Machtvolles Spiel - Linda Langer - E-Book

Machtvolles Spiel E-Book

Linda Langer

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Beschreibung

Nachdem der Kannibale Prof. Dr. Fell im Gefängnis sitzt, fühlt Lila keine Herausforderung in ihrem Leben als Detective des DPDs, bis ein kurioser Vierfachmord auf dem Tisch ihres Teams landet. Vermutungen leiten sie in einen Wald zu einem alten, modrigen Holzhaus. "Willkommen zu Hause" ziert eine Notiz in dem Kleiderschrank des Ehepaares. Organe schwimmen in Gläsern, ein abgetrennter Arm liegt im Kühlschrank. Ein ungutes Gefühl breitet sich in Lila aus. Hat Fell seine Finger mit im Spiel, obwohl er im Gefängnis sitzt? Zwischen Lilas Liebe zum Beruf stehen noch immer ihre Gefühle zu Steve. Wird sie ihn weiter in ihr Leben lassen? Eine weitere spannende Fortsetzung des Psychokrimis "Krankes Spiel".

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Seitenzahl: 422

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Linda Langer wurde 1996 im Sternzeichen Schütze geboren und wuchs im Erzgebirge auf. 2020 veröffentlichte sie ihren ersten Psychokrimi „Krankes Spiel“ und lies die Leser*innen in eine Geschichte aus Kannibalismus, Mord und gleichzeitig etwas Liebe eintauchen. Ihr Genre Mix sorgt für viel Abwechslung beim Lesen.

Sie können mit ihr über Instagram in Kontakt treten.

Mache das Unwirkliche wirklich.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

1

Seitdem der Kannibale Prof. Dr. Fell im Gefängnis sitzt, fühlt es sich so an, als hätte ich keine Herausforderung mehr zu meistern. Eine Leere ist in mir, als würde mir etwas fehlen. Alle Fälle, die nun gekommen sind und noch kommen werden, werden nie so groß sein wie dieser. Fell hat nur den Mord gestanden, den er gestehen wollte. Der, bei dem er die mildeste Strafe bekommt. Er scheint sich extrem sicher zu sein, dass niemand einen Beweis für seine übrigen Taten finden wird. Vielleicht gibt es gar keine Beweise, weil er alles aufgegessen und somit vernichtet hat. Bei dem Gedanken wird mir schlecht.

Sein letzter Brief geht mir nicht aus dem Kopf. Es ist schon Monate her, aber ich denke immer und immer wieder über jedes Wort nach. Ich versuche zwischen den Zeilen zu lesen, um Hinweise zu finden, was er als Nächstes vorhat.

»Hier Lila, die Post war eben da«, reißt mich Mac aus den Gedanken und wirft mir einen Brief in einem sehr edlen Umschlag zu.

»Von wem ist der?«

»Keine Ahnung«, sagt er, setzt sich schwungvoll auf seinen Bürostuhl und widmet sich seiner eigenen Post.

Ich mustere den goldenen Umschlag und erkenne mit Computer geschrieben ›Lila Baker‹ und auf der Rückseite ein rotes Siegel aus Wachs. Eine Vorahnung, über den Absender, breitet sich in mir aus. Mit einem Brieföffner reiße ich das edle Papier, das schon fast zu schade ist, um es zu beschädigen, auf und hole das Schreiben heraus. Ich erkenne die mit Feder geschriebene Schrift. Kein Zweifel, der Brief stammt von Fell. Still und gefasst fange ich an zu lesen.

Liebe Lila,

Monate sind vergangen, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben. Ich hoffe, Ihnen und dem Team geht es gut und Sie lösen fleißig Fälle. Ich bin hier ziemlich gut bewacht. Also keine Sorge, ein Ausbruch scheint unmöglich zu sein. Ich schwelge gern in Erinnerungen. Sie haben mich bisher leider nicht besucht. Ich würde gern mit Ihnen über meinen letzten Brief sprechen. Haben Sie ihn schon gelesen? Ich hoffe es. Ich möchte gern wissen, was Sie denken, aber aufgrund Ihres Nichterscheinens bei mir gehe ich davon aus, dass Sie nicht mit mir sprechen wollen.

Wie kommen Sie mit Dr. Cordes klar? Und wie geht es Steve? Sind Sie schon mit ihm zusammengezogen? Ich würde Sie fragen, ob Nachwuchs geplant ist, aber leider glauben Sie, dass ich Ihnen diese Möglichkeit genommen habe.

Ich hoffe auf ein baldiges Wiedersehen.

Alexander Fell

Nein, ich glaube nicht, dass er mir die Möglichkeit genommen hat, ich weiß es! Vor meinem inneren Auge sehe ich bereits den Arzt, der mit einer Pipette meine entnommenen Eizellen in einer Petrischale befruchtet. So wollte ich nie ein Kind entstehen lassen, aber jetzt habe ich keine andere Wahl. Wasser sammelt sich in meinen Augen.

Nein, stopp! Ich muss mich beherrschen. Ein Schaudern fährt durch meinen gesamten Körper. Ob ich jemals einen Mann finden werde, der mich in diesem Zustand will? Seit Fell mir meinen Eierstock zerstört hat, wünsche ich mir plötzlich, Mutter zu werden. Noch nie habe ich mich darum geschert, doch nun, da es nicht mehr so einfach geht, wird mir bewusst, was ich eigentlich möchte. Welches Geschenk ein gesunder Körper ist. Ich möchte eine Familie. Ein kleines Wesen, dem ich die Welt zeigen kann. Darum steht eines für mich fest: Mein zukünftiger Mann muss für eine künstliche Befruchtung offen sein.

Fells Zeilen regen mich auf und lassen die Wut erneut hochbrodeln. Am liebsten würde ich diesen Brief zerknüllen, schreddern und anschließend verbrennen, damit er sich in Luft auflöst, und hoffen, dass Fell es ihm gleichtut. Doch ich versuche ruhig zu bleiben und das alles zu ignorieren. Ich möchte mir nichts anmerken lassen.

Das Letzte, was ich wollte, war ein Brief von Fell. Ich will nicht wissen, was er denkt, und ich will mich auch nicht in seine Gedankenwelt einfühlen. Ich will mich nicht mit ihm auseinandersetzen. Nie wieder! Obwohl ich weiß, dass mir das nicht gelingen wird.

Ich öffne die verschließbare Schublade meines Schreibtisches und lege das Kuvert mit dem Schreiben zu den anderen Briefen von Fell, ohne ein Wort zu sagen oder eine Miene zu verziehen. Ich weiß genau, dass mich Mac beobachtet, aber ich schenke ihm keinerlei Beachtung. Stattdessen widme ich mich wieder den Dokumenten des letzten abgeschlossenen Falls auf meinem Computer, die bearbeitet werden müssen.

Das Arbeiten am Rechner ermüdet mich. Lieber bin ich im Außeneinsatz, entdecke neue und spannende Tatorte, als stundenlang vor dem flackernden Bildschirm zu sitzen. Ich lehne mich zurück und schaue zu Tony und David, die auf ihre Bildschirme starren und fleißig auf der Tastatur tippen. Sie scheinen fast unermüdlich wie Maschinen zu arbeiten. Als ich meine Augen wieder auf die digitalen Dokumente richte, beginnen sie zu brennen. Vielleicht sollte ich sie etwas schließen, um sie zu entspannen. Für die ersten Sekunden ist das Brennen unerträglich, doch langsam bessert es sich.

»Hey, nicht einschlafen, Kleines.«

Kleines? Ich öffne meine Augen und sehe Steve. Direkt merke ich, wie er von Mac beobachtet wird. Kein Wunder – schließlich hat er mich bedroht und tagelang in einer Lagerhalle festgehalten.

»Hey Steve. Ich habe nur eine kurze Pause gemacht«, rechtfertige ich mich, obwohl ich das eigentlich nicht muss. Wieso tu ich es dann?

