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Band 3 der großen Lupin-Collection - ein tödliches Rätsel, ein verborgener Schatz und das wohl persönlichste Abenteuer des Meisterdiebs
Ein uraltes Geheimnis - und ein Schlüssel, der bei Lupin liegt
Ein mysteriöser Mord, ein schier unlösbares Rätsel und ein sagenumwobener Schatz, der seit Jahrhunderten unter Frankreichs Boden verborgen liegt - im Zentrum all dessen steht erneut Arsène Lupin. In "Die hohle Nadel" entfaltet Maurice Leblanc eine Geschichte voller Intrigen, verschlüsselter Botschaften und geheimnisvoller Orte. Die Spur führt zu einer legendären Felsformation an der Küste der Normandie - ein Ort, der mehr verbirgt, als es scheint. Und nur einer kennt die Wahrheit: der Gentleman-Gauner selbst.
Ein junger Gegenspieler, der Lupin herausfordert
Doch Lupin ist diesmal nicht allein. Mit Isidore Beautrelet tritt ein neuer Gegner auf den Plan - ein junger Schülerdetektiv mit brillanter Auffassungsgabe und unerschütterlichem Mut. Zwischen dem gewitzten Dieb und dem ehrgeizigen Ermittler entspinnt sich ein faszinierendes Duell auf Augenhöhe. Es geht um mehr als Beute oder Prestige - es geht um Geschichte, Gerechtigkeit und das Ringen zweier außergewöhnlicher Geister. Leblanc verleiht dem klassischen Krimiplot hier eine emotionale Tiefe und ein Gefühl von Größe, das weit über den Einzelfall hinausreicht.
Ein Abenteuer zwischen Krimi, Mystery und Historie
Die hohle Nadel gehört zu den aufwendigsten und raffiniertesten Romanen der Lupin-Reihe. Der Schatz der französischen Könige, die geheimen Gänge, die rätselhaften Dokumente - all das wird zu einem vielschichtigen Puzzle, das nur mit Scharfsinn und Mut zu lösen ist. Leblanc verbindet Spannung mit historischem Flair und zeigt Lupin von seiner menschlichsten, verletzlichsten Seite - ohne dass er seinen Witz oder seine Überlegenheit verliert.
Ein Klassiker mit Tiefgang und Tempo
Als dritter Band der Lupin-Collection erscheint "Die hohle Nadel" in moderner, sorgfältig überarbeiteter Form - stilvoll gestaltet, sprachlich feinfühlig angepasst und mit dem Anspruch, einen echten Klassiker neu erlebbar zu machen. Dieses Abenteuer zeigt, warum Arsène Lupin weit mehr ist als ein Dieb - er ist ein Mythos, ein Rätsellöser, ein Held wider Willen.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Maurice Leblanc
Lupin
Die hohle Nadel
Ein Detektivroman
Lupin-Collection Band 3
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß §44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt.
Vorwort
Kapitel 1.Der Schuss
Kapitel 2.Isidore Beautrelet, Schüler der Abschlussklasse
Kapitel 3.Die Leiche
Kapitel 4.Von Angesicht zu Angesicht
Kapitel 5.Auf der Spur
Kapitel 6. Ein historisches Geheimnis
Kapitel 7. Die Abhandlung der Nadel
Kapitel 8.
Kapitel 9. Sesam, öffne dich!
Kapitel 10. Die Schätze der Könige von Frankreich
Cover
Die hohle Nadel gilt als einer der Höhepunkte in Maurice Leblancs Lupin-Zyklus – ein Roman, der das Genie des Meisterdiebs in neuer Tiefe zeigt und gleichzeitig das klassische Detektivgenre auf den Kopf stellt. Was wie ein rätselhafter Einbruch in einem alten Schloss beginnt, entwickelt sich bald zu einem vielschichtigen Duell zweier außergewöhnlicher Köpfe: Arsène Lupin, der Gentleman-Gauner, steht einem jugendlichen Ermittler gegenüber, der ihm in Scharfsinn und Mut kaum nachsteht – Isidore Beautrelet, ein Gymnasiast mit detektivischer Intuition.
Leblanc gelingt es hier meisterhaft, klassische Elemente des Kriminalromans mit einem Hauch von Abenteuer, Mystery und historischer Faszination zu verbinden. Im Zentrum steht das Geheimnis um die „hohle Nadel“ – ein mythisches Versteck, das nicht nur Lupins Schicksal prägt, sondern auch tief in der französischen Geschichte verankert ist. Mit versteckten Codes, unterirdischen Gängen und dem sagenhaften Schatz der Könige Frankreichs spielt der Roman raffiniert mit Motiven des Verschwörungs- und Rätselromans.
Was Die hohle Nadel besonders macht, ist nicht nur die spannungsgeladene Handlung, sondern vor allem die Atmosphäre des Spiels – zwischen Wahrheit und Täuschung, zwischen Moral und Gesetz. Lupin bleibt eine schillernde Figur, ein Antiheld, der stiehlt, um zu faszinieren, und lügt, um die Wahrheit zu enthüllen. Gleichzeitig wächst Beautrelet über sich hinaus – nicht als übermenschlicher Detektiv, sondern als junger Mann, der an seiner Aufgabe reift.
Leblanc beweist mit diesem Roman, dass Kriminalliteratur nicht nur unterhalten, sondern auch verblüffen, inspirieren und den Leser zum Mitdenken einladen kann. Die hohle Nadel ist ein intellektuelles Abenteuer, ein Spiel aus Schatten und Licht – und ein Beweis dafür, dass der wahre Schatz manchmal im Geheimnis selbst liegt.
Raymonde lauschte. Das Geräusch wiederholte sich zweimal, deutlich genug, um sich von der Mischung vager Klänge abzuheben, die die große Stille der Nacht bildeten, und doch zu leise, um erkennen zu können, ob es nah oder fern war, innerhalb der Mauern des großen Landhauses oder draußen, in den düsteren Winkeln des Parks.
Sie erhob sich leise. Ihr Fenster war halb geöffnet: Sie schlug es weit auf. Das Mondlicht breitete sich über eine friedliche Landschaft aus Rasenflächen und Gebüsch, vor deren Hintergrund die zerfallenen Ruinen der alten Abtei sich in tragischen Umrissen abhoben – verstümmelte Säulen, gebrochene Bögen, Fragmente von Portalen und Reste von Strebepfeilern. Ein leichter Windhauch glitt lautlos über die starre Szenerie, strich durch die unbeweglichen Äste der Bäume und ließ die winzigen, eben aufbrechenden Blätter der Sträucher erzittern.
