete, aber er schwieg. Wortlos folgte er Anna und Samy durch die Tür, die sich zum Gästetrakt öffnete. Am Ende des Flurs, wo eine Treppe in die erste Etage führte, stieß Anna zwei Türen auf. »Nummer fünf und Nummer sechs! Ich hoffe, die Zimmer gefallen Ihnen.«

Sie blieb vor den geöffneten Türen stehen und wartete auf eine Reaktion. Samy erschien schon bald wieder auf der Schwelle. »Ganz bezaubernd!«

Ole Alfkes trat kurz darauf auf den Flur und nickte zustimmend. Auch er schien zufrieden zu sein, aber er sagte auch diesmal kein Wort.

»Ich helfe Ihnen beim Gepäck«, bot Anna an und ging mit den beiden neuen Gästen zurück in den Garten, wo Griseldis graste und sich nicht stören ließ, als ihre Satteltaschen geöffnet wurden. Sie hob nur ungerührt den Schwanz und kümmerte sich um ihre Darmentleerung. Anna hätte gern eine Schaufel unter ihren Schwanz gehalten, hatte aber gerade keine zur Hand. Der Geräteschuppen war zu weit entfernt, um Griseldis’ Ausscheidungen rechtzeitig aufzufangen und zu entsorgen. Anna hoffte, dass die Eselwanderin sich dafür zuständig fühlte, alles, was unangenehme Gerüche erzeugte, von den Hotelgästen fernzuhalten. Sie würde demnächst einen zarten Hinweis auf den Geräteschuppen geben, in dem sie alles aufbewahrte, was für einen ordentlichen Garten benötigt wurde.

Ole Alfkes trug seine beiden Reisetaschen ins Haus, Samy hatte ihre Kleidung und Wäsche lose in die Satteltaschen gestopft und brauchte Hilfe. Sie lud sich Wäsche, T-Shirts und Pyjamas auf den Arm, Anna folgte ihr mit Bermudas und Pullis. Sie sah zu, wie Samy alles in den Schrank sortierte, und dachte daran, wie oft sie davon geträumt hatte, dass die Möbel, die sie ausgesucht hatte, von Hotelgästen benutzt wurden. Und zwar so, wie Samantha Lindenbaum es tat, sorgfältig, überlegt, respektvoll. Sie reichte ihr die Bermudas und Pullis, die Samantha genau in die Fächer legte, für die auch Anna sich entschieden hätte.

»Jetzt hole ich den Rest!«, sagte sie lachend und ließ ihre Grübchen tanzen. Aber bevor sie das Zimmer wieder verlassen konnte, fragte sie: »Wie sind Sie nach Italien gekommen? Eine Deutsche, die in Siena ein Hotel aufmacht – sehr ungewöhnlich.« Freundlicherweise verzichtete sie auf den Zusatz: Und das in Ihrem Alter! Das machte sie für Anna noch sympathischer, als sie ihr sowieso schon war.

Sie freute sich über Samanthas Interesse. »Als mein Mann starb, wollte ich noch einmal ganz von vorne beginnen.«

»Sind Sie mit Herrn Kailer zusammen nach Italien gekommen? Er ist doch auch Deutscher. Oder haben Sie sich erst hier ineinander verliebt?«

Anna erschrak. Einen solchen Eindruck machten sie also? Sie musste künftig unbedingt verhindern, dass Konrad auf der Straße ihre Hand nahm, und vor allem musste er aufhören, sie »Liebes« zu nennen. »Wir haben uns erst hier in Siena kennengelernt. Er ist der Vater meines Architekten, mehr nicht. Ich will keine neue Beziehung.«

»Verstehe.« Samantha sah Anna nun noch aufmerksamer an.

Anna genoss den Stolz, der sie mit einem Mal durchflutete, und das Glück darüber, dass sie etwas gewagt hatte, was Clemens ihr niemals zugetraut hätte. »Es war mein eigener Entschluss. Und ich habe ihn ganz allein durchgesetzt.«

»Wow!« Samantha sah sie bewundernd an. »Darüber müssen Sie mir bei Gelegenheit mehr erzählen.«

»Gern, Frau Lindenbaum!«

»Sagen Sie doch bitte Samy zu mir. So nennen mich alle.«

Lachend gingen sie zurück, während Ole Alfkes seine Zimmertür schloss und den Schlüssel umdrehte. Als sie den Frühstücksraum durchquerten und ihn zum Garten hin verließen, hatte Anna das Gefühl, eine neue Freundin gefunden zu haben. Samantha war zwar viel jünger als sie, aber es schien etwas zu geben, was sie verband. Ein kleines Wunder, eine hübsche Verhüllung, eine Preisfrage mit einem zweifelhaften Gewinn, so kam es ihr vor. Anna schoss der Gedanke durch den Kopf, dass Samy Lindenbaum vielleicht an einem Punkt im Leben stand, an dem auch sie sich befunden hatte, als Clemens plötzlich starb und sich damit ganz neue Möglichkeiten eröffneten. Das musste dieses Gefühl der Seelenverwandtschaft erzeugt haben.

