Madame Clicquot und das Glück der Champagne - Susanne Popp - E-Book
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Madame Clicquot und das Glück der Champagne E-Book

Susanne Popp

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Beschreibung

Das zarte Prickeln von Champagner... Die Frau hinter der berühmten Champagnermarke Veuve Clicquot Reims, 1805: Die junge Witwe Barbe-Nicole Clicquot übernimmt gegen den Widerstand ihrer Familie die Champagnerproduktion und den Weinhandel ihres verstorbenen Mannes – und stellt sich als talentierte Winzerin heraus. Doch es ist die Zeit der napoleonischen Kriege und die Geschäfte laufen nicht gut. Unterstützt von ihrem Mitarbeiter Louis Bohne und dem deutschen Buchhalter Christian Kessler bringt Barbe-Nicole ihr Unternehmen dennoch durch, entwickelt ein neues Herstellungsverfahren und schenkt dem Champagner damit sein verführerisches Prickeln. Angetan von ihrem Esprit entwickeln beide Männer Gefühle für sie – doch nur als Witwe kann Barbe-Nicole ihr Unternehmen unter ihrem Namen weiter führen …

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Seitenzahl: 490

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Susanne Popp

Madame Clicquot und das Glück der Champagne

Roman

Über dieses Buch

Eine mutige Frau zwischen Selbstverwirklichung und Liebe

 

Champagne, 1805: Nach dem tragischen Tod ihres Mannes steht die junge Witwe Barbe-Nicole Clicquot vor der Herausforderung ihres Lebens. Fest entschlossen, den gemeinsamen Weinhandel unter eigenem Namen und im Andenken an ihren Mann weiterzuführen, muss sie sich nicht nur den gesellschaftlichen Zwängen und dem Unwillen ihrer Familie entgegenstellen, sondern auch ihren eigenen Zweifeln. Doch mit Ehrgeiz und Geschick, Einfallsreichtum und Mut geht sie das Wagnis ein – und lässt sich auch durch die Liebe gleich zweier Männer zu ihr nicht beirren.

 

Die Geschichte der Frau hinter der berühmten Champagnermarke Veuve Clicquot

Vita

Susanne Popp, Jahrgang 1967, hat Publizistik studiert und danach ihre Kreativität zunächst in der Werbung ausgelebt, bevor sie sich als Autorin für Privatbiographien selbständig machte. Sie ist in der Südpfalz an der französischen Grenze aufgewachsen und froh, mit ihrem Mann und ihrer Tochter nun auch wieder an einem Ort zu leben, an dem Weintrauben gedeihen, nämlich am Zürichsee in der Schweiz. „Madame Clicquot und das Glück der Champagne“ ist ihr erster Roman.

 

Ihrer Leidenschaft für außergewöhnliche Frauenbiographien geht die Autorin auch im Podcast "Frauenleben" nach: Alle vierzehn Tage erscheint ein neues inspirierendes Porträt zum Anhören. Überall wo es Podcasts gibt oder bei ww.frauenleben-podcast.de.

 

Mehr über die Autorin erfahren Sie unter: www.susannepopp.de.

Teil I

Oktober bis Dezember 1805

Kapitel 1

Etwas war anders als sonst.

Barbe lauschte in die Nacht. In der Ferne bellte ein Hund, die Kirchturmuhr schlug zweimal. Nichts Ungewöhnliches. Wovon war sie aufgewacht?

Sie sah hinüber auf die andere Seite des Bettes, aber sie war allein. François schlief in seinen privaten Räumen, wie meistens in den letzten Monaten. Wieder einzuschlafen war unmöglich. Unruhig wanderte ihr Blick im Zimmer umher und blieb an dem ovalen Spiegel über ihrem Frisiertisch hängen, der matt schimmernd das kühle Mondlicht zurückwarf. Es war, als starre ein großes Auge sie an. Barbe stand auf und trat ans geöffnete Fenster.

Für einen zwanzigsten Oktober war es erstaunlich warm. Eine Zikade, die sich in der Jahreszeit geirrt hatte, zirpte in der Nähe. Das milde und trockene Wetter war spät im Jahr gekommen, nachdem die Ernte bereits unter einem kalten, regnerischen Sommer gelitten hatte. Fast ein Viertel der Trauben hatten sie hängen lassen müssen, die Früchte waren noch am Stock verschimmelt und verfault. Trotzdem war Barbe insgesamt zufrieden. Dank der vergangenen acht warmen und sonnigen Wochen waren die verbliebenen Trauben von vorzüglicher Qualität, besser sogar als in anderen Jahren, weswegen sie François vorgeschlagen hatte, eine Reise über Land zu unternehmen und weitere Trauben und Most zuzukaufen. Erleichtert hatte sie dabei beobachtet, wie François zumindest zeitweise seinen früheren Charme und sein Verhandlungsgeschick zurückgewonnen hatte. In der letzten Zeit hatte er häufig traurig und abwesend gewirkt, als sei er mit seinen Gedanken woanders und nicht bei der Sache.