Und plötzlich hörte sie dasselbe Geräusch erneut. Es kam von links, eine Etage tiefer, also aus den Wohnräumen, die den linken Flügel des Hauses einnahmen. So mutig und tapfer sie war, überkam sie doch ein Gefühl der Angst. Sie warf sich ihren Morgenmantel über und nahm die Streichhölzer.
„Raymonde…Raymonde!“
Eine Stimme, kaum mehr als ein Flüstern, rief sie aus dem Nebenzimmer, dessen Tür nicht geschlossen war. Sie tastete sich dorthin vor, als Suzanne, ihre Cousine, aus dem Zimmer trat und ihr in die Arme fiel: „Raymonde ... bist du es? Hast du das gehört ... ?“
„Ja. Du schläfst also auch nicht?“
„Vermutlich hat mich der Hund geweckt ... vor einiger Zeit. Aber jetzt bellt er nicht mehr. Wie spät ist es?“
„Ungefähr vier Uhr.“
„Hör mal! Da geht doch jemand im Salon umher!“
„Es besteht keine Gefahr, dein Vater ist unten, Suzanne.“
„Aber für ihn besteht Gefahr. Sein Zimmer liegt direkt neben dem Boudoir.“
„Monsieur Daval ist auch dort ... “
„Am anderen Ende des Hauses. Er könnte nie etwas hören.“
Sie zögerten, unschlüssig, was zu tun sei. Sollten sie rufen? Um Hilfe schreien? Sie wagten es nicht; sie fürchteten sich vor dem Klang ihrer eigenen Stimmen. Doch Suzanne, die ans Fenster getreten war, unterdrückte einen Schrei: „Sieh doch! ... Ein Mann! ... Bei dem Springbrunnen!“
Ein Mann entfernte sich raschen Schrittes. Er trug unter dem Arm eine recht große Last, deren Art sie nicht erkennen konnten: Sie schlug gegen sein Bein und behinderte seinen Gang. Sie sahen, wie er an der alten Kapelle vorbeiging und sich einer kleinen Tür in der Mauer zuwandte. Offenbar war sie nicht verschlossen, denn der Mann verschwand plötzlich aus ihrem Blickfeld, und sie hörten nicht das übliche Quietschen der Angeln.
„Er kam aus dem Salon“, flüsterte Suzanne.
„Nein, die Treppe und die Halle hätten ihn weiter links hinausgeführt ... Es sei denn ... “
Dieselbe Idee kam ihnen beiden. Sie lehnten sich hinaus. Unter ihnen stand eine Leiter an der Fassade des Hauses und reichte bis in den ersten Stock. Ein schwacher Lichtschein fiel auf den steinernen Balkon. Ein zweiter Mann, der ebenfalls etwas trug, stieg über das Geländer, glitt an der Leiter hinab und rannte auf demselben Weg davon wie der erste.
Suzanne, dem Ohnmachtsanfall nahe, sank auf die Knie und stammelte: „Wir müssen rufen ... wir müssen Hilfe holen ...“
„Wer würde kommen? Dein Vater ... und wenn noch mehr von ihnen hier sind ... und sie überfallen ihn ...?“
„Dann ... dann könnten wir die Diener rufen ... Deine Klingel ertönt oben auf ihrer Etage.“
„Ja ... ja ... vielleicht ist das besser. Hoffentlich kommen sie rechtzeitig!“
Raymonde tastete nach dem elektrischen Klingelknopf neben ihrem Bett und drückte ihn. Sie hörten, wie die Glocke oben erklang, und hatten den Eindruck, dass ihr schrilles Läuten auch nach unten zu hören sein musste.
Sie warteten. Die Stille wurde beängstigend, selbst der Windhauch ließ nicht mehr die Blätter der Sträucher erzittern.
„Ich habe Angst ... Angst“, sagte Suzanne.
Und plötzlich, aus der tiefen Dunkelheit unter ihnen, ertönte das Geräusch eines Kampfes, das Krachen umgestürzter Möbel, Rufe, Ausrufe ... und dann, schrecklich und unheilverkündend, ein heiseres Röcheln, das Gurgeln eines sterbenden Mannes ...
Raymonde stürzte zur Tür. Suzanne klammerte sich verzweifelt an ihren Arm: „Nein ... nein ... verlass mich nicht ... ich habe Angst ... “
Raymonde stieß sie beiseite und eilte den Korridor entlang, gefolgt von Suzanne, die, von Panik ergriffen, schreiend von Wand zu Wand taumelte. Raymonde erreichte die Treppe, flog hinunter, riss die Tür zum großen Salon auf ... und erstarrte, wie angewurzelt an der Schwelle, während Suzanne neben ihr zusammenbrach. Drei Schritte vor ihnen stand ein Mann mit einer Laterne in der Hand. Er richtete ihr Licht auf die beiden Mädchen, blendete sie mit dem grellen Schein, betrachtete lange ihre blassen Gesichter und nahm dann, ohne Hast, mit den ruhigsten Bewegungen der Welt seine Mütze, hob einen Papierfetzen und zwei Strohhalme auf, wischte einige Fußspuren vom Teppich, ging zum Balkon, drehte sich zu den Mädchen um, verneigte sich tief und verschwand.
Suzanne war die erste, die in das kleine Boudoir eilte, das den großen Salon von dem Schlafzimmer ihres Vaters trennte. Doch am Eingang bot sich ihr ein entsetzlicher Anblick. Im schrägen Mondlicht sah sie zwei reglose Körper dicht beieinander am Boden liegen. Sie beugte sich über einen von ihnen.
„Vater! ... Vater! ... Bist du es? Was ist mit dir geschehen?“, rief sie verzweifelt.
Nach einem Moment bewegte sich der Comte de Gesvres. Mit gebrochener Stimme sagte er: „Habt keine Angst ... ich bin nicht verletzt ... Daval? ... Lebt er? ... Das Messer? ... Das Messer?“
Zwei Diener kamen mit Kerzen. Raymonde warf sich vor den anderen Körper und erkannte Jean Daval, den Privatsekretär des Grafen. Ein dünner Blutstrom sickerte aus seinem Hals. Sein Gesicht war bereits totenbleich.
