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Beste Freunde. Dunkle Geheimnisse. Ein Skiurlaub, der tödlich endet. Eine klirrend kalte Januarwoche im schwedischen Bergdorf Åre: Sechs Studenten verbringen die Skiferien in einem abgelegenen Ferienhaus. Sie feiern ausgelassen, spielen »Wahrheit oder Pflicht« und lassen sich auf immer riskantere Abfahrtsmanöver ein. Eines Morgens liegt eine junge Frau aus der Gruppe tot im eisigen Schnee. War es ein Unfall oder kaltblütiger Mord? Neue Scandi-Crime für alle Schweden-Krimi-Fans Mit jeder ungeklärten Frage steigt die Spannung unter den Freunden. Alle spielen sich gegeneinander aus, niemand kann glaubhaft darlegen, was in jener verhängnisvollen Nacht geschah. Auch die Bewohner von Åre machen sich verdächtig: Ihnen sind die rücksichtslosen Städter schon lange ein Dorn im Auge. Hanna Ahlander und Daniel Lindskog stehen vor ihrem härtesten Fall. Denn wie gelangt man an die Wahrheit, wenn alle lügen? »In Viveca Stens Krimis stimmt einfach alles.« Radio Bremen Der vierte Teil der Åre-Morde von Viveca Sten: Band 1: Kalt und still Band 2: Tief im Schatten Band 3: Blutbuße Band 4: Lügennebel Band 1 und 2 jetzt als sechsteilige Netflix-Serie
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Seitenzahl: 539
Veröffentlichungsjahr: 2025
Eine klirrend kalte Januarwoche im Norden Schwedens: Sechs Studenten verbringen die Skiferien im Bergdorf Åre. Sie feiern ausgelassen, spielen ›Wahrheit oder Pflicht‹ und lassen sich auf immer riskantere Abfahrtsmanöver ein. Eines Morgens liegt eine junge Frau aus der Gruppe tot im eisigen Schnee. War es ein Unfall oder kaltblütiger Mord?
Als niemand glaubhaft erklären kann, was in jener verhängnisvollen Nacht geschah, steigt die Spannung unter den Freunden. Alle spielen sich gegeneinander aus. Auch einige Einwohner von Åre machen sich verdächtig: Ihnen sind die rücksichtslosen Städter schon lange ein Dorn im Auge. Für Polizeikommissarin Hanna Ahlander und ihren Kollegen Daniel Lindskog wird der Fall zu einem Wettlauf gegen die Zeit – denn sie ahnen, dass es nicht bei einer Toten bleiben wird …
Von Viveca Sten ist im dtv außerdem erschienen:
Kalt und still
Tief im Schatten
Blutbuße
Viveca Sten
Ein Fall für Hanna Ahlander
Die Åre-Morde
Aus dem Schwedischen von Dagmar Lendt
Für Lennart, in guten und in schlechten Zeiten
Das Åre-Tal liegt in strengem Winterfrost.
Es ist so kalt, dass die Luft knistert, die Temperatur ist auf minus fünfundzwanzig Grad gefallen. Die breiten Hänge sind leer und verlassen, nicht einmal die blinkenden gelben Lichter der Pistenmaschinen sind mehr zu sehen. Sie haben ihr Tagwerk beendet.
Alles schläft in dieser Januarnacht.
Die Leiche liegt vor dem großen Blockhaus, hoch oben in dem Gebiet, das Sadeln genannt wird.
Eine Wange ruht auf dem Schnee, die Augen sind auf ewig geschlossen.
Schwere Wolken verhüllen die Sterne. Der Himmel ist schwarz. Das Haus verschmilzt mit der Dunkelheit und das schwache Licht der Außenbeleuchtung taucht das Grundstück in einen gespenstischen Schein.
Genug, um zu sehen, aber nicht gesehen zu werden.
Ein paar Schneeflocken schweben vom dunklen Himmel herab und legen sich auf das steif gefrorene Gesicht.
Und alles wird still.
Im Bahnhof von Uppsala geht es hektisch zu, als Fanny Smedsås durch die Menschenmenge hastet, um den Nachtzug nach Åre zu erreichen. Ihre beste Freundin Olivia Hallin ist zwei Schritte hinter ihr. Fannys hellbraune Haare fallen ihr ins Gesicht, während sie über das sperrige Skifutteral stöhnt, das sie geschultert hat. Sie und Olivia schleppen außerdem auch noch jeweils eine schwere Reisetasche. Unfassbar, wie viel Zeug man für eine Woche in den Bergen braucht, obwohl Fanny sich bemüht hat, so wenig wie möglich einzupacken.
Es ist kurz nach elf Uhr abends, schon in fünf Minuten soll der Zug abfahren. Olivia hat sich wie immer verspätet, das ist typisch für sie, aber Fanny hat sich mittlerweile daran gewöhnt. Sie wird selten sauer auf ihre beste Freundin.
»Da drüben sind die Jungs«, keucht Olivia.
Fanny blickt hoch. Weiter hinten auf dem Bahnsteig warten Olivias vier Kommilitonen aus dem Studiengang Wirtschaft, die auch mitfahren.
Ganz vorn ist Wille oder William Löwengren, wie er eigentlich heißt. Er steht wie immer breitbeinig da und gestikuliert lebhaft und nachdrücklich. Willes Selbstvertrauen ist unerschütterlich, manchmal beneidet Fanny ihn um diese Sicherheit. Wohl aus dem Grund fühlen sich Olivia und Wille zueinander hingezogen. Beide haben die gleiche Ausstrahlung, sie stehen automatisch im Mittelpunkt und sind Aufmerksamkeit gewohnt.
Neben Wille tritt Amir ungeduldig von einem Bein aufs andere. Er streicht sich mit der Hand durch sein dunkelbraunes Haar und grinst, als Wille irgendwas sagt, das in dem Lärm nicht zu verstehen ist.
Wie immer, wenn er mit Wille spricht, liegt Bewunderung in seinem Blick.
Fanny wünschte, Amir würde sie auf diese Art ansehen. Es passiert etwas in ihrem Körper, wenn sie ihn lächeln sieht. Sie kann den Blick nicht von seinen intensiven braunen Augen abwenden.
Sie hat Amir schon seit Monaten auf dem Radar, wenn sie mit Olivia abends in den Kneipen abhängt, aber er scheint kaum zu bemerken, dass sie existiert.
Sie hofft, dass sich das in Åre ändert.
Die Vorfreude kribbelt in Fanny, als sie ihre Tasche fester in die Hand nimmt. Sie studiert Politikwissenschaft und ist nicht so eng mit den Jungs befreundet wie Olivia. Eigentlich hätte sie in dieser Woche lernen müssen, aber als Olivia ihr vorschwärmte, wie viel Spaß sie haben würden, konnte sie nicht widerstehen. Außerdem ist die Unterkunft gratis, da sie das Ferienhaus von Willes Eltern nutzen dürfen.
Und Amir kommt mit.
Sie sieht ihn wieder an und spürt ein Ziehen in der Brust. Er sieht so wahnsinnig gut aus. Ob eine gemeinsame Woche in den Bergen Amir wohl dazu bringt, zu erkennen, was sie für ihn empfindet?
Pontus hat sie und Olivia entdeckt und winkt ihnen mit einer Hand zu.
»Hey, wir dachten schon, ihr verpasst den Zug«, sagt er in seinem breiten schonischen Dialekt.
Eine Flasche ragt aus seiner Jackentasche. Pontus hat anscheinend schon angefangen zu feiern, obwohl sie noch nicht mal aus Uppsala raus sind.
»Das wird so fucking nice!«, schreit Olivia und fällt Wille um den Hals. Im selben Moment kommt der Zug nach Åre aus Stockholm an. Während Olivia sich an Wille klammert, begrüßt Fanny die anderen freundlich. Sie winkt Emil zu, der ein paar Meter entfernt steht und telefoniert. Er ist aus Umeå und der Einzige, der nicht findet, dass Uppsala im Winter arschkalt ist. Emil beendet sein Telefonat und steckt das Handy ein, während die Zugtüren sich seufzend öffnen.
Fanny landet weit hinten in der Schlange der Reisenden. Sie versucht, Olivia zu entdecken, aber die scheint mit ihrem Gepäck im Zug verschwunden zu sein, also steigt Fanny mit breitem Lächeln ein.
Sie haben ein ganzes Liegewagenabteil mit sechs Plätzen gebucht.
In knapp neun Stunden werden sie in Åre ankommen.
Die Welt, die sich unter dem Propellerflugzeug ausbreitet, ist weiß und flach, als Polizeikommissarin Hanna Ahlander aus dem Fenster späht. In weiter Ferne sind Lichtpunkte zu sehen, was darauf hindeutet, dass sie sich einer Stadt nähern, aber sie könnte nicht sagen, welcher. Es ist fast sieben Uhr abends und sie sind auf dem Weg in den Norden.
»Wohin fliegen wir?«, fragt sie zum dritten Mal und wendet sich Henry Sylvester zu, der ihr gegenüber im cremeweißen Ledersessel sitzt.
Er macht ein geheimnisvolles Gesicht und sieht gleichzeitig zufrieden aus.
»Wie gesagt, das ist eine Überraschung.«
Er hebt das Champagnerglas, um mit ihr anzustoßen, als die Flugbegleiterin erscheint und fragt, ob sie nachschenken darf.
Hanna weiß nicht, was sie davon halten soll.