»Alles gut, ich, ähm …«

»Rück schon raus mit der Sprache! Was ist los?«

Er stützt sich mit den Händen auf dem Tisch ab, beugt sich zu mir und beginnt zu flüstern: »Hast du auch einen Brief von Fell bekommen?«

Ich verdrehe meine Augen und zeige, wie wenig begeistert ich von diesem Thema bin.

»Ja, habe ich und er ist bereits gut verstaut und bereit zu verstauben.«

»Du ignorierst ihn?«

»Das tue ich«, sage ich in normaler Lautstärke. »Aus dem einfachen Grund, weil ich nicht damit zurechtkomme. Ich ignoriere ihn, weil er mir immer wieder in den Sinn kommt, und dass ich mich überhaupt mit ihm auseinandersetze, ist er nicht wert.« Alles um mir herum ist still. »Verdammt, ich will mich nicht aufregen!«

Steve ist ein Stück zurückgewichen und nun habe ich auch Macs, Tonys und Davids Aufmerksamkeit, die ich eigentlich nicht auf mich ziehen wollte. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass ich fast geschrien habe. »Tut mir leid«, entschuldige ich mich für meinen Gefühlsausbruch.

»Dir muss nichts leidtun«, entgegnet Mac.

Alle wissen, wen ich gemeint habe.

»Ich allerdings würde gern wissen, was Ihnen leidtut.«

Ich schließe meine Augen, als ich die Frauenstimme höre, und versuche so ruhig wie möglich zu wirken. Es ist Dr. Cordes – unsere Psychologin, die alles gehört hat. Na klasse. Bestimmt wird sie gleich mit mir darüber sprechen wollen. Ich habe ihr den perfekten Vorwand geliefert, mir ein Gespräch aufzudrängen, und das noch vor den Standardgesprächen. Gut gemacht, denke ich mir genervt. Sie nähert sich meinem Schreibtisch, beäugt Steve von Kopf bis Fuß und stellt sich neben ihn.

»Folgen Sie mir bitte in mein Büro«, fordert sie mich auf und ich habe keine andere Wahl, als ihrer Bitte nachzukommen. Vielleicht berichtet sie Jack von meinem Gefühlsausbruch, wenn ich nicht mit ihr spreche. Ärger mit dem Police Chief kann ich jetzt nicht gebrauchen. Mein Blick spricht bestimmt Bände und meine Gefühle sagen mir einiges mehr. Ich bin ausgebrannt und gestresst, darüber nachzudenken, was ich sagen kann und was nicht, mit wem ich reden darf und mit wem nicht. Lara ist so eine Person, bei der ich vieles nicht erwähnen oder erzählen darf. Schon gar nicht, weil sie meine Psychologin ist und mich für verrückt erklären würde, wenn ich Prof Dr. Fell des Kannibalismus beschuldigen würde.

Sie öffnet mir die Tür zu ihrem Büro. Ich trete ein und setzte mich prompt in den orangenen Sessel, der auf einem weichen anthrazit farbigen Teppich steht.

Das Licht strömt durch die Panoramafenster in den Raum. Die gelbe Farbe an den Wänden lassen das Zimmer heller wirken, doch gleichzeitig erdrücken sie mich. Sie hat die Bilder, die Prof. Dr. Fell an den Wänden hatte, abgenommen und die damit entstandene Lücken mit Grünpflanzen besetzt. Zu vielen Grünpflanzen! Ihre Chloroplasten starren mich an.

»Was tut Ihnen leid?«, fragt Lara, während sie sich in den Sessel gegenüber von mir setzt.

»Dass ich meine Stimme nicht unter Kontrolle hatte.«

Sie schmunzelt und beäugt mich. »Oh, das tut Ihnen leid? Ich bin sehr dankbar, dass Sie lauter geworden sind. Wissen Sie, manchmal müssen wir uns Dinge einfach von der Seele schreien und danach geht es uns viel besser.«

Ha – wenn ich mir alles von der Seele schreien würde, dann bräuchten wir alle ein paar neue Trommelfelle und ich neue Stimmbänder. Ich ignoriere ihren Rat.

»Dann frage ich anders: Was meinte Mac damit, dass Ihnen nichts leidtun muss?«

Was soll ich nur darauf antworten, außer irgendwelchen allgemeinen Formulierungen? Ich will nicht, dass sie mich analysiert, weil ich Angst habe meinen Job zu verlieren.

»Nun, mir tut manches leid, was ich aber nicht mehr ändern kann.«

»Was würden Sie gern ändern wollen?«

»Ich würde meine Sprechlautstärke ändern wollen, damit Sie nicht alles hören können«, werfe ich ihr mit einem verächtlichen Schmunzeln an den Kopf. Sie erfährt von mir nichts. Keine weitere Silbe, die in ihrem Kopf ein Bild über mein Leben ergeben könnte. Nichts über Fell oder Steve oder meinen Gefühlen, in welcher Hinsicht auch immer.

Sie beäugt mich kritisch und ich weiß, ihren Blick zu deuten. Sie könnte mit Vermutungen zu Jack gehen und er könnte mir ein klärendes Gespräch aufzwingen, denn wenn ich nicht mit ihm spreche, dann könnte er mich suspendieren. Er hat schließlich keine Ahnung, dass Fell der Kannibale ist. Vielleicht erklärt er mich für geistesgestört, wenn ich ihm diesen Fakt darlege.

»Es ist nicht gut, wenn Sie mir Wichtiges vorenthalten. Sie wissen, dass ich mit niemandem außer mit Jack und ihren Teamkollegen über Ihre psychische Verfassung spreche. Meine Aufgabe ist es, Sie zu beurteilen, aber wenn Sie mir dafür keine Chance geben, wieso sollte ich Sie dann arbeiten lassen?«

»Weil Sie wissen, dass ich meinen Job erledige – und das nicht schlecht. Sie wissen, was ich kann, und Sie kennen meinen Stand hier. Ohne mich, ohne Tony, David oder Mac sind wir nicht komplett. Wir sind ein eingespieltes Team und können uns auf jeden verlassen. Machen Sie das nicht kaputt«, versuche ich ihr ins Gewissen zu reden, da sich ihr kritischer Blick nicht ändert.

»Ich habe Sie in letzter Zeit beobachtet und mir ist aufgefallen, dass Sie etwas in sich gekehrter sind. Es wurde gesagt, dass Sie ab und an abgelenkt wirken, als wären Sie mit Ihren Gedanken wo anders. Wo genau sind Sie?«

»Sie wissen, was mir angetan worden ist. Was mir genommen wurde. Das zu verarbeiten dauert etwas. Selbst wenn ich dadurch abgelenkt erscheine, bin ich dennoch voll und ganz auf meine Arbeit fokussiert. Fragen Sie meine Kollegen, wie ich arbeite. Sie werden bestätigen, dass ich die gleiche Leistung erbringe wie immer. Nur arbeite ich flinker, um meine Mehrarbeit als Pausen auszugleichen.«

Unsere Blicke durchbohren einander. Ich hoffe, dass sie mit meiner Antwort zufrieden ist.

»Haben Sie bereits mit jemandem darüber gesprochen?«

»Ja«, gebe ich zu, »ich habe bereits viele Gespräche, mit Menschen geführt, die mir nahestehen und mit denen ich über persönliche Sachen spreche.«

»Gut. Wie fühlen Sie sich nach diesen Gesprächen?«

»Ich fühle mich sehr viel besser. Ich hoffe Sie verstehen, dass ich mich lieber vertrauten Personen anvertraue als Ihnen.«

»Das kann ich gut nachvollziehen. Nicht jedem Menschen ist man sympathisch und erzählt ihm gern über sein Leben«, bestätigt sie mir. »Der Mann, der an Ihrem Schreibtisch stand – war das Steve Rich?«, wechselt sie das Thema.