Dann erhob sie sich, kehrte in den Salon zurück, nahm ein Gewehr, das in einer Waffentrophäe an der Wand hing, und trat hinaus auf den Balkon. Nicht mehr als fünfzig oder sechzig Sekunden waren vergangen, seit der Mann seinen Fuß auf die oberste Sprosse der Leiter gesetzt hatte. Er konnte also nicht sehr weit sein, zumal er vorsichtshalber die Leiter entfernt hatte, um die Bewohner des Hauses an der Verfolgung zu hindern. Und bald sah sie ihn entlang der Ruinen des alten Kreuzgangs huschen. Sie hob das Gewehr, zielte ruhig und drückte ab. Der Mann stürzte zu Boden.
„Das war‘s! Das war‘s!“, rief einer der Diener. „Diesen haben wir erwischt. Ich werde hinuntergehen.“
„Nein, Victor, er steht wieder auf… Geh lieber durchs Haus und direkt zur kleinen Tür in der Mauer. Das ist der einzige Fluchtweg.“
Victor rannte los, doch bevor er den Park erreichte, brach der Mann erneut zusammen. Raymonde rief den anderen Diener: „Albert, siehst du ihn da unten? Beim Hauptkreuzgang?“
„Ja, er kriecht durchs Gras. Er ist erledigt ... “
„Beobachte ihn von hier aus.“
„Es gibt für ihn keinen Fluchtweg. Rechts von den Ruinen ist die offene Wiese ...“
„Und du, Victor, bewachst die Tür links“, sagte sie und nahm ihr Gewehr in die Hand.
„Aber Fräulein, Sie gehen doch nicht wirklich hinunter?“
„Doch, doch“, sagte sie mit entschlossener Stimme und abrupten Bewegungen. „Lass mich ... ich habe noch eine Patrone übrig. Wenn er sich rührt ...“
Sie trat hinaus. Einen Moment später sah Albert, wie sie auf die Ruinen zuging. Er rief ihr aus dem Fenster zu: „Er hat sich hinter das Kloster geschleppt. Ich kann ihn nicht mehr sehen. Seien Sie vorsichtig, Fräulein ...“
Raymonde umrundete die alten Klostermauern, um dem Mann den Rückweg abzuschneiden, und Albert verlor sie bald aus den Augen. Als sie nach einigen Minuten nicht zurückkam, wurde er unruhig. Er hielt seinen Blick auf die Ruinen gerichtet und versuchte, anstatt die Treppe hinunterzugehen, die Leiter zu erreichen. Als ihm das gelang, kletterte er hinab und rannte direkt zu den Klostermauern, in deren Nähe er den Mann zuletzt gesehen hatte. Dreißig Schritte weiter fand er Raymonde, die zusammen mit Victor suchte.
„Und?“, fragte er.
„Man kann ihn nirgends fassen“, antwortete Victor.
„Die kleine Tür?“
„Ich war dort, hier ist der Schlüssel.“
„Trotzdem ... er muss ...“
„Oh, wir haben ihn sicher, den Schurken ... Er wird in zehn Minuten unser sein.“
Der Bauer und sein Sohn, durch den Schuss geweckt, kamen nun aus den Wirtschaftsgebäuden, die sich in einiger Entfernung auf der rechten Seite, aber innerhalb der Umfriedung der Mauern befanden. Sie waren niemandem begegnet.
„Natürlich nicht“, sagte Albert. „Der Schurke kann die Ruinen nicht verlassen haben ... Wir werden ihn aus irgendeinem Versteck herausholen.“
Sie organisierten eine systematische Durchsuchung, schlugen jedes Gebüsch aus, zogen die schweren Efeumassen beiseite, die sich um die Säulenschäfte rankten. Sie vergewisserten sich, dass die Kapelle ordnungsgemäß verschlossen war und keine Scheibe zerbrochen war. Sie umrundeten die Kreuzgänge und untersuchten jede Nische und jeden Winkel. Die Suche blieb erfolglos.
Es gab nur eine Entdeckung: an der Stelle, an der der Mann unter Raymondes Gewehrschuss gefallen war, fanden sie eine Chauffeursmütze aus sehr weichem, gelblich-braunem Leder. Abgesehen davon ... nichts.
Die Gendarmerie von Ouville-la-Rivière wurde um sechs Uhr morgens informiert und begab sich sofort zum Tatort, nachdem sie den Behörden in Dieppe eine Eilnachricht gesandt hatte, in der die Umstände des Verbrechens, die unmittelbar bevorstehende Festnahme des Haupttäters sowie „die Entdeckung seiner Kopfbedeckung und des Dolches, mit dem die Tat verübt worden war“, geschildert wurden.
Um zehn Uhr fuhren zwei gemietete Kutschen die sanfte Anhöhe hinab, die zum Haus führte. In der einen, einer altmodischen Kalesche, saßen der stellvertretende Staatsanwalt und der Untersuchungsrichter, begleitet von dessen Protokollführer. In der anderen, einer bescheidenen Droschke, befanden sich zwei Reporter, die das „Journal de Rouen“ und eine große Pariser Zeitung vertraten.
Das alte Schloss kam in Sicht ... einst die Abtsresidenz der Prioren von Ambrumesy, während der Revolution verstümmelt und später vom Comte de Gesvres restauriert, der es nun seit zwanzig Jahren besaß. Es bestand aus einem Hauptgebäude, das von einem mit Zinnen versehenen Uhrturm überragt wurde, sowie zwei Flügeln, die jeweils über eine Freitreppe mit steinernem Geländer zugänglich waren. Über die Parkmauern hinweg und jenseits des von hohen normannischen Klippen gestützten Hochlandes konnte man zwischen den Dörfern Sainte-Marguerite und Varengeville einen schmalen blauen Streifen des Ärmelkanals erkennen.