Als Henry sagte, er würde sich zur Feier ihres siebenunddreißigsten Geburtstags etwas einfallen lassen, hatte sie sich eine luxuriöse Nacht in einem der Hotels in Åre vorgestellt, da er sie gebeten hatte, eine Tasche mit ein paar Sachen zum Übernachten zu packen. Als sie dann zum Flugplatz Molanda außerhalb von Järpen fuhren, wo eine Maschine auf sie wartete, war sie sprachlos. Normalerweise versucht sie zu verdrängen, dass Henry Sylvester ein äußerst erfolgreicher Finanzinvestor ist, weil sein enormer Reichtum sie eher belastet. Aber heute, wo sie zum ersten Mal in ihrem Leben in einem Privatflugzeug sitzt, lässt es sich nicht ignorieren.
Dann ermahnt sie sich, mit dem Grübeln aufzuhören und einfach das Jetzt zu genießen.
Hanna hebt das Kristallglas und stößt mit Henry an. Im sanften Licht der Kabinenbeleuchtung ist er auffallend attraktiv. Aus seinen tief liegenden Augen strahlt Intelligenz, sein markantes Profil signalisiert Stärke und Zuversicht.
Sie spürt ein Kitzeln unterhalb des Bauchnabels.
Hanna lehnt sich im Sessel zurück, trinkt noch einen Schluck und lässt die Champagnerperlen langsam über die Zunge rollen. Sie versucht sich zu entspannen, ausnahmsweise mal loszulassen und sich einfach Henrys Führung anzuvertrauen. Das ist eines der Dinge, die sie wirklich an ihm mag: dass er so selbstsicher ist. Es scheint ihm nicht das Geringste auszumachen, dass seine Freundin eine Polizeikommissarin ist.
Es ist das erste Mal, dass sie so etwas erlebt, und sie genießt es, dass sie sich weder zurücknehmen noch ihre berufliche Rolle herunterspielen muss. Etwas, das sie bei anderen Männern oft hat tun müssen.
Aus den Lautsprechern ist die Stimme des Piloten zu hören.
»Wir nähern uns langsam unserem Flugziel. In etwa fünfzehn Minuten werden wir in Kiruna landen.«
Hanna blickt auf.
Kiruna?
Sie wirft einen Seitenblick auf Henry, der immer noch ein geheimnisvolles Gesicht macht. Was hat er sich bloß ausgedacht? Kann es sein, dass sie unterwegs zum Eishotel in Jukkasjärvi sind?
Hanna kennt das berühmte Hotel, das jedes Jahr neu aus dem Eis des Flusses Torneälv erbaut wird, nur vom Hörensagen. Eine Reise dorthin ist nicht unbedingt etwas, das man sich als Polizistin leisten kann.
»Geht es ins Eishotel?«, fragt sie versuchsweise, um ihm mehr Informationen zu entlocken.
Henry schüttelt den Kopf.
»Nope.«
»Komm schon«, sagt Hanna. »Gib mir doch wenigstens einen kleinen Tipp.«
Henry schüttelt wieder den Kopf und Hanna sieht ihm an, dass er es genießt, sie zappeln zu lassen.
»Du bist wie ein neugieriges Kleinkind«, sagt er. »Hast du noch nie gehört, dass Geduld eine Tugend ist?«
Hanna rümpft die Nase.
»Geduld ist nicht meine Stärke.«
Henry hebt die Hände in gespielter Resignation.
»Davon kann ich inzwischen ein Lied singen.«
Wenn Hanna ihn so ansieht, ist sie immer noch überrascht, dass sie ein Paar geworden sind. Henry ist ein Milliardär, der in der High Society von Stockholm und Saint-Tropez zu Hause ist. Sie ist eine gewöhnliche Polizistin, die in einem dünn besiedelten Landstrich Schwedens lebt, mit einem Gehalt, das meist gerade so bis zum Monatsende reicht.
Sie sind jetzt seit ungefähr acht Monaten zusammen, aber Hanna hat noch keiner Menschenseele etwas davon erzählt. Nicht einmal ihrer zehn Jahre älteren Schwester Lydia, der sie mehr vertraut als irgendeinem anderen Menschen auf der Welt.
Während Henry sich überall mit ihr zeigen will, gibt Hanna sich alle Mühe, die Beziehung geheim zu halten.
Auch Daniel, ihrem engsten Kollegen und Dienstpartner, hat sie noch keinen Ton davon gesagt. Er hat genug mitgemacht im vergangenen Jahr, nach der Trennung von seiner Lebensgefährtin Ida. Sein neues Leben ist nicht einfach, wie Hanna aus den wiederkehrenden Gesprächen weiß, die sie auf ihren gemeinsamen Fahrten zwischen Åre und Östersund führen. In Östersund ist die Abteilung Schwerkriminalität angesiedelt, die Dienststelle, der sie beide formal angehören.
Ihm dann zu erzählen, dass sie selbst eine neue Beziehung eingegangen ist, wäre taktlos gewesen, das redet sie sich jedenfalls ein.
Daniel weiß auch nicht, welche Gefühle sie für ihn hatte, bevor sie sich auf Henry eingelassen hat.
Hanna lehnt die Stirn an die Fensterscheibe, um sich von ihren Gedanken abzulenken. Warum denkt sie überhaupt darüber nach, wenn sie doch auf dem Weg in den Traumurlaub sind? Sie sollte sich auf Henry konzentrieren, der sich all die Mühe gemacht hat, und nicht in so altem Gerümpel wie unerwiderten Gefühlen für einen Kollegen herumkramen.
Henrys Stimme holt sie in die Gegenwart zurück.
»Gut, einen kleinen Tipp sollst du haben«, sagt er und trinkt den letzten Rest aus seinem Glas. »Wenn wir in Kiruna gelandet sind, wartet ein Hubschrauber auf uns.«
Hanna runzelt die Stirn.
Ein Hubschrauber?
Soweit sie weiß, ist es von Kiruna nach Jukkasjärvi nicht besonders weit. Es kann kaum den Aufwand wert sein, vom Flugplatz mit dem Hubschrauber dorthin zu fliegen, vor allem, wenn man bedenkt, was das wahrscheinlich kostet. Außerdem darf ein Hubschrauber im Dunkeln doch gar nicht fliegen, zumindest nicht ohne Sondergenehmigung.
Obwohl, bei Henry weiß man nie. Für ihn ist nichts unmöglich.
The rich are different, hat sie mal gelesen. Das stimmt. So viel hat sie gelernt, seit sie begonnen haben, sich zu daten. Es ist nicht so, dass Henry versucht, sie zu beeindrucken. Er ist niemand, der mit Geld um sich wirft oder arrogant auftritt, nur weil er wahnsinnig reich ist.
Tatsächlich hat er verfügt, dass der überwiegende Teil seines Vermögens nach seinem Tod an eine Stiftung gehen soll, nicht an seine drei Söhne.
Aber da ist etwas anderes, das mit unbegrenzten Einkünften einhergeht. Als würde es Henry eine Art Rüstung verleihen.
Niemand kann ihm etwas anhaben, er hat unbeschränkte Handlungsfreiheit.
Was macht es mit einem Menschen, wenn man nie darüber nachdenken muss, wie viel etwas kostet? Das ist eine Position, die Henry von neunundneunzig Prozent der Menschheit unterscheidet, und Hanna hat sich oft gefragt, ob sie ihn deswegen beneiden oder verabscheuen soll.
Grundsätzlich ist sie der Meinung, dass niemand ein solches Einkommen haben sollte; das ist weder gesund noch gerecht. Sie könnte auch ausrasten bei dem Gedanken, was sie und ihre Kollegen verdienen, obwohl sie im Dienst ihr Leben riskieren.
Aber es ist nicht Henrys Schuld, dass der Staat seine Polizeikräfte nicht nach Verdienst bezahlt.
Er beugt sich vor, streicht ihr leicht über die Wange. Der Duft seines Herrenparfüms steigt Hanna in die Nase, eine verführerische Mischung aus Zedernholz und Bergamotte mit einer Basisnote von Vetiver. Ein Duft, nach dem sie inzwischen fast schon süchtig ist.
»Es wird dir gefallen«, sagt er weich. »Aber du solltest dich entspannen. Vertrau mir.«
Vertrauen ist nicht ihre stärkste Seite, vor allem nicht, seit ihr Ex-Lebensgefährte sie monatelang betrog, bevor er Schluss machte, aber Hanna beschließt, dass Henry recht hat.
Ausnahmsweise wird sie sich selbst erlauben, umsorgt zu werden.
Morgen ist ihr Geburtstag.
Polizeikommissar Daniel Lindskog geht durch die Wohnung und sammelt Alices bunte Spielsachen ein. Gestern hat er seine Tochter nach der Arbeit bei Ida abgeholt, jetzt bleibt sie übers Wochenende bei ihm. Anschließend hat Ida sie zwei Tage und danach ist er wieder an der Reihe.
Zwei-zwei-drei-System nennt sich das.
Zwei Tage bei Mama, zwei Tage bei Papa und dann Freitag, Samstag und Sonntag bei Mama. Danach wird getauscht. Und dieses Wochenende verbringt Alice bei Daniel.
Es war Idas Vorschlag, da Alice noch so klein ist, erst zweieinhalb. Es sei zu hart, sich wochenweise abzuwechseln, war ihr Argument. Ida hat den Gedanken nicht ertragen, Alice eine ganze Woche lang nicht zu sehen.
Daniel hatte nicht die Kraft, dagegen zu protestieren, obwohl er insgeheim findet, dass es ein zu großes Hin und Her ist. Jedes Mal, wenn Alice sich daran gewöhnt hat, bei ihm zu sein, muss sie wieder zurück zu Ida. Außerdem passiert es ziemlich oft, dass Ida im letzten Moment doch lieber tauschen oder Alice noch einen Tag länger behalten will. Das bringt viel Unruhe in den Alltag und macht es Daniel schwerer, seinen Dienst zu planen.