Sie hat Steve bisher noch nie gesehen. Er kommt ja auch kaum zu mir auf Arbeit, da er genug mit seinem Studium zu tun hat.

»Wer sollte mich sonst besuchen?«

»Ein sehr attraktiver Mann«, bemerkt sie und sofort blitzt ein Bild vor meinen Augen auf. Ich sehe Lara zusammen mit Steve Hände haltend in den Sonnenuntergang laufen. Bei der Vorstellung wird mir schlecht. Oh, hoffentlich wird das nie passieren. Oh, bitte nicht! Aber was verrät dieses Gefühl über mich? Will ich niemand anderes an seiner Seite sehen als mich? Oder liegt es nur daran, wie unsympathisch mir Lara ist?

»Wie ist Ihre Beziehung zu ihm?«

»Wir verstehen uns gut.«

»Tatsächlich? Er hat Sie damals bedroht, Ihnen diese Narbe zugefügt und Sie tagelang festgehalten«, redet sie schon wieder über die Zeit, in der mich Steve in der Lagerhalle festhielt und ich dachte, wir hätten das schon lange geklärt.

»Er hat seine Strafe dafür abgesessen und Sie wissen nicht, was alles nach seiner Entlassung passiert ist.« Zum Glück weiß sie nichts. »Seien Sie doch froh, dass ich dieses Erlebnis gut verarbeitet habe.«

»Es erstaunt mich zwar, aber ja, ich bin froh darüber.« Sie mustert mich eindringlich. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie nichts mit ihm am Laufen haben, wenn Sie ihn schon in Ihre Nähe lassen. Bei seinem Körper und seinem Aussehen. Wie könnten Sie da widerstehen? Wie könnte da jemals jemand widerstehen?«

Ich schaue sie schief an und frage mich, ob sie mir überhaupt zuhört und wo ihre Professionalität immer hinrennt, wenn wir miteinander reden.

»Wissen Sie noch, was ich über persönliche Angelegenheiten gesagt habe?«

Sie schmunzelt, lehnt sich in ihrem Sessel zurück und zuckt unschuldig mit den Schultern. »Einen Versuch war es wert.«

»Haben Sie noch weitere Fragen an mich?«

»Die habe ich tatsächlich, aber werde ich ehrliche Antworten darauf bekommen? Sie werden mir nicht die Wahrheit über Ihren Gefühlsausbruch sagen, darum bin ich gezwungen, mit Ihren Teamkollegen darüber zu sprechen.«

»Und Sie glauben, von ihnen mehr Informationen zu bekommen als von mir?«

»Selbst wenn nicht, sagt das viel über Ihren Zusammenhalt und die Wichtigkeit dieses Themas aus.«

»Sie können auch gleich mit Jack darüber sprechen.«

»Das werde ich«, versichert sie mir mit einem gekünstelten Lächeln.

»Sind wir hier fertig?« Ich möchte einfach nur weg. Die Einrichtung des Büros beengt mich. Vielleicht wäre meine Laune im Gespräch mit ihr besser, wenn sie professionell bleiben würde. Erst spricht sie davon, dass ich Steve fürchten muss und Minuten später unterstellt sie mir sexuelle Avancen zu ihm.

»Sie dürfen gehen und schicken Sie doch gleich David zu mir.«

»Dr. Cordes möchte mit dir sprechen. Wahrscheinlich über mich«, warne ich David vor.

»Über dich?«, fragt er verdutzt nach. »Wieso das?«

»Sie will wissen, was mit mir los ist, aber ich will nicht, dass sie von meinen privaten Angelegenheiten erfährt.«

»Okay«, er steht auf. »Dann bis später.«

»Viel Spaß bei dem Doktor«, wünscht ihm Tony mit einem belustigenden Ton in der Stimme.

Steve hat es sich mittlerweile in meinem Bürostuhl bequem gemacht. Ich wende mich ihm zu und ziehe meine rechte Augenbraue fragend nach oben. Sofort springt er auf, stellt sich hinter meinen Stuhl und bedeutet mir, mich zu setzen. Ich gehe auf ihn zu und umarme ihn, um ihm etwas ins Ohr zu flüstern: »Tu mir einen Gefallen und fang bitte nie etwas mit dieser Psychologin an.«

Es dauert eine Weile, ehe er mir etwas zurück flüstert. Vielleicht ist er über meiner Bitte ebenso überrascht wie ich. »Was würdest du tun, wenn ich es täte?«

»Ich würde das Problem aus der Welt schaffen«, flüstere ich humorvoll zurück und setze mich.

»Da müsstest du viele Probleme aus der Welt schaffen, bei der Anzahl an Frauen, die ihre Augen nicht von mir lassen können.«

Er schiebt mich an den Schreibtisch und lehnt sich über meine Schultern. »Aber du bist die Einzige, die das Privileg hat, mich haben zu dürfen, wenn sie es nur möchte.« Er schenkt mir einen Kuss auf die Wange.

»Oh bitte, sucht euch doch ein Zimmer«, ertönt Tonys angewiderte Stimme.

Steve richtet sich daraufhin auf und hält meine Schultern fest. Ich sehe Macs kritischen Blick. Er mag Romanzen am Arbeitsplatz überhaupt nicht.

»Ich wollte sowieso eben gehen. War mir eine Freude.« Er tritt vor den Schreibtisch, nickt mir zur Verabschiedung lächelnd zu und schon ist er verschwunden und hinterlässt ein Kribbeln in meinem Bauch. Ich kann mich wieder meiner eigentlichen Arbeit widmen – dem Papierkram. Auch wenn es mir schwerfällt, nicht an ihn zu denken.

Mal wieder folgt ein Dokument dem nächsten und peu à peu arbeite ich alle Abschlussberichte ab. Eine SMS erreicht mich und ich öffne sie. Mein Herz rast, als ich den Inhalt der Nachricht lese, und ab und an kommt mir ein leises Quietschen über die Lippen. Mein Bruder hat mir geschrieben, dass er morgen Abend am Flughafen landen wird.

Das Jahr seiner Weltreise ist vorbei. Wir haben uns eine Ewigkeit nicht mehr gesehen. Ich kann es kaum fassen. Pure Freude steigt in mir auf und das Grinsen in meinem Gesicht will gar nicht mehr weggehen. Ich schreibe ihm eilig und mit zittrigen Fingern eine Nachricht zurück.

Hey Adam, das ist ja mega. Wann wirst du landen? Ich freue mich so sehr, dich endlich wiederzusehen.

x Lila

Ich lege mein Smartphone nicht mehr aus den Händen und warte gespannt auf die Antwort. Zum Glück dauert es nicht lang.

Ich kann es auch kaum erwarten, dich persönlich und nicht nur auf dem Bildschirm zu sehen.

Mein Flieger wird 09:00 Uhr abends landen.

x Adam

Ich springe vor Glück von meinem Bürostuhl auf und strahle Mac und meine Kollegen an, welche mich mit einem irritierten Blick mustern.

»Adam hat mir geschrieben, dass er morgen Abend hier landen wird«, schreie ich schon fast vor Aufregung und mit schriller Stimme. Sofort schaue ich in genauso strahlende Gesichter. Meine Kollegen haben Adam monatelang nicht gesehen.

»Cool, das muss gefeiert werden«, ergreift Tony das Wort.

»Oh ja, wann steigt die Party?«, fragt David, der gerade von seiner Sitzung mit Dr. Cordes wieder kommt.

»Ich, ich, ich«, stammele ich und verarbeite das alles noch. »Ich habe keine Ahnung«, platzt es euphorisch und überfordert aus mir heraus.