Hier lebte der Comte de Gesvres mit seiner Tochter Suzanne, einem zarten, blondhaarigen, hübschen Geschöpf, sowie seiner Nichte Raymonde de Saint-Véran, die er zwei Jahre zuvor zu sich genommen hatte, als Raymonde durch den gleichzeitigen Tod ihrer Eltern zur Waise geworden war. Das Leben auf dem Schloss verlief ruhig und geregelt. Gelegentlich kamen einige Nachbarn zu Besuch. Im Sommer fuhr der Graf mit den beiden jungen Frauen fast täglich nach Dieppe. Er war ein hochgewachsener Mann mit einem schönen, ernsten Gesicht und bereits ergrauendem Haar. Er war sehr wohlhabend, verwaltete sein Vermögen selbst und kümmerte sich mit Hilfe seines Sekretärs Jean Daval um seine ausgedehnten Ländereien.
Unmittelbar nach seiner Ankunft nahm der Untersuchungsrichter die ersten Aussagen von Sergeant Quevillon von der Gendarmerie auf. Die Ergreifung des Verbrechers, so unmittelbar sie auch bevorstand, war noch nicht erfolgt, doch jeder Ausgang des Parks wurde bewacht. Eine Flucht war unmöglich.
Die kleine Gesellschaft durchquerte zunächst den Kapitelsaal und das Refektorium, die sich beide im Erdgeschoss befanden, und begab sich dann in das erste Stockwerk. Sofort fiel ihnen die vollkommene Ordnung im Salon auf. Kein Möbelstück, kein Dekorationsgegenstand schien seinen gewohnten Platz verlassen zu haben – es fehlte nichts. An den Wänden rechts und links hingen prachtvolle flämische Wandteppiche mit figürlichen Darstellungen. Auf den Wandpaneelen gegenüber den Fenstern befanden sich vier prächtige Gemälde in zeitgenössischen Rahmen, die mythologische Szenen darstellten. Es waren die berühmten Werke von Rubens, die der Comte de Gesvres zusammen mit den flämischen Wandteppichen von seinem mütterlichen Onkel, dem Marques de Bobadilla, einem spanischen Granden, geerbt hatte.
Monsieur Filleul bemerkte: „Wenn das Verbrechen Diebstahl zum Motiv hatte, dann war dieser Salon jedenfalls nicht das Ziel.“
„Das kann man nicht wissen!“, sagte der Stellvertreter, der selten sprach, aber wenn er es tat, stets die Ansicht des Richters infrage stellte.
„Mein lieber Herr, der erste Gedanke eines Einbrechers wäre doch, diese Gemälde und Wandteppiche mitzunehmen, die von weltweitem Ruhm sind.“
„Vielleicht fehlte die Zeit dazu.“
„Wir werden sehen.“
In diesem Moment trat der Comte de Gesvres in Begleitung des Arztes ein. Der Graf, der keinerlei Anzeichen zeigte, unter der erlittenen Attacke zu leiden, begrüßte die beiden Beamten. Dann öffnete er die Tür zum Boudoir.
Dieser Raum, den seit der Entdeckung des Verbrechens niemand mehr betreten hatte, unterschied sich vom Salon durch die größte Unordnung. Zwei Stühle waren umgestürzt, ein Tisch lag in Trümmern und mehrere Gegenstände – eine Reiseuhr, eine Mappe, eine Schreibwarenkassette – lagen auf dem Boden. Auf einigen der verstreuten Blätter war Blut zu sehen.
Der Arzt schlug das Leinentuch zurück, das die Leiche bedeckte. Jean Daval, in seinem üblichen Samtanzug gekleidet und mit genagelten Schuhen an den Füßen, lag ausgestreckt auf dem Rücken, mit einem Arm unter sich gefaltet. Sein Kragen und seine Krawatte waren entfernt worden, sein Hemd aufgerissen, sodass eine große Wunde in der Brust sichtbar wurde.
„Der Tod muss sofort eingetreten sein“, erklärte der Arzt. „Ein einziger Messerstich reichte aus.“
„Es war zweifellos das Messer, das ich auf dem Kaminsims im Salon neben einer Lederkappe gesehen habe?“, fragte der Untersuchungsrichter.
„Ja“, sagte der Comte de Gesvres, „das Messer wurde hier aufgesammelt. Es stammt aus derselben Trophäensammlung im Salon, aus der meine Nichte, Mademoiselle de Saint-Véran, das Gewehr riss. Was die Chauffeursmütze betrifft, so gehört sie offensichtlich dem Mörder.“
Monsieur Filleul untersuchte einige weitere Details im Raum, stellte dem Arzt einige Fragen und bat dann Monsieur de Gesvres, zu erzählen, was er gesehen und gehört hatte. Der Graf berichtete: „Jean Daval weckte mich. Ich hatte schlecht geschlafen, mit kurzen wachen Momenten, in denen ich Geräusche zu hören glaubte, als ich plötzlich die Augen öffnete und Daval am Fußende meines Bettes stehen sah. Er hielt eine Kerze in der Hand und war vollständig angekleidet – so wie er jetzt ist, denn er arbeitete oft bis tief in die Nacht. Er wirkte äußerst erregt und sagte leise: ‚Da ist jemand im Salon.‘ Ich hörte selbst ein Geräusch. Ich stand auf und öffnete leise die Tür zum Boudoir. Im selben Augenblick wurde die Tür dort, die in den großen Salon führt, aufgestoßen, und ein Mann erschien, der auf mich lossprang und mich mit einem Schlag an der Schläfe bewusstlos machte. Ich erzähle Ihnen dies ohne viele Details, Monsieur Untersuchungsrichter, weil ich mich nur an die wesentlichen Tatsachen erinnere, und diese folgten in unglaublicher Schnelligkeit aufeinander.“
„Und danach?“
„Danach weiß ich nichts mehr ... Ich verlor das Bewusstsein. Als ich wieder zu mir kam, lag Daval neben mir, tödlich verwundet.“
„Hegen Sie auf den ersten Blick keinen Verdacht gegen jemanden?“
„Nein, niemanden.“
„Sie haben keinen Feind?“
„Nicht, dass ich wüsste.“
„Und Monsieur Daval?“
„Daval? Ein Feind? Er war der beste Mensch, den es gab.“
„Dennoch gab es einen Einbruch und einen Mord: Es muss ein Motiv dafür geben.“
„Das Motiv? Es war nichts als Raub.“
„Raub? Man hat Ihnen also etwas gestohlen?“
„Nein, nichts.“
„In diesem Fall ...?“
„In diesem Fall, wenn sie nichts gestohlen haben und nichts fehlt, dann haben sie zumindest etwas mitgenommen.“
„Was?“
„Ich weiß es nicht. Aber meine Tochter und meine Nichte werden Ihnen mit absoluter Sicherheit sagen, dass sie zwei Männer hintereinander durch den Park haben gehen sehen und dass diese beiden Männer ziemlich schwere Lasten trugen.“
„Die jungen Damen ... “
„Die jungen Damen träumten vielleicht nur, meinen Sie? Ich wäre geneigt, es zu glauben, denn ich erschöpfe mich seit heute Morgen in Nachforschungen und Vermutungen. Doch es ist ein Leichtes, sie zu befragen.“
Die beiden Cousinen wurden in den großen Salon gerufen. Suzanne, noch immer bleich und zitternd, konnte kaum sprechen. Raymonde, die energischer war, mehr Männlichkeit ausstrahlte und auch hübscher war, mit dem goldenen Schimmer in ihren braunen Augen, schilderte die Ereignisse der Nacht und die Rolle, die sie dabei gespielt hatte.
