Lust im Louvre - Lilly Grünberg - E-Book

Lust im Louvre E-Book

Lilly Grünberg

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Beschreibung

Vierhundert Jahre alt. Zweigeschlechtlich. Verflucht. Tagsüber ist Matteo aus kaltem Marmor – die Statue des Hermaphroditos, ausgestellt im Louvre. Doch sobald die Nacht hereinbricht, erwacht sein Körper. Schön. Sinnlich. Begehrt. Und allein. Niemand darf wissen, wer oder was er ist – denn wer sein Geheimnis erfährt, teilt sein Schicksal: ewiges Leben im falschen Körper, gefangen zwischen den Zeiten. Um das Gefühl von Nähe nicht zu verlieren, stürzt sich Matteo in flüchtige Begegnungen, erotische Spiele und körperliche Rauschzustände. Doch wahre Erfüllung bleibt ihm verwehrt. Bis Chloé auftaucht – wild, klug, unberechenbar – und etwas in ihm berührt, das längst verloren schien. Kann Liebe erlösen, was ein Fluch gebunden hat? Oder wird auch sie zum Opfer seiner Wahrheit? Ein Roman über unstillbares Verlangen, die Suche nach Identität – und die gefährlichste aller Sehnsüchte: die nach echter Liebe.

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Seitenzahl: 265

Veröffentlichungsjahr: 2025

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ELYSION-BOOKS
Inhalt
1 – jetzt, Louvre, Paris
2 – 1990, in einer Sexbar, Paris
3 – jetzt, Louvre, Paris
4 – 2010, Nachtleben, Paris
5 – vor drei Monaten, eine Hochzeit in Paris
6 – Anno 1888, Paris
7 – Anno 1625, Villa Borghese, Rom
8 – Anno 1825, die Unterwelt von Paris
9 – November 2024, Paris
10 – vor ungefähr einem Monat, Louvre
11 – Anno 1633, Villa Coloma, Rom
13 – jetzt, Lion d’Or, Paris
14 – jetzt, Paris
15 – zwei Wochen später, Louvre
16 – jetzt, Louvre
17 – August 1911, Louvre
18 – jetzt, Louvre
19 – jetzt, in Chloés Wohnung
20 – ein neues Leben
Epilog
Nachwort

Inka-Gabriela Schmidt

Lilly Grünberg

Lust im Louvre

Die Nächte des Hermaphroditos

Inka-Gabriela Schmidt

Unter ihrem realen Namen hat sich die Autorin in die Herzen der Fantasy-Liebhaber geschrieben. Bei Elysion-Books ist die Neuauflage des Romans »Engelsleid« erschienen.

Unter dem Pseudonym Lilly Grünberg ist die Autorin der Erotik- und SM-Leserschaft bekannt. Bei Elysion-Books ist bisher die Trilogie »DEIN«, »SEIN« und »MEIN« erschienen, die überarbeitete Neuauflage von »Verführung der Unschuld 1« und »Begierde«, die Fortsetzung »Verführung der Unschuld 2«, Kurzgeschichten in mehreren Anthologien sowie die SM-Ratgeber »Das Leid mit der Leidenschaft« und »Die Lust mit der Unterwerfung«.

Der vorliegende Roman vereint beide Genres miteinander.

Aktuelle Infos unter www.inwisch.de und www.lilly-romane.de

Inka-Gabriela Schmidt

Lilly Grünberg

Lust im Louvre

Die Nächte des Hermaphroditos

ELYSION-BOOKS

Print: 1. Auflage: Januar 2026

eBook: 1. Auflage: Dezember 2025

VOLLSTÄNDIGE AUSGABE

ORIGINALAUSGABE

© 2025 BY ELYSION BOOKS, Jennifer Schreiner, Auenstr. 105, 04178 Leipzig

ALL RIGHTS RESERVED

Bei Fragen zur Produktsicherheit wenden Sie sich an:

[email protected]

UMSCHLAGGESTALTUNG: Ulrike Grabowski

ISBN (vollständiges Ebook) 978-3-96000-379-3

ISBN (gedrucktes Buch) 978-3-96000-378-6

Mehr himmlisch heißen Lesespaß finden Sie auf

www.Elysion-Books.com

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Wir sind Mitglied im Börsenverein des deutschen Buchhandels.

Inhalt

1 – jetzt, Louvre, Paris

2 – 1990, in einer Sexbar, Paris

3 – jetzt, Louvre, Paris

4 – 2010, Nachtleben, Paris

5 – vor drei Monaten, eine Hochzeit in Paris

6 – Anno 1888, Paris

7 – Anno 1625, Villa Borghese, Rom

8 – Anno 1825, die Unterwelt von Paris

9 – November 2024, Paris

10 – vor ungefähr einem Monat, Louvre

11 – Anno 1633, Villa Coloma, Rom

12 – vor ungefähr einem Monat, Paris

13 – jetzt, Lion d’Or, Paris

14 – jetzt, Paris

15 – zwei Wochen später, Louvre

16 – jetzt, Louvre

17 – August 1911, Louvre

18 – jetzt, Louvre

19 – jetzt, in Chloés Wohnung

20 –Ein neues Leben

Epilog

Nachwort

1 – jetzt, Louvre, Paris

Das Kribbeln auf meiner Haut nimmt zu und ich seufze innerlich vor Ungeduld. Es fühlt sich an, als erwache ein eingeschlafener Arm oder Fuß wieder zum Leben. Dabei denke ich an das putzige Säbelzahneichhörnchen aus Ice Age, das mit dem Arsch im tauenden Eisblock feststeckt und kaum erwarten kann, endlich davon loszukommen. Ich habe mich im Kino schier kaputt gelacht über das Tierchen, das seine persönlichen Katastrophen magisch anzuziehen scheint.