Barbe stützte sich aufs Fensterbrett und lehnte sich ein wenig hinaus, um in den Hof hinunterzusehen. In seinem Arbeitszimmer brannte noch Licht. Sie selbst hatte sich nach den langen Tagen in der Kutsche und den ungewohnten Nachtlagern bei Bauern und in Gasthäusern völlig erschöpft gefühlt. Zwei Wochen lang waren sie und François unterwegs gewesen, und sie hatte fest damit gerechnet, dass sie bis zum Morgen durchschlafen würde. Stattdessen war sie nun hellwach und von einer unbestimmten Unruhe erfüllt. Der Geruch vergorener Trauben stieg ihr in die Nase. Vermutlich stand der Keller offen, obwohl die Arbeiter die Anweisung hatten, alles fest verschlossen zu halten.

Rasch warf sich Barbe ihren Morgenmantel über. Sie würde hinuntergehen und das Tor zum Keller kontrollieren. Und dann konnte sie bei François anklopfen und nach dem Rechten sehen.

Mit einer Kerze in der Hand trat sie hinaus auf den Flur. Am Treppenabsatz hielt sie inne. Oben schlief ihre Tochter, die fünfjährige Mentine, im Zimmer neben der Kinderfrau. Sie hatte sie heute bei ihrer Rückkehr nur kurz in ihre Arme geschlossen, weil es schon so spät gewesen war, und plötzlich verspürte sie das dringende Bedürfnis, nach ihr zu sehen. Leise ging sie die Treppe hinauf. Die Tür stand einen Spalt offen, und in der Ecke brannte eine Öllampe. Die Kinderfrau war wohl eingeschlafen, bevor sie das Licht hatte löschen können. Barbe trat ans Bett und betrachtete von Zärtlichkeit erfüllt die schlafende Mentine. Sie hatte die Decke fortgestrampelt, lag quer in ihrem Bettchen, weil sie nach Kinderart viel träumte und sich viel bewegte, und winzige verschwitzte Löckchen kringelten sich um ihre schmale Stirn. Barbe stellte die Kerze ab, legte das Kind gerade hin, schüttelte die Decke auf, breitete sie über ihre nun friedlich daliegende Tochter und beugte sich vor, um ihr einen Kuss zu geben. Ohne wirklich zu erwachen, schlang die Kleine die weichen Ärmchen um sie und erwiderte den Kuss.

«Maman», murmelte sie zufrieden, drückte ihr Näschen gegen Barbes Wange und versank sofort wieder im Reich der Träume. Barbe lächelte, löschte die Öllampe und verließ das Zimmer.

Während sie mit ihrer Kerze in der Hand die Treppe hinunter- und über den ausgetretenen Steinfußboden des langen Flurs im Erdgeschoss ging, dachte sie an François’ blasses Gesicht. Er machte sich in letzter Zeit so viele Sorgen. Stundenlang hatte er in der Kutsche schweigend neben ihr gesessen, statt, wie er es früher oft getan hatte, aufs Reitpferd zu wechseln. Sie hätte es verstanden, denn die Nebenstraßen in der Champagne waren in einem schrecklichen Zustand, und ein Ritt machte ungleich mehr Freude, als in der rumpelnden Kutsche durchgeschüttelt zu werden.

Sie liebte es, ihren Ehemann auf dem Pferd zu sehen und die Frische und Weite der Landschaft an ihm zu riechen, wenn er zurückkehrte, oftmals inspiriert und voller neuer Ideen. Er war ein unsteter Geist und brauchte viel Abwechslung. In den ersten Jahren ihrer Ehe hatte er sie oft mit seinen Einfällen überrascht. Sie hatten häufig Besuch gehabt, Diners veranstaltet und miteinander musiziert. François spielte wunderbar Geige, doch in der letzten Zeit hatte er das Instrument nicht mehr angerührt, und wenn ihr der Trubel früher manches Mal zu viel gewesen war, vermisste sie ihn nun. Was den Weinhandel betraf, dem sich François zu Beginn ihrer gemeinsamen Zeit mit so viel Enthusiasmus gewidmet hatte, schien er das Interesse daran verloren zu haben. Oder seinen Mut? Selbst zu dieser Reise, von der sie soeben zurückgekehrt waren, hatte sie ihn regelrecht überreden müssen, dabei wurde der Wein dadraußen gemacht, im Weinberg und in den Kellern, nicht im Kontor.