»Lasst ihr doch erst einmal etwas Zeit, Jungs«, sagt Mac. »Hol ihn morgen ab und habt Zeit zusammen. Es gibt sicherlich vieles zu erzählen. Beiderseits«, merkt er an und damit hat er mehr als recht. Seit er auf Weltreise gegangen ist, hat sich vieles in meinem Leben getan. Adam wird mir einiges von seinen Erlebnissen berichten und ich möchte Fotos sehen. Damit ist er immer sehr spärlich umgegangen. Das wird sicherlich etwas dauern.

Im Moment überschlagen sich meine Gefühle und ich weiß nicht, was ich als Nächstes tun soll. Meine Arbeit habe ich für diese Woche erledigt und somit beschließe ich, erst einmal nach Hause zu fahren und eine Nacht über diese wundervolle Nachricht zu schlafen. Morgen starte ich mit klarem Verstand und überlege mir, was ich noch alles zu tun habe, bis er endlich wieder hier ist.

Es ist 10 Uhr am Abend. Morgen ist Samstag und somit steht kein nerviger Papierkram an. Ich stelle mir keinen Wecker und lege mich ins Bett. Mit dem Arm über meiner Stirn falle ich in meine Gedanken. Was wird Fell im Gefängnis machen? Wird er irgendwelche Pläne schmieden? Über seine Taten nachdenken und vielleicht einsehen, dass er manches nicht hätte tun sollen? Ich verstehe immer noch nicht, welche Gründe er hatte Maddie-Jane umzubringen. Ich will es nicht wahrhaben. Will es nicht begreifen.

Mittlerweile ist fast ein Jahr vergangen, seit er ihr Leben beendet hat. Es ist extrem schwer für mich, den Verlust zu ertragen, auch wenn ich mir nichts anmerken lasse. So stark, wie ich mich präsentiere, bin ich nicht. Es geht mir sehr nah, da sie meine beste Freundin war. Jedenfalls dachte ich das. Bei dem, was mir Fell erzählt hat, bezweifle ich es manchmal. Sie hätte eine Beziehung mit Prof. Dr. Fell gehabt. Hätte in seinem Haus gewohnt und dass zu dem Zeitpunkt, als wir bei ihm zum Essen eingeladen waren. Wieso hat sie sich mir damals nicht gezeigt oder anvertraut? Wie kann sie nur so gravierende Geheimnisse vor mir gehabt haben? Oder hat sich Fell alles nur ausgedacht, um mich zu manipulieren?

Es bringt nichts, mir den Kopf darüber zu zerbrechen. Es ist so, wie es ist, und ich kann nichts ungeschehen machen, was bereits passiert ist. Mac sagt immer, wir sollen im Hier und Jetzt leben und nicht darüber nachdenken, was passiert wäre, wenn … Er hat damit recht und ich muss mich des Öfteren ermahnen, es nicht zu tun. Es lenkt mich schließlich nur ab und ich sollte meine Energie besser nutzen.

01:10 Uhr am Morgen – kann noch immer nicht schlafen. Zur Kontrolle ein kurzer Blick zu meinem Nachttischschrank. Meine Waffe liegt dort. Beruhigt schließe ich meine Augen und fühle die Muskeln meines Körpers. Angefangen bei den Fußspitzen wandere ich gedanklich meinen Beinen nach oben, bis ich bei meinen Schultern angekommen bin und versuche alles komplett locker zu lassen. Ich gehe noch einmal kurz durch, was morgen anliegt und merke, wie sich dabei mein Körper und mein Inneres mehr und mehr entspannt und in den Schlaf abdriftet.

2

Ein neuer Morgen bricht an und ich springe tatkräftig aus dem Bett. Voller Adrenalin in meinen Adern decke ich den Frühstückstisch, setze mich und fülle meinen Magen mit einem Honig- und Marmeladenbrötchen und einem schmackhaften Kaffee.

Ich stelle Teller und Besteck in den Geschirrspüler und schwinge den Putzlappen durch die Räume. Alles muss blitzblank sein, wenn mein Bruder heute Abend kommt. Schnell entstaube ich die bronzene Statue der Justitia, kehre und wische den Boden. Ich gieße meine Orchideen, die überall meine Wohnung verschönern, und schütte einige Zeit später das angestaute Wasser aus den Übertöpfen wieder ab.

Zufrieden mit meiner Arbeit lasse ich mich rückwärts auf mein Bett fallen. Freudestrahlend starre ich die weiße Decke an und bin gedanklich bei dem Moment, wenn ich Adam heute Abend wiedersehen werde. Ob das Flugzeug auch pünktlich landen wird?, schießt es mir durch den Kopf, doch damit sollte ich mich vorerst nicht beschäftigen. Adam wird mir sicherlich Bescheid geben, falls es zu Verspätungen kommt. Ich muss ihm ein kleines Willkommens- Geschenk mitbringen, wenn wir uns wiedersehen. Überlegend starre ich weiter die Decke an. Vermutlich ist das Einfachste sicherlich das Beste. Ich kaufe ihm einen schönen bunten Blumenstrauß, der all seine verschiedenen Erfahrungen widerspiegelt, und werde ihm ein Banner basteln.

Ich springe von dem Bett auf, gehe ins Wohnzimmer und lege den Tisch mit Zeitungspapier aus, damit ich ihn nicht beschmutze. In meinem Schrank finde ich alles, was ich brauche. Viele verschiedene Pinsel, eine Farbpalette, verschiedene Farbtuben und zu guter Letzt noch einen Becher. Ich hole mir etwas Wasser und stelle das Behältnis auf die Zeitung. Auf der Mischpalette drücke ich verschiedene Farben aus und schon kann es losgehen.

Die Ränder der Pappe bemale ich circa zwei Inch breit mit leuchtend gelber Farbe, damit das Schild schon von Weitem auffällt. Zum Glück ist die Farbe schön kräftig und deckt somit das Grau der Pappe gut ab. In der umrahmten Fläche lasse ich meiner künstlerischen Ader freien Lauf und benutze alle Farben, die mein Farbkasten bietet. Es soll hell und kunterbunt werden. Nachdem die Farbe getrocknet ist, schreibe ich mit schwarzem Stift ›Willkommen zurück‹ inmitten des kleinen Banners und fahre den Übergang des gelben Randes zu dem kunterbunten Inneren ebenfalls mit Schwarz nach. Perfekt, denke ich mir und betrachte mein Kunstwerk. Jetzt muss es Adam nur noch ebenso gut gefallen wie mir. Ich säubere die Pinsel, schütte das farbige Wasser weg und räume alles wieder zurück in den Schrank.

Hibbelig stehe ich in meiner Wohnung am Fenster und schaue hinaus auf das Treiben der Straßen. Jeder eilt schnell in die Supermärkte, um Essen zu kaufen. Morgen ist Sonntag und bei dem Andrang könnte man fast meinen, dass es die nächsten Wochen keine Möglichkeiten zum Einkaufen mehr geben würde. Schmunzelnd stehe ich da und betrachte die Menschenmengen, während Sonnenstrahlen in mein Gesicht scheinen. Ich mag es Leute zu beobachten.

Ich schaue erwartungsvoll auf meine Armbanduhr und muss ernüchternd feststellen, dass es gerade erst 02:00 Uhr am Nachmittag ist. Ich muss irgendwie die nächsten sieben Stunden herumbekommen.

Ich schnappe mir meinen Autoschlüssel und gehe in die Tiefgarage. Meinen Porsche ziert das ein oder andere Staubkrümel. Ich steige ein, starte den Motor und genieße für kurzer Zeit dessen Summen, ehe ich den Wagen zur nächstgelegenen Waschstation steuere.