Geht es mir nicht ähnlich? Auch ich stecke im Untergrund fest, bis er mich freigibt und bin ein Pechvogel, der durch einen dummen Zufall in diese Situation geraten ist. Eigentlich sollte ich mich nach so langer Zeit und unzähligen Wiederholungen längst an den allnächtlichen Ablauf gewöhnt haben.

Die letzten Sonnenstrahlen verblassen und die Dämmerung kündigt sich an. Zwar kann ich das von meiner Position aus nicht sehen, da die Raumbeleuchtung die äußeren Einflüsse verfälscht, und mehr als ein Blinzeln bringe ich außerdem auch nicht zustande. Aber ich fühle es. Mein Körper, meine innere Uhr fühlt, dass es bald soweit ist. Voller Ungeduld, Abend für Abend und Jahr für Jahr. Bald kann ich den ätzenden Tag hinter mir lassen und für ein paar Stunden das Vergessen in der Dunkelheit suchen.

Ja, und was für ein Tag wieder hinter mir liegt! Touristenströme, Schulklassen, Studenten, Reisegruppen, Rentnerpaare, Liebespärchen, Einzelpersonen und Klugscheißer. Alle kommen sie Tag für Tag – außer dienstags – in den Louvre und starren uns an.

Uns.

Die Exponate.

Von Künstlern geschaffene Objekte aus Stein, so realitätsnah modelliert, dass manche Besucher sich nicht beherrschen können und uns betatschen (wenn gerade keine Aufsicht im Saal zuguckt), um sich davon zu überzeugen, dass wir wirklich nicht leben oder dass wir nicht nur aus Kunststoff oder Gips bestehen. Nein, wir sind keine Fälschungen! Wir sind kunstvoll behauener und geschliffener Marmor, meine Damen und Herren! Also Finger weg.

Wie ich das hasse!

Ich will kein Objekt sein. Ich will nicht angestarrt, bestaunt, bekrittelt oder gar angefasst werden. Ich will nicht länger dieses wichtigtuerische Fachsimpeln hören, über die Qualität der Arbeit, über meine Nacktheit, über die Besonderheit oder Abartigkeit meiner Natur, darüber was der Künstler sich gedacht hat und mit der Skulptur ausdrücken wollte, und ob ich nun das antike Original oder doch nur eine spätere Kopie bin …

Wenn ich tagsüber wenigstens tief und fest schlafen könnte, dann bekäme ich das alles nicht mit. Aber ich schlafe nie. Außer dienstags, wenn das Museum glücklicherweise geschlossen hat. An den anderen Tagen verfalle ich maximal in eine Art Dämmerzustand. Ich höre Geräusche, ich döse traumlos vor mich hin, aber ich bin genauso schnell wieder hellwach, wenn mir jemand zu nahe kommt. Wie ein Wachhund, der bei dem leisesten Geräusch aus dem Tiefschlaf hochschreckt.

Wut über das Ausgestelltsein, über das Ausgeliefertsein, über meinen Gesamtzustand kocht in meinen Adern und es wundert mich, dass man meinen trommelnden Herzschlag nicht hört. Das dumpfe Wummern in meinem Brustkorb, das mir in den Ohren dröhnt, wenn ich am liebsten ausrasten, schreien und dabei wild um mich schlagen würde.

Ich weiß nicht, wie es meinen Leidensgenossen, den anderen Skulpturen ergeht, da ich nachts noch nie einem von ihnen begegnet bin. Vielleicht gibt es in ihnen auch gar keine Existenz, vielleicht sind die anderen alle wirklich nur totes Gestein und ich bin in dieser Hinsicht einzigartig. Die einzige lebende Skulptur in diesem riesengroßen Museum. Oder sogar die einzige ihrer Art auf der ganzen Welt.

Das klingt erschreckend und das ist es auch für mich, immer wieder aufs Neue, wenn ich darüber nachdenke. Denn eigentlich will ich nicht einzigartig sein, wenn der Preis dafür dieses elende Alleinsein ist. Denn obwohl ich mich nachts mit echten Menschen treffen kann, bin ich einsam und in meinem Zustand verloren.

Das Prickeln in meinem Körper geht nun in den allzu bekannten Schmerz über. So muss es sich anfühlen, wenn eine Voodoopuppe genadelt wird und der Empfänger dieses Fluchs dasselbe empfindet. Jetzt fühle ich, wie sich meine Lippen einen Spalt breit öffnen, für ein erstes Luftschnappen, wie ein Säugling, der seinen ersten Atemzug vollzieht.