Zugegeben, es war nicht leicht. Doch Barbe, die als Kind viel Zeit auf dem Land verbracht hatte, begeisterte sich immer mehr für die Idee, nicht nur Wein zu verkaufen, sondern auch eigenen Wein zu produzieren. Sie war fasziniert von dem Gedanken, von der Traube am Stock bis zum fertigen Wein im Fass oder in der Bouteille alles unter Kontrolle zu behalten. Gerade mit Schaumwein hatte François in den letzten Jahren schöne Gewinne erzielt, und ihrer Meinung nach war auch dieses Jahr recht gut gelaufen. Die Befürchtungen aus dem vergangenen Winter, als ihnen der treue Louis Bohne aus Russland nur Ärger und Verdruss gemeldet hatte, hatten sich nicht bewahrheitet. Die Bestellungen, die er ihnen übermittelt hatte, waren sogar mehr als zufriedenstellend gewesen: fünfundsiebzigtausend Flaschen Schaumwein, das waren jetzt schon mehr als im gesamten vorigen Jahr.

Als sie an Louis dachte, fühlte sie sich sofort ein wenig besser. In ein paar Wochen würde er nach Reims zurückkehren. Barbe rief sich sein freundliches, stets ein wenig zu rotwangiges Gesicht ins Gedächtnis und dachte an seine klugen, humorvollen Kommentare, mit denen er die Dinge oftmals wieder ins Lot brachte. Sie wünschte sich einen Menschen herbei, der ihre Sichtweise teilte. Das Beisammensein mit dem alten Freund würde ihrem Mann sicherlich guttun, vielleicht würde er François sogar zur Vernunft bringen, zumindest hoffte sie das, denn insgeheim hatte sie Angst vor dem, was die Zukunft für sie bereithielt. François war nicht zum ersten Mal in seinem Leben von Schwermut befallen. Er hatte auch in seiner Jugend bereits solche Phasen durchgemacht, wie sie den Andeutungen ihrer Schwiegereltern entnahm. Dabei konnte man sich in diesen schwierigen Zeiten nur mit vollem Verstand und Lebensmut behaupten.

Der unselige Napoleon Bonaparte, dachte Barbe, während sie vorsichtig, um mit ihren Hausschuhen auf den unebenen Pflastersteinen nicht zu stolpern, in den Hof trat. Niemand konnte wissen, was er sich als Nächstes einfallen ließ. Gerade habe er die Österreicher bei Ulm besiegt, erzählte man sich. Doch letztlich spielte das keine Rolle, letztlich waren sie alle, Könige, Generäle oder Kaufleute, wie François den Launen des selbstgekrönten Kaisers ausgeliefert.

Sie stand jetzt vor dem Kellereingang, der jedoch zu ihrer Verblüffung fest verschlossen war. Auf ihre Nase konnte sie sich normalerweise verlassen, aber sie hatte wohl so sicher mit der Nachlässigkeit ihrer Leute gerechnet, dass sie sich hatte täuschen lassen. Vor allem dem Kellermeister Mathieu traute sie nicht recht, er war ein Filou. Dabei lag im Weinkeller der Schlüssel zum Erfolg. François überließ die Weinherstellung bisher völlig den Winzern oder eben Mathieu, doch die taten, was sie immer taten, und waren zufrieden damit, ohne nach Höherem zu streben. Ihnen fehlte das rechte Verständnis für die Herstellung von Schaumwein. Und vor allem die Leidenschaft. Sie selbst hätte sich gern den ganzen Tag im Weinkeller aufgehalten und experimentiert. Doch sie hatte den Eindruck, sich unter den Arbeitern wenig Freunde zu machen, wenn sie sich zu oft einmischte. Barbe rüttelte ein letztes Mal am Kellertor und ging zurück ins Haus. Es gab zwar viele Probleme zu lösen, aber es war trotzdem albern, mitten in der Nacht hier herumzuschleichen. Sie blieb stehen und lauschte. Alles war ruhig. Nur ihr eigener Herzschlag pochte in ihren Ohren, als sie die Treppe zum Salon emporstieg. Sie wollte noch einen Schluck Wasser trinken, bevor sie zu François ging, oder vielleicht sogar ein Glas Wein, um besser wieder einschlafen zu können. Im Salon stand sicher noch die Karaffe von vorhin.

Es hatte eine Weile gedauert, bis Barbe gelernt hatte, sich in diesem Haus wohl zu fühlen, das sie von François’ Großvater übernommen hatten und in dem sie jetzt seit fünf Jahren miteinander lebten. Es lag in der Rue de l’Hôpital und somit nur einen Steinwurf von ihrem eigenen Elternhaus, dem Hôtel Ponsardin in der Rue Cérès, entfernt, war jedoch einige Jahre älter als dieses und weniger großzügig geschnitten. Aber mit der Zeit hatte sie sich daran gewöhnt. Die Proportionen passten zu ihrer dreiköpfigen Familie, und nachdem sie einige neue Möbel angeschafft hatten, lebte sie inzwischen gerne hier.