Ich ziehe mir ein Ticket und warte eine Weile im Auto, bis der vorherige Wagen fertig ist und ich hineinfahren kann. Ich platziere den Wagen mittig, bis die Anzeige mit dem Standort meines Fahrzeuges zufrieden ist, und steige aus, um den Code meines Tickets einzugeben. Die riesigen Bürsten nähern sich meinem Porsche, umfahren ihn ganz geschwind und entfernen sich wieder. Ein großer Föhn beginnt, die Karosserie zu trocknen. Ohrenbetäubendes Dröhnen ertönt für die nächsten drei Minuten und danach ist mein Auto bereit, die Waschanlage zu verlassen. Gekonnt fahre ich es hinaus und nach Hause, um ein Catering für Adams kleine Willkommensparty zu organisieren. Da die Idee für diese Feier kurzfristig aufkam, wird es sicherlich nicht einfach werden, noch jemanden zu finden.

Ich suche in meinem Smartphone nach Restaurants, die ein Catering anbieten, und telefoniere mich durch die Liste. Nachdem ich schon vier Absagen mit der Begründung, sie seien für die nächsten Monate ausgebucht, bekommen habe, bin ich kurz vorm Aufgeben. Nicht verzweifeln, einfach weiter telefonieren, denke ich mir und probiere es bei dem nächsten Catering. Mein elfter Versuch wird nicht gleich abgesagt.

»Warten Sie einen Moment, ich spreche kurz mit meinem Boss, ob es so kurzfristig noch möglich ist«, sagt mir die Frau am anderen Ende der Leitung des Slows to go. Geduldig warte ich und versuche das leise Getuschel auf der anderen Seite zu verstehen, doch es gelingt mir nicht. »Hallo, sind Sie noch dran?«, meldet sich die Frau etwas unsicher zurück.

»Ja, das bin ich.«

»Sehr gut, also, wir nehmen Ihren Auftrag sehr gern an. Schicken Sie mir einfach in der nächsten Stunde eine E-Mail mit den ausgewählten Speisen und Ihrer Adresse und wir werden Sie morgen beliefern.«

»Perfekt. Vielen lieben Dank. Bezahlen werde ich morgen?«

»Ja genau, Sie bezahlen, wenn wir Ihnen das Essen gebracht haben und am nächsten Tag holen wir die Warmhalteschalen wieder ab. Stellen Sie sie einfach vor Ihrer Tür ab, falls Sie nicht zu Hause sind.«

»Wird gemacht. Sie sind meine Rettung«, bedanke ich mich.

»Wir haben zu danken. Auf Wiederhören.«

»Bis morgen. Tschüss«, beende ich das Gespräch und bin erleichtert, noch etwas gefunden zu haben.

Im nächsten Moment gibt mein Smartphone einen Ton von sich und ich sehe eine Nachricht von Steve aufleuchten.

Hey, Lust auf ein kleines Date im Park? Habe einen Picknickkorb voll mit leckeren Sachen und Getränken und stehe vor deinem Haus.

Steve

Wie, er ist bereits vor meinem Haus? Ich stehe auf und gehe zu meinem Küchenfenster, um nachzuschauen, und tatsächlich, da steht er. Umgeben von Menschenmassen, die sich an ihm vorbeidrängen. Er erblickt mich im Fenster, winkt mir zu und grinst mich an. Ich kann nicht anders, als meine Mundwinkel ebenso in die Höhe zu ziehen. Wärme steigt mir in den Wangen. Wahrscheinlich sieht man mir die Überraschung an. Da ich ihn nicht da unten stehen lassen kann und mir eingestehen muss, dass ich mich über ein Date mit Steve freue, ziehe ich mir Straßenschuhe an. Die Sonne scheint durch das milchige Glas der Haustür. Vielleicht hätte ich besser eine Sonnenbrille mitnehmen sollen. Egal. Ich drehe deswegen nicht noch einmal um.

Ich gehe die Eingangsstufen hinunter und laufe auf Steve zu, der mittlerweile seinen Picknickkorb neben sich abgestellt hat.

»Hey, Babe«, begrüßt er mich und neckt mich gleichzeitig mit dem Kosenamen.

»Hey und ich bin nicht dein Babe«, gebe ich ihm zu verstehen und umarme ihn zur Begrüßung. »Was hast du alles mitgebracht?«, frage ich und deute auf den aus Holz geflochtenen Korb, der mit einem weißen Tuch bedeckt ist.

»Überraschung«, verkündet er im Singsang und verstärkt damit meine Neugier. »Komm, wir gehen in den Park und dann wirst du es sehen.« Er ergreift meine Hand. Ich habe keine Chance, darüber nachzudenken, schon zieht er mich hinter sich her. Nach einer Weile kommen wir am Park an und laufen auf dem angelegten Weg weiter hinein. Vorbei an dem kleinen Bachlauf und der Parkbank über eine Brücke und weiter geradeaus, bis wir auf einer weiten Grünfläche mit Erhebungen und Senken ankommen. Ab und an gibt es Baumansammlungen, die Schatten in der Hitze der Sonne spenden. Steve geht mit mir gezielt auf eine der größeren Baumansammlungen zu, die fast einem Wald ähnelt, und breitet im Schatten eine Decke aus.

»Setz dich«, sagt er und deutet auf den freien Platz gegenüber von ihm. Steve beginnt, den Picknickkorb auszupacken. Das weiße Tuch legt er zwischen uns und stellt ein Körbchen mit frischen Partybrötchen darauf. Daneben stellt er eine Schale mit aufgeschnittenem Gemüse. Er zieht die Frischhaltefolie ab und ich erkenne Möhrensticks, Kohlrabischeiben, Tomaten und aufgeschnittene Gurkenscheiben. Aus dem Holzkörbchen holt er eine weitere Schale heraus, in der sich ein Dip für das Gemüse befindet. »Was magst du trinken?«, fragt er.

»Was hast du denn mit?«

»Ich kann dir Wasser, Orangenlimonade oder Apfelsaft anbieten.«

»Ich bin nicht so der Fan von Früchten. Wasser reicht.«

Steve füllt ein Glas und reicht es mir. »Hier bitte.«

Ich nehme es entgegen und versuche es auf der weichen Decke abzustellen, ohne dass es umfällt, während er sich selbst ein Glas eingießt.

»Also, wieso dieses Picknick?«, frage ich, da ich immer noch von seiner spontanen Aktion überrascht bin. Wie damals.

»Wieso nicht? Ich nutze die Zeit, in der ihr keinen Fall habt und dein Privatleben nicht nur aus Schlafen besteht.« Er grinst mich an und schiebt sich einen Möhrenstick in den Mund, während die Vögel in den Bäumen neben uns sitzen und ihre Lieder singen.

Da hat er recht. Die entspannte Zeit, in der wir nur kleine Fälle bearbeiten, kann jede Sekunde vorbei sein. Also nutze ich lieber jede freie Möglichkeit und erzähle ihm von den Neuigkeiten.

»Mein Bruder kommt heute Abend von seiner Weltreise zurück und ich möchte morgen eine kleine Willkommensparty bei mir zu Hause schmeißen. Wenn du willst, kannst du gern vorbeikommen«, lade ich ihn ein und greife nach einer Tomate.

Steve schluckt den letzten Bissen seiner Möhre und schaut mich ernst an.

»Was weiß dein Bruder alles über mich?«, will er berechtigterweise erfahren.

»Nun, das wird das Problem werden. Er weiß nur, dass du mich damals zehn Tage lang in einer Lagerhalle eingesperrt hast und anschließend ins Gefängnis gekommen bist. Er hat keine Ahnung, dass wir mittlerweile befreundet sind. Mit Sicherheit versteht er es nicht«, teile ich ihm meine Bedenken mit. »Trotzdem finde ich es wichtig, dass du mit dabei bist, damit ihr beide euch kennenlernen könnt.«

»Wieso hast du ihm nichts von unserer Freundschaft erzählt?«

»Ich möchte es ihm persönlich sagen und nicht per Telefon.«

»Du wirst aber vorher mit ihm sprechen und ihm erklären, wie ich nun bin und wie wir zueinanderstehen, oder?« Ich muss bei dem Gedanken schmunzeln. Denkt er etwa, dass ich ihn einfach ins kalte Wasser schubsen werde? Ich greife nach einem Möhrenstick, tunke ihn in den Dip und beiße genüsslich langsam davon ab, bevor ich ihm antworte. »Ich werde es ihm heute Abend erzählen. Aber ich erwarte, dass er es nicht versteht. Es können sicherlich die wenigsten verstehen, wieso ich freiwillig meine Zeit mit dir verbringe.«

»Die haben keine Ahnung, wie Steve Rich für das kämpft, was er liebt«, sagt er und zwinkert mir zu.