Als sie bei Griseldis ankamen, klingelte es in Samanthas Hosentasche. Sie nahm ihr Handy heraus und sah aufs Display. Anna erhaschte den Blick auf einen eingespeicherten Namen: Heiko. Samantha murmelte etwas Ablehnendes und steckte das Handy zurück, das in ihrer Tasche so lange weiterklingelte, bis die Mailbox ansprang.

»Das Regenzeug kann in den Satteltaschen bleiben«, erklärte Samy, während sie die linke Tasche leerte und Anna die rechte überließ. »Das Wetter soll schön werden.«

Anna hatte die Regenjacke und eine Regenhose herausgenommen, um an den restlichen Inhalt zu gelangen. Ein Kosmetiktäschchen, wie ihr schien. Sie hatte es herausnehmen wollen, aber dann diese merkwürdige Entdeckung gemacht …

Emilio kam mit quietschenden Reifen zum Stehen, sprang aus dem Wagen und warf die Tür so donnernd ins Schloss, dass der Mops von Signora Brunotto, die gerade vom Gassigehen zurückkam, zu Tode erschrak. Und das, obwohl er als weitgehend taub galt. Die Dynamik, mit der Emilio auf die Tür des Albergo Annina zulief und sogar eine Eingangsstufe übersprang, wurde leider von niemandem gewürdigt. Kein Hotelgast wurde auf ihn aufmerksam, und Anna war in der Lobby nicht zu sehen. Er wandte sich nach rechts zum Eingang ihrer Wohnung und berührte den eisernen Krieger, der leise klirrte und Emilios Eintreten ankündigte.

Anna erschien prompt in der Küchentür. »Gott sei Dank! Da bist du endlich.«

Er hätte sie gern an seine Brust gezogen und sie im Arm gehalten, während sie ihm erzählte, was geschehen war. Aber erstens war Anna viel zu unruhig, und zweitens saß Konrad Kailer in ihrer Küche. Er stand nicht auf, als Emilio eintrat, sagte nur »Ciao!« und machte nicht einmal Anstalten, ihm die Hand zu reichen. Beide Unterarme lagen auf der Tischplatte, dazwischen, direkt vor seiner Brust, eine Plastiktüte mit einem weißen Pulver.

Emilio vergaß, dass er Anna gern geküsst hätte. »Che cos’è?«

»Was das ist?« Konrad grinste. »Puderzucker. Der Kiosk neben dem Lampada Rossa führt zum Glück die wichtigsten Backzutaten, und Tiefkühlbeutel gibt es dort auch.«

Emilio setzte sich und nickte zustimmend, als Anna die Espressokanne hervorholte und ihn fragend ansah. »Warum hast du Tiefkühlbeutel und Puderzucker gekauft?« Verflixt, er hatte Konrad Kailer nicht duzen, sondern versuchen wollen, zum formalen Sie zurückzukehren. Nun hatte er diese Chance verpasst.

Konrad wies zu Anna, die hinter ihrem Rücken etwas hervorzog, was genauso aussah wie das, was Konrad vor sich liegen hatte. »Das habe ich in Griseldis’ Satteltasche gefunden.«

Emilio starrte sie verblüfft an. »Wer ist Griseldis?«

Anna wies zur Terrassentür. Griseldis schien dem Commissario dabei helfen zu wollen, einen Esel von einem normalen Hotelgast zu unterscheiden. Sie stieß ein heiseres Iah aus, wobei ihr Leib sich aufpumpte wie der Balg eines Dudelsacks.

Ein paar Minuten später wusste Emilio, dass ins Albergo Annina eine Eselwanderin eingezogen war, die von einem Herrn begleitet wurde, den sie erst kurz zuvor kennengelernt hatte und der sich nach Annas Ansicht merkwürdig verhielt.

Sie streckte Emilio die Tüte mit dem weißen Pulver hin. »Sieht das nicht aus wie Kokain?«

»Das ist Kokain«, sagte Konrad, ehe Emilio reagieren konnte.

Ende der Leseprobe