Barbe trat in den Salon. Dieser Raum hatte die größte Veränderung erfahren, sogar der Wandbespann war ausgetauscht worden. Der neue aus rot-orangefarbener Seide mit einem Muster aus Ranken und Ornamenten hatte ein Vermögen gekostet, doch er verlieh dem Raum etwas Modernes und zugleich Behagliches. Sie goss sich aus der Karaffe, die tatsächlich nach wie vor auf einem silbernen Tablett am Fenster stand, ein Glas Wein ein. Die Glut im Kamin strahlte noch ein wenig Wärme ab. Über dem Sims hing ein Porträt von François, das ihn im Alter von etwa siebzehn Jahren zeigte. Versonnen prostete sie ihm zu.

Barbe kannte die Familie Clicquot, seit sie ein kleines Mädchen war. Philippe Clicquot, ein Tuchhändler wie ihr Vater, und seine Frau Marie Catherine waren oft zu Besuch bei ihnen im Hôtel Ponsardin gewesen. Philippe Clicquot und Nicolas Ponsardin waren Geschäftsfreunde, beide erfolgreiche und geachtete Kaufleute. Schon früh hatte festgestanden, dass sie und François einmal heiraten sollten. Womöglich bereits, als François drei Jahre alt war und die Ponsardins als erstes Kind keinen Stammhalter, sondern ein Mädchen bekamen – sie, Barbe-Nicole. Aus ihren Kindheitstagen erinnerte sie sich an einen hübschen Jungen mit schwarzem Lockenkopf, ganz ähnlich, wie er auf dem Porträt zu sehen war, kein bisschen hochmütig, aber von zurückhaltendem Wesen. Sie mochte ihn, er war zu jedermann freundlich. Als er älter wurde, schickten seine Eltern ihn zur Ausbildung in die Schweiz, und sie verloren sich aus den Augen. Nach seiner Rückkehr, zwei Jahre später, war aus ihm ein junger Mann geworden, und etwas Rebellisches und zugleich Melancholisches lag in seinem Blick.

Erst hatten sie keinen rechten Bezug zueinander gefunden. Entweder war er zu schüchtern, oder aber er interessierte sich nicht für sie – und wenn es so gewesen wäre, hätte sie es ihm nicht einmal verdenken mögen. Sie war noch dabei gewesen, der Kindheit zu entwachsen, und hatte sich oftmals nicht recht wohl in ihrer Haut gefühlt. Nur der intensive Blick aus ihren grauen Augen, den sie zuweilen eher zufällig im Spiegel auffing, gab ihr eine Ahnung davon, was ihr Vater oder andere ihr zugetane Menschen meinten, die ihr versicherten, sie verfüge über Persönlichkeit und Ausstrahlung. Doch womöglich waren diese Eigenschaften ja nicht dazu geeignet, einen jungen Mann zu betören? Sie war fünfzehn. Frisuren und Mode, Handarbeiten und Haushalt, Dinge, mit denen sich Mädchen üblicherweise auszeichneten, langweilten sie. Sie mochte Rechnen und Lesen und verbrachte zum Leidwesen ihrer Mutter, die solche Interessen unschicklich für ein Mädchen fand, so viel Zeit wie möglich im Kontor ihres Vaters, der ihr kleine Aufgaben zuteilte, oder arbeitete im Garten, wo sie Rosenstöcke heranzog. Im Hinblick auf François, der sie an einen ihrer unglücklichen Romanhelden erinnerte, war sie zutiefst verunsichert. Sie hatte sich in ihn verliebt und strengte sich ihm zuliebe mit ihrer Toilette an, blieb sogar geduldig sitzen, um sich ihr schweres goldblondes Haar frisieren zu lassen, auf dem Oberkopf toupiert und mit Wellen im Nacken. Die Kleider und Stoffe waren in den letzten Jahren leichter und luftiger geworden. Die Taille saß nun direkt unterm Busen und eine Zeitlang studierte Barbe sogar die Kupferstiche aus Paris, die die neuesten Modelle zeigten. Doch es nützte nichts. François war zwar freundlich zu ihr und scherzte mit ihr, doch auch nicht mehr oder auf andere Weise als mit den anderen.

Er blieb nur wenige Wochen in der Stadt. Es herrschte Krieg. Österreich und Preußen hatten sich zusammengetan, weitere europäische Mächte sollten folgen, und alle kämpften sie gemeinsam gegen Napoleon Bonaparte. François war nicht unter denjenigen, die das revolutionäre Frankreich verteidigten. Sein Vater hatte ihm einen Amtsposten im nationalen Exportbüro verschafft. Schreibtisch statt Front. Ruhm und Ehre ließen sich damit nicht verdienen, und es seien sogar Bestechungsgelder geflossen, tuschelten die Leute in Reims, aber Barbe hörte darüber hinweg. Selbst wenn es so war, sie machte sich nichts aus Rangabzeichen und Orden, und nach allem, was sie über den Krieg wusste, konnte sie nichts Gutes daran finden. Sie begann, zunächst ermutigt von ihrer Mutter, doch dann freiwillig und gerne, ihm Briefe zu schreiben. Er antwortete ihr. Und was für schöne Briefe er zu schreiben verstand! Die Arbeit machte ihm Freude, er besaß ein Talent für den Handel, lernte viel und beschrieb witzig und eloquent seine Vorgesetzten und Kollegen. Sie liebte seine anschaulichen und oftmals ironischen Schilderungen. Seine Briefe wurden vertraulicher. Er schätzte das Verständnis, das sie ihm entgegenbrachte, die Klugheit, mit der sie seine Gedankengänge durchdrang, und nach und nach, so las sie es aus seinen Zeilen, fühlte er sich auch ihr immer näher. Bei seiner Rückkehr sahen sie einander mit anderen Augen als zuvor.