Die Vereinbarung mit seiner Vorgesetzten, Hauptkommissarin Birgitta Grip, die die Abteilung Schwerkriminalität in Östersund leitet, sieht so aus, dass er mindestens zwei Tage pro Woche von dort aus arbeitet, obwohl er in Åre wohnt.
Daniel geht leise in Alices Zimmer und legt die letzten Spielsachen in eine blaue Plastikkiste, die an der Stirnwand steht. Alice schläft tief und fest, sie liegt auf dem Rücken und hat ihr Lieblingsplüschtier im Arm. Es ist ein hellbraunes Rentier mit sanften Augen und weichem Stoffgeweih, das Renis heißt. Aber Alice spricht es »Jenis« aus.
Er steht an ihrem Bett und riecht den Duft des Kindershampoos, ein Hauch von frisch gepflückten grünen Äpfeln, der ihn an sonnige Tage erinnert und an Badeausflüge an den Ottsee mit seinem herrlichen Sandstrand.
Alices Wangen sind rosig, die kleinen Hände mit den winzigen Fingerchen ausgestreckt. Am liebsten würde er sie hochnehmen und in sein eigenes Bett tragen, um ihr nahe zu sein, aber er will ihre Nachtruhe nicht stören, wo sie doch so friedlich schläft.
Seine Tochter ist fast so alt wie er damals, als sein Vater ihn und Mama Francesca im Stich ließ. Als Alice geboren wurde, hat er sich geschworen, ihr eine ganz andere Kindheit zu geben, eine sichere und liebevolle Kindheit mit einem Vater, der für sie da ist und es immer sein wird.
Daniel hat sein Leben lang von einer eigenen kleinen Familie geträumt. Dennoch hat er die Beziehung mit Ida nicht aufrechterhalten können, trotz aller guten Absichten.
Alice war erst zwanzig Monate alt, als seine Lebensgefährtin ihn verlassen hat.
Ich weiß nicht, ob ich noch in dich verliebt bin.
Er weiß noch genau, wie die Worte gefallen sind, als Ida mit Tränen in der Stimme ihrer Beziehung den Todesstoß gab.
Das war letztes Jahr am Ostermontag. Sie saßen am Küchentisch. Er hatte gerade eine ungewöhnlich anstrengende Ermittlung abgeschlossen, die mit einem brutalen Messermord in der Copperhill Mountain Lodge, dem bekannten Designhotel östlich von Åre, begonnen hatte.
Das Timing war das denkbar schlechteste. Daniel war völlig erschöpft und hatte Mühe, die Botschaft in sich aufzunehmen. Er hatte nur auf Idas tränenerfüllte Augen gestarrt, nahezu unfähig zu verstehen, was sie meinte, obwohl die Worte keinen Platz für Zweifel ließen.
Schon am nächsten Tag war sie zu ihrer Mutter nach Järpen gezogen und danach nie mehr zurückgekommen. Nur wenige Monate später war sie bei Gustav eingezogen, ihrem jetzigen Freund, einem Skiguide und alten Kumpel aus der Zeit, als sie bei Skistar arbeitete.
Obwohl seitdem fast zehn Monate vergangen sind, fällt es Daniel immer noch schwer, sich mit Idas Entscheidung abzufinden. Rein verstandesmäßig weiß er, dass ihre Beziehung vorbei ist, aber nachts liegt er trotzdem wach und grübelt darüber.
Warum sie sich gegen ihn entschieden hat.
Warum es mit ihnen nicht funktioniert hat, obwohl es das war, wonach er sich so lange gesehnt hatte.
Daniel war bereit gewesen, alles zu tun, um eine Trennung zu vermeiden. Er hatte über ein Jahr lang eine Psychotherapie gemacht, um ein besserer Vater und Lebensgefährte zu werden. Deshalb hatte er Ida vorgeschlagen, eine Paartherapie zu machen.
Es dauerte eine Weile, bis er begriff, dass Ida … nicht wollte.
Sie wollte nicht mehr mit ihm zusammen sein.
Manchmal empfindet er das als den größten Verrat. Dass Ida nicht bereit war, für ihre kleine Familie zu kämpfen, sondern alles wegwerfen wollte, was sie zusammen aufgebaut hatten.
Dass es ihr nicht mehr bedeutet hatte.
Alices Decke ist heruntergerutscht. Daniel zieht die Bettdecke mit den aufgedruckten Teddybären über den kleinen Brustkorb, der sich mit regelmäßigen Atemzügen hebt und senkt.
Er ist in der Dreizimmerwohnung in fußläufigem Abstand zur Polizeiwache geblieben und hat Ida für ihren Eigentumsanteil eine großzügige Ablösesumme gezahlt, um Streit zu vermeiden. Mit dieser Lösung war ihnen beiden am besten gedient, denn Ida hatte deutlich zu verstehen gegeben, dass sie noch einmal von vorn anfangen und sich eine andere Wohnung suchen wollte.
Zusammen mit Gustav.
Daniel seufzt müde und geht aus dem Kinderzimmer. Vor knapp einem Jahr wurde sein Leben auf den Kopf gestellt. Und er kann sich immer noch nicht erklären, was eigentlich passiert ist.
Fanny versucht, die Übelkeit zu unterdrücken. Im Abteil ist es heiß und stickig und aus dem Sitzpolster ihres Fensterplatzes dünstet es muffig. Sie hat deutlich mehr getrunken, als sie sollte, und ihr ist schwindelig.
Amir sitzt zwei Plätze weiter, aber er hat kaum in ihre Richtung geschaut, seit sie Uppsala hinter sich gelassen haben. Seine ganze Aufmerksamkeit gilt Wille, der wiederum nur Augen für Olivia hat.
Gerade sind sie durch Gävle gefahren und im Abfallkorb liegen schon zwei leere Schnapsflaschen. Alle haben ihren Plastikbecher in der Hand, die Lautstärke ist hoch und aus einem Lautsprecher, den Amir dabeihat, schallt Ed Sheerans neuester Hit.
Vor einer Weile hat jemand aus dem Nachbarabteil an die Wand gehämmert und dann kam der Schaffner und forderte sie auf, leiser zu sein. Aber kaum war er weg, drehte Amir die Lautstärke wieder voll auf.
Fanny sieht durch das schmutzige Zugfenster hinaus.
Die Winterkälte hat sich über das Land gelegt. Laut Wettervorhersage sollen in Åre die ganze Woche lang fünfzehn bis zwanzig Grad Frost herrschen.
Die dunkle Landschaft huscht vorbei, verschneiter Wald und weiße Felder lösen einander ab. Schweden schläft.
Wille beugt sich vor und hält einen kleinen Plastikbeutel mit weißem Pulver hoch.
»Willst du?«
Fanny schüttelt den Kopf, versucht aber, dabei zu lächeln. Sie steht nicht auf Drogen, hat Angst, die Kontrolle zu verlieren. Und sie ist müde, es war eine stressige Woche mit ewig langem Pauken von Politiktheorien.
Am liebsten würde sie sich hinlegen, damit die Übelkeit vorbeigeht. Aber niemand von den anderen scheint besonders scharf darauf zu sein, die Party zu beenden, und sie will kein party pooper sein. Außerdem braucht sie Hilfe beim Herunterklappen der obersten Liege, wenn sie sich langmachen will.
Ihr gegenüber lehnt Olivia sich an Willes Schulter, während sie ihren Becher mit dem rosafarbenen Drink, der zu gleichen Teilen aus Wodka und Preiselbeersaft besteht, an die Lippen setzt. Sie nimmt einen großen Schluck und prustet, sodass die Flüssigkeit in alle Richtungen spritzt.
»Scheiße!«, ruft Amir, der das meiste davon ins Gesicht bekommt.
Olivia verdreht nur die Augen und lacht darüber, dass ihm die rosafarbene Soße auf die Kleidung tropft. Sie ist in Hochform, hat wahrscheinlich Willes Angebot, mit ihm zu schlafen, nicht abgelehnt und wirft ihr schulterlanges rabenschwarzes Haar schwungvoll zurück, bevor sie einen neuen Schluck nimmt.
Wie üblich hat Olivia kein Problem, die ganze Nacht durchzufeiern. In der Hinsicht sind sie und Fanny ziemlich verschieden, obwohl sie seit dem Gymnasium beste Freundinnen und gemeinsam nach Uppsala gegangen sind, wo sie im Studentenheim auf demselben Flur wohnen.
Olivia verschwindet Richtung Toilette. Fanny würde sich jetzt wirklich gern hinlegen. Sie gähnt herzhaft und sieht aus den Augenwinkeln, dass Pontus reagiert.
»Sind wir so verdammt langweilig?«, fragt er laut.
Es ist deutlich, dass er Fanny meint.
Pontus hätte es scherzhaft sagen können, aber sein Tonfall gibt zu verstehen, dass er sich provoziert fühlt. Als würde er es persönlich nehmen, dass sie nicht genauso ausgelassen feiert wie alle anderen.
Er hat den Alk organisiert, worauf er auch gleich hingewiesen hat, nachdem sie eingestiegen waren. Inzwischen ist er ziemlich abgefüllt, so wie sie alle, aber Pontus lallt wesentlich stärker. Außerdem hat er vollkommen glasige Augen, der Schweiß glänzt auf seiner Stirn und sein T-Shirt hat große Flecken unter den Achseln.
Er wühlt in seiner Reisetasche und kramt eine neue Flasche Explorer-Wodka hervor, die er Fanny beinah wie eine Trophäe hinhält.
Sie schüttelt den Kopf, will keinen einzigen Schluck mehr trinken.
»Was’n los mit dir«, ruft Pontus laut. »Falsche Marke, oder was?«
»Ich mag einfach nicht mehr.«
Fanny schluckt, um die Übelkeit zurückzudrängen, und schickt Pontus einen Blick, der besagt, dass er aufhören soll. Aber Pontus denkt gar nicht daran. Er steht mit der Flasche in der Hand auf und beugt sich über Fanny. Er steht viel zu dicht vor ihr, sie kann seinen Achselschweiß riechen.
