Lynchjustiz - Angelika Friedemann - E-Book

Lynchjustiz E-Book

Angelika Friedemann

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Beschreibung

Das Geld zieht nur den Eigennutz an und verführt stets unwiderstehlich zum Missbrauch. Albert Einstein Ein Kind verschwindet spurlos aus dem Kindergarten. Eine fieberhafte Suche beginnt. Als man ihn tot in einer Gartenlaube findet, kochen die Emotionen hoch. Die Bevölkerung hat schnell den Mörder entlarvt: Ein fremder Mann, der nur zuweilen in einer Wohnung wohnt. Nur in allerletzter Minute kann Hauptkommissar Eike Klaasen den Mann retten. Mit schwersten Verletzungen wird er ins Krankenhaus gefahren. Der Unbekannte ist ein bekannter Kardiologe, der Doktor Hermsen am nächsten Tag bei einer schwierigen Herzoperation an einem Kind helfen wollte. Eike, vor Wut tobend, will nun die Verleumder und Gewalttäter vor Gericht sehen. Der versuchte Mord an einem Fremden ist zu abscheulich. Der schockierende Vorfall zeigt vielen Menschen, wie leicht es wenige Verleumder schaffen, ein Blutbad anzurichten, Selbstjustiz zu verüben. Derweil geht die fieberhafte Suche nach dem wahren Mörder weiter. Eike bemerkt bei dem allen nicht, dass er sich immer mehr auf eine gefährliche Bahn begibt.

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Impressum

Angelika Friedemann

Lynchjustiz

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Eike Klaasen riss die Bürotür auf. „Moin! Alle raus!“, blaffte er die Kollegen an, die dort plaudernd und Kaffee trinkend standen. Er musterte wütend die Kollegin, die ihn frech angrinste. Das würde ihr in Kürze vergehen. In ihm brodelte es seit gestern Abend. „Renate, kommt Herr Rothmann, sage mir bitte Bescheid. Danke.“

„Was ist denn …“, weiter kam Polizeimeister Gunnar Hinrichsen nicht, da ihm Eike einen Blick zuwarf. Seine blauen Augen glitzerten wie Eis. Bei diesem Gesichtsausdruck sagte man lieber kein Wort. Eike war selten aufgebracht und so wie heute kannte man ihn kaum. Polizeihauptmeister Martin Petersen öffnete die Tür und die Polizeibeamten verließen den Raum.

Kriminaloberkommissar Rolf Kristens guckte irritiert zu seinem Vorgesetzten, der Kaffee in seinen Pott goss, sich danach neben dessen Schreibtisch stellte.

„Dass du Marion, deine hoch schwangere jetzt Ex betrügst und belügst, deine Sache. Dass du mich hintergehst, damit komme ich klar. Dass du jedoch die Kollegen, die alle Familie haben, permanent Überstunden absolvieren müssen, auf eine dreiste, hinterhältige Art und Weise ausnutzt, das geht zu weit. Rolf, ich werde deine Versetzung beantragen. Ich will nicht mit so einem Kollegen zusammenarbeiten, der die Hilfsbereitschaft von uns allen auf das Schändlichste ausgenutzt hat. Dementsprechend verfügtest du so über mehr Zeit für deine neue Gespielin, oder wie immer man Marie bezeichnet. Könnt ihr beide in sonstigen Dienststellen so handhaben, hier nicht mehr. Niemand von den Leuten wird noch einen Handschlag für dich tun, um deine Bude auf Vordermann zu bringen, damit du in Ruhe vögeln kannst, ihr euch in das gemachte Nest setzt.“ Er drehte sich um, setzte sich an seinen Schreibtisch. Er schlug die Kladde auf, die ihm einer der Polizisten von der Nachtschicht hingelegt hatte.

„Woher weißt du das?“, fragte Rolf leise. Er strich über seine hellbraunen Haare, als wenn er prüfen wollte, ob alle ordnungsgemäß glatt lagen, der Scheitel gerade gezogen wurde.

„Martin und ich waren so breesig, wollten dir gestern Abend beim Streichen helfen. Du besitzt die Dreistigkeit, erzählst mir, ich gehe etwas früher, damit ich das Wohnzimmer heute fertig bekomme. Derweil wird dort nicht gearbeitet, sondern die dusselige Polizistin befriedigt. Mir haben es vorab andere Personen zugetragen, dass da etwas läuft. Ist nicht meine Sache, obwohl es eine miese Art ist. Erst sagte man der angeblichen Freundin, setz die Pille ab, ich will ein Kind, eine Familie gründen. Vier Monate später heißt es, kündige deine Wohnung und zieh zu mir. Dusseliges Gelaber. Drei Monate darauf ist bereits eine Neue da. Soll die schwangere Ex doch sehen, wie sie nun allein mit dem Baby klarkommt, wo sie schläft, wohnt. Sie muss übermorgen aus der Wohnung raus, da die neu vermietet wurde. Interessiert dich ja nicht. In dem Haus wurde nur gewerkelt, wenn die Kollegen vor Ort waren. Du benutzt es lediglich für deine sexuellen Aktivitäten. Sicher in deiner Wohnung tauchte Marion auf, weil sie kochen, deine Wäsche waschen und putzen musste. Eine ganz schmutzige Art.“

Er griff zum Telefon. „Klaasen. Moin. Liegt schon ein Befund zu Herrn Gernot Weber vor?“ „1,89 Promille? Nicht schlecht.“ „Ja, danke.“

„Eike, so ist das alles nicht. Es hat sich vor drei Wochen einfach so ergeben.“

„Gehe zu deinem Friseur und quatsche den voll. Ob drei Wochen oder drei Monate, schietegal. Du hast mich, deine Arbeitskollegen belogen. Nur darum dreht es sich. Was du in deiner Freizeit tust, schert keinen Menschen, da das allein deine Angelegenheit ist. Nur es geht nicht an, dass du die Arbeitskraft von deinen Mitmenschen missbrauchst. Du kommst selber zu nichts, eben wegen deiner neuen Flamme. Daneben hast du mir Lügen aufgetischt. Ich gebe dir Stunden früher frei, damit euer Bau, wie er ursprünglich hieß, bis zur Geburt von deinem einstmals Wunschkind fertig wird. Nein, du nutzt diese freie Zeit, um dich mit Marie zu amüsieren. Abends fährst du heim, stöhnst Marion vor, was du alles getan hast. Hier wird lamentiert, dass ihr nicht termingerecht einziehen könnt. Rolf, so nicht. Weder meine Kollegen noch ich werden belogen, hintergangen, benutzt, ausgenutzt. Bringe deine Bauruine mit deiner Marie unter Dach und Fach oder beauftrage eine Firma. Dir hilft niemand mehr, das weiß ich. Ich wiederhole mich, aber ich werde deine Versetzung sowie die deines Liebchens beantragen. Da werden alle Mitarbeiter befürworten. Weder Martin noch ich wollen weiter mit solchen Pharisäern zusammenarbeiten. Erfahren es die übrigen Kollegen, gibt es richtigen Zoff.“

Die Tür ging auf. „Eike, wir fahren. Mehr gab es gestern nicht.“

„Danke, Martin.“

„Martin, warte!“

„Keine Zeit, Rolf. Eike kennt meine Meinung und wird sie verdeutlichen. Ich mag keine Menschen, die mich bescheißen.“

Eike stand auf, kramte in dem Regal, bis er die Akte über Gernot Weber in der Hand hielt, da kam Kriminaldirektor Axel Rothmann herein. „Moin, die Herren.“

„Moin. Kann ich es dir gleich sagen. Ich möchte, dass man Rolf und Marie versetzt, wenn möglichst schnellstens.“

„Warum?“, fragte der verblüfft, goss Kaffee in einen Becher.

„Weil er nicht nur mich belogen, hintergangen hat, sondern dito die Kollegen. Die werkeln seit Monaten nebenbei am Umbau seines Gebäudes. Ich habe ihm wiederholt früher gehen lassen, wie du weißt, weil er darum gebeten hatte. Martin und ich waren gestern Abend dort, wollten helfen, damit sie einziehen können. Nur da wird nicht gearbeitet, sondern Marie und er vergnügten sich lieber sexuell. Martin und ich haben uns die Zimmer von draußen angeschaut. Von wegen, ich muss streichen, Laminat auslegen. Nichts wurde gemacht. Der Bau sieht so aus, wie vor knapp drei Wochen, als Rüdiger und ich das letzte Mal dort den ganzen Sonntag geholfen haben.“

„Mit der Kollegin?“, erkundigte der sich überrascht.

„Allerdings. Ist seine Sache, wen er befriedigt, aber weder die Kollegen noch ich, lassen uns belügen, ausnutzen.“

„Ich wusste bisher nicht, dass er jetzt mit Frau Wiegand eine Beziehung eingegangen ist. Eike, ich werde suchen, zuerst Ersatz für Marie. Rolf, wo wollt ihr in Zukunft gemeinsam arbeiten? Eventuell kann man das koordinieren. Hamburg?“

Eikes Handy vibrierte und irritiert sah er die ‚Nummer eines Unternehmers. „Moin. Was kann ich für dich tun?“ „Schiet!“ „Bist du dort?“ „Ich komme hin. Bis gleich“, drückte er aus. „Axel, kläre das mit ihm. So schnell wie möglich, beide Personen weg, keiner bleibt in unserem Einzugsgebiet. Am liebsten wäre uns Timbuktu oder so. Dieser dusseligen, frechen, faulen Tussi kannst du ausrichten, es reicht dicke für einen Eintrag in ihre Personalakte plus Verwarnung, die ich einleiten werde. Rüdiger sagt dir mehr dazu. Ich habe gerade ein anderes Problem. Ich weiß nicht, wie lange es dauert“, eilte er hinaus.

„Moin, Wolf. Ich konnte vorhin nicht reden. Was ist passiert?“, begrüßte er den Mann.