Sie heirateten als Barbe zwanzig Jahre alt war und sie fragte sich nicht mehr, ob es Liebe sei, was sie für einander fühlten. François’ innere Unruhe und seine ständige Suche nach Ablenkung schrieb sie seinem Ehrgeiz zu. Ein Jahr später kam Mentine auf die Welt und gab Barbes Leben einen neuen Sinn, und während ihr Mann viel auf Reisen war, ging sie völlig auf in ihrem Dasein als Mutter – und in ihrem immer stärker wachsenden Interesse für den Wein. Eine Zeit lang war sie damit recht glücklich gewesen. Bis François’ melancholische Stimmungen auf unerklärliche Art und Weise seit dem letzten Herbst überhandgenommen hatten. Ein ganzes Jahr lang hatte er sich immer weiter von ihr entfernt. Sie seufzte, als sie daran dachte, und trank die letzte Neige Wein.

Der Eingang zu François’ Kontor und dem angeschlossenen Schlafzimmer, das er nun schon so lange ihrem gemeinsamen vorzog, befand sich auf halber Höhe an der hinteren der beiden Treppen, die von den oberen Stockwerken ins Erdgeschoss führten. Sie klopfte bei ihm an, und als er nicht antwortete, streckte sie den Kopf durch die Tür. Da sah sie ihn. Offenbar war er am Tisch eingeschlafen. Sie blickte auf die zusammengesunkene Silhouette seiner Gestalt, der Kopf lag seitlich auf seinem linken Arm. Das trübe Öllicht auf seinem Tisch flackerte nur noch schwach, und wie im Salon tauchte auch hier ein Rest Glut im Kamin den Raum in ein rötliches Licht und ließ das Kanapee und die beiden Sessel wie eine Gruppe schlafender Tiere aussehen. Vor François auf dem Sekretär lagen Papiere mit Zahlenkolonnen auf zerfledderten Stapeln, weitere Unterlagen waren um ihn herum auf dem Boden verstreut, und sein Großvater blickte mit gewohnt missbilligender Miene von dem Porträt über dem Kamin herab auf die Unordnung.

«François?», sagte Barbe, während ein Luftzug unvermittelt ihre Kerze ausblies. «François, geh lieber zu Bett. Du wirst Rückenschmerzen bekommen.»

Er rührte sich nicht, doch auch sie selbst schien mit einem Mal von einer Lähmung befallen zu sein. Statt näher zu treten, blieb sie in der Tür stehen und betrachtete den reglosen François. Irgendetwas stimmte nicht. Irgendetwas war ganz und gar nicht in Ordnung. Ein ungewohnter Geruch lag in der Luft, scharf und ein wenig wie Schwefel.

«François?», sagte sie noch einmal.

Ihre Stimme klang in ihren eigenen Ohren fremd. Sie stellte den unnütz gewordenen Kerzenhalter ab, zog die Tür hinter sich zu und ging zögernd, mit vorsichtigen Schritten, als fürchte sie, der Boden könne sich vor ihr auftun, in Richtung Kamin. Sie stand nun in einigem Abstand schräg hinter ihrem Mann und trat noch einen Schritt zur Seite, sodass die Glut die Szene etwas mehr erhellte. Sein Hinterkopf sah aus, als habe er sich ein schwarzes Tuch übergeworfen und neben dem Schwefeligen war da noch etwas anderes in der Luft, das sie zuvor ignoriert hatte, dabei kannte sie diesen Geruch nur zu gut. Metallisch, nach Eisen. Dieses Schwarze an seinem Hinterkopf, dieser entsetzliche unförmige Schatten, das war Blut.

«François», flüsterte sie und blickte, unfähig, sich zu bewegen, auf die Gestalt vor ihr.

Die Öllampe verlosch mit einem leisen Knistern.

Barbe verharrte in fast vollständiger Dunkelheit, während ihre Gefühle wie von ihr fortgesogen zu sein schienen. Ganz so, wie wenn man einen Zuber Wasser auskippt. Sie wartete darauf, dass dieses entsetzliche Bild, das ihr Auge in sich aufgenommen hatte, auch ihre Seele berührte und sie zusammenbrechen ließ. Doch in ihr war nur dieses alles verschlingende schwarze Loch.