Ich schaue verlegen zur Seite und merke die Hitze in mir aufsteigen. Ich schließe kurz die Augen und versuche mich zu sammeln. Ich finde meine Beherrschung wieder und blicke zu ihm.

»Nun, jedenfalls lade ich dich hiermit morgen um vier Uhr nachmittags zu mir nach Hause ein.«

Er lächelt und greift nach einer Tomate, die kurze Zeit später in seinem Mund verschwindet. Ich nehme mir derweil eine Kohlrabischeibe und tunke sie in den Dip ein. »Ist das alles, was dein Bruder von mir weiß?«

Vielleicht will er erfahren, ob ich Adam etwas aus der Zeit in der Lagerhalle erzählt habe. Wenn er wüsste, was in den ersten Tagen passiert ist, dann würde er Steve nicht einmal in derselben Stadt wie mich dulden.

»Ich habe ihm nichts aus der Zeit erzählt. Er kennt nur die Berichte aus den Medien.«

»Das ist gut«, sagt er und isst weiter. Er stockt und schaut mich nachdenklich an. »Erinnerst du dich noch an unsere Vereinbarung?«

»Du meinst, dass ich niemandem etwas aus der Zeit erzähle?«

Er nickt. »Was wird eigentlich daraus?«

»Was meinst du?«

»Wäre es nicht interessant einen kleinen Vertrag aus unserer Vereinbarung zu machen?«, fragt er, während er eine Gurkenscheibe in den Dip eintunkt. Ich habe das Gefühl, dass er sich beim Eintunken mehr Zeit nimmt als zuvor. Er beißt von der Gurke ab und schaut mich amüsiert an. Welche Hintergedanken hat er?

»Was willst du mit einem Vertrag bezwecken?«, stelle ich als Gegenfrage. »Du weißt, dass ich niemandem davon erzählen werde. Zum einen, weil … nun ja, weil es sehr unangenehm für mich ist mit Fremden darüber zu sprechen und zum anderen würdest du eine weitere Strafe bekommen und ich gehe davon aus, dass du dein aggressives Verhalten endgültig abgelegt hast.«

»Es freut mich zu hören, dass du nicht möchtest, dass ich wieder vor Gericht komme. Ich denke, ein Vertrag macht es noch etwas amüsanter und spannender zwischen uns. Es gibt gewisse Regeln nach denen wir leben. Wieso sie nicht einfach aufschreiben?«

Wenn ich darüber nachdenke, muss ich ihm recht geben. Ich liebe das Knistern, das zwischen uns herrscht. Die Frage ist, ob ein Vertrag dies verstärken oder hemmen wird. Will ich es herausfinden? Will ich diese Gefühle überhaupt spüren? Eigentlich will ich doch nur unsere Freundschaft, oder?

Aber Verträge beruhen auf Gegenseitigkeit. Wenn er mit mir dieses Spiel spielen will, kann ich das auch.

»Glaubst du wirklich, dass ich mein damaliges Verhalten komplett abgelegt habe?« Er schmunzelt und ich spüre ein leichtes Knistern in der Luft. Bestimmt spielt er auf sein Verhalten an, das mir gefiel. Ich erinnere mich zurück wie er unerwartet in meinem damaligen Zimmer stand und mit mir flirtete. Irgendwann packte er mich an meinem Hals und hauchte mir einen zarten Kuss über die Lippen. Dann verteilte er zahlreiche Zärtlichkeiten über mein Gesicht, bis er an meinem Hals ankam…

»Ich denke du hast nur die guten Seiten behalten.«

Er lacht leise und verunsichert mich damit.

»Damit hast du komplett recht.« Er grinst und greift nach einem Möhrenstick, den er kurzzeitig in der Luft bewundert, bevor er davon abbeißt. Gespannt greife ich nach dem Gemüse, schaue ihn an und nehme mehrere kleine Bissen von der Paprika. Ich platze vor Spannung. Will ich wissen was der Mann noch mit mir vor hat? Wohin führt dieses Picknick und für was bin ich bereit?

Ich bin sprachlos. Was will ich noch von ihm hören? Auf welche wilde Reise lasse ich mich eventuell ein? Oder schätze ich ihn falsch ein? Spielt er mit mir? Ich glaube nicht. Dafür ist der Aufwand zu groß.

Er grinst mich an. »In deinem Blick sehe ich Verlangen. Aber mehr erfährst du von mir nicht. Erst, wenn du bereit für mich bist.«

»Deine Andeutung hat mir eben etwas anderes sagen wollen.«

»Das war Absicht«, sagt er und steckt sich den Rest der Möhre in den Mund. Ich höre das Knirschen des Gemüses zwischen seinen Zähnen. Bei dem Geräusch läuft ein kalter Schauer über meinen Rücken. Ich sehe, wie sein Adamsapfel sich bewegt, als er den Bissen hinunterschluckt. Ich wünschte ich wäre das Gemüse und könnte seine harten Zähne an meiner Haut spüren.

»Also, was ist jetzt? Wie stellst du dir einen Vertrag vor?«

Noch immer strahlt er und lässt mich weiter zappeln. Sicherlich, um die Spannung aufrechtzuerhalten.

»Es bleibt erst einmal bei unserer Vereinbarung. Ich werde mir allerdings etwas überlegen und dir eine Vertragsversion zukommen lassen. Wenn es dir nicht gefällt, können wir es auch lassen.« Seine Ausdrucksweise ist nun sehr vornehm.

»Dann bin ich gespannt, was du dir ausdenkst. Es ist und bleibt allerdings unser kleines oder auch großes Geheimnis, das ich mit in mein Grab nehmen werde.« Will er mich mehr an sich binden? Er weiß genau, dass ich mit niemanden darüber spreche, sonst hätte ich es schließlich längst getan.

»Das beruhigt mich. Es hält mich allerdings nicht davon ab«, sagt er, während er seine Sitzposition ändert und mich dabei mit seinem Blick fixiert. Er liegt nun seitlich auf der Decke und hat ein Bein aufgestellt.

»So ein Vertrag …«, ich stocke, »hat doch immer auch eine Schattenseite, oder nicht?«

»Was meinst du?«

»Na ja, in meinem Arbeitsvertrag werde ich zum Beispiel streng zur Verschwiegenheit verpflichtet. Falls ich etwas ausplaudere, werde ich sofort gekündigt und kann mit weiteren Maßnahmen rechnen.«

Er schaut mich verschmitzt an. Er will mich vertraglich tatsächlich an sich binden und mir gegebenenfalls eine Strafe aufbrummen?

»Ich möchte, dass du mich noch besser kennenlernst als bisher, und das bedeutet, dass ich dir Dinge erzählen werde, die du niemandem sagen darfst. Darum möchte ich gern einen Vertrag.«

»Und das gibt dir Macht über mich.«

Kaum habe ich diesen Satz ausgesprochen, merke ich, wie gebunden ich an Steve bin. Er ist der Mann, der bereits Macht über mich hat, Vertrag hin oder her. Meine Gefühle zum ihm sind stark. So stark, dass ich mir nicht mehr vorstellen kann, ihn nicht in meinem Leben zu haben.

Ich frage mich, was er mir über sich noch erzählen möchte. Er blickt schmunzelnd zu mir und schaut mir tief in die Augen. Sein Blick macht mich klein, dennoch bleibe ich stark.