„Darf ich also annehmen, Mademoiselle, dass Ihre Aussage zweifelsfrei ist?“
„Absolut. Die Männer, die durch den Park gingen, nahmen etwas mit.“
„Und der dritte Mann?“
„Er verließ diesen Ort mit leeren Händen.“
„Könnten Sie ihn uns beschreiben?“
„Er blendete uns ständig mit dem Licht seiner Laterne. Alles, was ich sagen kann, ist, dass er groß und kräftig gebaut war.“
„Erschien er Ihnen ebenso, Mademoiselle?“, fragte der Untersuchungsrichter und wandte sich an Suzanne de Gesvres.
„Ja ... oder vielmehr, nein“, sagte Suzanne nachdenklich. „Ich hatte den Eindruck, dass er von mittlerer Größe und schlank war.“
Monsieur Filleul lächelte; er war es gewohnt, dass Zeugen ein und denselben Sachverhalt unterschiedlich wahrnahmen: „Wir haben es also einerseits mit einem Mann zu tun, dem im Salon, der gleichzeitig groß und klein, kräftig und schlank ist, und andererseits mit zwei Männern im Park, denen vorgeworfen wird, Gegenstände aus dem Salon entfernt zu haben ... die sich jedoch noch immer hier befinden!“
Monsieur Filleul war, wie er selbst zu sagen pflegte, ein ironischer Richter. Zudem war er ein sehr ehrgeiziger Mann, der weder eine Zuhörerschaft noch die Gelegenheit scheute, öffentlich sein taktisches Geschick zur Schau zu stellen. Dies zeigte sich an der wachsenden Zahl von Menschen, die sich mittlerweile im Raum drängten. Zu den Journalisten hatten sich der Bauer und sein Sohn, der Gärtner und dessen Frau, das Hauspersonal des Schlosses und die beiden Kutscher gesellt, die die Droschken von Dieppe her gefahren hatten.
Monsieur Filleul fuhr fort: „Da wäre auch noch die Frage, auf welche Weise die dritte Person verschwand. War es dieses Gewehr, mit dem Sie schossen, Mademoiselle, und von diesem Fenster aus?“
„Ja. Der Mann erreichte die Grabplatte, die fast unter den Brombeersträuchern verborgen liegt, links von den Kreuzgängen.“
„Aber er richtete sich wieder auf?“
„Nur halb. Victor lief sofort hinunter, um die kleine Tür zu bewachen, und ich folgte ihm, während ich den zweiten Bediensteten, Albert, hier oben Wache halten ließ.“
Albert legte nun seine Aussage ab, und der Untersuchungsrichter schlussfolgerte: „Demnach konnte der Verwundete nicht nach links entkommen, da Ihr Kollege die Tür bewachte, noch nach rechts, da Sie ihn über den Rasen hätten gehen sehen müssen. Logischerweise müsste er sich also genau in dem Bereich befinden, der vor unseren Augen liegt.“
„Ich bin mir dessen sicher.“
„Und Sie, Mademoiselle?“
„Ja.“
„Und ich auch“, sagte Victor.
Der stellvertretende Staatsanwalt bemerkte spöttisch: „Das Untersuchungsgebiet ist recht überschaubar. Wir brauchen die Suche, die vor vier Stunden begonnen wurde, nur fortzusetzen.“
„Vielleicht haben wir diesmal mehr Glück.“
Monsieur Filleul nahm die Lederkappe vom Kaminsims, untersuchte sie und flüsterte dem Gendarmeriewachtmeister zu: „Wachtmeister, schicken Sie sofort einen Ihrer Männer nach Dieppe. Er soll zu Maigret, dem Hutmacher in der Rue de la Barre, gehen und ihn bitten, ihm nach Möglichkeit zu sagen, wem diese Kappe verkauft wurde.“
Das „Untersuchungsgebiet“, wie es der Staatsanwalt formuliert hatte, beschränkte sich auf den Bereich zwischen dem Haus, dem Rasen auf der rechten Seite und dem Winkel, den die linke Mauer mit der gegenüberliegenden Mauer des Hauses bildete ... also auf ein Quadrat von etwa hundert Metern Seitenlänge, in dem sich die Ruinen von Ambrumesy, das berühmte mittelalterliche Kloster, in unregelmäßigen Abständen erhoben.
Sofort bemerkten sie die Spuren, die der Flüchtige im niedergetretenen Gras hinterlassen hatte. An zwei Stellen fanden sich schwarz geronnene Blutflecken. Nach der Biegung am Ende der Kreuzgänge gab es jedoch keine sichtbaren Spuren mehr, da der Boden hier mit Kiefernnadeln bedeckt war und sich somit nicht für Abdrücke eignete. Aber in diesem Fall ... wie hatte es der Verwundete geschafft, den Blicken von Raymonde, Victor und Albert zu entkommen? Es gab nur einige Gesträuche, die die Diener und Gendarmen bereits mehrfach durchkämmt hatten, und eine Anzahl von Grabsteinen, unter denen sie ebenfalls nachgesehen hatten.