»Gib deinen Becher, ich füll nach.«
Das klingt wie ein Befehl.
»Ich möchte nichts.«
Plötzlich hat sie das Gefühl, dass die anderen sie anstarren, und wird rot. Blödmann. Was gibt es daran nicht zu begreifen?
»Logisch krissu Nachschub«, lallt er.
Er streckt den Arm aus und versucht, ihr den Becher aus der Hand zu nehmen, aber Fanny gibt ihn nicht her.
»Finger weg!«, fährt sie ihn an.
Amir, der die ganze Zeit mit seinem Handy beschäftigt war, schaut in ihre Richtung. Fanny wünschte, er würde das Ding weglegen und Pontus sagen, dass er aufhören soll.
Wieso unternimmt er nichts?
Pontus zerrt an ihrem Becher, bis Emil sich einmischt.
»Lass sie in Ruhe«, sagt er. »Sie will doch nicht.«
Emil zieht an Pontus’ Sweatshirt, sodass dieser beinahe das Gleichgewicht verliert, aber immerhin setzt er sich wieder auf seinen Platz. Er nuschelt ärgerlich irgendwas Unverständliches, schraubt den Verschluss der neuen Flasche auf und nimmt einen so großen Schluck, dass ihm die wasserklare Flüssigkeit aus den Mundwinkeln läuft.
Fanny versucht, Emil dankbar anzulächeln, aber es wird nicht mehr als eine Grimasse daraus. Sie würde gern etwas zu Pontus’ Benehmen sagen, erklären, was für ein Idiot er ist, aber sie hat Angst, dass er es mitbekommt und wieder zu stänkern anfängt.
»Wenn du dich hinlegen willst, kann ich dir helfen, die Liege herunterzuklappen«, sagt Emil.
Fanny nickt und Emil macht mit ein paar schnellen Handgriffen die oberste Liege klar. Er zieht die Leiter heran und hilft ihr hinaufzuklettern. Während sie sich hinlegt und mit einer Wolldecke zudeckt, bleibt er auf der Leiter neben ihrem Kopfkissen stehen.
Emil ist nett, denkt Fanny betrunken. Nur Pontus, der nervt.
Ihre Gesichter sind kaum eine Handbreit voneinander entfernt, sie spürt seinen Atem an ihrer Wange.
»Schlaf gut«, sagt Emil und verschwindet aus ihrem Blickfeld, als er zurück auf den Boden springt.
Amir lacht über einen Kommentar von Wille. Fanny durchzuckt ein Schmerz, er hat kaum ein Wort mit ihr geredet, seit sie Uppsala verlassen haben. Sie dreht sich auf die andere Seite, mit dem Gesicht zur Wand, und tröstet sich damit, dass sie eine ganze Woche Zeit hat, sein Interesse zu wecken.
In Åre.
Der Himmel leuchtet in intensiven grünen und violetten Farbtönen, bei denen es Hanna beinahe den Atem verschlägt. Der Hubschrauber fliegt zwischen steilen schneebedeckten Berghängen hindurch, während rundherum das Nordlicht flammt.
Es sieht aus, als hätte Gott persönlich zu einem breiten Pinsel gegriffen, um die pechschwarze Polarnacht bunt anzumalen.
Aurora borealis.
Es ist unbeschreiblich schön, mit breiten smaragdgrünen Bändern, die über das Himmelszelt tanzen.
»Wow«, sagt Hanna in das Mikrofon des Headsets, mit dem man sie und Henry ausgestattet hat, damit sie sich trotz des Motorenlärms unterhalten können. »In echt habe ich es noch nie so groß gesehen.«
»Schön, oder?«, erwidert Henry und streckt den Arm aus, um ihre Hand zu drücken.
Er sitzt hinten, hat ihr den Platz neben dem Piloten überlassen, damit sie die Aussicht genießen kann. Es ist das erste Mal, dass sie zum Vergnügen mit einem Hubschrauber fliegt, bisher ist das nur im Dienst vorgekommen.
Da hatte sie keine Zeit, die Umgebung zu bewundern.
»Wir sind fast da«, sagt der Pilot.
Hanna will nicht, dass es schon vorbei ist. Sie könnte den Flug über diese Welt aus Schnee und Eis endlos fortsetzen.
Alles ist gleichzeitig nah und ganz weit weg.
Sie spürt einen Impuls, das dicke Seitenfenster zu öffnen, die Hand hinauszustrecken und die leuchtenden Farben zu berühren. Wenn sie den Blick nur für eine Sekunde senkt, bilden sich sofort neue fantasievolle Muster, ein Lichtertanz, der nie endet.
Sie sind seit ungefähr vierzig Minuten in der Luft und müssen sich an der Grenze zu Norwegen befinden. Es ist fast unmöglich, sich vorzustellen, dass es ein Hotel hier draußen gibt, tief in der Wildnis.
In diesem Moment betätigt der Pilot den Steuerknüppel und fliegt eine Linkskurve.
»Da vorn«, sagt Henry und zeigt auf einige Lichter, die im Abenddunkel auftauchen und schnell größer werden.
Als sie zur Landung ansetzen, entdeckt Hanna brennende Fackeln und flammende Feuerschalen. Ein großes braun gestrichenes Gebäude, umgeben von einer halbkreisförmigen Steinmauer, tritt aus den Schatten hervor. Mehrere kleinere Häuser ducken sich hinter dem größeren, als suchten sie gemeinsam Schutz vor der Polarkälte.
Hier kann niemand ohne Wärme und Gemeinschaft überleben.
»Wo sind wir?«, fragt sie, während der Hubschrauber sich Meter um Meter vor dem Haupthaus herabsenkt.
»Willkommen in der Niehku Mountain Villa«, sagt Henry lachend. »Hier werden wir deinen Geburtstag feiern.«
Im Zugabteil ist es still und dunkel, als Fanny aufwacht. Sie ist groggy, wahrscheinlich immer noch betrunken, und kann in der kompakten Dunkelheit nichts erkennen. Das Einzige, was zu hören ist, sind die schweren Atemzüge der Schlafenden und das rhythmische Rattern der Räder auf den Schienen, während der Zug durch die Nacht rast.
Irgendwas stimmt nicht.
Sie liegt auf dem Rücken und hat keinen Platz, um sich zu bewegen. Ihr Hinterkopf stößt an die Wand, sie fühlt sich eingesperrt.
Warum ist es so eng?
Schlagartig begreift sie und ihr wird eiskalt. Sie ist nicht allein auf der Liege. Ein fremder Geruch steigt Fanny in die Nase, eine Mischung aus Fusel und Schweiß.
Der Geruch ist viel zu nah.
Ihr wird übel.
Plötzlich wird sie sich der Hände bewusst, die ihren Körper abtasten. Unbekannte Finger streichen ihr über Schlüsselbein und Brüste, versuchen sich unter das T-Shirt zu schieben, in dem sie schläft.
Eine Hand zerrt am Reißverschluss ihrer Jeans und zwängt sich in den Hosenschlitz. Jemand keucht ihr schwer ins Ohr und presst sich mit einer solchen Kraft auf ihren Brustkorb, dass sie kaum Luft bekommt.
Fanny versucht sich zu orientieren, aber in ihrem Kopf dreht sich alles. Ihre Arme stecken unter der Wolldecke, sie kann sie nicht hervorziehen, um sich zu wehren. Sie begreift, dass sie um Hilfe rufen müsste, aber die Angst lähmt sie. Sie weiß nicht, was sie tun soll, liegt einfach da und hasst sich dafür, dass sie so passiv ist.
Als sie schließlich den Mund öffnet, kommt kein Laut heraus, es ist, als würde ihr auch die Stimme nicht gehorchen.
Soll sie hier vergewaltigt werden, inmitten ihrer Freunde, auf der Fahrt nach Åre?
Passiert das überhaupt wirklich?
Der Schwindel überwältigt Fanny, sie schließt die Augen.
Von einem der unteren Liegeplätze kommt ein Geräusch. Ein Knurren, und dann murmelt eine tiefe Stimme: »Ey, was machst du?«
Das Gewicht verschwindet so plötzlich, wie es aufgetaucht ist. Sie kann sich wieder rühren.
Alles ist wie immer.
Ein dumpfer Aufprall ist zu hören, als wäre der Unbekannte hinuntergesprungen und mit den Füßen auf dem Boden aufgekommen. Fanny rudert mit den Händen durchs Dunkel.
War da wirklich jemand oder hat sie das bloß geträumt?
Das Einzige, was zu hören ist, ist das rhythmische Rattern der Räder.
Und Fanny dämmert wieder weg.
Als das Taxi vor dem Haus von Willes Eltern in Sadeln hält, schnappt Fanny nach Luft. Ein riesiges rosarotes Blockhaus ragt vor ihren Augen auf. Das Haus nimmt fast das gesamte Grundstück ein und auf der Vorderseite ragt ein breiter hölzerner Balkon, gestützt von kräftigen Pfeilern, über einen steilen Abhang hinaus.
Das ist nicht gerade die kleine Berghütte, die Olivia beschrieben hat, als sie Fanny fragte, ob sie mitkommen will. Die Aussicht über das Åre-Tal ist geradezu filmreif, als wäre Disney höchstselbst da gewesen und hätte eine fantastische Winterkulisse aufgebaut.
Die Sonne strahlt so intensiv, dass Fanny die Augen mit der Hand beschatten muss. Aber das herrliche Wetter kann das ungute Gefühl, das die Zugreise hinterlassen hat, nicht vertreiben.