Lange stand sie so da, flach atmend und einer Ohnmacht nahe, und als sie sich wieder bewegen konnte, ging sie nicht auf François zu, sondern instinktiv von ihm weg, rückwärts, den Blick auf seine Umrisse gerichtet, die sie kaum noch ausmachen konnte. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Sie musste atmen, wollte fliehen, wollte jemanden zu Hilfe holen, doch ihr wurde bewusst, dass es niemanden gab. Ihr Vater war auf Verwandtenbesuch. Ihr Bruder? Bei der Armee. Ihre Schwester? Clémentine wäre ihr in dieser Situation kaum eine Hilfe. François’ Eltern? Nein, das war ganz und gar unmöglich.

Sie war allein.

Etwas in ihr begriff, dass sie handeln musste, und übernahm wie eine fremde Person das Kommando. Statt den Raum zu verlassen, tastete sie nach ihrer Kerze, die sie neben der Tür abgestellt hatte, und brauchte mehrere Versuche, das Licht mit zitternden Fingern zu entzünden. Erneut sprang ihr die Szene unbarmherzig ins Auge. François, wie er vor ihr auf dem Tisch lag. Sein Gesicht war nach rechts gewandt, und sein rechter Arm hing herunter. Sie musste sich zwingen, sich ihm wieder zu nähern – diesmal von der anderen Seite, so vermied sie den Anblick dieses grauenhaften schwarzen Schattens an seinem Hinterkopf. Sie kniete sich hin, leuchtete und tastete den Boden ab und fand, was sie gesucht hatte: eine Reisepistole, die aus François’ schlaffer Hand auf den Boden gefallen war. Der Anblick war so unwirklich, dass sie nicht einmal Entsetzen empfand. Und dann überwand sie sich und sah aus dieser Position, neben dem Tisch auf dem Boden kauernd, nach oben in sein Gesicht. Ihre Hand zitterte, als sie die Kerze hob, doch zu ihrer großen Erleichterung war François’ Gesicht, bis auf ein Rinnsal Blut in seinem Mundwinkel, unversehrt. Die Haut wirkte wächsern, die Augen hatte er geschlossen, den Mund jedoch geöffnet. Er musste sich von unten gegen den Gaumen geschossen haben.

«Oh, François», flüsterte Barbe und streichelte sanft über seine Wange. Es war, als hätte es diese Berührung gebraucht, um die Situation wirklich werden zu lassen. Mit einem Schlag überwältigten sie Trauer und Schmerz, die sie schon die ganze Zeit in sich gefühlt hatte, wie Raubtiere, die zum Sprung ansetzten, und sie brach zusammen und schluchzte trocken und haltlos. Lange kauerte sie so da, unter Schock, die Arme um den eigenen Körper geschlungen, und wiegte sich vor und zurück, bis ihr wie eine ferne Erinnerung der Gedanke an ihre Tochter in den Sinn kam. Die süße, arglose Mentine, die oben in ihrem Bettchen lag. Dieser Moment, in dem sie ihre Ärmchen um ihren Hals geschlungen hatte.

«Denk nach, denk nach», flüsterte sie sich zwischen zwei Schluchzern zu. Im Diesseits war François nicht mehr zu retten, doch vielleicht konnte sie ihm den Übergang ins Jenseits erleichtern.

Mühsam erhob sie sich, taumelte und stieß die Öllampe um, die auf den Boden fiel und scheppernd zerbrach. Ein Geräusch wie aus einer anderen Welt. Es berührte sie nicht. Sie hatte jetzt nur noch einen Gedanken: Wenn man nur sein Gesicht betrachtete, sah man François die selbstzerstörerische Verletzung nicht an. Vielleicht konnte sie seinen Tod wie die Folge einer Krankheit aussehen lassen. Nur so würde ihm ein katholisches Begräbnis vergönnt sein und damit verbunden die Hoffnung auf Vergebung und Auferstehung. Unwillkürlich bekreuzigte sie sich.

Jemand klopfte an die Tür. «Pardon? Monsieur Clicquot, ist alles in Ordnung? Brauchen Sie etwas?»

Barbe fuhr zusammen. Das musste Alphonse sein, der junge neue Kammerdiener. Panik ergriff sie. Jetzt bewegte sich die Klinke, gleich würde Alphonse im Zimmer stehen. Hektische Überlegungen schossen ihr durch den Kopf. Nein, das durfte nicht sein, der Diener durfte François auf gar keinen Fall so sehen. Es hieß, schnell und überlegt zu handeln. Sie ignorierte den Schwindel, der sie nach wie vor schwanken ließ, und war mit zwei Schritten bei der Tür.

«Alphonse, es ist gut, dass du hier bist. Der Herr hat Fieber», sagte sie, die Stimme mühsam beherrscht.

«Fieber? Oh, ich verstehe. Soll ich den Arzt holen?»

Alphonse hatte schon einen Fuß in der Tür, und machte Anstalten hereinzukommen. Sie stellte sich ihm in den Weg.