„Sie kam gestern Nachmittag zu mir, weil sie eine Wohnung von heute auf morgen benötigt. Ob ich etwas wüsste. Sie hatte dem neuen Mieter für heute den Wohnungsschlüssel versprochen. Sie muss die räumen und sie weiß nicht wohin. Sie erzählte mir, dass Rolf mit dieser faden Polizistin liiert sei. Von ihr stehen in dem Haus bereits einige Kartons. Na gut, ich nehme sie mit zu mir, sie sah betroffen, völlig down aus. Meine Lebensgefährtin hatte gekocht, wir unterhalten uns, plötzlich stöhnt sie verhalten, bekommt Wehen. Wir fahren sie in die Klinik. Nachts um drei holen sie den Jungen. Er lebt, liegt im Brutkasten. Ihr geht es comme ci, comme ça. Verena ist bei ihr.“

„Überlebt er?“

„Dein Bruder sagte, wahrscheinlich, nur es kann immer etwas geschehen. Ihn haben sie deswegen in der Nacht wach geklingelt. Spinnt dein Mitarbeiter? Wie kann ich meine hochschwangere Partnerin kurzfristig austauschen? Erst belabert er sie, er will eine Familie mit ihr gründen. Es folgte, sie soll die Wohnung kündigen. Nun kommt eine farblose Tussi und alles vergessen? Ich hielt ihn stets für verantwortungsvoller. Egal. Sie benötigt dringend ein Domizil für sich und den Sohn. Hast du eine?“

„Nein. Warte, ich rufe an.“ „Renate, ich benötige für sofort eine Drei- oder Vierzimmerwohnung mit Balkon, wenn möglich Spielplatz in der Nähe. Erkundige dich bitte beim Amt, den Hausverwaltungen. Nichts Heruntergekommenes. Sekretärin mit Baby in Festanstellung, zurzeit Mutterschutz.“ „Ja, gib mir bitte die Adressen, klappere ich sie ab.“ „Danke!“

„Wir müssen ihre Sachen aus der jetzigen Wohnung schaffen. Stellen wir vorerst in meine Garage. Du musst aus dem Haus deines Kollegen ihre Kisten abholen. Ihr ehemaliges Zuhause säubert meine Lebensgefährtin nachher.“

„Moin. Was machst du hier?“, begrüßte Einar seinen Bruder.

„Wie geht es dem Lütten von Marion?“

„Bescheiden. Er schläft. Nein, keiner besucht ihn.“

„Kommt er durch?“

„Eike, du weißt, wie das ist. Frage mich daher nicht so ein dumm Tüch. Eine Kleinigkeit und nein. Wo ist der stolze Vater?“

„Der arbeitet, sucht gerade einen neuen Job, da er in eine andere Dienststelle beordert wird.“

„Oh je, hört sich nach Ärger an. Ich muss. Erzähle es mir später.“

„Kann ich zu Marion?“

„Jetzt nicht. In einigen Stunden eventuell. Ihre Lebenspartnerin, Herr Kleber, muss ebenfalls gehen. Sie können daher hier auf sie warten.“

„Er will weg?“

„Nein, ich will ihn mit seiner Freundin versetzt haben. Er belog mich und die Kollegen über Wochen, wie ich gestern Abend erkannte, als wir ihm bei den letzten Arbeiten helfen wollten. Das zieht niemand mit mir oder den Kollegen ab. Alle vernachlässigten für ihn die Familie, nur damit er in Ruhe seine Flamme befriedigen konnte. Da setzt mein Verständnis aus.“

„Tja, sie absolviert eben Schichtdienst und da muss man das gut koordinieren.“

„Meinetwegen, aber nicht auf Kosten von Familienvätern. Er weiß schon, dass ich ihn und Marie versetzt haben möchte.“

„Und das Haus?“

„Wolf, was geht das mich an? Soll er es mitnehmen, verkaufen, vermieten.“

„Du greifst ja richtig hart durch. Ich hielt dich immer für liebenswürdiger.“

„Ich bin stets nett, nur man darf mich nicht belügen, ausnutzen, meine Kollegen auf gemeine Art missbrauchen. Weißt du, ich muss mich auf jeden Kollegen im Notfall hundert Prozent verlassen können. Kann ich nicht, wenn man mich hintergeht. Ganz abgesehen davon sind die Personen stinksauer.“

„Verständlich. Verena kommt. Holen wir ihr Eigentum ab, damit der neue Mieter den Schlüssel nachher bekommt. Du meldest dich oder ich rufe dich an, falls ich etwas erreiche.“

„Arbeitest du heute nicht?“

„Zuerst meine Sekretärin gut unterbringen, der Rest später. Vadding sagt in solchen Fällen: Wat mut, dat mut.“

Eike fuhr ins Büro zurück. Renate hatte noch nichts erreicht, war beim Telefonieren.

„Rolf, ich möchte die Kartons von Marion aus deinem Haus abholen, und zwar sofort.“

„Verdammt, was soll der Scheiß? Wo ist sie? Ich komme abends nach Hause und sie ist nicht da.“

„Wieso kann deine Tussi nicht kochen, nicht putzen, Wäsche waschen? Keinerlei Diskussion. Ich will Ihre Sachen und die stehen ihr zu. Also fahren wir. Martin und Gunnar begleiten uns, nicht, dass es heißt, ich hätte zu viel mitgenommen.“

„Eike, du spinnst, reimst dir da einiges zusammen. So ist das alles nicht. Das hat auch nichts mit meiner Beziehung zu Marion zu tun, da es nur um Sex geht.“

„Nuuur Sex? Du bist dusseliger, als ich vermutete. Ich will die Kartons, sonst gibt es Ärger, da ich das anzeige. Es reicht! Marion wird nicht weiter ausgenutzt, benutzt, hintergangen.“ „Schiet!“, fluchte Eike, als er die Akte auf seinem Schreibtisch erblickte. „Hole bitte Herrn Weber her. Wir haben Arbeit und der Steuerzahler bezahlt dich dafür, nicht nur für Sex, den ihr während der Arbeitszeit praktiziertet.“

Gernot Weber sah übernächtigt aus.

„Setzen Sie sich, Herr Weber. Möchten Sie einen Kaffee?“

„Danke, gern.“

„Sie hatten 1,89 Promille im Blut, sind damit Auto gefahren. Als man Sie anhielt, schlugen Sie auf die beiden Beamten ein. Das wird ein Strafverfahren geben, der Führerschein wird einbehalten. Warum sind Sie auf die Polizisten losgegangen?“

„Ich weiß es nicht mehr. Es gab wieder Streit mit meiner Frau, da habe ich was getrunken und bin wohl irgendwann weggefahren. Ich weiß es nicht.“

„Wie geht es dem kleinen Julian in so einem Umfeld?“

„Deswegen haben wir ja nur Krach. Er ist eben ein Schwarzer.“

„Da lässt man sich scheiden. Alkohol löst nie Probleme.“

„Nein, Sie verstehen das falsch. Sie will ihn nu nicht mehr, weil er anders aussieht. Sie schämt sich für unseren Lütten, versorgt ihn nicht wirklich, spielt nicht mit ihm, meckert ihn ständig an. Ich habe mich mit ihm angefreundet. Wie sagten Sie, ist ein nüddeliches Kerlchen.“

„Herr Weber, Ihre Frau und Sie sollten eine Familientherapie absolvieren. Das ist auch für den Jungen nicht gut, wenn er in so einer Umgebung aufwächst. Kinder spüren so etwas. Lassen Sie sich scheiden.“

„Herr Kommissar, können Sie nicht mit ihr snaken? Er ist doch unser Sohn, benötigt Liebe, Zuwendung und so.“

Eike seufzte. „Also gut. Ist sie jetzt daheim?“

„Ja.“

„Fahre ich Sie zu Ihrer Wohnung.“

„Nee, ich muss ja gleich arbeiten gehen. Bin schon spät dran. Reden Sie lieber mit ihr, ohne dass ich dabei bin.“

„Fahre ich Sie zu Ihrer Arbeitsstelle und anschließend spreche ich mit Ihrer Frau. Das letzte Mal, da wir keine Eheberatung sind.“

Er wartete, bis er mit Rolf allein war. „Kümmere dich um die drei Diebstähle bei den älteren Damen. Eventuell musst du die Bilder von den Bankautomaten ansehen. Das sind die Fälle sieben bis neun in nur vier Wochen.“

Annika Weber öffnete im Morgenmantel. Er stellte sich vor, zeigte ihr den Polizeiausweis.

„Darf ich bitte kurz hereinkommen, Frau Weber?“

„Was hat er wieder angestellt?“, fragte sie eher genervt als besorgt. Sie trat beiseite und ging vor ihm ins Wohnzimmer. Der kleinen Julian saß auf dem Boden, schrie, mehr wimmerte leise. Der Raum war völlig vernebelt, stank bestialisch nach Zigarettenqualm. Er riss ein Fenster auf.

„Du bist ja groß geworden, Julian“, lächelte er den Knirps an.

„Also, was ist passiert?“

„Es dreht sich mehr um Ihren Sohn, weswegen ich hier bin. Ihr Mann behauptet, Sie wollen den Jungen weggeben, den er lieb gewonnen hat.“

„Sieht der wie mein Sohn aus?“, erkundigte sie sich aggressiv.

„Wie kann man so über ein Baby reden, dass man geboren hat? Er ist Ihr Sohn. Was kann der Lütte dafür? Nur weil er leicht dunklere Haut hat?“

„Jeder guckt mich komisch an, als wenn ich so eine Person wäre, die sich mit einem Schwarzen einlässt.“

Der Junge wollte krabbeln, fiel um, wimmerte.

„Halt deine Klappe, du blöder Balg“, schimpfte Annika Weber lautstark.