Als sie am Morgen im Liegewagenabteil aufwachte, eine gute halbe Stunde vor ihrer Ankunft in Åre, zitterte sie schon am ganzen Körper, noch bevor ihr bewusst wurde, warum sie sich so schlecht fühlte.
Dann fiel ihr die Nacht wieder ein, die fremden Finger, die ihren Körper befummelten.
Ist das wirklich passiert oder hat sie nur schlecht geträumt?
Fanny weiß es nicht genau, und das macht sie nervös und ängstlich. Sie schaut sich unruhig um; falls tatsächlich jemand versucht hat, sie zu betatschen, will sie hier nicht bleiben. Aber was, wenn es nur Einbildung war? Eine Fantasie, die sich ihr Hirn im Wodkarausch ausgedacht hat?
Sie kann die anderen in der Gruppe nicht beschuldigen, wenn sie nichts getan haben. Außerdem weiß sie nicht, wer sie im Dunkeln so massiv bedrängt hat.
Je mehr sie darüber nachdenkt, desto unsicherer wird sie. Die ganze Situation ist total bescheuert. Sie schämt sich, einerseits für ihre Verdächtigungen und andererseits dafür, dass sie sich betrunken hat. Sie scheut sich sogar davor, mit Olivia darüber zu reden, obwohl sie so gute Freundinnen sind.
»Na los«, ruft Emil vom Rücksitz. »Nehmt eure Sachen!«
Sie laden das Gepäck aus dem Taxi und schleppen die Taschen den kleinen Hang hinunter, der zur Eingangstür führt. Vor der Fahrt hierher haben sie noch schnell im Supermarkt am Bahnhof eingekauft, deshalb haben sie jetzt auch volle Lebensmitteltüten dabei.
In einer der Taschen, die Pontus auslädt, klirrt es, das wird also die sein, in der ihre Getränke verstaut sind. Gestern Abend hat er noch geprahlt, wie viel Alkohol er besorgt hat.
Er meckert ein bisschen, als er die schwere Tasche zum Eingang schleppt.
Fanny beobachtet ihn aus den Augenwinkeln. Er hat offenbar einen ziemlichen Kater, seine Augen sind gerötet und seine Lippen rissig. Kein Wunder, wenn man bedenkt, wie viel er auf der Fahrt in sich hineingeschüttet hat. Deshalb war er wohl auch so aufdringlich und ätzend.
Könnte er es gewesen sein, der sich letzte Nacht zu ihr auf die Liege gelegt hat?
Wenn es denn überhaupt passiert ist.
»Wie geht’s dir?«, kann sie sich nicht verkneifen zu fragen, obwohl er sich gestern so blöd benommen hat.
»Das kann dir doch egal sein«, erwidert Pontus ruppig, ohne sie anzusehen.
Fanny bleibt stehen. Was ist bloß mit ihm los? Sie dreht Pontus den Rücken zu und geht eilig hinüber zu Olivia, die mit Wille am Eingang steht.
Das Codeschloss piept, als er die Ziffern eintippt, und dann geht die Haustür auf.
»Ja«, sagt Wille. »Hier wohnen wir also.«
Fanny hört seiner Stimme an, wie stolz er ist, seinen Freunden das tolle Ferienhaus zeigen zu können, und sie sieht, wie er ihre bewundernden Blicke genießt.
Willes Eltern sind steinreich und er macht kein Geheimnis daraus, im Gegenteil. Er kommt aus Östermalm, dem teuersten Stadtteil Stockholms und damit des ganzen Landes. Genau wie Olivia ist Fanny in Västerås aufgewachsen, einer Industriestadt nordwestlich von Stockholm. Ihr Vater ist zwar Arzt und ihre Mutter Krankenschwester, aber ihr Lebensstil ist weit entfernt davon, was Wille gewohnt ist.
»Wow, ist das geil«, ruft Olivia aus. Sie knufft Fanny leicht in die Seite. »Was für ein Haus. Habt ihr das schon lange?«
Wille grinst.
»Ist ganz okay«, sagt er lässig. »Meine Alten haben es vor ein paar Jahren gebaut. Davor hatten wir ein anderes Haus, weiter unten im Tal, aber sie wollten höher hinauf, wollten freie Aussicht aufs Renfjäll haben. In den Wintermonaten, wenn das Dorf im Schatten liegt, ist hier oben Sonne.«
»Hier lässt es sich bestimmt eine Weile aushalten«, lacht Olivia. »Ist es okay, wenn wir bis Ostern bleiben?«
Sie umarmt Fanny übermütig und zieht sie mit sich in eine geräumige Diele, die ungefähr so groß ist wie die Zimmer in ihrem Studentenheim. Von hier aus geht es in ein großes Wohnzimmer mit doppelter Deckenhöhe und nach Süden ausgerichteten riesigen Sprossenfenstern.
»Ist das krass«, sagt Olivia und macht große Augen.
Fanny bleibt ebenfalls stehen und bewundert die Aussicht. Vor ihnen breitet sich der Åre-See aus. Der Panoramablick erstreckt sich über das ganze Tal, bis zu den Bergen im Westen. Ein Stück entfernt ist der Lift namens Sadelexpressen zu sehen, mit dem man ins Skigebiet kommt. Die Skipiste verläuft unterhalb des Grundstücks, man braucht morgens also nur die Skier anzuschnallen und loszufahren.
Ski-in/Ski-out, wie Wille das genannt hat.
Versnobter geht’s nicht, denkt Fanny im selben Moment, als Pontus die Haustür zuknallt. In der Gästetoilette geht die Spülung, dann tritt Emil heraus.
Er geht zum Fenster und stellt sich neben sie.
»Hast du auf dem Pott gesessen und gechattet?«, grinst Pontus, als hätte er ihn bei etwas Verbotenem erwischt.
Emil ignoriert ihn und wendet sich an Wille.
»Fantastische Aussicht«, sagt er.
Wille lächelt breit, als sei es sein Verdienst, dass sie hier die krasseste Hochglanz-Gebirgsreklame vor Augen haben.
»Ja, die ist unglaublich«, pflichtet Olivia ihm bei.
»Im Haus gibt es fünf Schlafzimmer und vier Bäder«, erklärt Wille. »Also entweder müssen sich zwei Leute ein Zimmer teilen oder ihr Mädchen nehmt das Gästehaus für euch allein.«
Er zeigt auf ein anderes Gebäude, das etwa zehn Meter entfernt steht.
»Da gibt es Doppelzimmer und ihr hättet auch eine Pantry und euer eigenes Bad.«
»Nice«, sagt Olivia lachend und hakt sich bei Fanny unter. »Eine eigene Suite, das ist ja wie im Luxushotel.«
»Dann kommt mit, ich zeige euch, wo ihr wohnt«, sagt Wille.
Fanny greift nach ihrer Tasche und sie folgen ihm hinüber zu dem kleineren Haus. Es ist im selben Stil erbaut wie das große, mit Holzvertäfelung an den Wänden und bodentiefen Sprossenfenstern nach Süden. Sie fühlt sich erleichtert, als sie eintreten. Das hier ist viel besser, als die Unterkunft mit den Jungs zu teilen.
Vor allem mit Pontus.
Wenn sie sich nur erinnern könnte, was in der Nacht tatsächlich passiert ist …
Als es an Daniels Wohnungstür klingelt, ist es kurz nach neun Uhr morgens. Er erwartet keinen Besuch, geht aber in die Diele, um zu öffnen.
Vor der Tür steht Gustav mit breitem Lächeln und einer Einkaufstüte in der Hand. Wie üblich sieht er gesund und durchtrainiert aus in seiner schwarzen Funktionskleidung, die verrät, dass er auf dem Weg ins Sportstudio ist.
Daniel sind nie Zweifel gekommen, dass Ida nach einem ganz anderen Leben gesucht hat als dem, das sie zusammen geführt haben. Es genügt, sich Gustav anzusehen. Er ist zehn Jahre jünger als Daniel, arbeitet als Skiguide, ist ein richtiger Naturbursche und liebt alle Arten von Outdoor-Aktivitäten.
Daniel hat ihn nie gestresst oder erschöpft erlebt.
Alice kommt angelaufen und lächelt begeistert, als sie sieht, wer gekommen ist.
»Gustav!«, ruft sie und streckt ihm die Arme entgegen, damit er sie hochhebt.
Daniel macht instinktiv einen Schritt vorwärts, um sie daran zu hindern. Dann besinnt er sich und bleibt stehen, während Gustav sich mit Alice hoch in der Luft ein paarmal im Kreis dreht, sodass sie vor Lachen quiekt.
Er setzt sie wieder auf dem Boden ab und reicht Daniel die Plastiktüte.
»Ida hat mich gebeten, dir das hier auf dem Weg zum Sport vorbeizubringen. Das ist Alices Lieblingskleidung, sie hat sie in dieser Woche fast jeden Tag angehabt.«
Daniel lächelt steif und nimmt die Tüte entgegen.
Es war nett von Ida, die Kleidung vorbeizuschicken, Alice hat nach den Sachen gefragt, aber wie immer in Gustavs Anwesenheit bekommt er schlechte Laune.
Warum darf der Typ ein wichtiger Mensch in Alices Leben sein, einer, den sie glücklich anstrahlt, während Daniel die Kindheit seiner Tochter nur halb mitbekommt?
Soll Gustav sich doch selbst Kinder anschaffen, wenn er Papa spielen will.
»Vielen Dank«, sagt er und möchte einfach, dass Gustav wieder geht.
Daniel wünschte wirklich, er könnte sich darüber freuen, dass Ida jemanden getroffen hat, der nett ist und sich um ihr Kind kümmert. Aber es gibt ihm einen Stich ins Herz, wenn er Gustav und Ida zusammen mit Alice in ihrem Buggy sieht.