«Nein, nein, keinen Arzt vorerst.»

«Dann bringe ich Ihnen Wasser und Tücher für Umschläge.»

«Später. Hol mir zuerst Adèle Dubois her.»

«Adèle Dubois? Die Schneiderin?»

«Genau die. Du weißt, wo sie wohnt?»

«Ja schon, aber bis dorthin brauche ich wenigstens eine halbe Stunde. Was, wenn ich Céline …»

«Ich habe dich nicht um deine Meinung gebeten, Alphonse», sagte Barbe so scharf, dass sie über sich selbst erschrak und nicht wusste, wie sie es schaffte, so viel Autorität in ihre Stimme zu legen. «Hol mir Adèle Dubois. Und kein Wort, verstehst du, kein einziges Wort zu irgendjemand anderem! Ich will nicht, dass hier im Haus Panik wegen eines harmlosen Fiebers ausbricht.»

Sie sah ihn über die Kerze in seiner Hand hinweg bedeutungsvoll an, als stecke hinter dem Fieber eine keineswegs harmlose Gefahr, und bemerkte, wie sich die Augen des jungen Mannes ängstlich weiteten.

«Natürlich, Madame. Ich mache mich sofort auf den Weg.»

Nachdem der Diener gegangen war, drehte sie den Schlüssel im Schloss. Ihre Beine zitterten. Schwer atmend lehnte sie sich gegen die Tür, wobei ihr Blick wieder auf den Leichnam fiel. Übelkeit stieg in ihr auf, doch sie war froh, dass ihr der Gedanke gekommen war, nach Adèle Dubois zu verlangen. Der Witwe Dubois vertraute sie wie kaum einem anderen Menschen.

Sie wartete, bis der Schwindel und die Übelkeit ein wenig abgeklungen waren, und fühlte, wie sich bleierne Erschöpfung auf ihre Schultern legte. Einen weiteren Blick auf ihren toten Mann ertrug sie nicht, also ging sie hinüber ins angrenzende Zimmer, wo François’ Bett stand, kroch hinein und rollte sich zusammen. Hier in der Wärme seiner Decken schien seine Seele noch immer gegenwärtig. Das ganze Bett roch nach François.

Kapitel 2

Als Barbe erwachte, hörte sie ihre Eltern miteinander streiten.

«Was hat Barbe nur mit dieser Frau?», ertönte die spitze Stimme ihrer Mutter.

Sie merkte sofort, dass sie nicht zu Hause in der Rue de l’Hôpital war, sondern bei ihren Eltern im Hôtel Ponsardin, wo sie in frische Laken gebettet in ihrem eigenen ehemaligen Kinderzimmer lag. Verwundert blickte sie auf den vertrauten blau-weiß gestreiften Baldachin ihres Himmelbetts, und ohne den Kopf zu bewegen, erkannte sie am Lichteinfall, dass es später Nachmittag sein musste.

Warum?, fragte sie sich, immer noch nicht ganz bei sich, bevor die Erkenntnis über sie hereinbrach: François war tot. Der Gedanke blieb seltsam unwirklich, ließ sich noch immer nicht richtig fassen.

«Lass sie, Adèle ist ein guter Mensch», hörte sie ihren Vater entgegnen. «Bist du etwa eifersüchtig?»

Also ging es um Adèle Dubois. Verzerrt, als würde sie sie durch eine Nebelwand betrachten, kehrten Barbes Erinnerungen zurück. Mit Adèles Hilfe war es ihr in jener Nacht tatsächlich gelungen, François’ wahre Todesursache vor dem Personal zu verheimlichen. Vereinzelt tauchten Bilder vor Barbes innerem Auge auf. Madame Dubois, wie sie François wusch.

Dann François, wie er auf seinem Bett lag, ihre Eltern und ihre Schwester standen ernst und schweigend um ihn herum.

Und dann die Beerdigung. Die Trauermesse in der Kathedrale Notre-Dame. Der Segen des Pfarrers – und doch kein Trost.

Der Sarg, wie er in die Tiefe gleitet. In geweihte Erde …

 

Anschließend war sie krank geworden. Man fürchtete um ihr Leben.

Barbe wusste nicht genau, ob seitdem Tage oder Wochen vergangen waren. Immer noch defilierten Menschen und Erinnerungen vorbei. Ihr Vater an ihrem Bett, wie er ihre Hand hält. Ihr Bruder Baptiste, aufrecht, in Gardeuniform, wie er mit besorgter Miene auf sie herabblickt. Ihre Schwester Clémentine – sie steht in der Tür und tupft sich mit einem Taschentuch die Augen. Neben ihr mit schreckgeweitetem Blick die kleine Mentine. Barbe streckt die Hand nach ihrer Tochter aus, doch sie lassen sie nicht zu ihr.