Eike nahm den Knirps auf den Arm, tröstete ihn, erzählte ihm leise, mit weicher, warmer Stimme etwas, bis die Tränen versiegten. Der Po war pitschenass, wie er dabei feststellte. In ihm wütete es. Heute war er genau in der richtigen Stimmung.

„Packen Sie bitte ein paar Sachen für den Säugling zusammen, da ich ihn mitnehme. Bei Ihnen bleibt er gewiss nicht“, äußerte er kalt. „Erbärmlich, so mit einem kleinen Kind zu sprechen.“

„Sie wollen mir meinen Sohn wegnehmen?“

„Allerdings. Gehen Sie zum Jugendamt, da ich das dort melde und Julian zu Eltern kommt, die ihn nicht anschreien, als blöden Balg betiteln, er in einem verqualmten Raum sitzen muss. Wo ist sein Zimmer, da er eine neue Windel benötigt. Das nennt der Gesetzgeber grobe Vernachlässigung.“

„Sie spinnen ja.“

„Frau Weber, überlegen Sie, was Sie zu mir sagen, da hier nicht Ihr Mann vor Ihnen steht, sondern ein erster Kriminalhauptkommissar. Das ergibt eine Anzeige, da Sie impertinente Person, Rabenmutter sich gerade mit dem falschen Mann anlegen. Also, wo kann ich ihn wickeln?“

„Mache ich nachher schon.“

„Nein, jetzt. Soll er krank werden? Die Hose ist pitschenass. Sie sind das Letzte. Das nennt man nun wiederum Körperverletzung.“

Sie wollte nach dem Lütten greifen, aber Eike drehte sich leicht. „Wagen Sie es nicht, den Jungen zu berühren.“ Sie ging in einen Raum, in dem es stank.

„Da liegen die“, deutet sie auf eine Ecke.

Er legte den Jungen hin, zog ihn rasch aus, während er leise mit ihm sprach. Dann sah er, warum sie so merkwürdig reagierte. Der Po knallrot, wund, voller Pusteln, die bereits eiterten. Der kleine Körper war abgemagert. Er konnte jede einzelne Rippe erkennen. Der Bauch leicht gebläht.

„Dafür werden Sie sich vor Gericht verantworten müssen“, knurrte er zornig. „Das ist massive Kindeswohlgefährdung, Vernachlässigung, Körperverletzung. Schämen Sie sich nicht, so mit einem Kleinkind umzugehen? Im Gefängnis werden Sie jedoch Zeit haben, darüber nachzudenken.“

Er holte sein Handy heraus, fotografierte die Wunden, den Ausschlag, dazu noch einige Bilder von dem eher dreckigen Zimmer.

„Gibt es wenigstens Salbe, saubere Kleidung für ihn?“

Sie gab keine Antwort, zündete die nächste Zigarette an.

„Sofort raus hier“, meckerte er. „Qualmen Sie woanders, Sie unausstehliche Person.“

Er suchte nach Creme, aber die gab es nicht. So ergriff er eine neue Windel, zog ihm die schmutzige, nasse Hose wieder an, danach nahm er ihn auf den Arm, knipste die stark verunreinigte Bettdecke, die nackte befleckte Matratze. Er rief im Büro an, da Rolf herkommen musste.

„Julian, gehen wir. Dein Leiden ist nun zu Ende. Sie, Frau Weber werden nicht nur Post vom Jugendamt erhalten, sondern auch von der Staatsanwaltschaft.“

„Zumindest ist der weg“, war das Einzige, was sie äußerte, blies den Rauch in das Gesicht von Julian. Eike musste sich zusammenreißen, ihr nicht eine zu knallen, so wütend war er.

„Abscheulich. Wenn man zu faul ist, ein Baby zu betreuen, dann geht man damit zum Jugendamt, gibt es dort ab, aber quält ein Kind nicht.“

„Was unterstellen Sie mir? Ich habe den Schwarzen kaum angefasst und gewiss nicht gequält. Der Kerl hätte ja zu Hause bleiben und ihn versorgen können. Der geht morgens und ich muss mir jeden Tag das Geschrei anhören. Tag für Tag, fünf Tage in der Woche, schreit dieser Balg.“

„Logisch, weil ihm der Po wehtut, er Hunger, Durst hatte.“

„Wo kommt der hin?“

„Zunächst zu einem Kinderarzt, der die massiven Verletzungen feststellt und behandelt, danach zu einer Familie, die ihn lieben lernen. Nicht wahr Julian, du bist ein nüddeliches Kerlchen und wirst jetzt lachen, Liebe kennenlernen und regelmäßig etwas zu essen bekommen“, kitzelte er den Wicht, der nicht lachte, ihn nur groß mit den braunen Augen anschaute.

Es klingelte.

„Geben Sie mir bitte sein Vorsorgeheft.“

„Habe ich keins.“

„Wie, er wurde nie von einem Kinderarzt untersucht, geimpft?“

„Warum sollte der? Die Schwarzen sind zäh. So einen Mist, der nur mein Geld kostet. Kriegen die Gören in Afrika auch nicht.“

Er verließ ohne ein weiteres Wort die Wohnung.

Unten sah er Rolf warten, der ihn erstaunt anblickte. „Du fährst zur Klinik.“

„Was ist passiert?“

Eike stieg ein, holte von hinten die Decke, legte die auf seine Hose, setzte den Winzling auf seinen Schoß. „Fahr bitte vorsichtig. Er muss in ärztliche Behandlung, da der Po und ein Stück vom Rücken ein kräftiger Ausschlag einnimmt. Er sieht fürchterlich aus. Danach befragen wir die Nachbarn, anschließend Jugendamt. Dafür wird sie sich vor Gericht verantworten müssen“, erklärte Eike hart, zornig.

„So schlimm?“

„Ich zeige dir nachher Fotos, wo der Knirps untergebracht war. Gruselig.“

In dem Krankenhaus suchte er seinen Bruder. „Einar, ein Patient für dich.“

„Wer ist das und wie kommst du zu dem Baby?“

„Julian Weber. Er hat Hunger, Durst, ist in einem jämmerlichen Zustand“, legte er den Jungen auf einen Wickeltisch. „Ich habe ihn gerade von der Mutter weggeholt. Er besitzt nur nasse, verdreckte Kleidung, da saubere Sachen nicht zu finden waren.“

Eine Krankenschwester kam, gab ihm eine kleine Flasche Tee, den er gierig trank. Sie zog ihn komplett aus und alle hielten wirklich für einen Moment die Luft an. Hier in dem grellen Licht sah der abgemagerte Körper noch entsetzlicher aus, als es Eike eben wahrgenommen hatte.

„Das ist ja bestialisch“, brachte Rolf entsetzt heraus. „Das sind die Bilder, die man immer aus Katastrophengebieten von verhungerten Kindern sieht.“

Die Schwester entfernte nun die Windel und Einar schüttelte den Kopf. „Sabine, holen Sie bitte die Kamera, da wir das für das Jugendamt festhalten müssen und bringen Sie ihm etwas zu essen mit. Milch und die vier. Beginnen wir mit etwas Leichtem.“ Er stellte sich zu dem Kind.

„Er lachte, lächelte nicht einmal, als ich ihn kitzelte. Er ist völlig verwahrlost.“ Eike holte sein Handy aus der Hosentasche. „So sieht es in seinem Zimmer aus“, reichte er Einar das. Der schaute die Aufnahmen an, gab es Rolf.

„Es gab keine saubere Kleidung, keine Creme. Sie war nie bei einem Arzt mit ihm.“

„Warst du schon beim Jugendamt?“

„Gleich.“

„Wie bist du darauf gekommen?“

„Der Vater ist gestern voll erwischt worden und saß zum Ausnüchtern bei uns. Vorhin bat er mich, mit seiner Frau zu sprechen, da es nur Streit wegen des Jungen gab. Sie lehnt ihn ab. Ich komme hin, sie schreit ihn an, betitelt ihn als blöden Balg. Im Wohnzimmer eine dicke verqualmte Suppe, ein voller Ascher, überall Klamotten von ihr.“

„Wir werden ihn, sobald er leicht gesättigt ist, geschlafen hat, genauer untersuchen. Das dauert, da wir einige Tests absolvieren müssen, dazu Blutuntersuchung. Er muss geimpft werden. Zwischendurch essen, viel trinken, schlafen, baden.“

Eine Schwester kam herein. „Herzlichen Glückwunsch“, sprach sie Rolf an. „Doktor Klaasen, Marc schläft nun.“

Eike schaute seinen Bruder an, der mit der Schulter zuckte. Rolf hingegen guckte nur verblüfft, benötigte Sekunden, bis er erfasste, was das hieß. „Mein Sohn ist schon da?“, krächzte er komisch. „Eike, du wusstest es und hast es mir nicht gesagt?“

„Du warst ja anderweitig beschäftigt, wolltest lieber deine Neue befriedigen. Die Mutter möchte es nicht, da ihr Sohn dich nichts mehr angeht.“

„Wo liegt er? Verdammt, es ist mein Sohn“, wurde er lauter und sofort begann Julian zu weinen.

Eike nahm ihn rasch auf den Arm. „Ist alles gut. Der Onkel spinnt. Du musst keine Angst haben.“

„Beate, führen Sie Herrn Kristens zu Marc. Nur kurz gucken und er soll Schutzkleidung anziehen. Ein Zirkus. Wir sind eine Klinik, in der man nicht brüllt, verstanden, Herr Kristens?“

Schwester Sabine erschien, reichte Eike die Milchflasche. Julian fasste allein zu und Eike legte ihn zurück, streichelte ihn.

„Wir benötigen Kleidung, ein Bad und danach darf er schlafen. Eike, du gehst ein bisschen beiseite.“ Einar hörte den Knirps ab, während der heftig an dem Nuckel saugte. Folgend eine oberflächliche Untersuchung der Beine, des Kopfes.