Das ist meine Tochter, möchte er Gustav anbrüllen. Halte dich von ihr fern!
Stattdessen weicht er ihnen einfach aus und geht in eine andere Richtung.
Es tut jedes Mal wieder weh.
Die Luft dampft richtig, als Olivia die großzügige Sauna im Untergeschoss betritt, nur mit einem schmalen Handtuch um den Leib.
Wille, Emil und Pontus sitzen schon auf der obersten Bank und die Blicke von allen dreien kleben sofort an ihrem Busen.
Lass sie glotzen. Olivia lacht insgeheim. Sie ist nicht gerade schüchtern und hat gegen ein kleines Nacktbad im Sommer nichts einzuwenden. Sie weiß, dass sie einen schönen Körper hat.
Wille beugt sich vor und reicht ihr ein Bier. Die Flasche ist kalt und beschlagen, als sie sie entgegennimmt.
»Rutsch mal ein Stück«, sagt sie und gibt Amir einen Knuff, damit er Platz macht.
Er gehorcht bereitwillig und Olivia setzt sich. Sie lehnt den Kopf an die Wand und genießt die Hitze.
Draußen vor dem breiten Fenster liegt das Åre-Tal im Schatten. Die Sonne geht kurz vor vier unter und die Lifte schließen um drei. Heute blieben nur ein paar Stunden Zeit zum Skifahren, weil der Vormittag mit Auspacken draufgegangen ist. Außerdem war es arschkalt, minus siebzehn Grad auf der Piste und ganze minus zwanzig Grad am Lift VM8. Die Gegend dort ist eines der schlimmsten Kältelöcher von Åre.
Es war schön, in die Wärme zurückzukommen. Olivia hat sich auf die Sauna gefreut, sie hat es schon immer geliebt, sich von der intensiven Hitze einhüllen zu lassen.
Vielleicht hat sie ein bisschen finnisches Blut in sich?
Die Tür geht auf und Fanny erscheint in der Öffnung. Sie hat einen rot gestreiften Badeanzug an, um ihren Mund liegt ein angespannter Zug, als würde sie sich nicht richtig wohlfühlen damit, hier zu sein.
Olivia lächelt aufmunternd und winkt die Freundin herein. Fanny kennt die Jungs nicht so gut wie sie selbst und ist manchmal ein bisschen schüchtern. Sie hat den ganzen Tag über etwas bedrückt gewirkt und Olivia hofft, dass es ihr nicht schon leidtut, mitgekommen zu sein. Das Ziel war ja, zusammen eine schöne Woche zu verbringen.
»Mach die Tür zu«, knurrt Pontus. »Es zieht.«
Olivia wirft ihm einen ärgerlichen Blick zu. Warum muss er so brummig sein?
»Entschuldigung«, sagt Fanny und beeilt sich, die Tür zu schließen.
Olivia steht auf, um Platz zu machen, und Fanny lässt sich neben ihr auf der Bank nieder.
»Hier«, sagt Amir und hält Fanny ein Bier hin.
»Danke«, erwidert sie und trinkt vorsichtig einen Schluck. Dann beginnt sie, an dem blauen Nagellack auf ihren Zehennägeln herumzupulen.
»Skål«, sagt Olivia und stößt ihre Flasche mit breitem Lächeln gegen die von Fanny. »So eine Sauna ist doch echt kuschelig!«
Sie hat fast ausgetrunken und merkt, dass ihr Handtuch ein Stück nach unten gerutscht ist, eine Brust liegt plötzlich frei. So what? Ist ja nicht so, als hätten die Jungs noch nie ein nacktes Mädchen gesehen.
Aus den Augenwinkeln sieht sie, dass sich bei Pontus was regt; das Handtuch, das er sich über den Schritt gelegt hat, bekommt eine Beule. Olivia ist gleichzeitig belustigt und ein bisschen angewidert. Keine Chance, dass sie Pontus jemals an sich ranlassen würde.
Er ist nicht ihre Liga, ganz und gar nicht.
»Zeit, sich im Schnee zu wälzen!«, ruft Wille enthusiastisch.
Er verlässt die Sauna und öffnet die Terrassentür, die direkt hinaus aufs Grundstück führt. Dann wirft er sich in die tiefe Schneewehe.
»Boah, ist das frisch«, prustet er und fordert die anderen heraus. »Na los, ihr Feiglinge!«
Olivia folgt ihm, landet neben Wille und kreischt entsetzt auf, als der Schnee sie umschließt. Es ist so arschkalt, dass der Schock bis in die Zahnwurzeln fährt, während gleichzeitig das Adrenalin durch den Körper rast. Sekundenschnell ist die Müdigkeit wie weggeblasen.
Wille lacht begeistert, als sie nackt neben ihm liegt. Pontus und Amir werfen sich unter lautem Geschrei und Gelächter auch in den Schnee, vollkommen nackt.
Fanny ist die Einzige, die sich an dem Spiel nicht beteiligt. Sie bleibt im Haus und betrachtet die anderen stirnrunzelnd.
»Komm schon, Fanny«, ruft Olivia munter. »Das ist krass!«
Aber Fanny schüttelt den Kopf und geht zurück in die Sauna.
Beim Anblick der nackten Jugendlichen, die sich im Schnee wälzen, kneift Åke Carlsson wütend die Lippen zusammen.
Er steht in der Küche und starrt auf das Treiben, das sich vor seinen Augen abspielt. Zwischen den Häusern liegen nur wenige Meter, aber die da drüben führen sich auf, als wären sie ganz allein auf der Welt. Sie rennen rein und raus, johlen und schreien, ohne die geringste Rücksicht zu nehmen.
Und keiner von denen ist so vernünftig, sich zu bedecken, wie es sich für anständige Menschen gehört.
Ungezogene Halbstarke.
Die Uhr zeigt halb sechs, es ist kaum Abend, aber ihrem Benehmen nach hat sich der Verstand im selben Tempo verflüchtigt, wie der Alkoholpegel gestiegen ist.
Er hat schon am Morgen Unheil gewittert, als das Großraumtaxi die ganze Bande abgeladen hat und das lautstarke Gequassel herüberdrang. Nicht, dass er sich die Mühe gemacht hätte, hinauszugehen und sie zu begrüßen, obwohl er unter ihnen den Sohn der Löwengrens erkannte, die seine nächsten Nachbarn sind. Je weniger er mit dieser Familie zu tun haben muss, desto besser.
Åke trinkt den Rest seines Longdrinks aus und öffnet die Tür des Barschranks, um mehr Gin herauszunehmen. Der Ärger schäumt in seinem Körper, er stellt die Flasche so hart auf dem Granittisch ab, dass ein Splitter aus dem Flaschenboden bricht.
Er ist, als er Rentner wurde, nicht nach Åre gezogen, um sich betrunkene Jugendliche ansehen zu müssen. Er und Karin sind hierhergezogen, weil sie ihre Ruhe haben, die frische Luft und die herrliche Natur genießen wollten. Nach vielen Jahren als Beamter im Materialdepot der Streitkräfte in Linköping wollte er weg aus der Stadt. Als sich die Gelegenheit bot, durch Stellenabbau kombiniert mit einer großzügigen Abfindung, hat er zugeschlagen.
Damals, vor gut fünfzehn Jahren, waren viele der Grundstücke in Sadeln unbebaut gewesen. Er und Karin hatten die freie Auswahl unter denen, die zum Verkauf standen. Mühelos fanden sie ein Grundstück mit herrlicher Aussicht in ungestörter Lage. Sukzessive wurde dann eins nach dem anderen verkauft und bald schon standen fast überall neue Häuser.
Nur das Nachbargrundstück blieb leer, vermutlich weil es ungewöhnlich groß und teuer war.
Er hat sogar mehrmals versucht, es selbst zu kaufen. In erster Linie, weil er vermeiden wollte, einen Nachbarn zu bekommen, der die schöne Aussicht auf den Åreskutan verbaut, aber jedes Mal kam irgendwas dazwischen, was den Kauf verhinderte.
Eigentümer des Grundstücks war ein geldgieriger Norweger. Der hatte es als Spekulationsobjekt erworben und im Takt mit der Preisentwicklung erhöhte er den Kaufpreis jedes Mal, wenn Åke bereit war, die Kröte zu schlucken und zuzugreifen.
Plötzlich hatte der Norweger an einen stinkreichen Stockholmer verkauft, dessen Architekt allem Anschein nach blind gewesen sein musste.
Åke gießt sich einen ordentlichen Schuss Gin ein und füllt mit Tonic Water auf, bevor er wieder einen Schluck nimmt. Wie sehr hat er schon bereut, dass er das Grundstück nicht gekauft hat, als er die Chance dazu hatte.
Aber wer hätte die enorme Preisentwicklung in Åre schon ahnen können? Heutzutage gelten hier beinahe Stockholmer Preise. Die Pandemie hat dafür gesorgt, dass die Leute ganz verrückt nach Ferienhäusern in den Bergen waren.
Durchs Fenster sieht er, wie eine junge Frau sich kreischend in den Schnee wirft. Ihre nackten Brüste schaukeln; es ist inzwischen zwar dunkel draußen, aber die Außenbeleuchtung ist hell genug, um Details zu erkennen.
Sie hat unbestreitbar einen schönen Körper und doch regt Åke sich darüber auf.
Wie kann sie sich nur so schamlos aufführen?
Sein ältester Sohn, Peter, ist für ein paar Tage mit den Enkelkindern zu Besuch und die sind erst drei und fünf Jahre alt. Åke will nicht, dass sie eine so betrunkene und hemmungslose Zurschaustellung mitbekommen.
Das Mädchen hat nicht mal eine Unterhose an!