Jeden Abend denke ich, ich ertrage es nicht länger, ich ersticke in diesem Augenblick. Und ehrlich …? Ich wäre viel lieber tot und würde auch ein elendes einmaliges Ersticken in Kauf nehmen, als weiterhin diesen Zustand ertragen zu müssen. Aber jeden Abend muss ich mir aufs Neue eingestehen, dass es nicht in meiner Macht liegt, irgendetwas dagegen zu unternehmen und dass das Leben eigentlich doch ein Geschenk ist – vielleicht rede ich mir aber auch nur meine Lage schön, um sie besser ertragen zu können. Doch mal von außen betrachtet: Wer hat jemals so viel gesehen und erlebt wie ich? Die Jahrhunderte des Auf- und Niedergangs der Pariser Geschichte, der europäischen Entwicklung, der gesellschaftlichen Veränderungen, der Entdeckung von Technik und Fortschritt ...

Endlich! Der Schmerz hört so plötzlich auf, wie er gekommen ist. Vorsichtig hebe ich einen Arm, greife nach dem Rand der steinernen Matratze, stemme mich ein kleines Stück nach oben, rutsche vorsichtig über die Kante und lasse mich auf den Boden hinab sinken. Noch bin ich steif wie ein alter Mensch, der von Arthrose geplagt ist. In mühsamer Langsamkeit drehe ich mich auf den Rücken, strecke mich über die Diagonale, rechter Arm und linkes Bein, dann linker Arm und rechtes Bein, und höre, wie meine Gelenke dabei leise knacken. Dann räkele ich mich intensiver, ziehe die Beine an den Bauch, beuge und dehne die Gliedmaßen, lasse meine Hände und meine Füße in ihren Gelenken rotieren, bis ich spüre, wie das Blut gleichmäßig durch meine Adern pulsiert und meine Bewegungen allmählich geschmeidiger werden.

Zuletzt fängt stets meine Haut an zu prickeln. Die Luft im Museum ist passend für den Erhalt der Exponate temperiert und feuchtigkeitsreguliert. Für einen nackten Menschen aber ist das Raumklima zu frisch eingestellt, so dass ich vor Kälte zittere, ehe meine Muskulatur gehorcht und endlich macht, was ich will. Jetzt erst ist der Zeitpunkt gekommen, mich zu erheben. Die Steifigkeit ist wie weggewischt. Ich hüpfe ein paar Mal herum, kreise mit den Armen, schieße mit den Fäusten nach vorne als würde ich Schattenboxen und schon wird mir ein wenig wärmer.

Rund um mich herum ist es schon fast dunkel, weil die Raumbeleuchtung vor wenigen Minuten erloschen ist. Eine neue Form der Energiesparmaßnahmen. Lediglich ein paar grüne Pfeile, die zu den Notausgängen weisen, verströmen ein diffuses Licht, das mir vollkommen genügt. Denn ich sehe im Dunkeln fast so gut wie eine Katze, was wirklich sehr praktisch ist, wenn man so im Verborgenen lebt wie ich. Nur wenn der Nachtwächter seine Runde dreht, springt für einige Minuten das Licht automatisch an. Nicht diese Vollbeleuchtung, die den Raum während der düsteren Wintermonate taghell ausleuchtet, dass man davon fast geblendet wird. Nein, es sind nur wenige Lampen, die aktiviert werden. Dass dies über einen Bewegungsmelder ausgelöst wird, weiß ich aus Nächten, in denen ich keine Lust hatte, mich nach draußen zu begeben, und stattdessen den Nachtwächter beobachtete.

Auf mich hingegen reagiert der Bewegungsmelder nicht. Vielleicht ist mein Körper zu kalt. Vielleicht gleichen meine Bewegungen denen eines Geistes. Keine Ahnung, es ist mir auch egal. Nein, eigentlich ist es mir nicht egal. Es ist gut so, wie es ist, sonst würde es irgendwann auffallen, dass zu ungewöhnlichen Zeiten das Licht ausgelöst wird, und der Gedanke daran macht mir Angst.

Was würde passieren, wenn mich jemand beobachtet und meine wahre Identität entdeckt? Ich weiß es nicht. In früheren Jahrhunderten hätte man vermutlich versucht, mich zu erschlagen oder als Exot in einem Käfig zu halten oder auf einem Scheiterhaufen zu verbrennen. Aber ich muss ja immer wieder zu meiner Figur zurückkehren, würde ich im Falle einer Verbrennung dann heute als Skelett auferstehen und mit klappernden Knochen herumlaufen? Dieser Gedanke ist gruselig.

*

Nachdem ich die Kleidung aus meinem Versteck angezogen habe – ein langärmliges Flanellhemd, einen Pullover, Cordjeans, Winterjacke und Stiefel – durchquere ich zügigen Schrittes die Flure und springe auf den Treppen zwei Stufen auf einmal herunter, rutsche auf einem Handlauf schwungvoll auf dem Po hinab und gelange schließlich durch einen Notausgang nach draußen.

Es gibt abgesehen von meiner Gestalt und meiner nächtlichen Verwandlung noch mehr Rätsel, aber ich erforsche sie inzwischen nicht mehr. Manches lässt sich als Gewohnheit einordnen. Ich kann eben einfach Dinge, die nicht typisch für die Fähigkeiten eines Menschen sind, auch wenn ich nachts ein Mensch aus Fleisch und Blut bin, in der Gestalt der Skulptur, die unverändert an ihrem Platz zurückbleibt, bis ich wieder mit ihr verschmelze.