„Hinter den Ohren muss er vorsichtig gesäubert werden, da er auch dort eine Infektion hat“, gab er der Schwester Anweisung. Er nahm den Fotoapparat und fotografierte den Säugling von vorn, seitlich.

Erst als er fertig getrunken hatte, kam die Rückseite dran. „Er muss große Schmerzen haben, sobald er liegt, sitzt. Das ist nicht erst in den letzten zwei, drei Wochen entstanden. Da kann man schon von Körperverletzung ausgehen. Verfolgt ihr das?“

„Sicher. Diese Frau ist krank. Wenn sie nicht damit klarkommt, wie sie zu dem Baby gekommen ist, dann hätte sie zum Jugendamt bringen müssen.“

„Ist er der Fall, wo er fremdgegangen ist und er die Spermien von einem Farbigen seiner Frau eingesetzt hat?“

„Genau der. Angeblich freundete er sich mit dem Jungen an, nannte er es. Sie nicht, deswegen gab es wohl Streitereien. Sie sagte zu mir, er sollte nicht mehr arbeiten, damit er sich so um den Balg kümmern könnte. Er schrie wohl den ganzen Tag. Irre.“

„Logisch wenn er nichts zu essen, trinken, keine neue Windel bekam. Schlug, misshandelte sie ihn?“

„Keine Ahnung. Sehe ich die Hämatome an den dünnen Ärmchen, gehe ich davon aus, extrem fest angepackt.“

„Und geschüttelt, vermutlich.“

„Du denkst, er könnte noch innere Schäden aufweisen?“

„Du hast gesehen, er stützt sich nicht ab, wenn er auf dem Bauch liegt. Sollte er in dem Alter eigentlich. Das kann jedoch daran liegen, dass er nie Gelegenheit dazu bekam, es zu lernen. Eike, das dauert Tage, bis wir euch da einen vollständigen Bericht geben können. Wir müssen ihn langsam an regelmäßige, altersgerechte Nahrung heranführen, seine Wunden behandeln, dürfen ihn nicht weiter überfordern, sondern ihn an einen geregelten Ablauf gewöhnen. Beim Spielen kann man da ebenfalls mehr erkennen. Rechne eine Woche. Wir informieren das Jugendamt darüber. Anzeige brauchen wir ja nicht mehr erstatten. Jetzt bekommt er ein Bad, wird eingecremt, nochmals etwas Tee und darf schlafen. All das Fremde ist für ihn der pure Stress.“

„Halte mich auf dem Laufenden. Ich muss.“

„Was ist mit Rolf?“

„Sollte er nicht wissen, aber nun ist es passiert. Wir suchen eine Wohnung für sie und den Lütten, da sie ihre bisherige Bleibe gekündigt hatte. Sie steht gerade obdachlos da, selbst ein großer Teil ihrer Möbel ist bereits auf dem Müll oder in seinem Haus.“

„Alles wegen ein bisschen Sex. Die Kerle sind breesig.“

„Oder ihnen sind die Frauen egal, weil sie nur sich und ihre Befriedigung im Kopf haben.“

„Wenn ich da an Bille und Frederik denke, die monatelang auf Geschlechtsverkehr verzichten mussten, da würde dein Kollege wahrscheinlich jede Tussi mitnehmen. Arme Deern. Ich höre mich wegen einer Wohnung um. Ist sie noch bei Kleber angestellt?“

„So war es gewiss nicht“, antwortete Rolf von der Tür her. „Wo liegt sie?“

„Unwichtig, da Marion dich nicht sehen möchte“, Einar sofort. „Das war auch der erste und letzte Besuch bei Marc.“

„Er ist so winzig. Kommt er durch?“, erkundigte der sich nun leiser.

„Die Chancen stehen gut, aber es fehlen ihm eben vier Wochen im Mutterleib. Es kann immer etwas geschehen, was man nicht vorhersagen kann.“

„Wie lange muss er da drinnen liegen?“

„Einige Wochen vermutlich.“ Einar wickelte Julian in ein Wolltuch, nahm den Jungen hoch, setzte sich mit ihm auf die Ecke der Kommode, streichelte über seine schwarzen, glatten Haare. „Rolf, das kann niemand so genau vorher artikulieren, weil sich kein Frühchen wie das andere entwickelt. Wir sind heutzutage froh, dass wir solche Embryos überhaupt retten können. Es sterben nur wenige und das ist das Primäre. Dabei gibt es jedoch mehr. Es ist nicht nur, dass sie zu frühzeitig auf die Welt kamen, sondern zum großen Teil haben sie auch danach, also wenn sie daheim sind, gewisse kleine Defizite, hinken oftmals einem normal entfalteten Kleinkind hinterher. Inwieweit Marc da ein Manko hat, kann man heute noch nichts sagen.“

„Was war der Auslöser?“

„Blöde Frage“, entgegnete Einar, der Julian am Bauch kitzelte, der kaum darauf reagierte. Nun wanderten seine Fingerspitzen die dünnen Beinchen entlang zu den Füßen. Auch da kein Lachen, keine Reaktion. „Er spürt es, aber er kann nicht lachen, nicht seine Gefühle äußern. Rolf, bei Marion nennen wir es psychosoziale Auslöser. Dazu zählt unter anderem, chronischer Stress, resultierend aus einer Mehrfachbelastung und so ein Mist, den du angestellt hast. Sie geht in euer angebliches gemeinsames Haus und findet dort die Klamotten der Nachfolgerin bereits vor.“ Er drückte seinen Zeigefinger in dessen winzige Hand und da packte er zu. „Gut gemacht, Julian“, lobte er ihn mit einem Lächeln, samtweicher Stimme. „Marc wurde in der 34. Schwangerschaftswoche herausgeholt. Er verfügt jedoch über keinerlei Fehlbildungen, Chromosomenanomalien. Doch je unreifer ein Kind geboren wird, desto höher ist sein Risiko, eine bleibende Körperbehinderung oder kognitive Beeinträchtigungen zu bekommen. Ein Aufmerksamkeitsdefizit oder Hyperaktivitätsstörung zu erleiden, ist durch eine Frühgeburt, unabhängig von einer genetischen Disposition, erhöht.“ Einar kitzelte Julian am Hals und er verzog leicht den Mund, schaute ihn dabei unverwandt an.

„Was kann jetzt noch passieren?“

„Eine intrazerebrale Blutung kann eintreten.Gefäße, in den inneren Hirnwasserräumen können begünstigt durch verschiedene Faktoren einreißen. Dadurch kommt es zu einer Blutung. Eine leichte Blutung bleibt lokal begrenzt. Eine mittlere Blutung ergießt sich in die Hirnwasserräume der Seitenventrikel und füllt sie bis zu 50 Prozent aus. Eine schwere Blutung füllt die Seitenventrikel weit mehr aus. Das machst du ganz fein und nun laufen wir nochmals“, sprach Einar mit dem Jungen, setzte seine Finger auf dem Brustkorb an und die bewegten sich langsam abwärts und das erste Mal verzog er ein wenig das Gesicht. „Na siehst du, das wiederholen wir öfter und du lernst lachen. Guck, jetzt kommt Sabine. Sie nimmt dich mit zum Baden. Danach cremen, anziehen, Tee und ab ins Bett. Legen Sie ihn bitte in das leere Zimmer, damit er nicht in einer Stunde von dem anderen Kindergeschrei geweckt wird. Kein Besuch. Keinerlei Angaben an Fremde, da er unter der Obhut des Jugendamtes steht. Wird er wach, sagen Sie mir bitte Bescheid. Schauen Sie regelmäßig nach ihm, wie er schläft. Hatte er ein Kuscheltier oder so?“

„Nichts, nur einen Ball und ein Stück Stoff. Keine Ahnung, was das war.“

„Danke“, nickte er der Schwester zu. „Marc. Da er keine erhöhten Kaliumwerte hat, kann man eine Nierenunterfunktion ausschließen. Infant respiratory distress syndrom führt zu Atemnot, das wird durch die künstliche Beatmung ausgeschlossen. Das hängt mit der fehlenden Lungenreife zusammen. Dazu gesellen sich, dass er an Bakterien erkranken kann, die sich in seinem Körper bilden, eventuell Probleme mit dem Blutkreislauf und Netzhautschäden. Selbst später hat er ein erhöhtes Problem mit einer eventuellen Netzhautablösung. Ist allerdings nicht tödlich. So im Groben neben vielen kleineren Einflüssen. Jetzt muss ich, da meine Patienten warten. Kinder sind schnell ungnädig. Wegen Julian gebe ich euch Bescheid.“

Eike schlenderte neben Rolf her. „Gehe ich kurz ein Schmusetier und Klamotten kaufen, danach befragen wir die Nachbarn von den Webers. Mit ihm müssen wir zuletzt sprechen. Vorher das Jugendamt und die Staatsanwaltschaft.“

„Wie geht es Marion?“

„Was denkst du, wie es ihr geht? Mies, zumal sie Angst um Marc hat. Lenkt sie wenigstens ein bisschen von dem Ex ab. Damit Thema erledigt, da das ihr Privatleben ist.“

Er suchte die Kleidung für Julian, einige Kuscheltiere und bezahlte.

„Heute ohne Ihren Sohn, Herr Klaasen?“

Er nickte nur, sah Rolf mit Kleidung und Spielzeug kommen. Er hielt die gleiche bunte Ente, wie er eine für Julian gekauft hatte, in der Hand.

Sie klingelten bei dem Hausmeister, wie es auf dem Klingelschild extra vermerkt war.

Eike zeigte den Ausweis, stellte sie vor.

Das ältere Ehepaar starrte sie nur an. „Aber was haben wir gemacht?“, fragte die Frau mit Tränen in den Augen. „Ich schwöre es, wir haben noch nie etwas Unrechtes getan.“

„Beruhigen Sie sich, wir möchten Ihnen nur einige Fragen zu dem Ehepaar Weber stellen“, lächelte Eike.