»Und ich weiß, dass es dir gefällt.«

Ich schlucke den aufkommenden Kloß in meinem Hals hinunter.

»Ebenso wie dir die Zeit in der Lagerhalle gefallen hat.«

»Mir hat nicht alles in der Zeit gefallen«, protestiere ich.

»Schon klar, aber ich weiß, was dir gefallen hat.«

»Woher?«

»Nenn es Intuition«, sagt er und setzt sich im Schneidersitz auf die Decke.

»Bereit etwas Neues über mich zu erfahren?« Ich nicke. »Sieh dich um und sag, mir was du siehst«, fordert er mich auf. Ich schaue ihn mit zusammengekniffenen Augen an und frage mich, was das soll. »Los«, drängt er mich.

Zu meiner Rechten sehe ich viele Bäume, viel Dickicht. Hinter mir erstreckt sich die Wiese mit Blumen und herumfliegenden Insekten. Ich erkenne ebenso den angelegten Weg, der durch den Park führt.

»Ich sehe den Park mit seiner wundervollen Natur«, sage ich und bin mir nicht sicher, ob er das von mir hören wollte.

»Jetzt ändere deine Sichtweise zu der eines Mörders. Was siehst du jetzt?« Er beäugt mich gespannt.

»Den perfekten Platz, um nach dem nächsten Opfer Ausschau zu halten«, schießt es mir durch den Kopf und mein Mund spricht es sofort aus. »Man kann von hier aus unauffällig Menschen beobachten, den ganzen Tag über, ohne auch nur Verdacht zu erregen.« Steve nickt mir zustimmend zu.

»Ich saß hier manchmal mehrere Stunden«, sagt er und erinnert sich an die Zeit zurück. »Manchmal kamen Mädchen zu mir, die offensichtlich Gefallen an mir hatten, ich allerdings nicht an ihnen.«

»Du hast sie aber doch nicht etwa …«, weiter komme ich nicht, da ich es eigentlich nicht wissen will. Hat er jemanden umgebracht?

Steve senkt seinen Blick. Vielleicht bereut er, was damals war.

»Ich habe es mir vorgestellt«, sagt er und hebt seinen Blick.

Ich sehe ihn entsetzt an. Wieso erzählt er mir davon? Will ich wissen, was er damals für Gedanken hatte?

Entschieden erkläre ich: »Ich möchte nicht den Steve von damals kennenlernen, sondern den Steve, wie er jetzt vor mir sitzt.«

»Ein Teil meines alten Ichs steckt immer noch in mir.«

»Und ich hoffe sehr, dass er nie wieder das Tageslicht sieht.«

»Das wird er nicht. Keine Angst, aber ich möchte, dass du meine damalige dunkle Seite kennenlernst. Auch, wenn du es jetzt im Moment nicht möchtest. Vielleicht hilft es dir, Profile von Tätern zu erstellen.«

Ich schaue ihn ernst an. »Was hast du dir mit den Mädchen vorgestellt?«

»Die Neugier in dir sucht nach Antworten, nicht wahr?«

»Wie immer.«

»Meist haben sie mich gefragt, was ich hier allein mache. Meine Antwort war immer die gleiche: dass ich die Natur genieße, und das war nicht einmal gelogen.« Er macht eine Pause. Ich kann mich nicht bewegen und höre ihm aufmerksam zu. »Jedes Mädchen, das zu mir kam, setzte sich neben mich und ich bekam sie nicht wieder los. Ich war damals Anfang zwanzig und so jung, wie ich war, war ich auch immer scharf darauf. Wenn du weißt, was ich meine.«

Ich nicke. »Du hast mit ihnen geschlafen.«

»Obwohl ich das nicht wollte, nur bekam ich sie nicht los und jede machte ständig Andeutungen. Ich wollte nur meine Ruhe. Wenn es aber dazu kam, dann konnte man das nicht nur als ›geschlafen‹ bezeichnen«, sagt er und lässt damit in meinem Kopf Fragezeichen aufkommen. »Viele drängten sich mir geradezu auf und ich konnte damals nicht anders, als das Angebot anzunehmen – egal, ob sie mein Typ waren oder nicht. Ich ging mit ihnen jedes Mal in den Wald.« Er schaut zu seiner Linken. Unwillkürlich folge ich seinem Blick zu dem Wäldchen. Ich kann nicht aufhören, zu den Bäumen zu starren, mit denen ich nun einen Teil von Steves Vergangenheit verbinde.

»Willst du noch mehr wissen?«, fragt er.

»Eigentlich wollte ich nichts davon wissen. Diese Mädchen haben sich dir aufgedrängt wie du mir diese Geschichte aus deiner Vergangenheit.«

Er steht auf und setzt sich nah neben mich. Seinen Arm stützt er hinter mir ab und beginnt in mein Ohr zu flüstern: »Das, was ich mit dir in der Lagerhalle gemacht habe, war nichts im Gegensatz zu dem, was an diesem Ort passiert ist.«

Mir läuft es eiskalt den Rücken hinunter. Er streicht mit seiner Hand über meinen Schultern, als wolle er mich beruhigen, doch ich fühle mich unwohl. Ich nehme Abstand und setze mich etwas von ihm weg. Was will er mir damit sagen?

»Ich will dich nicht vergraulen. Ich möchte mich dir gegenüber öffnen. Du sollst wissen, mit wem du es zu tun hast, was in mir steckte – und eventuell noch steckt.«

»Sprich weiter, aber komm mir nicht näher.«

Ich stecke die Grenzen zwischen uns ab. Ich will nicht, dass er seine Vergangenheit mit den Mädchen an diesem Ort auch mit mir verbindet.

»Manche fanden es gut, andere wiederum nicht«, sagt er ganz trocken. Wie kann jemand so etwas gut finden? Wenn das, was ich erlebt habe, nichts gewesen ist, mag ich mir nicht vorstellen, was zwischen den Bäumen passiert ist. Auf was stehen manche Frauen?

»Okay«, bringe ich nur heraus. Ich weiß nicht, wie ich mit diesen Informationen umgehen soll.

»Mittlerweile sind fünfzehn Jahre vergangen. Ich bin nicht mehr so wie damals.«

»Wann war das letzte Mal, als du das getan hast?«, frage ich und bin auf seine Antwort gespannt.

Er blickt an mir vorbei und kneift die Augen zusammen. Nachdenklich greift er sich an den Kopf. Das gibt mir Hoffnung, dass es schon Ewigkeiten her ist.

»Vor zehn Jahren. Damals begriff ich so langsam, was ich tat und welche extremen Auswirkungen es auf manche hatte. Mit der Zeit wurde ich immer aggressiver und das musste ich stoppen.«

»Seitdem bist du nie wieder hier gewesen, bis heute?«

Er nickt und wendet seinen Blick ab.

»Wieso sind wir jetzt hier?«

»Weil ich mit dir meine Vergangenheit begraben will«, sagt er und schaut mich hoffnungsvoll an. Was erwartet er jetzt von mir? »Du weißt, was du mit mir in der Lagerhalle geschafft hast. Dank dir konnte ich mit dem, was ich damals tat, aufhören. Nicht nur ich habe Macht über dich. Nein, du übst noch so viel mehr Macht über mich aus. Ich bin dir zutiefst dankbar, dass du mir die Möglichkeit gegeben hast, aufzuhören, und noch dankbarer bin ich dir, dass du trotz allem jetzt hier sitzt. Jede andere wäre bereits vor zehn Minuten davongerannt beziehungsweise gar nicht erst mit mir hierhergegangen. Du dagegen hörst mir immer noch zu.«

Ich sauge die Luft scharf in meine Lungen ein und atme tief aus. »Was war das Gewalttätigste, was du mit ihnen gemacht hast?«

»Ich habe sie gewürgt, bis sie ohnmächtig geworden sind.« Ich sehe die Scham und Schuld zugleich in seinen Augen. »Genau wie mich.«

»Das war meine Art, zu lieben.«

»Woher willst du wissen, dass es heute nicht mehr so ist?«

»Du gabst mir die Chance zum Aussteigen und ich habe sie ergriffen. Nichts kann mich dazu bringen, wieder damit anzufangen. Absolut nichts.«

Steve schaut mich konzentriert an, während mein Kopf auf Hochleistung arbeitet und alle bisherigen Erlebnisse mit ihm erneut analysiert.