Der Untersuchungsrichter ließ den Gärtner, der den Schlüssel besaß, die Kapelle öffnen. Sie war ein wahres Schmuckstück der Bildhauerkunst, ein steinernes Heiligtum, das sowohl vom Zahn der Zeit als auch von den Revolutionären verschont geblieben war. Mit ihrem kunstvollen Skulpturenschmuck am Portal und ihrer Miniaturbevölkerung von Statuetten galt sie als ein Meisterwerk der normannisch-gotischen Baukunst. Das Innere war schlicht, mit nichts als einem Marmoraltar als Schmuck, und bot keinerlei Versteckmöglichkeiten. Zudem hätte der Flüchtige erst einmal Zutritt erlangen müssen. Doch wie?
Die Untersuchung führte sie zur kleinen Tür in der Mauer, die den Besuchern den Zugang zu den Ruinen ermöglichte. Sie öffnete sich zu einem Hohlweg, der zwischen der Parkmauer und einem Gehölz mit verlassenen Steinbrüchen verlief. Monsieur Filleul beugte sich vor: Der Staub des Weges zeigte die Spuren von Autoreifen mit Antirutsch-Profil.
Raymonde und Victor erinnerten sich, dass sie nach dem Schuss das dumpfe Brummen eines Automotors zu hören geglaubt hatten.
Der Untersuchungsrichter schlug vor: „Der Mann muss sich seinen Komplizen angeschlossen haben.“
„Unmöglich!“, rief Victor. „Ich war hier, während Mademoiselle und Albert ihn noch im Blick hatten.“
„Unsinn, er muss irgendwo sein! Entweder draußen oder drinnen – wir haben keine andere Wahl!“
„Er ist hier“, beharrten die Diener stur.
Der Untersuchungsrichter zuckte die Schultern und kehrte mit einer mehr oder weniger mürrischen Stimmung ins Haus zurück. Kein Zweifel, es war ein wenig erfolgversprechender Fall. Ein Diebstahl, bei dem nichts gestohlen wurde, ein unsichtbarer Gefangener – was könnte unbefriedigender sein?
Es war spät. Monsieur de Gesvres bat die Beamten und die beiden Journalisten, zum Mittagessen zu bleiben. Sie aßen schweigend, dann kehrte Monsieur Filleul in den Salon zurück, wo er die Diener befragte. Doch das Geräusch von Pferdehufen erklang im Hof, und kurz darauf trat der Gendarm ein, der nach Dieppe geschickt worden war.
„Nun, haben Sie den Hutmacher gesehen?“, rief der Untersuchungsrichter, der endlich auf konkrete Informationen hoffte.
„Ich habe Monsieur Maigret gesehen. Die Mütze wurde an einen Droschkenkutscher verkauft.“
„Einen Droschkenkutscher?“
„Ja, an einen Kutscher, der seine Droschke vor dem Laden anhielt und um eine Chauffeursmütze aus gelbem Leder für einen seiner Kunden bat. Es war die einzige, die noch übrig war. Er bezahlte, kümmerte sich nicht um die Größe und fuhr davon. Er hatte es sehr eilig.“
„Was für eine Droschke war es?“
„Eine Kalesche.“
„Und an welchem Tag geschah das?“
„An welchem Tag? Heute, um acht Uhr morgens.“
„Heute Morgen? Wovon sprechen Sie?“
„Die Mütze wurde heute Morgen gekauft.“
„Aber das ist unmöglich, denn sie wurde letzte Nacht im Park gefunden. Wenn sie dort gefunden wurde, muss sie dort gewesen sein und folglich muss sie vorher gekauft worden sein.“
„Der Hutmacher sagte mir, dass sie heute Morgen gekauft wurde.“
Einen Moment lang herrschte allgemeine Verwirrung. Der ratlose Untersuchungsrichter bemühte sich zu verstehen. Plötzlich fuhr er zusammen, als ob ihn ein Geistesblitz getroffen hätte: „Holt den Kutscher, der uns heute Morgen hierher brachte! Den Mann, der die Kalesche fuhr! Holt ihn sofort!“
Der Gendarmeriewachtmeister und sein Untergebener liefen zu den Ställen. Wenige Minuten später kehrte der Wachtmeister allein zurück.
„Wo ist der Kutscher?“
„Er bat in der Küche um etwas zu essen, nahm sein Mittagessen ein und dann ...“
„Und dann ... ?“
„Dann ging er.“
„Mit seiner Droschke?“
„Nein. Er gab vor, einen Verwandten in Ouville besuchen zu wollen, und lieh sich das Fahrrad des Stallburschen. Hier sind sein Hut und sein Mantel.“
„Aber ging er ohne Kopfbedeckung?“
„Nein, er nahm eine Mütze aus seiner Tasche und setzte sie auf.“
„Eine Mütze?“
„Ja, es scheint eine aus gelbem Leder zu sein.“
„Eine Mütze aus gelbem Leder? Aber nein, wir haben sie hier!“
„Das stimmt, Monsieur Untersuchungsrichter, aber seine sieht genauso aus.“
Der Stellvertreter kicherte: „Sehr witzig! Unglaublich amüsant! Es gibt zwei Mützen – die eine, die echte, die unser einziges Beweisstück darstellte, ist mit dem falschen Kutscher verschwunden! Die andere, die falsche, haben Sie hier in Ihren Händen. Oh, der Bursche hat uns gut an der Nase herumgeführt!“
„Holt ihn! Bringt ihn zurück!“, rief Monsieur Filleul. „Zwei Männer zu Pferd, Wachtmeister Quevillon, und zwar mit voller Geschwindigkeit!“
„Er ist inzwischen weit weg“, sagte der Stellvertreter.
„Er kann so weit sein, wie er will, aber wir müssen ihn trotzdem fassen.“
„Ich hoffe es, aber ich denke, Monsieur Unteruchungsrichter, dass Sie sich vor allem hier konzentrieren sollten. Würden Sie bitte dieses Stück Papier lesen, das ich gerade in der Manteltasche fand?“
„In welcher Manteltasche?“
„In der des Kutschers.“
Und der stellvertretende Staatsanwalt reichte Monsieur Filleul ein vierfach gefaltetes Stück Papier, auf dem mit Bleistift, in einer mehr oder weniger gewöhnlichen Handschrift, folgende Worte geschrieben standen:
„Wehe dem jungen Fräulein, wenn sie den Gouverneur getötet hat!“
Dieses Ereignis sorgte für einige Aufregung.