„Sie haben uns einen ganz schönen Schrecken eingejagt. Wir hatten noch nie Ärger mit der Polizei. Kommen Sie herein.“

„Danke, Herr Schuster“, folgten sie dem Mann, während sie in der Küche verschwand.

„Was ist denn bei der Familie Weber geschehen? Wir dachten, sie wären verreist, weil der Junge nicht schreit. Ist er nun doch schon gestorben? Sie hatten es ja mit so einem Schreikind nicht leicht. Wir wussten vorher nicht, dass es so eine Krankheit überhaupt gibt. Unsere Kinder oder Enkel haben ja als Babys auch geschrien, wenn sie Hunger hatten, die Windel voll war. Aber danach war immer Ruhe. Da wurde was erzählt, ein bisschen gekitzelt und schon war aller Unmut bei den Lütten vergessen.

„Woher wissen Sie das mit dem Schreikind?“

„Hat sie meiner Frau gestanden. Ist ihr ja etwas unangenehm gewesen, sagte meine Frau. Sie hatte nämlich nachgefragt, weil er den ganzen Tag schrie.“

„Nachts oder abends nicht?“

„Nein, da nur manchmal kurz. Auch am Wochenende war meistens Ruhe. Na ja, weil der Lütte dann so erledigt von dem vielen Schreien war.“

Seine Frau kam mit Kaffee herein, goss ein, setzte sich zu ihnen.

„Hildegard, der Junge ist gestorben“, berichtete er betrübt. „So ein armer Wicht.“

„Ja, sie hatten schon ein Päckchen mit dem Lütten zu tragen. Erst der Schreck wegen dieses Gendefektes, dann ein Schreikind und nun noch die Nachricht, dass er vermutlich bald sterben wird, weil er diesen Magenschaden hatte, deswegen nichts bei sich behalten konnte“, seufzte die Frau. „Ging ja nun doch fix.“

„Erzählte es so Frau Weber?“

„Ja, vor einigen Wochen.“

„Haben Sie Julian öfter gesehen?“

„Selten, nur wenn Herr Weber mit ihm zuweilen spazieren ging. Das ist ja aufgrund seiner Krankheiten selten gewesen, da er nur kurz raus durfte.“

„Berichtete Ihnen Herr Weber auch von diesen angeblichen Erkrankungen?“

„Nein, nie. Er will wohl nicht wahrhaben, wie schwer krank sein Sohn ist. Das wird ihn ja hart getroffen haben. Sie sagte, er kauft, kauft, kauft alles für den Jungen und ich muss es zurückbringen, weil er doch bald stirbt. Deshalb haben sie sich wohl gestritten. Der Herr Hofer war ja öfter drüben, weil es so laut war.“

„Sagen Sie, Herr Kommissar, wieso sagten Sie eben, angeblichen Krankheiten?“, forschte der Mann nach.

„Weil der Junge keinen Gendefekt hat, kein Schreikind ist, noch Magenprobleme hat. Julian lebt.“

„Da müssen Sie sich irren. Der Junge ist so braun und das Ehepaar Weber ist weiß.“

„Das hat nichts mit einem Gendefekt zu tun, sondern dafür gibt es eine andere Erklärung. Danke. Das war schon alles“, stand Eike auf. „Das Jugendamt wird Sie nochmals dazu befragen.“

„Aber warum?“

„Weil es sich um das Wohl eines Babys dreht.“

Sie verabschiedeten sich. „Gehen wir zu dieser Familie Hofer. Eventuell ist jemand da.“

„In der Wohnung kannst du gewiss vom Fußboden essen“, stellte Rolf leise fest, während sie die Treppe hinaufstiegen.

„So sieht auch das Treppenhaus aus. Guck in die Ecken. Nicht ein Staubkörnchen.“

Frau Hofer, eine etwa 40-jährige Frau öffnete. Auch sie reagierte erschrocken auf die beiden Kriminalbeamten.

„Wir haben nur einige Fragen“, beruhigte Eike sie.

Nochmals gab es sofort Kaffee. Die Leute denken alle, entweder bekommen sie Ärger oder wir kommen zum Kaffee trinken zu ihnen, amüsierte sich Eike tonlos.

„Frau Hofer, kennen Sie den kleinen Julian Weber?“

„Ein nüddeliches Kerlchen. Man sieht ihn ja leider nur am Wochenende, wenn er mit ihm spazieren geht. Sie geht nie mit ihm raus, nicht zum Einkaufen nimmt sie ihn mit, da ist er allein in der Wohnung und schreit. Mein Mann meinte schon, man müsste das melden. Nur ich will keinen Ärger mit den Nachbarn, da das so schon angespannt genug ist.“

„Wieso ist es angespannt?“

„Na ja, mir ist das ja etwas unangenehm, aber mein Mann ist da anders. Er klingelte mehrmals bei ihnen, wenn es zu lärmend war. Er ist Polier und da muss er morgens um sechs auf der Baustelle sein. Abends so ab neun möchte er dann Ruhe haben, Fernsehen gucken. Nach den Tagesthemen geht er schlafen. Drüben gab es oft lautstarken Streit. Da war der Junge ruhig, dann die Eltern. Der Junge wird dadurch wach und wieder Geschrei. Da sagte mein Mann ja nichts, weil Babys schreien, aber die Eltern. Nee, da war er sauer. Frau Weber tobte sich ja stets am nächsten Tag bei mir aus, weil uns das alles nichts anginge. Sie hatte ja recht, nur es ist eben störend.“

„Was wissen Sie sonst über das Baby?“

„Dass er den ganzen Tag schreit, nur wenn er da ist, herrscht Ruhe. Angeblich soll er ja ein Schreikind sein, hat sie allen erzählt, aber dann würde er ja auch schreien, wenn er da ist. Am Wochenende hört man den Butscher kaum. Irgendetwas stimmt da nicht.“

„Wissen Sie sonst etwas über seine Krankheiten?“

„Sie meinen diesen angeblichen Gendefekt“, lächelte sie verschmitzt.

„Zum Beispiel.“

„Nee, Herr Klaasen, den gibt es nicht. Das hat sie erfunden, weil keiner von ihren Seitensprüngen erfahren sollte. Ist ja auch egal, er sieht nüddelich aus. Ein hübsches Kerlchen.“

„Welchen Seitensprüngen?“, erkundigte sich Rolf verblüfft.

„Na, mit den jungen Soldaten. Die Ersten kamen ja nur ein, zwei Monate. Mit dem Dunkelhäutigen, das ging länger. Ein höflicher Mann, der so wie wir spricht.“

„Ein Farbiger?“

„Ja natürlich, sonst wäre ja der Junge nicht etwas bräunlich. Ist eigentlich egal. Heutzutage ist das ja nu keine Schande mehr. Nur der Herr Weber regte sich am Anfang darüber auf. Deswegen ja die Geschichte mit dem Gendefekt. Sie wollte ihm nu nicht sagen, ich habe dich betrogen. Ist ja ihre Angelegenheit und da mischt man sich nicht ein. Mein Mann nennt es Beschiss, aber ich sehe das etwas toleranter.“

„Frau Hofer, Sie sind da sicher, dass Frau Weber eine Affäre mit einem Farbigen hatte?“, forschte Eike verdutzt nach.

„Ja, Roger heißt er. Manchmal kam er vormittags, manchmal erst am Nachmittag und man hörte, was da passierte, da er geräuschvoll dabei war. Seine Vorgänger waren da etwas leiser. Das ging etwa vier, fünf Monate und dann war Schluss. Sie erzählte infolge allen Nachbarn, wir bekommen ein Baby. Mein Sohn lästerte noch, wer wohl der Vater ist. Sie wissen ja, wie Jugendliche so sind.“

„Ist er aus der hiesigen Kaserne?“

„Nehme ich an. Er fährt einen Golf mit einem Nummernschild von Dortmund.“

„Erzählte Frau Weber sonst noch etwas über Julian?“

„Nein, da sie kaum mit mir spricht. Wir sind mit der Familie Sieger befreundet. Sie erzählte uns vor zwei, drei Wochen, der Lütte ist wohl sehr krank, lebt nicht mehr lange. Na ja, er sieht ja etwas dünn aus, aber die Ärzte werden das schon schaffen. Ihr Bruder wird wissen, was man da tut, Herr Klaasen. Er operierte unseren Jungen ja damals auch.“

Sie verabschiedeten sich.

„Oh, oh, da kommt ja eine Menge auf ihn zu, falls das kein Getratsche ist.“

„Rolf, sie scheint nicht zu der Sorte zu gehören. Diese Sachverhalte reichen fürs Jugendamt. Sie geht shoppen und lässt das schreiende Baby allein, dazu so verwahrlost, wie er aussieht.“

„Warum griff er da nicht massiver ein?“

„Ich vermute, sie wird ihm da einige Bären aufgebunden haben. Erfinderisch ist sie, wie man so an den Märchen hörte. Abwarten, ob noch jemand etwas weiß.“

Die übrigen Frauen erzählten alle das Gleiche: Gendefekt, Schreikind, Magenprobleme, baldiger Tod.

Eike rief den Staatsanwalt an, berichtete von dem Gehörten. „Wir sollen zur Truppenunterkunft fahren, von diesem Roger eine Speichelprobe holen, damit die Vaterschaft geklärt wird. Vielleicht möchte er seinen Sohn zu sich nehmen.“

„Ein Soldat?“

„Auch die haben Familien. Also erst Jugendamt, danach Julius-Leber-Kaserne. Vorher informiere ich Einar über diesen angeblichen Magendefekt oder wie man das nennt.“

Sie gingen zu der Sachbearbeiterin, die Eike von Torben kannte, und trugen vor, was an dem Morgen geschehen war, zeigte ihr die Fotos.