Andererseits bin ich wohl nicht nur ein leibgewordener Mensch, sondern trage einen Zauber mit mir, denn beispielsweise kann ich durch jedwede Tür ein- und ausgehen, ohne dass ich einen Schlüssel benötige oder Alarm auslöse. Es genügt die bloße Berührung einer Türklinke, eines Schlosses, einer verriegelten Schwingtür, und sie öffnet sich für mich.

Auch um die pünktliche Rückkehr vor Sonnenaufgang brauche ich mich nicht zu kümmern. Ein unwiderstehlicher Zwang lässt mich früh genug aufbrechen und den Heimweg antreten, gleichgültig wie weit ich mich während der Nacht entfernt habe. Hält mich unterwegs irgendjemand oder eine Situation auf, werden meine Schritte anschließend automatisch schneller, um mein Ziel rechtzeitig zu erreichen.

Anfangs habe ich versucht, davonzulaufen, und bin mit dem Zug weit außerhalb von Paris unterwegs gewesen – und habe mich auf einmal dabei wieder gefunden, wie ich mit keuchenden Lungen zum Louvre zurückrenne. Wie ich tatsächlich an jenem Tag die Strecke zurück nach Paris geschafft hatte, weiß ich nicht. Es fühlte sich an, als würde ich in Stücke zerrissen. Ich erinnere mich aber noch gut daran, dass mir danach den ganzen Tag über kotzübel war und mir sämtliche Muskeln und Knochen im Leib schmerzten, die Fußsohlen Blasen hatten und wie Feuer brannten, so dass ich nie wieder probiert habe, Paris zu verlassen.

*

Für die nächsten Stunden will ich das alles vergessen. Heute Nacht möchte ich mich nur vergnügen. Na ja, eigentlich vergnüge ich mich ja sowieso an den meisten Abenden, ich habe nichts anderes zu tun. Aber das geschieht auf unterschiedliche Weise. Manchmal laufe ich einfach nur durch das nächtlich beleuchtete Paris, zum Beispiel in der Vorweihnachtszeit, wenn Fenster und öffentliche Plätze geschmückt sind. Ich liebe das Funkeln, den Weihnachtsschmuck, die Farben und die fröhlich-festliche Stimmung.

Wie Paris sich über die Jahrhunderte verändert hat! Immer wieder entdecke ich Neues. Manchmal gehe ich ins Moulin Rouge und hänge gedanklich den besseren Zeiten nach. Wobei ich mich nicht entscheiden kann, ob diese wirklich besser waren oder nur anders. Aber rückblickend verdrängt man ja gerne die negativen Seiten und glaubt, früher sei alles besser gewesen. Oder ich besuche die Oper, eines der zahlreichen Theater, gehe in ein Rockkonzert oder dringe in eine Galerie ein und schaue mir Bilder einer neuen Wechselausstellung an. Ja, ich bin für alles offen, was das Zeitgeschehen an Zerstreuung bietet. Das Gute in meiner Situation ist, dass ich mich überall unentgeltlich hinein mogeln kann. Das ist auch so ein Phänomen.

Manchmal betrinke ich mich aber auch sinnlos, schwanke von Kneipe zu Kneipe und flirte. Es gibt immer jemanden, der mich einlädt, ob Mann, ob Frau, da bin ich flexibel, und es ist einfach ein tolles Gefühl, für ein paar Stunden begehrenswert und nicht einsam zu sein. Statt herzerwärmender Liebe ein Leben lang gibt es für mich aber nur Begehren und Sex auf Zeit.

Dann trifft mich die Einsamkeit und Ausweglosigkeit meines Lebens jeden Morgen vor Sonnenaufgang aufs Neue mit voller Härte. Derselbe Schmerz, der mich beim Verlassen der steinernen Figur peinigt, überfällt mich, wenn ich wieder in sie hineingezogen werde, versteife und erkalte, und mit ihr liegend verschmelze.

2 – 1990, in einer Sexbar, Paris

Über was Besucher sich manchmal so nebenbei unterhalten, während sie entlang der Exponate flanieren, das ist schon seltsam. Gewiss, das kommt nicht oft vor, dass die Gespräche nicht von den Gegenständen handeln, denn die meisten Besucher des Louvre sind wirklich an den hier ausgestellten Werken der Kunstgeschichte interessiert. Aber heute war ein älteres Paar dabei, das sich ausgiebig über eine Bar unterhielt, die erst vor ein paar Wochen eröffnet hatte. Ihr Gespräch klang, als ob sie sich über dieses spezielle Etablissement empörten, doch zugleich schwang bei dem Mann eine gewisse Neugierde in der Stimme mit, die mein Interesse weckte. Leider gingen sie schnell weiter, so dass ich nur wenige Bruchstücke aufschnappen konnte.

So beschloss ich also, diese neue Bar am Montmartre aufzusuchen.

Von außen und auch nach dem Betreten der Räumlichkeit wirkte das Nachtlokal zunächst wie die meisten. Ein paar Tische, ein paar Nischen, ein langer Tresen, hinter dem ein Barkeeper Cocktails mixte, stimmungsvolle Beleuchtung, angenehme Musik. Aber dann entdeckte ich den roten Vorhang, der beidseits von zwei rot leuchtenden Laternen flankiert war, und erinnerte mich, dass in dem Gespräch davon die Rede gewesen war.