Der Schnee stiebt, während sie sich darin wälzt. Als sie aufhört, mit den Armen zu wedeln, stößt sie wieder Schreie aus und rennt zurück ins Warme. Gleich darauf folgen ihr die Jungs und es wird endlich wieder still.
Åke schnaubt verächtlich, wie er es oft tut, wenn er das Haus seines Nachbarn betrachtet. Das ist mit Abstand das hässlichste in ganz Sadeln. Darüber regt er sich schon seit dem ersten Spatenstich auf.
Genauer gesagt, seit dem Moment, als er die Baupläne sah, die zur Stellungnahme an die Nachbarn geschickt worden waren.
Es gibt eine Baugestaltungssatzung, in der die Richtlinien für das Gebiet festgelegt sind, brummt er im Halbdunkel vor sich hin. Die Häuser in der Umgebung sollen einen gewissen Baustil einhalten. Åke hat in den ersten Jahren selbst im Vorstand der Grundstückseigentümergemeinschaft gesessen und darauf geachtet, dass die Richtlinien eingehalten werden.
Aber was die Familie Löwengren da hat bauen lassen, widerspricht allen Vorgaben.
Allein schon die Farbe treibt Åkes Blutdruck in die Höhe. Im Unterschied zu den übrigen Häusern im Gebiet, deren Fassaden in gedeckten Tönen gestrichen oder mit Eisensulfat imprägniert sind und dadurch verwittert wirken, ist das Haus da … rosarot.
Wer kommt auf die Idee, im Gebirge ein rosarotes Haus zu bauen?
Außerdem spottet der architektonische Stil jeder Beschreibung. Der Schandfleck erinnert an eine gigantische Kuckucksuhr, so was passt vielleicht in die Schweizer Alpen, aber ganz sicher nicht nach Åre.
Und zu allem Überfluss ist das ganze Haus vollkommen unproportioniert, weil man die Gebäudefläche maximiert hat ohne die geringste Rücksicht auf das Erscheinungsbild des Grundstücks. Åke versteht wirklich nicht, wie sie eine Baugenehmigung für den Kasten bekommen konnten. Bei dem Sachbearbeiter im Bauamt muss der Verstand ausgesetzt haben, als er die Pläne genehmigte, oder die Eigentümer haben gute Kontakte im Gemeinderat. Mit den richtigen Kontakten kann man alles erreichen. Åke ist so lange dabei, dass es nichts gibt, was er nicht schon gesehen hat.
Vor drei Jahren, als sie mit dem Bau begonnen haben, verschwand die unverstellte Aussicht auf den Skutan.
Genauso wie seine Gemütsruhe.
Außerdem steht das Nachbarhaus so dicht an der Grundstücksgrenze, dass sie ihm direkt in die Küche und ins Wohnzimmer schauen können. Und umgekehrt.
Jetzt hat der Sohn des Hauses seine rüpelhaften Kumpel hierhergebracht, um zu feiern und sich aufzuführen wie die Verrückten.
Das wird eine unerträgliche Woche werden.
Hanna lehnt sich in ihrem Armstuhl zurück und lächelt Henry an. Das Essen war fantastisch, anders kann man es nicht beschreiben. Es bestand aus einer Mischung von schwedischen und norwegischen Spezialitäten, als Vorspeise gab es Fisch und danach Rentierfilet, alles zubereitet mit nordskandinavischem Touch und Delikatessen aus den Bergen.
Der Geschmack von Preiselbeeren und Tannenschösslingen liegt ihr noch auf der Zunge, während sie zum anderen Ende des Raums blickt. Dort ist der Koch dabei, auf einer breiten Kücheninsel, die auch als Raumteiler dient, etwas vorzubereiten. Darüber hängen Lampen aus glänzendem Kupfer, dahinter ragt eine dunkle Granitwand auf. Es ist fast, als hätte man das Restaurant geradewegs aus dem Felsen gehauen.
Hanna seufzt vor Wohlbehagen.
Erst jetzt fällt ihr auf, dass sie die einzigen Gäste im Restaurant sind. Es ist halb neun Uhr abends, um diese Zeit müssten andere Gäste eigentlich auch hungrig sein.
»Wo sind die anderen alle?«, wendet sie sich an Henry.
Er hat gerade den letzten Rest Soße mit einem Stück Brot aufgetupft.
»Ich habe keinen einzigen Menschen gesehen, seit wir angekommen sind, mit Ausnahme des Personals«, fügt sie hinzu.
Henry hat den Mund voll. Er hat am Morgen darauf verzichtet, sich zu rasieren, und auf seinen Wangen zeigen sich graue Bartstoppeln. Viele Männer würde das älter wirken lassen, aber in Henrys Fall macht es ihn nur noch attraktiver. Hanna denkt selten an ihren Altersunterschied von zwanzig Jahren, höchstens am Anfang ihrer Beziehung ist es ihr manchmal durch den Kopf gegangen.
»An diesem Wochenende sind nur wir hier«, sagt Henry, als wäre das eine Selbstverständlichkeit.
Hanna stellt ihr Rotweinglas ab und zieht verwundert die Augenbrauen hoch.
»Was meinst du damit?«
»Es gibt keine anderen Gäste.«
Hanna versteht immer noch nicht. Sie können doch nicht die einzigen Gäste in diesem Hotel sein? Sie hat heimlich nach dem Niehku gegoogelt und gesehen, dass es sehr begehrt ist und man nur schwer ein Zimmer bekommt. Obwohl es das Hotel erst seit wenigen Jahren gibt, hat es schon mehrere internationale Auszeichnungen bekommen.
Niehku bedeutet Traum auf Nordsamisch und tatsächlich fühlt es sich ein bisschen wie ein Zauber an, hier zu sein.
»Eigentlich haben sie im Januar geschlossen, weil es dann für einen Hotelbetrieb zu dunkel und zu kalt ist«, erklärt Henry. »Normalerweise öffnen sie nicht vor dem ersten Wochenende im März.«
»Aber wir haben doch Zimmer bekommen?«, wendet Hanna ein.
»Das hat ein bisschen Überredung gekostet«, lächelt Henry. »Aber ist es nicht herrlich, die ganze Anlage für uns allein zu haben?«
Hanna sieht ihn an, während ihr langsam ein Licht aufgeht.
»Du hast das Hotel dazu gebracht, einen Monat früher zu öffnen, nur für uns?«, fragt sie. »Ernsthaft?«
Henry hebt sein Glas und prostet ihr zu. Der Wein ist aus dem Bordeaux, Hanna mag gar nicht an den Preis denken, der liegt sicher nicht unter dreitausend Kronen pro Flasche. Seit ihrer Zeit als Barkeeperin in Barcelona hat sie ziemlich viel Ahnung davon.
Henry ist ein richtiger Connaisseur. Das Leben ist zu kurz, um sich nicht gutes Essen und Trinken zu gönnen, sagt er gerne.
Er hebt abwehrend die Hand.
»Wie du das sagst, klingt es so dramatisch. Es war ja nicht so, dass ich dem Hotelchef die Arme auf den Rücken gedreht und ihn gezwungen habe. Ich habe nur gefragt, ob es möglich wäre, uns an diesem Wochenende aufzunehmen, obwohl das Hotel für die Allgemeinheit geschlossen ist.«
»Du hast also angerufen und gesagt: ›Hallo, könntet ihr die gesamte Anlage nur für uns beide öffnen?‹«
»Ganz so war es nun auch nicht.«
Henry zwinkert ihr zu und Hanna kann sich vorstellen, wie es abgelaufen ist. Wahrscheinlich hat er die ganze Sache durch eine Assistentin oder einen Assistenten regeln lassen. Er hat einige davon. Extrem fähige junge Männer und Frauen mit einem Masterabschluss der Handelshochschule, die sich darum prügeln, für ihn arbeiten zu dürfen, denn das gilt als prestigeträchtiges Sprungbrett für eine Karriere in der Investmentbranche.
Sie lehnt sich wieder auf ihrem Stuhl zurück.
Mit einem Mann wie Henry zusammen zu sein, ist, als würde man ein Fantasieland besuchen, ein Reich, von dem sie nicht mal gewusst hat, dass es existiert. Alles ist möglich, wenn man nur bereit ist, dafür zu bezahlen.
Das Gespräch wird dadurch unterbrochen, dass sich der Koch ihrem Tisch nähert. Er trägt eine prächtige Torte vor sich her, übersät mit zarten Schokoladenrosen und geschmückt mit brennenden Wunderkerzen.
Plötzlich sind sie umringt von Servierpersonal, das zu singen beginnt: »Happy Birthday to you« hallt durch den Speisesaal. Dann taucht der Sommelier auf, mit einer Flasche Dom Pérignon in der einen Hand und zwei Champagnergläsern in der anderen.
»Wow«, sagt Hanna, als der Champagner eingeschenkt ist und sie jeder ein Stück Torte erhalten haben. »Du verwöhnst mich. Das war nicht unbedingt das, was ich mir vorgestellt hatte, als du sagtest ›lass uns irgendwohin fahren, nur wir zwei‹.«
Henry legt die Gabel auf seinem Teller ab.
»Ich wollte dich mit etwas Besonderem überraschen. Du arbeitest ja andauernd. Wenn ich dann schon mal die Chance bekomme, dich ein paar Tage lang nur für mich zu haben, will ich die Zeit nicht verplempern.«
Das ist etwas, worüber sie geteilter Meinung sind: Hannas Arbeitszeiten. Oder besser gesagt, Hannas Neigung, total in ihrem Job aufzugehen.
Sie führen eine Fernbeziehung und Henry findet, dass sie ihn öfter in Stockholm besuchen sollte. Aber Hanna scheut sich davor, in die Hauptstadt zu reisen, und schiebt als Ausrede gern ihre Arbeit vor.
Meistens ist er es, der zu ihr kommen muss.