„Können Sie mir die übersenden? Das Material ist für uns von Wichtigkeit, um unser Eingreifen zu rechtfertigen.“

„Schicken wir Ihnen nachher vom Büro aus zu. In der Klinik liegen weitere Aufnahmen vor.“

„Wir werden uns unverzüglich mit dem Ehepaar Weber in Verbindung setzten, mit dem behandelnden Arzt ein Gespräch führen, Anzeige erstatten, obwohl Sie das ja bereits in den Händen haben. Der Weg muss eingehalten werden. Bei Frau Weber hörte sich das so an, als wenn sie den Jungen sterben lassen wollte. Das ist jedoch Ihre Aufgabe, das zu beweisen. Es kann sein, dass wir eventuell Polizeischutz benötigen, falls Frau Weber nicht kooperativ ist.“

„Rufen Sie an. Die Kollegen kommen sofort.“

„Wie gehen Sie weiter vor?“

„Mit dem Vater sprechen und vermutlich Frau Weber im Präsidium näher befragen. Die Staatsanwaltschaft entscheidet im Anschluss, wie es weitergeht.“

In der Kaserne mussten sie nach dreimaliger Kontrolle eine Weile warten, bis man den Armeeangehörigen zu ihnen schickte.

Sie standen draußen, schaute zu, wie eine Gruppe Wehrdienst-Leistender exerzierte.

„Das Blödeste, was es gibt“, stellte Rolf fest. „Diese 18 Monate habe ich gehasst.“

„Du hast also brav gedient?“, schmunzelte Eike.

„Du nicht?“

„Nein, erst mein Studium, anschließend mein praktisches Jahr und folgend Polizeischule. Da wollte man mich nicht mehr. Ich hätte mich nie so zum Affen gemacht, außer wenn ich Berufssoldat werden wollte. Nur das stand bei mir nie auf der Liste. Wäre sie da nochmals auf mich zugekommen, hätte ich Sozialdienst gewählt. Ich hatte nie vor, im Stechschritt laufend mich totschießen zu lassen, sei es im Kosovo, Afghanistan oder wo sie sonst noch verbreitet sind. Man sieht doch, wohin das führt, wenn sie irgendwo Kriege aus Machtgier anzetteln. Irak, Libyen, Afghanistan, Palästina, dazu die Nachbarstaaten, die mit hineingezogen werden. Wen interessiert dabei, wie viele Hunderttausende Unschuldige sterben?“ Er lachte. „Schau, der eine junge Mann ist viel zu langsam. Sieht irgendwie lustig aus.“

Ein junger Mann kam auf sie zu, salutierte. „Herr erster Hauptkommissar, folgen Sie mir bitte.“

Rolf und Eike schauten sich kurz grinsend an, liefen hinter dem Mann her, der sie in das Gebäude führte, einen endlosen Flur entlang, die Tür aufriss, sie eintreten ließ, nochmals salutierte, die Tür schloss.

Nur wenige Sekunden darauf trat ein Mann in mittleren Jahren ein, abermals wurde salutiert, bevor er sich vorstellte, nun die Mütze abnahm.

„Wir haben nur einige Fragen, Hauptmann Wabert.“

„Stellen Sie sie“, antwortete der zackig.

„Kennen Sie Frau Annika Weber?“

„Ja, wir waren einige Monate lose liiert.“

„Sie wussten, dass Frau Weber verheiratet war?“

„Ihr Mann und sie lebten in Trennung. Er hatte ebenfalls andere Beziehungen“, erklang es wie aus der Pistole geschossen. Er stand dabei steif, als wenn er einen Besenstiel verschluckt hätte.

„Woher wissen Sie das?“

„Von Frau Weber und mehrmals gesehen. Frau Weber war vor mir mit anderen Herren zusammen, die dann versetzt wurden.“

„Es war also mehr ein rein sexuelles Verhältnis?“

„Ja, so kann man es nennen.“

„Bezahlten Sie dafür?“

„Ich gab ihr immer Mal wieder einen Hunderter, da sie sonst nichts verdiente, ihr Ex ihr nichts gab.“

„Sie haben nie verhütet?“

„Nein, da sie …“ Er verlor ein wenig seine stoische Art, schaute sie ungläubig an. „Sie wollen doch wohl nicht sagen, dass dabei ein Kind entstand?“, zeigte er das erste Mal eine wirkliche Reaktion: Bestürzung, Ungläubigkeit, registrierte Eike. Dösbaddel!

„Vermutlich ja. Frau Weber brachte im Dezember letzten Jahres einen Jungen auf die Welt. Er wurde eindeutig von einem Menschen mit dunkler Hautfarbe gezeugt.“

„Wieso kommen Sie erst jetzt damit?“

„Weil bisher Herr Weber glaubte, dass es zu einem farbigen Nachwuchs kam, lag an ihm.“

„Sie meinen, weil er mit einer Prostituierten verkehrte? Wieso sind sie noch nicht geschieden?“

„Höchstwahrscheinlich wegen des Knirpses. Herr Weber freute sich nach seiner Aussage acht Monate auf seinen Sprössling.“

„Darf ich den Knaben sehen?“

„Langsam. Zuerst eine Speichelprobe, damit Ihre Vaterschaft festgestellt werden kann.“

„Was ist mit dem Knirps? Die Kriminalpolizei kümmert sich doch nicht um Vaterschaftsanerkennungen. Wie heißt er?“

„Julian. Er wurde heute von uns bei der Mutter weggeholt. Herr Weber meldete uns, dass seine Frau mit einem farbigen Kind so ihre Probleme habe. Wir haben in der Wohnung ziemlich miese Umstände vorgefunden, den Lütten, also den Jungen, sofort ins Krankenhaus geschafft.“

„Sie hat meinen Sohn …“, er brach ab. „Wieso rief sie mich nicht an, sagte mir, hole Julian zu dir?“

„Das können wir Ihnen nicht beantworten. Hätten Sie ihn zu sich nehmen können?“

„Natürlich. Ich lebe seit knapp zwei Jahren in einer festen Beziehung, aber besonders habe ich Eltern, die jederzeit den Jungen zu sich geholt hätten. Meine Versetzung wäre der entsprechende Schritt gewesen. Ein Kind ist ja wohl das Wichtigste auf der Welt, selbst wenn ich das nie plante.“

„Hauptmann Wabert, zuerst eine Speichelprobe, ob Sie wirklich der Kindsvater sind. Danach müssten Sie sich beim hiesigen Jugendamt melden, alle weiteren Handlungen mit der Behörde klären. Julian muss sowieso eine Weile unter ärztlicher Aufsicht bleiben.“

„Was hat er? Wurde er misshandelt?“

„Das werden Sie erfahren, falls der Test positiv verläuft. Sollte das der Fall sein, rate ich Ihnen, einen Anwalt einzuschalten. Das wird ein langer Weg werden, da Herr Weber als Vater eingetragen ist. Zuerst erfolgt eine Aberkennung der Vaterschaft von Herrn Weber. Nun die Beantragung Ihrer Anerkennung als Vater. Dazu müssten Sie das Sorgerecht und Aufenthaltsbestimmungsrecht beantragen. Das Jugendamt würde prüfen, ob bei Ihnen der Junge gut aufgehoben ist, lax ausgedrückt.“

Jetzt lächelte der Mann, antwortete überheblich: „Danke für die Tipps. Ich scheide Ende September generell aus, da ich in die Kanzlei meines Vaters eintreten werde. Ich bin Rechtsanwalt, so wie mein Vater. Im Oktober werde ich heiraten.“

„Das würde natürlich vieles vereinfachen, falls Sie der leibliche Vater sind.“

„Werde ich sein. So viele Farbige laufen ja in Husum nun nicht herum.“

„Trotzdem benötigen Sie das schwarz auf weiß. Wir nehmen mit Ihrem Einverständnis eine Speichelprobe von Ihnen mit.“

„Natürlich, sofort.“

Rolf erledigte das.

„Ich möchte ihn zumindest kurz besuchen.“

„Hauptmann Wabert, Sie sollten das zunächst mit Ihrer Lebensgefährtin klären, keineswegs die Geschichte überstürzen.“

„Sie weiß von meiner Beziehung zu Frau Weber. Sollte sie zu meinem Sohn Nein sagen, wäre sie die falsche Ehepartnerin für mich. Wird sie aber nicht. Ich weiß schließlich, wen ich ehelich werde“, seine Antwort herablassend.“

„Melden Sie sich bei Doktor Klaasen. Er ist der Leiter der Kinderstation und der behandelnde Arzt.“

„Danke.“

„Ein netter Kerl, findest du nicht? Sie hätte doch wenigstens mit ihm reden können, wenn sie den Jungen nicht will.“

„Da hätte der Ehemann von ihrer Affäre erfahren und das wollte sie nicht. Warum sie geheiratet haben, werden wir wohl nie erfahren. Ihren Frust ließ sie an dem Jungen aus. Ob das wirklich mit seiner Hautfarbe zu tun hatte, lassen wir so stehen. Ich glaube es nicht. Abwarten, was der blasierte Wabert real unternimmt. Fahren wir ins Büro.“

„Rolf, rufe bitte Jochen an, damit man Frau Weber herbringt. Er ist im Anschluss an der Reihe. Rüdiger muss die DNA in die Klinik bringen.“

„Eike, das mit Marie …“

„Interessiert mich nicht. Jetzt ist Arbeitszeit. Vögeln könnt ihr nach Dienstschluss, heißt nach 17.00 Uhr. Werdet ihr euch wohl gedulden müssen. Suche bitte die Daten über die Webers und Hauptmann Wabert heraus und lege das in die Akte. Ich muss telefonieren.“

Zuerst rief er beim Jugendamt an, berichtete der Mitarbeiterin von dem Gespräch, danach informierte er Einar, da der mutmaßliche Vater Julian besuchen wollte.