Zielstrebig ging ich darauf zu, doch als ich den Vorhang beiseiteschieben wollte, stand auf einmal ein Schrank von einem Mann vor mir, sah auf mich herab und fragte mit tiefer Stimme: »Einer von zwölf?«

Ich blickte verwirrt zu ihm auf.

»Einer von zwölf?«, wiederholte er mit Nachdruck in der Stimme.

Zwar hatte ich keine Ahnung, was er meinte, nickte aber in der Hoffnung, das Richtige zu tun.

»Hm«, brummte er. »Du kennst die Regeln?«

»Ähm, wiederhole sie bitte für mich«, erwiderte ich vorsichtshalber.

»Tür von innen fest zu ziehen. Wichsen nur mit Kondom. Kondom in bereitstehenden Kübel werfen. Nicht an die Scheibe klopfen. Maximaler Aufenthalt 30 Minuten. Tür deiner Kabine öffnet automatisch. Noch Fragen?«

»Alles klar«, erwiderte ich und war gespannt, was nach dieser knappen Ansage auf mich zukommen würde.

»Vierhundertfünfzig Franc«, brummte der Schrank auf zwei Beinen.

Er zog einen großen Geldbeutel hervor und hielt die Hand auf, um das Geld entgegenzunehmen.

Zum Glück hatte ich genügend Geld dabei, um die Summe bezahlen zu können. Vor mir als Meisterdieb mit speziellen Fähigkeiten sind ja nicht einmal Bank- und Tresortüren sicher, so kann ich mich mit dem notwendigen Geld für meine Eskapaden versorgen. Endlich trat der Hüne auf die Seite, zog den Vorhang auf und ließ mich die dahinter liegende Tür passieren.

Ich betrat einen kurzen Flur, mit roten Wänden und schwarz gestrichener Decke sowie schwarzer Auslegeware, der von gusseisernen Wandlampen beleuchtet war. An seinem Ende setzte sich der Flur nach links und rechts fort. Aber dieser Gang war gebogen und ich bemerkte schnell, dass ich im Kreis ging. Es gab dreizehn goldfarben gestrichene und durchnummerierte Türen, neben jeder eine kleine Lampe, die an den meisten Türen Rot leuchtete, woraus ich schloss, dass dies ein Besetz-Zeichen sein sollte. Ich holte tief Luft, dann griff ich beherzt nach der Klinke der Tür Nummer sieben, deren Licht grün leuchtete und trat ein.

Meine Augen brauchten einen Moment, um sich an die schummrige Beleuchtung zu gewöhnen. Der Raum war sehr klein, so klein, dass nur ein – immerhin bequem aussehender – Sessel hineinpasste, ein Beistelltischchen mit Wassergläsern und -flaschen sowie einer Schale mit Kondomtütchen. Unter dem Tischchen stand ein größerer Kosmetikkübel.

Ich zog die Tür hinter mir zu, setzte mich und war gespannt, was nun auf mich zukommen würde. Direkt vor mir, auf Augenhöhe, befand sich ein kleiner roter Vorhang. Als ich diesen beiseiteschob, kam ein Bullauge zum Vorschein. Neugierig rückte ich näher, und was ich sah, ließ meinen Atem stocken. Direkt vor mir, zum Greifen nahe, räkelte sich eine halbnackte Frau auf einem Diwan in einem runden Raum, zu dem offensichtlich zwölf solcher Kabinen Blick gewährten, während die dreizehnte Tür wohl der Ein- und Ausgang für die Damen war, die sich hier zur Schau stellten. Wer sich zeitgleich mit mir der voyeuristischen Lust hingab, war nicht zu erkennen. Zur Innenseite des Raumes hin waren die runden Fenster verspiegelt. Über zwei links und rechts oberhalb des Fensters in der Kabine hängende Lautsprecher war lustvolles Stöhnen zu hören.

Dann war alles schon vorbei, ich war offenbar zum Ende der Darbietung dazu gestoßen. Die Frau stand auf und verließ den Raum, kurz darauf kam eine andere herein.

Diese war eine blonde Schönheit mit einem Gardemaß von etwa Einsachtzig, das Gesicht zur Hälfte von einer roten Samtmaske bedeckt. Ihre großen Brüste waren nackt und wurden von nietenbesetzten Lederbändern umrahmt, die sich wie ein Geschirr um ihre Leisten und Oberschenkel fortsetzten. Dazu trug sie lange schwarze Lackstiefel, die bis über die Knie reichten.

Sie legte ein paar Gegenstände neben sich, die ich von meinem Platz aus nicht sehen konnte, aber der runde Diwan drehte sich langsam im Raum, so dass jeder Zuschauer in den Genuss kommen würde, die Frau von allen Seiten zu sehen. Dazu waren auch Strahler reihum angebracht, die alles gut sichtbar ins richtige Licht rückten. Nichts würde den Zuschauern verborgen bleiben.