Irgendwie fällt ihr die Beziehung zu Henry leichter, wenn er bei ihr oben im Norden ist. In Stockholm wird sie die ganze Zeit an seinen hohen gesellschaftlichen Status erinnert und in welchen Kreisen er verkehrt.
Wie bekannt er ist.
In Åre kann sie mit ihm umgehen wie mit einem normalen Menschen. Dort bleibt es ihr erspart, mit seinem Freundes- und Bekanntenkreis aus der High Society zusammenzutreffen. Sie hat auch seine drei erwachsenen Söhne bisher noch nicht kennengelernt. Das ist eines der Dinge, die sie aktiv zu vermeiden versucht, vielleicht, weil sie weder vor ihm noch vor sich selbst zugeben will, dass sie ein Paar sind.
Oder dass sie nur fünf Jahre älter als sein erstgeborener Sohn ist.
Plötzlich merkt sie, dass ein flaches quadratisches Päckchen vor ihr auf dem Tisch liegt.
»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.«
Schon das dicke glänzende Geschenkpapier und das schöne Band mit der sorgsam gebundenen üppigen Schleife verraten einen exklusiven Inhalt.
»Willst du es nicht aufmachen?«
Henry klingt wie ein erwartungsvolles Kind, sie muss über seine ansteckende Begeisterung lächeln.
»Doch, unbedingt.«
Hanna zieht das Päckchen zu sich heran und öffnet die Schleife. Ein rotes Etui kommt zum Vorschein, in das das charakteristische C eingeprägt ist. C für Cartier. Was immer darin ist, es muss ein Vermögen gekostet haben.
Sie legt die Finger auf das Etui, zögert, es zu öffnen. Es ist zu viel, das alles ist zu viel. Sie weiß nicht, wie sie sich zu diesem Überfluss verhalten soll. Sie hatten einen wunderbaren Tag zusammen, sind mit einem Hubschrauber eigens für sie übers Gebirge geflogen, bis der Pilot sie auf einem Berggipfel mit unberührtem Schnee vorsichtig abgesetzt hat. Nach ein paar Stunden auf Skiern und fantastischen Abfahrten, schöner als fast alles, was Hanna je erleben durfte, hat ihr Skiguide ein Gourmetpicknick aufgetischt, komplett mit Champagner, auf einem sonnenüberfluteten Plateau mit meilenweiter Aussicht auf die norwegischen Berge.
Und jetzt noch dieses üppige Geburtstagsgeschenk obendrauf.
Was immer es auch sein mag – der Preis übersteigt vermutlich mehrere Monatsgehälter von Hanna und ihren Kollegen.
Daniel hätte ihr niemals etwas von Cartier geschenkt. Er kann es sich nicht leisten und außerdem mag er Schmuck nicht einmal.
Die Überlegung verschwindet genauso schnell wieder, wie sie aufgetaucht ist.
Nicht an Daniel denken.
Als sie das Etui öffnet, findet sie darin einen schmalen Armreif aus Roségold, gebettet auf Samt. Daneben liegt ein dazugehöriger kleiner Schraubenzieher in derselben Farbe.
»Das nennt sich Love bracelet«, sagt Henry und nimmt den Schraubenzieher heraus. »Ich zeig dir, wie es funktioniert.«
Er öffnet den Verschluss und streift den Armreif vorsichtig über Hannas rechte Hand. Dann schließt er ihn wieder.
»Verlier dieses Werkzeug nicht«, sagt er mit gespieltem Ernst in der Stimme. »Sonst kannst du ihn nie mehr abnehmen. In dem Fall musst du mein Geschenk für ewig tragen.«
Der sanft rosafarbene Armreif glänzt im Licht der Kerzen auf dem Tisch. Es ist ein perfekter Kreis, verziert mit kleinen Schlitzschrauben. Kleine ausgesuchte Brillanten vollenden den Effekt.
Hanna hat noch nie etwas so Schönes bekommen.
Oder so Teures.
»Gefällt er dir?«, fragt Henry.
Hanna schenkt ihm ein strahlendes Lächeln.
»Er ist fantastisch. Es ist nur …«
Sie betrachtet das schimmernde Schmuckstück, versucht zu verstehen, was es tatsächlich bedeutet. Was er mit einer so großzügigen Geste sagen will.
Und außerdem: Wie soll sie ihm jemals ein entsprechendes Geschenk machen können?
»Zu viel?«, fragt Henry und dreht gleichzeitig den Armreif an ihrem Handgelenk.
Man kann vieles über Henry sagen, aber nicht, dass er taub oder unsensibel ist. Wahrscheinlich ist er einer der intelligentesten Männer, die Hanna je getroffen hat. Das ist einer der Gründe, warum sie sich in seiner Gesellschaft so wohlfühlt. Er ist ein hervorragender Menschenkenner, mit einem feinen Gehör und empfindlichen Sensoren, die selbst Nuancen von Stimmungsveränderungen in der Umgebung auffangen. Außerdem hat er ein großes Herz, im letzten Jahr hat er viel Zeit mit seinem Patensohn Filip verbracht, der Schreckliches durchmachen musste, nachdem seine Mutter am Osterwochenende brutal ermordet worden war.
Heute Abend ist es offensichtlich, dass Henry sich Mühe gegeben hat. Und als undankbar dazustehen, ist das Letzte, was sie will.
»Ein bisschen viel, vielleicht«, gibt sie zu. »Das ist unglaublich schön. Aber du verstehst sicher – wenn du an der Reihe bist, kann ich mich höchstens mit einem Abendessen im Granen und vielleicht mit einem Präsent aus dem Kunstgewerbeladen in Åre revanchieren. Was immer ich mir auch einfallen lasse, es wird sich nie mit dieser Art von Aufmerksamkeit vergleichen lassen.«
»Mit genügt es, wenn du dich freust.«
Henry lehnt sich zurück und nippt am Champagner.
»Im Übrigen ist Geben seliger denn Nehmen, so steht es in der Bibel.«
»Seit wann bist du denn gläubig?«
Hanna muss über ihre Antwort selbst lachen und das lockert die Stimmung auf. Plötzlich verändert sich etwas in Henrys Gesicht, er wirkt beinahe schüchtern. Er greift nach Hannas rechter Hand und drückt ihre Handfläche an die Lippen.
»Ich möchte dir eine Frage stellen. Wir sind jetzt seit fast zehn Monaten zusammen. Und du und ich sind alt genug, um zu wissen, was wir wollen.«
Hanna lächelt ein wenig unsicher. Das letzte Jahr ist wie im Flug vergangen. Sie hat nicht besonders viel nachgedacht, hat die Tage meist genommen, wie sie kamen. Hat sich auf Henrys Gesellschaft gefreut, aber selten über das nächste Treffen hinausgedacht.
Wenn sie ehrlich sein soll, fand sie es schön, sich diese Art von Realitätsflucht zu gönnen. Sie wollte nicht über die Zukunft nachdenken oder wohin sich ihre Beziehung vielleicht entwickelt. Sobald ihre Gedanken in die Richtung gingen, hat sie sie ignoriert, wohl wissend, wie kompliziert alles werden würde, wenn sie anfinge, in die Zukunft zu planen.
»Hanna«, sagt Henry und sein Blick ist so intensiv, dass sie nicht wegschauen kann. »Was würdest du davon halten, mit mir zusammenzuziehen?«
Es duftet herrlich aus dem Topf mit Pastasoße, der vor Fanny auf dem Tisch steht.
Emil hat gekocht, er liebt es, in der Küche zu experimentieren, und jobbt seit ein paar Jahren in einem Restaurant. Er ist der selbst ernannte Chefkoch der Gruppe und hat Pasta Pomodoro mit selbst gebackenem Brot zubereitet, einer runden goldbraunen Focaccia.
»Alter, ist das geil«, röhrt Pontus in Fannys Ohr.
Er hat schon wieder ordentlich getankt. Sie will diesen Idioten nicht in ihrer Nähe haben. Vorsichtig schielt sie zu Amir hinüber, der am Kopfende des Tisches steht. Heute Abend trägt er ein moosgrünes Shirt mit aufgekrempelten Ärmeln, das perfekt zu seinem Hautton passt.
Fanny wünschte, er würde sich neben sie setzen, damit sie nicht neben Pontus sitzen muss. In dem Moment dreht Amir den Kopf in ihre Richtung. Er lächelt und dann macht er genau das, geht ein paar Schritte und zieht den Stuhl neben ihr hervor.
Ein Schauer durchläuft Fanny. Sie will etwas Smartes und Witziges sagen, damit er sie interessant und unterhaltsam findet, aber stattdessen kriegt sie die Zähne nicht auseinander.
Und dann wird sie zu allem Überfluss auch noch rot.
Fanny greift nach ihrem Weinglas und trinkt einen großen Schluck, um ihre Verwirrung zu überspielen.
»Können wir schon anfangen?«, ruft Olivia und greift nach der Spaghettizange.
»Klar«, antwortet Emil und stellt eine Schüssel mit geriebenem Parmesan auf den Tisch. »Haut rein.«
Wille, der vor dem offenen Kamin hockt, streift die Hände an der Hose ab. Sein Gesicht ist immer noch leicht gerötet nach dem Saunagang. Fanny begreift nicht, wie Olivia so mutig sein konnte, sich vor den Jungs nackt zu zeigen. Zuerst draußen, als sie sich im Schnee gewälzt haben, und dann drinnen in der Sauna.
Aber sie wirkte völlig ungeniert und Wille konnte nicht die Augen von ihr lassen. Es schien, als wollte er sie auf der Stelle vernaschen.
Pontus auch, er hat regelrecht gesabbert, als Olivia ohne Handtuch zurück in die Sauna ging. Aber er ist so ein Ekelpaket.