Die beiden anderen Akten auf seinem Schreibtisch las er kurz durch, brachte sie Renate, da das nur Bußgeldverfahren waren, die sie weiterleiten musste.

Er nahm das Datenblatt von Roger Wabert. Er war 37 Jahre alt, geboren in Dortmund, ledig, drei Kinder. Sieh mal einer an. Er schien generell Verhütung nicht zu kennen. Vater Christian Wabert, Rechtsanwalt, Mutter: Catherine Wabert geborene Smith. Zwei Brüder. Nun folgte sein Werdegang, die zig Kasernen. Sein ältester Sohn war heute bereits 16 Jahre alt, lebte bei der Mutter in München. Die Tochter 12 Jahre alt, wohnte in der Nähe von Flensburg. Tochter Nummer zwei, 4 Jahre alt wohnte in der Nähe von Wiesbaden. Da war der nette Hauptmann bereits einen Tausender jeden Monat los. Nun ein weiteres Kind. Das Wort Verhütung hatte dieser schlaue Mann noch nie gehört.

Er nahm das Datenblatt, die Kassette und brachte es Renate, damit sie das schrieb.

Annika Weber wurde hereingeführt, die sich lauthals beschwerte.

„Ruhe! Sie stehen in einem Polizeipräsidium und nicht in Ihrer Wohnung, wo Sie sich so aufführen können“, hörte er Rolf meckern, öffnete die Tür.

„Eike, sie hat nach uns getreten, uns als Schweine, Pennervolk bezeichnet.“

„Danke, Jochen. Jetzt den Mann. Das nehme ich mit auf, nennt man Widerstand gegen Beamte, Beleidigung. Sie setzen und benehmen sich, Frau Weber, sonst werden Sie in die Zelle geschafft, wo Sie sich abreagieren können.“

„Was wollen Sie von mir? Nehmen Sie mir diese Dinger ab.“

„Die Handfesseln bleiben dran, da Sie sich anscheinend nicht benehmen können. Rolf, belehre Frau Weber bitte“, schaltete er das Aufnahmegerät an, hörte zu.

„Es liegen Anzeigen wegen massiver Kindeswohlgefährdung, Verletzung der Sorgfaltspflicht, Vernachlässigung eines Säuglings, Körperverletzung zulasten von Julian Weber vor. Das Jugendamt, ein Kinderarzt zeigten Sie deswegen an, neben meiner Wenigkeit.“

„Sie spinnen ja. Dem Balg geht es gut bei uns.“

„Gut bei Ihnen? Ein Scherz, oder? Julian ist mangelernährt, bedeutet, er musste hungern und bekam zu wenig Flüssigkeit.“

„Mensch, was soll das? Der hat ein Magenproblem, spuckte deswegen alles aus.“

„Deswegen suchten Sie nie einen Kinderarzt auf? Diagnose stellten ja Sie ganz fachmännisch. Nein, in der Klinik spuckte er nicht alles aus. Sie wollen doch wohl nicht einem Kinderarzt unterstellen, dass er keine Krankheiten erkennt? Julian ist weder ein Schreikind, noch verfügt er über einen Gendefekt oder etwas mit dem Magen. Er stirbt auch nicht bald.“ Eike nickte Rolf zu, schloss sein Handy an den Laptop an und speicherte die Fotos darauf, druckte diese danach aus.

„Schreien tat Ihr Sohn, weil er Hunger, Durst, Schmerzen hatte. Sein völlig abgemagerter Körper ist mit Wunden und Hämatomen übersät. Sie gaben ihm nichts zu essen, weil Sie seinen Tod wollten. Nennt man vorsätzlichen Mord.“

„Sie sind alle beide verrückt. Der Balg kotzte das raus, was ich dem rein schob.“

Eike schüttelte den Kopf.

„Sie sind abscheulich“, presste Rolf voller Wut heraus. „Julian hat keinen Gendefekt, sondern die Hautfarbe von seinem Vater. Haben Sie es Ihrem Mann gesagt, wer der Erzeuger ist?“

Nun wurde sie merklich blasser im Gesicht.

„Also nicht. Erledigen wir gleich für Sie. Warum haben Sie ihn nicht angerufen, gesagt, ich mag den Jungen nicht, hole ihn ab?“

„Was weiß ich, wer das ist. Diese Nutte hat …“

„Schluss! Drücken Sie sich bitte anders aus, wenn Sie hier sitzen. Sie wissen genau, wer der Erzeuger ist, da Sie Ihren Mann betrogen, über Monate ein sexuelles Verhältnis mit dem Kindesvater hatten, davor mit einigen anderen Männern. Frau Weber, begreifen Sie es endlich, Ihre miesen Machenschaften sind vorbei. Julian hat man vor Ihrem abartigen Vorgehen in Sicherheit gebracht. Dem Jungen werden Sie nie wieder ein Leid zufügen, ihn quälen, misshandeln können. Warum haben Sie ihn nicht einfach abgegeben, den Kindesvater darüber informiert?“

„Als wenn Roger den Balg nehmen würde? Ich bin eine sehr gute Mutter und das wissen alle.“

„Die Nachbarn sagen dazu etwas anderes. Sie wurden von Ihnen belogen, weil Sie nicht zugeben wollten, wie Sie den Säugling malträtierten.“

„Sie haben mit unseren Nachbarn …“

„Beantworten Sie endlich die Frage meines Kollegen“, mischte sich Eike ein. „Sie haben Ihrem Mann ein Kuckuckskind untergeschoben, ihn noch angeschrien, weil er Sie betrogen hatte. Ich zitiere Sie.“ Er las nun ab. „Wir sind zwar seit vier Jahren liiert, aber erst seit einem Jahr verheiratet. Da geht er mit einer Frau ins Bett, kommt nach Hause und schläft mit mir? Das ist ja ekelhaft. Mich beschuldigen, ich wäre fremdgegangen, dabei bist du derjenige, der … Egal jetzt. Julian ist mein Sohn und ich bin froh, dass du nicht sein Vater bist. Ich werde die Scheidung einreichen, weil ich so einen Mann garantiert nicht haben will. Danke, dass Sie es mir gesagt haben. Für mich ist es egal, wer der Mann war. Julian ist nur mein Sohn, und wie Sie sagten, ein nüddeliches Kerlchen. Gernot, ich lasse deinen Namen aus der Geburtsurkunde streichen. Er wird nach der Scheidung wie ich heißen, wieder Helmer. Ich räume heute noch die Wohnung, melde es der Hausverwaltung, damit sie meinen Namen entfernen.“ Er schlug den Aktendeckel zu. „Nur Lügen, selber der Polizei gegenüber, um sich selber reinzuwaschen. Dabei wurden von Ihnen über Monate mehrere Männer, während Ihr Mann arbeiten war, sexuell befriedigt. Sie spielten erschrockene Frau, obwohl Sie genau wussten, warum Julian etwas dunklere Hautfarbe hat. Sie sind also doch so eine Person, die sich mit Schwarzen, mit jedem Mann einlässt, der dafür bezahlte. Sie haben jeden nur belogen, wie ich sagte, einschließlich der Justizbehörde. Wurden die Einnahmen aus der Prostitution versteuert? Nennt der Gesetzgeber sonst Steuerhinterziehung. Warum wurde weder der Kindesvater noch das Jugendamt darüber informiert, dass Sie den Jungen ablehnen?“

„Was sollen denn die Leute denken? Alle haben komisch geguckt, weil der so ein schwarzer Balg ist, als wenn ich eine von diesen Nutten wäre.“

„Wenn ich mehrere Männer neben dem Ehemann im Bett habe, dafür Geld kassiere, wie bezeichnen Sie diese Frauen?“, schmunzelte Eike, aber die Augen blickten sie kalt an. „Sie sind mit dem Kindesvater, anderen Männern, ohne zu verhüten ins Bett gegangen, wussten, dass ein Baby daraus entstehen kann. War Ihnen egal?“

„Also, das ich eine Frechheit. So war es nicht.“

„Doch nachweisbar war es so. Wir recherchierten das bereits. Sie belogen den Kindesvater, sie lebten in Scheidung. Nur deswegen gab es diese rein sexuelle Affäre. Aus welchem Grund sollte Julian wirklich sterben?“

„Er hat ein Problem mit dem Magen, kotzt ständig, schreit nur. All mein Geld kotzt der Balg raus. Da muss der krank sein.“

„Ihr Geld aus der Prostitution, weil Sie ansonsten noch nie gearbeitet haben, sich von Kerlen aushalten ließen. Dann sucht man einen Kinderarzt auf. Ach nein, Siiiee wissen ja angeblich alles.“ Eike nahm das Telefon mit, nickte Rolf zu und schloss die Tür hinter sich. „Ist Herr Weber bei euch?“ „Fragt ihn bitte, ob es eine Lebensversicherung für ihn oder Julian gibt.“ „Danke, bis gleich.“ Er rief die Versicherung an, fragte da genauer nach.

Er ging zurück, setzte sich.