Als erstes kniete sich die Frau breitbeinig hin, legte den Kopf leicht in den Nacken und knetete ihre Brüste, zwirbelte ihre Brustwarzen. Dann griff sie sich mit einer Hand zwischen ihre Schenkel, rieb ihren Kitzler und leckte sich lasziv mit der Zunge über die Lippen. Ich verspürte ein Ziehen in meinen eigenen Brüsten, zugleich aber auch in meinen Lenden, das sich noch verstärkte, als sie näher an mir vorbeikam, und ich einen kurzen Blick auf ihre Schamlippen erhaschte, die feucht schimmerten.

Nun griff sie nach einem der Gegenstände und streckte ihn in die Luft, damit ihn jeder sehen konnte. Es war ein kurzer Dildo an einem Band. Sie hielt ihn sich vor den Mund und begann ihn mit ihrer Zunge abzulecken, als wäre es eine Kugel Eis. Dabei knetete sie mit der freien Hand eine Brust, zupfte an ihrem Nippel, klatschte sich sodann mit der Hand auf eine Pobacke und begann leise dabei zu stöhnen. Kurz darauf nahm sie den Dildo ganz in den Mund und schloss das Band hinter ihrem Kopf.

Mein Schwanz stand inzwischen und drängte sich gegen die Hose. Ein Stöhnen entfuhr meinem Mund und ich stand auf, zog meine Hose herunter und fingerte nach einem Kondom, ohne den Blick von der Frau zu lassen. Es machte mich an, wenn ein Knebel im Spiel war und die Frau sich als bereitwillige Sexsklavin präsentierte. Während sie sich nun auf alle viere begab, ihre Brüste schaukeln ließ und mit einer Hand zwischen ihre Beine griff, begann ich mein Glied zu wichsen. Ich zögerte noch, das Kondom überzustreifen, die direkte Berührung war einfach schöner und ich wünschte, es wäre ihr Mund, der ihn einsaugte und ableckte.

Die blonde Schönheit rollte sich über den Diwan auf den Rücken, bog ein wenig das Kreuz durch, so dass ihr Po vom Kissen abhob, und zeigte mit weit gespreizten Beinen ihren Unterleib. Eine Hand hielt die Schamlippen geöffnet, die andere spielte mit ihrem Kitzler. Trotz des Dildoknebels war ein gedämpftes Stöhnen zu hören. Mein Schwanz zuckte beim Anblick ihrer Spalte und ich zog nun doch das Kondom über.

Im Rhythmus der Musik bewegte sich die Sexsklavin nun vor und zurück und meine Hand passte sich diesem Takt an. Verdammt, sie war so heiß, ich spürte, ich würde bald kommen. Da hörte sie plötzlich auf und kniete sich wieder hin, beugte sich mit dem Oberkörper bis auf das Kissen herab und führte eine Hand um ihren Po herum. Ich keuchte entzückt, als ich sah, wie sie einen Analplug in der Hand hielt und diesen einführte, langsam, mit einer drehenden Bewegung, bis die dickste Stelle ihren Anus passiert hatte, begleitet von einem lauter gewordenen Stöhnen. Mein Schließmuskel zuckte, als hätte sie den Plug nicht bei sich, sondern bei mir eingeführt. Doch damit nicht genug, erschien ihre Hand kurz darauf unter ihrem Bauch, zwischen ihren Beinen, und nun führte sie einen orangen Vibrator in ihre Spalte ein und begann sich damit zu penetrieren.

OMG. Bestimmt hätte jeder der zuschauenden Männer es ihr in diesem Moment am liebsten selbst besorgt. Sie hatte sich nun wieder leicht aufgerichtet, ihr Körper schaukelte vor und zurück, als kniete ein Mann hinter ihr und fickte sie. Ihre Brüste wippten und ihr Gesicht zeigte den lustvollen Ausdruck echter Ekstase. Falls diese Lust nur gespielt war, verstand sie das Spiel der Darstellung meisterhaft.

Ein ums andere Mal zog die Sexdienerin den Vibrator fast völlig hinaus, nur um ihn gleich darauf wieder hineinzustoßen, immer schneller, immer heftiger, bis sie sich zuckend auf dem Diwan hin- und herrollte. Im selben Augenblick kam ich, stützte mich mit einer Hand an der Wand neben dem Fenster ab, rubbelte mit der anderen meinen Penis auf und ab, und stöhnte meinen Orgasmus heraus. Für Sekunden schloss ich die Augen und lehnte die Stirn ans Fenster, meinem rasenden Herzschlag zuhörend und nach Luft japsend.

Als ich die Augen öffnete, bemerkte ich, dass ihre Show wohl noch nicht zu Ende war. Sie kniete direkt vor mir, ihre Brüste reckten sich mir entgegen und sie tauschte gerade den Dildo-Knebel gegen einen anderen, der wie ein geöffneter Ring aussah. Ihren Mund konnte sie also nicht schließen, er wirkte wie ein O, aber dafür war nun jeder Laut, den sie von sich gab, laut und klar zu hören.

Ein leichter Schweißfilm glänzte auf ihrer Haut. Mit einer langsamen Drehbewegung entfernte sie den Analplug, griff nach dem zuvor verwendeten Vibrator und zeigte ihn kurz in die Runde. Dann beugte sie sich nach vorne und führte ihn unter lautem Stöhnen in ihren Anus ein, immer wieder ein wenig herausziehend, dann wieder etwas weiter hineindrückend und bäumte sich dabei auf, als wollte sie ihn abwehren.