„Ein Wink für die Klugen!“, murmelte der Stellvertreter. „Jetzt sind wir gewarnt.“
„Monsieur le Comte“, sagte der Untersuchungsrichter, „ich bitte Sie, sich nicht beunruhigen zu lassen. Und Sie auch nicht, Mademoiselle. Diese Drohung ist bedeutungslos, da die Polizei vor Ort ist. Wir werden alle Vorsichtsmaßnahmen treffen, und ich garantiere Ihre Sicherheit. Und was Sie betrifft, meine Herren, ich zähle auf Ihre Diskretion. Sie haben dieser Untersuchung nur dank meiner übertriebenen Freundlichkeit gegenüber der Presse beigewohnt, und es wäre ein schlechter Dienst ...“
Er unterbrach sich plötzlich, als ob ihn ein Gedanke getroffen hätte, sah die beiden jungen Männer nacheinander an und ging auf den ersten zu: „Welche Zeitung vertreten Sie, mein Herr?“
„Das Journal de Rouen.“
„Haben Sie Ihre Akkreditierung?“
„Hier.“
Die Karte war in Ordnung. Es gab nichts weiter zu sagen. Monsieur Filleul wandte sich dem anderen Reporter zu: „Und Sie, mein Herr?“
„Ich?“
„Ja, Sie. Für welche Zeitung schreiben Sie?“
„Nun, Monsieur Untersuchungsrichter, ich schreibe für verschiedene Zeitungen – querbeet –“
„Ihre Akkreditierung?“
„Ich habe keine.“
„Oh! Wieso das?“
„Um eine Pressekarte zu erhalten, muss man fest bei einer Zeitung angestellt sein.“
„Nun?“
„Nun, ich bin nur ein gelegentlicher Mitarbeiter, ein Freiberufler. Ich schicke Artikel an diese oder jene Zeitung. Sie werden je nach Lage der Dinge veröffentlicht oder abgelehnt.“
„In diesem Fall – wie ist Ihr Name? Wo sind Ihre Papiere?“
„Mein Name würde Ihnen nichts sagen. Und Papiere habe ich keine.“
„Sie haben keinerlei Dokumente, die Ihre Tätigkeit belegen?“
„Ich habe keine feste Tätigkeit.“
„Aber hören Sie, mein Herr“, rief der Untersuchungsrichter mit gewisser Schärfe, „Sie können doch nicht erwarten, Ihre Anonymität zu wahren, nachdem Sie sich hier mit einer List eingeschlichen und die Geheimnisse der Polizei ausgekundschaftet haben!“
„Ich darf wohl anmerken, Monsieur Untersuchungsrichter, dass Sie mich beim Eintreten nichts gefragt haben und ich daher nichts zu sagen hatte. Außerdem kam es mir nicht in den Sinn, dass Ihre Untersuchung geheim sei, wo doch jeder Zutritt hatte – einschließlich eines der Verbrecher!“
Er sprach ruhig, mit unendlicher Höflichkeit. Er war ein sehr junger Mann, sehr groß, sehr schlank und völlig ohne modische Absichten gekleidet – in eine Jacke und eine Hose, die beide zu klein für ihn waren. Sein Gesicht war rosig wie das eines Mädchens, seine Stirn breit, bedeckt mit kurz geschnittenem Haar, und sein blonder Bart ungleichmäßig gewachsen und schlecht gepflegt. Seine leuchtenden Augen strahlten Intelligenz aus. Er wirkte kein bisschen verlegen und trug ein freundliches Lächeln, frei von jeder Ironie.
Monsieur Filleul betrachtete ihn mit einer aggressiven Mischung aus Misstrauen und Verärgerung. Die beiden Gendarmen traten vor. Doch der junge Mann rief fröhlich aus: „Monsieur Untersuchungsrichter, Sie verdächtigen mich offenbar, ein Komplize zu sein. Aber wenn das der Fall wäre, hätte ich mich nicht längst aus dem Staub gemacht, genau wie mein vermeintlicher Mitverbrecher?“
„Sie hätten hoffen können ...“
„Jede Hoffnung wäre absurd gewesen. Ein Moment des Nachdenkens, Monsieur Untersuchungsrichter, wird Sie überzeugen, dass es rein logisch betrachtet ...“
Monsieur Filleul sah ihm scharf in die Augen und sagte bestimmt: „Keine Spielchen mehr! Ihr Name?“
„Isidore Beautrelet.“
„Ihr Beruf?“
„Schüler der Abschlussklasse am Lycée Janson-de-Sailly.“
Monsieur Filleul riss erstaunt die Augen auf.