„Frau Weber, ist es nicht nur wegen der Lebensversicherung, die Sie abkassieren wollen? Der Lütte stirbt und Sie halten die Hand auf. Wie ist es bei Ihrem Mann? Muss er als Nächstes daran glauben, weil Sie da ebenfalls Geld bekommen? Sie haben ihn gedrängt, für ein Baby eine Lebensversicherung abzuschließen. Man sichert Kinder ab, damit, falls der Ernährer stirbt, die nicht mittellos dastehen. Dass man ein Baby versichert, mehr als ungewöhnlich. Sie wussten anscheinend nicht, dass die Versicherung so einen Vertrag abgelehnt hätte. Ihr Mann beantragte jedoch generell nie so ein dumm Tüch, da er so eine Idee breesig fand. Sie bekommen keinen Cent bei dem Tod von Julian.“

„Waaass? Aber warum? Das können die doch nicht machen? Ist der Kerl irre?“

„Doch, da nie eine Versicherung abgeschlossen wurde. Sie sind nicht nur eine billige Prostituierte, sondern eine eiskalte Mörderin. Rolf, bringe sie in die Zelle. Sie werden wegen versuchten Mordes zulasten von Julian Weber festgenommen. Dazu summieren sich noch jede Menge weitere Strafvergehen, einschließlich Steuerbetrug, unerlaubte Prostitution.“ Er öffnete die Tür. „Renate, komm bitte. Du musst Frau Weber abtasten, da sie in die Zelle wandert.“

Nun geriet die Frau völlig außer sich, kreischte, wollte sich wehren, nur die Handfesseln hinderten sie daran. So versuchte sie zu treten.

„Fesseln wir Ihnen noch die Fußgelenke“, Eike lauter werden. „Ein weiterer Straftatbestand, aber Sie wissen ja alles.“

Renate tastete sie ab, legte alles auf den Tisch, dazu ihre Handtasche. Rolf schob sie raus, da ging draußen die Tür auf. Ihr Mann und die beiden Polizisten kamen herein.

„Du Idiot! Wir wären reich gewesen, wenn du deine Schnauze gehalten hättest, du blöder Versager. Was geht dich dieser schwarze Balg an? Ja und? Roger war gut im Bett, hatte wenigstens einen langen, dicken Schwanz. Ich hätte dich Versager nie heiraten sollen.“

Die Tür fiel hinter ihr zu.

„Bringt ihn in mein Büro“, Eike jetzt. Er nahm ihre Sachen, legte die zu Renate ins Büro.

„Diese Frau ist ja völlig hysterisch. Was hat sie angestellt?“

„Sie wollte einen Säugling verhungern lassen, damit sie eine Lebensversicherung abkassieren kann.“

„Wie bitte? Die ist doch krank. Lebensversicherung für einen Lütten? Macht doch keinen Sinn. Breesig.“

„Mehr als das. Nun ist für die nächsten Jahre Schluss mit schönem Leben.“

Er schloss die Tür. „Nehmen Sie Platz, Herr Weber“, goss Eike Kaffee für ihn ein.

„Was hat das alles zu bedeuten?“, fragte er sichtlich verwirrt.

„Wir haben Ihre Frau wegen versuchten Mordes, Kindesmisshandlung und einigen mehr mitgenommen. Julian liegt in der Klinik, wird dort behandelt.“

„Ist er doch krank? Ich rede seit Wochen, sie soll endlich mit dem Lütten zum Arzt gehen, weil er immer dünner wurde. Sie sagte, er ist gesund. Ist es schlimm? Kann ich zu ihm?“

„Alles der Reihe nach. Seit wann gibt es Streit wegen Julian?“ Eike schlug die Akte auf, las: Gernot Weber, 29 Jahre alt, verheiratet seit 2012, ein Kind, Polier, sonst keine Einträge. Er hatte einen Bruder, der wie die Eltern in Husum lebte. Annika Weber, geborene Helmer, 30 Jahre alt, verheiratet, ein Kind, keine Berufsangabe, Schulden 21 300 Euro, vorbestraft: 2003 Diebstahl, Bewährung. 2004 Körperverletzung mit Diebstahl - nochmals Bewährung, 2005 Diebstahl, Verurteilung und drei Jahre, vier Monate Gefängnisaufenthalt, vorzeitige Entlassung, zwei Jahre Bewährung. Wieso hatte ihm Rolf das nicht gesagt?

„Seit etwa vier Monaten. Es wurde permanent schlimmer. Ich musste am Wochenende die Wäsche für ihn waschen, weil sie zu faul war. Abends bereitete ich ihm Brei zu, erledigte sie ebenfalls nicht. Sie sagte, wenn du da bist, versorgst du den. Ich habe ihn Stunden am Hals. Nur im Sommer arbeiten wir oft länger und da fehlte mir die Zeit dafür. Im März war er bei meinen Eltern, weil sie einfach abhaute, raus müsste. Meine Mutter tobte, weil er so einen wunden Po hatte. Sie zeigte mir, wie man das alles handhabte. Sie kommt wieder, ich hole unseren Sohn ab, stelle all die Mittelchen hin, da keift sie, das wäre Dreck, brauchte man nicht, wirft alles weg. Nun war wieder alles so wund. Am Montag habe ich einen Kinderarzt angerufen, weil ich denke, da ist etwas falsch. Morgen Nachmittag muss ich mit dem Lütten hin.“

„Wer ist das?“

„Ihr Vater, Herr Klaasen. Ein Kollege sagte, seine Frau ginge da auch immer hin. Ich kenne mich doch mit all so einem Zeugs nicht aus, weil das doch sonst immer die Frauen erledigen.“

Rolf kam zurück und Eike rief seinen Vater an, der das bestätigte. Der Mann hätte ihm erzählt, er wüsste nicht genau, ob der Junge krank wäre, aber der Po sei rot und er wäre zu dünn. Von diesen Vorsorgeuntersuchungen hatte er noch nie gehört. Er bedankte sich, legte auf.

„Herr Weber, ist Ihnen nie der Gedanke gekommen, dass Ihre Frau Julian absichtlich vernachlässigt?“

„Doch, aber ich habe das fix weggeschoben. Er ist doch unser Sohn. Was meinte sie eben mit diesem Roger?“

„Er ist vermutlich der Erzeuger von Julian. Sie hatte ebenfalls Affären nebenbei.“

„Ich habe es gewusst“, gestand er leise.

„Wir haben heute mit dem Mann geredet und er wusste nichts von einer Schwangerschaft, da er seinerzeit die Affäre mit Ihrer Frau beendete. Sie belog ihn, sie würde in Scheidung leben, nur deswegen kam es dazu.“

„Alles nur Lügen. Meine Eltern hatten immer recht, als sie sagten, ich solle sie nicht heiraten“, murmelte er leise.

„Warum sagten sie das?“

„Weil Annika ein gewisser Ruf vorauseilte. Sie war eben kein Kind von Traurigkeit. Es gab vor mir zahlreiche Affären, selbst als wir schon liiert waren. Irgendwann sagte ich - Schluss ist. Nach einigen Wochen kam sie heulend an und sie zog bei mir ein, wir heirateten kurz darauf. Sie versprach, es gibt keine anderen Männer mehr. Es gab ständig Streit. Machte ich nicht, was sie wollte, keifte sie und ich musste im Wohnzimmer schlafen, da sie selbst das Gästezimmer abschloss. Sex gab es ebenfalls kaum noch. Als sie mir von der Schwangerschaft erzählte, freute ich mich, weil ich dachte, nun wird alles besser.“

„Aber es änderte sich nichts, oder?“

„Nein, alles lief so weiter. Die Streitereien wurden mehr, bösartiger. Am Anfang kümmerte sie sich ja noch um Julian, aber es wurde ständig weniger. Meine Mutter nahm ihn eine Weile unter ihre Obhut. Dann wollte Annika ihn zurück, sagte, sie hätte sich erholt und nun würde sie unseren Sohn allein versorgen. Es funktionierte einige Wochen, dachte ich zumindest. Vor drei Wochen sprach mich eine Nachbarin an, weil er den ganzen Tag schreien würde. Ich fragte Annika. Sie sagte, die Alte spinne. War ich daheim, schrie er selten und so glaubte ich ihr. Ich versorgte ihn abends, am Wochenende. Mir fiel auf, dass das Kinderzimmer dreckig war. Selbst das putzte ich, wusch seine Wäsche. Es krachte mehr als je zuvor. Es fehlten Kleidungsstücke, Spielzeug. Sie keifte, das hätte sie weggeworfen, weil er alles voll … weil er sich übergeben hätte. Es hätte gestunken. Ich gehe am nächsten Tag, nach der Arbeit, einkaufen und sie tobte, als sie das sieht. Abends komme ich heim, da hat sie die Sachen zurückgebracht, weil Julian so einen Mist nicht benötigte. Deswegen sprach ich Sie ja darauf an, damit sie sich endlich um unseren Sohn kümmert. Darf ich ihn besuchen? Bitte? Dort ist doch alles fremd für meinen Lütten“, traten nun Tränen in seine Augen.

Eike begleitet Gernot Weber zu der Kinderstation. Julian war wach, trank Tee. Kaum sah er den Vater, ließ er die Flasche fallen, streckte die Ärmchen nach ihm aus, brabbelte, gluckste, artikulierte sich durch unterschiedliche Geräusche. Er nahm ihn schnell auf den Arm, drückte ihn an sich. Damit hatte Eike nun nicht gerechnet. Er sah, wie er leise mit dem Jungen sprach. Der verzog das Gesicht zu einem Lächeln, patschte im Gesicht seines Papas herum. Und nun? Jetzt gab es zwei Männer und einen Säugling. Snaksch sagte er sich. Das ist nicht deine Angelegenheit. Er ließ die beiden allein und besuchte Marion. Er konnte sich nicht um alle Kinder und deren Eltern kümmern.

„Moin. Wie geht es dir?“, zog er einen Stuhl heran und setzte sich.

„Ist was mit Marc?“

„Nein. Mach dir keine Sorgen. Er schafft es. Hier ist in den letzten zehn Jahren kein Frühchen gestorben. Einar hat ständig ein Auge auf ihn. Und du?“

„Ich ärgere mich über mich selbst. Ich weiß es eigentlich seit Monaten, dass es eine andere Frau bei ihm gibt. Ich hätte sofort die Konsequenzen ziehen sollen, meine Sachen packen und eine andere Wohnung suchen müssen.“

„Solange kann er die Frau nicht kennen, da sie erst vor wenigen Wochen hergezogen ist. Wie kommst du darauf, dass es eine andere Frau gab?“