»Hast du dich bei mir gegen die Hände entschieden, weil du mich nicht umbringen wolltest?«

»Richtig. Meine Angst war zu groß, dass ich zu viel Kraft aufwende. Ich wollte, dass du eine Chance hast, um mir selbst eine Chance zu geben.«

Er sieht mich betrübt an und lässt mich nicht aus den Augen.

Ich versuche zu begreifen, während ich die wehenden Baumkronen im Hintergrund beobachte. »Deine schlechten Erfahrungen mit deinen Eltern haben dich zu diesem Verhalten getrieben, richtig?«

Ich wende meinen Blick wieder zu seinem, in dem ich nun, wie ich glaube, Erschrecken erkenne. »Was haben sie damals mit dir gemacht?«

»Ich wurde misshandelt, Lila«, sagt er und eröffnet mir einen Einblick in das kleine, wehrlose Kind, das er damals war. »Immer, wenn sie betrunken waren, waren meine Eltern sehr gewalttätig, und an wem hätte man besser seine Aggressionen auslassen können als an einem kleinen Jungen, der zu gebrochen war, jemandem davon zu erzählen.«

Steve meint es tatsächlich ernst, dass er sich mir öffnen will. »Sie haben mich geschlagen. Beide. Mit einer Socke, gefüllt mit großen Steinen.«

»Sie haben dein Wohlergehen verletzt. Das durften sie nicht. Wie konnten sie nur?«, stelle ich meine rhetorische Frage und spüre den Hass auf diese Giftmenschen in mir aufbrodeln. »Hatte das Jugendamt deine Eltern nicht auf dem Radar, wegen einer Kindeswohlgefährdung?«

»Anfangs wusste niemand, was sie taten, da sie es nur gemacht haben, wenn niemand zusehen konnte. Erst später, ich war vielleicht fünfzehn, wurden die Misshandlungen extremer und sie nahmen keine Rücksicht darauf, wie sie in der Öffentlichkeit auftraten. Mein Vater zum Beispiel. Er … er hat mich mit Kleiderbügeln gewürgt.« Steve zieht den Ausschnitt seines Shirts nach unten und ich sehe weiße Striemen an seinem Hals. »Darum lege ich meine Kleidung nur in den Schrank und hänge sie nicht auf. All das geschah allerdings zu meinem Glück, denn dann wurden Nachbarn aufmerksam. Manchmal gab es nichts zu essen. Nur Schnaps und Bier.«

»Und erst dann haben sie dich da rausgeholt?«, frage ich und Steve kann nicht mehr tun als zu nicken. Tränen sammeln sich in seinen Augen und ich sehe, wie er um seine Fassung ringt.

Ich kann nicht glaube, was dieser Mann in seiner Kindheit und Jugend erlebt hat. Immer dachte ich, dass meine Mutter extrem war, aber im Gegensatz zu Steves Eltern war meine Mutter ein braves Lämmchen.

»Deine Eltern haben dich unterdrückt. Du warst der Schwache. Mit deinem Verhalten als Erwachsener wolltest du die Macht übernehmen. Weil sich dieses Machtgefühl, über schwächere Menschen zu herrschen, so gut angefühlt hat, dass es zur Sucht wurde, und du von Gewalttat zu Gewalttat immer wieder diesem Gefühl nachgejagt bist«, analysiere ich und fühle mich wie in Trance versetzt. Gleichzeitig bin ich überwältigt, dass er es geschafft hat, aus diesem Kreis auszubrechen dennoch entschuldigt das nicht seine Gewalttaten. Ich gestehe mir ein, dass ich der Grund für seinen Ausstieg aus dieser Sucht gewesen bin. Umso wichtiger ist es für ihn, nun nicht wieder damit anzufangen, aber ich weiß, dass er sich dessen bewusst ist.

»Hast du mit Fell darüber gesprochen?« Will ich das überhaupt wissen?

»Er hat mich erst darauf gebracht, wieso ich damit angefangen habe. Ich habe die Höhen meiner Gefühle gespürt, sobald ich die Oberhand hatte. Aber ebenso habe ich gemerkt, dass es sich nie wieder so anfühlt wie beim ersten Mal. Darum wurde es immer schlimmer.« Er macht eine Pause, schaut konzentriert auf die Decke und wieder zu mir. »Fell hat mir in unseren Sitzungen geholfen, den Missbrauch meiner Eltern zu verarbeiten und mehr Empathie für das Leben anderer aufzubringen. Er hat mich gelehrt, dass Leben von anderen Menschen genauso zu schätzen wie mein eigenes. Ich war und bin nie suizidgefährdet gewesen und an diesem Punkt hat Fell bei mir angesetzt. Ich hänge an meinem Leben und würde es nie aufgeben wollen. Wie du siehst, hat es zum Erfolg geführt.«

Ich höre zwar seine Worte, aber dass wir hier über den Kannibalen Prof. Dr. Fell sprechen, der ihm geholfen hat, sich empathisch in andere hineinzuversetzen, kann ich mir nicht vorstellen. Als Serienkiller sollte er nicht die Fähigkeit dazu besitzen.

»Kaum zu glauben, dass Fell dir helfen konnte.«

Steve schmunzelt, da ihm die Ironie dabei bewusst ist. »Egal was er getan hat, er ist und bleibt einer der besten Psychologen. Das kann man nicht leugnen.«

»Ich denke nicht, dass man ihn als guten Psychologen bezeichnen kann, wenn er seine Position so ausgenutzt hat. Ich will nicht wissen, wie viele seiner Klienten auf seinem Teller gelandet sind.«

»Damit ist es jetzt vorbei.«

»Zum Glück«, sage ich. »Ich danke dir, dass du mir diesen Einblick in deine Vergangenheit gewährt hast. Das hat Mut gebraucht. Alles, was du getan hast, hat Mut gebraucht. Mut, für die Erkenntnis, immer aggressiver zu werden. Mut, um sich einem Therapeuten anzuvertrauen. Mut, sich die Person auszusuchen, die man nicht töten will, mit der Angst im Rücken, es vielleicht doch zu tun.«

Er schaut verlegen zur Seite.

»Ich habe dir zu danken.«

So langsam werde ich mir bewusst, was ich ihm bedeute. Im Grunde wusste ich es bereits, aber dieses Gespräch – seine Worte haben es mir nochmals verdeutlicht.

Plötzlich spüre ich den Drang in mir, ihn zu umarmen. Ich stemme mich auf die Knie, bewege mich auf ihn zu und setze mich auf seinen Schoß. Er lässt es zu und ich hülle ihn in meine Arme. Zögernd hebt auch er seine und legt sie auf meinen Rücken.

»Bereust du deine Taten?«, flüstere ich in sein Ohr und spüre, wie er nickt. Ich löse die Umarmung und schaue in seine Augen, die sich randvoll mit Wasser gefüllt haben. Erste Tränen beginnen, an seinen Wangen hinunter zu kullern. »Ein Mann, der weinen kann«, sage ich und freue mich über seine Emotionalität.

Er lächelt, packt mich an meinem Rücken und meinem Po, stellt sich auf seine Knie und hebt mich an. Er legt mich sanft auf die Decke, während er sich über mich beugt. Ich kann nirgends hin, aber ich kann mich wehren, falls es mir zu bunt wird.

»Wieso liegen wir jetzt hier?«, will ich wissen.