„Was erzählen Sie da? Abschlussklasse ...“
„Am Lycée Janson, Rue de la Pompe, Hausnummer ...“
„Hören Sie mal“, rief Monsieur Filleul ungläubig, „Sie wollen mich doch wohl nicht zum Narren halten! Das geht zu weit!“
„Ich muss gestehen, Monsieur Untersuchungsrichter, dass mich Ihre Verwunderung verwundert. Was hindert mich daran, Schüler der Abschlussklasse am Lycée Janson zu sein? Mein Bart, vielleicht? Seien Sie unbesorgt: mein Bart ist falsch!“
Isidore Beautrelet riss sich die wenigen Locken vom Kinn – und sein bartloses Gesicht wirkte noch jugendlicher und rosiger, ein echtes Schuljungenantlitz. Mit einem kindlichen Lachen, das seine weißen Zähne entblößte, fragte er: „Sind Sie nun überzeugt? Brauchen Sie weitere Beweise? Hier, Sie können die Adresse auf diesen Briefen meines Vaters lesen: ‚An Monsieur Isidore Beautrelet, Internatsschüler, Lycée Janson-de-Sailly.‘“
Ob überzeugt oder nicht, Monsieur Filleul schien nicht sonderlich angetan von dieser Enthüllung. Er fragte mürrisch: „Was tun Sie hier?“
„Nun – ich – ich bilde mich weiter.“
„Dafür gibt es Schulen – Ihre zum Beispiel.“
„Sie vergessen, Monsieur Untersuchungsrichter, dass heute der 23. April ist und wir mitten in den Osterferien stecken.“
„Nun?“
„Nun, ich habe jedes Recht, meine Ferien nach Belieben zu verbringen.“
„Ihr Vater ...“
„Mein Vater lebt am anderen Ende des Landes, in Savoyen, und er hat mir selbst geraten, eine kleine Reise an die Nordküste zu unternehmen.“
„Mit einem falschen Bart?“
„Oh, nein! Das war meine eigene Idee. In der Schule sprechen wir viel über mysteriöse Abenteuer. Wir lesen Detektivgeschichten, in denen sich die Leute verkleiden, wir stellen uns die schrecklichsten und kompliziertesten Fälle vor. Also dachte ich, ich würde mir ein wenig Spaß erlauben, und legte mir diesen falschen Bart zu. Außerdem hatte ich den Vorteil, ernst genommen zu werden, und spielte den Pariser Reporter. So kam es, dass ich letzte Nacht, nach einer ereignislosen Woche, die Freude hatte, meinen Kollegen aus Rouen kennenzulernen. Und heute Morgen, als er vom Mord in Ambrumesy erfuhr, schlug er mir freundlicherweise vor, ihn zu begleiten und die Kosten für eine Droschke zu teilen.“
Isidore Beautrelet sagte all dies mit einer offenen, ungekünstelten Einfachheit, deren Charme man sich kaum entziehen konnte. Selbst Monsieur Filleul, obwohl er seine misstrauische Zurückhaltung bewahrte, hörte ihm mit gewissem Vergnügen zu. In einem weniger gereizten Ton fragte er: „Und? Sind Sie mit Ihrer Expedition zufrieden?“
„Begeistert! Umso mehr, als ich noch nie an einer solchen Untersuchung teilgenommen habe, und ich finde, dass dieser Fall nicht ohne Reiz ist.“
„Und nicht ohne jene geheimnisvolle Komplexität, die Sie so sehr schätzen ...“
„Und die so anregend ist, Monsieur Untersuchungsrichter! Ich kenne nichts Spannenderes, als zu beobachten, wie sich die Fakten aus dem Dunkel herauskristallisieren, sich gleichsam zusammenfügen und allmählich die wahrscheinliche Wahrheit formen.“
„Die wahrscheinliche Wahrheit! Sie gehen ja sehr schnell vor, junger Mann! Wollen Sie etwa andeuten, dass Sie bereits eine kleine Lösung des Rätsels parat haben?“
„Oh nein!“, erwiderte Beautrelet lachend.
„Nur ... es scheint mir, dass es gewisse Punkte gibt, zu denen man sich nicht unmöglich eine Meinung bilden kann, und andere wiederum sind so eindeutig, dass sie eine Schlussfolgerung geradezu nahelegen.“
„Oh, das wird ja immer interessanter, und ich werde am Ende doch noch etwas erfahren! Denn ich gestehe zu meiner großen Schande, dass ich nichts weiß.“
„Das liegt daran, dass Sie keine Zeit hatten, darüber nachzudenken, Monsieur Untersuchungsrichter. Das Wichtigste ist, nachzudenken. Fakten tragen fast immer ihre eigene Erklärung in sich!“
„Und nach Ihrer Auffassung tragen die Fakten, die wir gerade festgestellt haben, ihre eigene Erklärung in sich?“
„Glauben Sie das etwa nicht selbst? Jedenfalls habe ich keine anderen festgestellt als diejenigen, die im offiziellen Bericht stehen.“
„Gut! Wenn ich Sie nun also fragen würde, welche Gegenstände aus diesem Raum gestohlen wurden ...“
„Dann würde ich antworten, dass ich es weiß.“
„Bravo! Mein Herr weiß also mehr als der Besitzer selbst. Monsieur de Gesvres hat alles vollständig erfasst: Monsieur Isidore Beautrelet jedoch nicht. Er vermisst ein dreiteiliges Bücherregal und eine lebensgroße Statue, die niemand jemals bemerkt hat. Und wenn ich Sie nach dem Namen des Mörders fragen würde?“
„Dann würde ich abermals antworten, dass ich ihn kenne.“
Alle Anwesenden fuhren erschrocken zusammen. Der Staatsanwalt und der Journalist rückten näher. Monsieur de Gesvres und die beiden jungen Damen lauschten mit angespanntem Interesse, beeindruckt von Beautrelets ruhiger Selbstsicherheit.
„Sie kennen den Namen des Mörders?“
„Ja.“
„Und vielleicht auch den Ort, an dem er sich versteckt hält?“
„Ja.“
Monsieur Filleul rieb sich die Hände.
„Welch ein Glücksfall! Diese Festnahme wird meiner Karriere alle Ehre machen. Und können Sie mir diese sensationellen Enthüllungen jetzt machen?“
„Ja, jetzt ... oder vielmehr, wenn es Ihnen nichts ausmacht, in ein oder zwei Stunden, sobald ich Ihrer Untersuchung bis zum Ende beigewohnt habe.“
„Nein, nein, junger Mann, hier und jetzt, bitte.“
In diesem Moment trat Raymonde de Saint-Véran, die seit Beginn dieser Szene ihre Augen nicht von Isidore Beautrelet gelöst hatte, auf Monsieur Filleul zu: „Monsieur Untersuchungsrichter ...“
„Ja, Mademoiselle?“
Sie zögerte zwei oder drei Sekunden, hielt ihren Blick auf Beautrelet gerichtet und sagte dann, indem sie sich an Monsieur Filleul wandte: „Ich möchte, dass Sie Monsieur fragen, warum er sich gestern in dem Hohlweg aufhielt, der zur kleinen Tür führt.“
Dies war eine unerwartete und dramatische Wendung. Isidore Beautrelet schien aus der Fassung gebracht: „Ich, Mademoiselle? Ich? Sie haben mich gestern gesehen?“
Raymonde blieb nachdenklich, ihre Augen ruhten auf Beautrelet, als versuche sie, sich ihrer eigenen Überzeugung sicher zu werden. Dann sagte sie mit fester Stimme: „Um vier Uhr nachmittags, als ich das Wäldchen durchquerte, begegnete ich in dem Hohlweg einem jungen Mann von Monsieur’s Größe, gekleidet wie er und mit einem ebenso geschnittenen Bart – und ich hatte den sehr deutlichen Eindruck, dass er versuchte, sich zu verstecken.“
„Und das war ich?“
„Ich kann es nicht mit absoluter Sicherheit sagen, denn meine Erinnerung ist etwas vage. Dennoch ... dennoch glaube ich es ... wenn nicht, dann wäre es eine außergewöhnliche Ähnlichkeit ...“