Himmel, was machte ihre Darbietung mit mir? Mein Schwanz erhob sich schon wieder und ich schwitzte vor Anstrengung und Lust. Was für eine Frau! Mit einer Hand knetete sie wieder ihren Busen, präsentierte ihre pralle Schönheit, mit der anderen stieß sie sich den Vibrator in ihren Anus und dabei gab sie kurze Lustschreie von sich. Meine Erregung entlud sich, während sie vor meinen Augen zuckend und stöhnend vornüber sackte. Dabei hielt sie immer noch den Vibrator fest, lag aber nun bewegungslos und ermattet einfach nur da.

Ich sank zurück auf den Sessel und entsorgte das Kondom in dem Kosmetikeimer. Meine Zunge klebte am Gaumen, aber ich war zu benommen und unfähig, nach einer der Flaschen und einem Glas zu greifen. Mit geschlossenen Augen fühlte ich dem Erlebten nach und war genauso ausgelaugt, als hätte ich echten Sex vollzogen. Wie lange ich so dasaß und einfach nur dem wieder ruhiger werdenden Herzschlag zuhörte, weiß ich nicht, aber ein Plopp hinter mir kündete plötzlich davon, dass die Zeit abgelaufen war und sich die Tür von alleine geöffnet hatte. Jederzeit konnte nun der nächste Kunde hereinkommen.

Schnell erhob ich mich, zog meine Hosen hoch und beeilte mich trotz wackeliger steifer Beine die Kabine mit möglichst sicheren Schritten zu verlassen. Ich wollte mir auf keinen Fall anmerken lassen, wie sehr mich dieses sexuelle Erlebnis mitgenommen hatte.

Wie ich aus der Bar gelangt bin und welchen Weg ich an diesem Abend zurück zum Louvre genommen habe, weiß ich nicht mehr. Filmriss.

Als ich einige Wochen später diesen Barbesuch wiederholen wollte, wurde ich enttäuscht. Es gab nur noch eine ganz gewöhnliche Nachtbar zum Trinken und Tanzen. Die Sexkabinen waren von den Behörden wegen Störung der öffentlichen Ordnung und angeblicher Prostitution verboten und geschlossen worden.

3 – jetzt, Louvre, Paris

Der Tag verging so wie die meisten. Stimmengewirr in unzähligen Sprachen. Quengeln gelangweilter Schulklassen, die keine Lust haben, sich mit Exponaten zu beschäftigen. Dazwischen ein schlaues Mädchen, das sich anhörte, als hätte es das Buch der Kunstgeschichte auswendig gelernt. Ein unflätig rülpsender Jugendlicher. Zurechtweisung von einer herben Stimme. Blitzlicht und Klicken von Fotoapparaten und Handykameras. Scharren von Schuhen auf dem Boden des Saales. Dazu Düfte aller Art.

Nach dem Erwachen und der üblichen Prozedur, um Gelenkigkeit in meine Glieder zu bekommen, tapse ich mürrisch von meinem Ruheplatz zu der verborgenen Geheimtür, kratze mal da, mal dort an einer der anderen Statuen meine juckende Haut, ähnlich wie ein Wildschwein seine Schwarte an einer Baumrinde schubbert. Nur bin ich von zarterer Statur als ein Schwein. Ob meinen Leidensgenossen gefällt, dass ich sie als Kratzbaum missbrauche, ist mir inzwischen egal. Sie scheinen ja sowieso alle nur aus totem Gestein zu bestehen.

Meine Kleidung, mein Auftreten, meine Art zu sprechen habe ich über Jahrzehnte und Jahrhunderte kultiviert und dem jeweiligen Zeitgeist angepasst. Dabei habe ich damals die Vorzüge und Eleganz italienischer Mode beim Umzug meiner steinernen Hülle in den Louvre sehr schnell gegen die Stilrichtung der französischen Mode eingetauscht, um zumindest optisch nicht als Fremder aufzufallen. (Zum Glück konnte ich in kurzer Zeit die Sprache lernen.) Nun ja, und heutzutage ist ja sowieso alles erlaubt, Mode ist für jedermann erschwinglich, international, vielfältig und der Style einem schnellen Wechsel unterworfen. Man kann tragen, was einem gefällt und muss sich nicht an Konventionen halten. Manchmal vermisse ich allerdings die grundlegende Stilsicherheit früherer Jahrhunderte oder wenigstens den simplen Anspruch, ordentlich angezogen zu sein. Wenn ich Menschen in schlabberigen ausgebeulten Jeans- oder Jogginghosen sehe, oder ein schönes Kleid kombiniert mit Tennissocken und Highheels ... Brrr, da schüttelt es mich. Aber Geschmäcker sind eben verschieden.

Verborgen in einer Kammer, die keiner außer mir zu kennen scheint, bewahre ich Kleidung, Kamm und Düfte auf. Inzwischen ist es hier drinnen ziemlich eng, denn auch meine alten, aus der Mode gekommenen Stücke kann ich von Zeit zu Zeit wieder zum Einsatz bringen, im Karneval oder auf einem Kostümball, oder wenn sich die Mode nach mehreren Jahrzehnten wiederholt.

Eigentlich wäre ich eine lebende Fundgrube für Historiker, um Wissenslücken zu schließen, gerade was die Sprachforschung und die Pariser Stadtgeschichte betrifft. Wenn diese Leute denn von meiner Existenz wüssten, und mich so akzeptieren könnten, wie ich bin. Aber genau das ist das Problem. Bis vor wenigen Jahren wäre ich aufgrund meiner diversen Körperlichkeit als abnorm und ekelerregend abgelehnt worden. Und auch wenn dies aktuell kein Problem darstellt, traue ich mich nicht, mich anderen zu öffnen. Der Mann, der mich mit diesem schrecklichen Fluch belegte, hatte mich eindringlich gewarnt, was mit Menschen in meinem Umfeld passieren würde, wenn ich über das, was geschehen ist, sprechen würde. Wie aber sollte ich mein immenses Wissen begründen und als Wahrheit darlegen, wenn ich nicht gleichzeitig meine eigene Geschichte offenlegen und sagen darf, wie alt ich schon bin und warum?

Ein prüfender Blick in den schmalen antiken Wandspiegel, bevor ich mich hinauswage. Ich gebe zu, ich bin eitel. Meine Gesichtszüge sind ebenmäßig, ohne Makel. Die Nase gerade, die Augenbrauen schmal und symmetrisch geschwungen, meine Lippen voll, aber nicht zu prall. Es ist bis auf wenige kleine Unterschiede das geklonte Ebenbild der Statue aus Fleisch und Blut und hat nichts mit meiner eigenen früheren Gestalt gemeinsam. Mein Gesicht ist fast faltenfrei, wenngleich ein wenig bleich. Kein Wunder, da meine Haut keine Sonnenstrahlen kennt. Ich würde es ganz klassisch als vornehme Blässe betiteln. Meine zeitgemäße Kurzhaarfrisur unterscheidet sich von der Figur und ist am Oberkopf leicht gelockt, die Haare von einem intensiven Schwarz, das in auffälligem Kontrast zu meinen hellblauen Augen steht. Wenigstens etwas, was von meinem eigenen Selbst erhalten geblieben ist.

Seit ich denken kann, werde ich darauf angesprochen oder sehe es im Blick meines Gegenübers, dass diese Kombination von schwarzen Haaren und blauen Augen nicht alltäglich ist. Eigentlich trage ich meine Haare ja lieber lang, wie es zu meiner Zeit üblich war, aber das lässt mich in meiner jetzigen Gestalt zu mädchenhaft aussehen und betont unnötig meine eher zarte Figur.

Allzu oft wünsche ich mir, ich wäre einer dieser normalen, durchschnittlichen Menschen, die einem gewöhnlichen, unaufgeregten Leben nachgehen dürfen, mit der freien Entscheidung zu allen Dingen, die dieses Leben betreffen. Deren Leben Auf’s und Ab’s kennt, Gedeihen und Vergehen, Tag und Nacht. Wie sehr ich die Menschen darum beneide und wie gerne ich mit ihnen tauschen würde, mit jeglichen Konsequenzen!

Eine Zeit lang dachte ich tatsächlich, es müsse toll sein, nicht zu altern, nicht zu sterben, sondern ewig jung zu bleiben und zu leben. Aber das ist es nicht. Auf keinen Fall. Überlege doch mal, deine Familienmitglieder, Verwandten und Freunde, all die liebgewonnenen Menschen in deinem Umfeld altern und sterben schließlich – nur du nicht. Du siehst das alles aus sicherer Entfernung mit an und bleibst immer alleine zurück. Würdest du das wirklich wollen? Ist das erstrebenswert?

Ich habe mich notgedrungen damit abgefunden, ja ich denke, in einem gewissen Maße bin ich über die lange Zeit ganz einfach abgestumpft. Die Wut über mein Schicksal und den Verursacher ist einer tiefen Melancholie und Resignation gewichen. Nur die Reaktionen und Kommentare der Museumsbesucher schaffen es hin und wieder noch, meine Emotionen hochkochen zu lassen.

Ach so, ich habe dich ja noch gar nicht richtig aufgeklärt, was das Besondere an meiner Gestalt ist: ich bin ein Hermaphrodit, eine zweigeschlechtliche Person.

Puh, jetzt ist es raus. Es fällt mir nicht leicht, darüber zu schreiben.

Also, ich war nicht immer so. Eigentlich war ich mal ein ganz normaler junger Mann und arbeitete um 1625 mit meinem Vater und meinen drei Brüdern erfolgreich im italienischen Tuchhandel. Ja, du hast richtig gelesen. 1625. Wir hatten Tuche aus Mailand, Valencia, den Niederlanden und waren dabei, unsere Geschäftsbeziehungen auch in den Orient auszudehnen. Aber halt, darum geht es gerade nicht, ich wollte ja erzählen, welche abnorme Gestalt ich aktuell innehabe, nämlich die des schlafenden Hermaphroditen, den du im Louvre bestaunen kannst. Es handelt sich um eine antike römische Marmorskulptur, die einen liegenden Zwitter in Lebensgröße darstellt, ausgestellt in Saal 17 der klassischen griechischen und hellenistischen Kunst.