François. Er ist die ganze Zeit über an ihrer Seite. Sie spricht mit ihm …

 

«Eifersüchtig?», holte die Stimme ihrer Mutter sie wieder in die Gegenwart zurück. «Auf diese Person? Und Sie nennen sie beim Vornamen, als ob sie Ihre beste Freundin wäre!»

Barbe, zum ersten Mal seit langer Zeit beinahe völlig klar bei Verstand, lag ganz still und rührte sich nicht. Wenn ihre Mutter ihren Vater siezte, wurde es ernst.

Die liebe gute Adèle Dubois. Ihr Vater kannte die Schneiderin noch aus seiner Lehrzeit in Épernay. Als Jugendliche hatte sich Barbe eine ebenso romantische wie unglückliche Liebesgeschichte zwischen der schönen Adèle und ihrem Vater ausgemalt, so wie sie in den Ritterromanen vorkamen, die sie früher leidenschaftlich gerne gelesen hatte. Natürlich musste das passiert sein, bevor ihre Eltern geheiratet hatten. Lange vor der legendären Krönung von König Ludwig XVI. in Reims, bei der ihr Vater erster Vorsitzender des Krönungsausschusses gewesen war. Aber er war ein Kaufmann und stand gesellschaftlich über Adèle, also hatte er Jeanne-Clémentine Huart-le-Tertre geehelicht, ihre Mutter. Eine Vernunftheirat – und doch von gegenseitigem Respekt getragen. Adèle Dubois, die inzwischen nach Reims gezogen war, hatte einen Schmied geheiratet. Nur wenige Wochen nach der Hochzeit war er gestorben. Seitdem, seit fünfundzwanzig Jahren, war sie Witwe, alleinstehend und kinderlos bis zum heutigen Tag.

«Wie kannst du nur so über sie reden? Wo wir ihr so viel zu verdanken haben!», sagte ihr Vater.

«Sie mischt sich ein. Das ist es, was sie tut!»

«Gott sei Dank mischt sie sich ein. Hast du vollkommen vergessen, was deine Tochter durchgemacht hat? Welchen Kummer sie erlebt hat? Adèle Dubois ist an ihrer Seite geblieben, Stunde um Stunde. Als wir zwei Tage später kamen, mussten wir ihr ja geradezu befehlen, nach Hause zu gehen, um sich zu erholen.»

«Nehmen Sie Ihre Freundin nicht ein wenig zu wichtig?»

«Sie ist nicht ‹meine Freundin›, sie ist eine Freundin unserer Familie. Ohne Adèle Dubois würde unsere Tochter nun als die Witwe eines Selbstmörders dastehen. Die ganze Stadt würde sich den Mund über sie zerreißen – und über uns.»

Ihr Vater sprach mit gepresster Stimme. Er war offenbar kurz davor, aus der Haut zu fahren. Die Witwe eines Selbstmörders. Damit meinte er sie. Barbe schloss die Augen und hörte weiter zu.

«Und wenn sich Adèle Dubois vor zwanzig Jahren herausgehalten hätte, wäre Barbe womöglich gar nicht mehr am Leben.» Ihr Vater spielte auf eine Geschichte an, die sich abgespielt hatte, als sie noch ein Mädchen gewesen war.

«Da Sie es gerade erwähnen: Diese Person, hat damals vollkommen eigenmächtig gehandelt», sagte ihre Mutter.

«Diese Person, wie Sie sie nennen, ist eine angesehene Bürgerin von Reims. Sie besitzt ein Haus und beschäftigt zehn Näherinnen. Auch wenn Ihnen das vielleicht nicht gefällt – die Witwe Dubois hat sich absolut nichts zuschulden kommen lassen.»

«Eben, eine Frau, die Geschäfte macht. Das gehört sich einfach nicht», sagte ihre Mutter unbeirrt. «Sie ist ein Emporkömmling und wird niemals so sein wie wir, und glauben Sie nur nicht, dass mir entgangen wäre, dass Sie sie dazu ermutigt haben. Sie haben ihr geholfen. Wer weiß, welche Beweggründe Sie dafür hatten.»

«Sie hat das ganz allein geschafft» sagte der Vater leise. Darüber wollte er offenbar nicht reden. Doch die Mutter ließ nicht locker.

«Sie hat unsere Tochter einfach mit zu sich nach Hause genommen und mir erst am nächsten Tag Bescheid gesagt!»

«Darüber haben wir doch schon ein Dutzend Mal gestritten! Was hätte sie denn, Ihrer Meinung nach, tun sollen? Hätte sie mit unserer Tochter auf dem Arm mitten durch den Volkssturm laufen sollen? Über die Rue Cérès? Und dann seelenruhig am Tor des Hôtel Ponsardin läuten? Eine prächtige Idee! Ich für meinen Teil bin froh, dass sie genau das nicht gemacht hat. Es war das einzig Richtige, sie mit zu sich zu nehmen und sie dort zu verstecken.»

«Mit zu sich zu nehmen? Sie hat sie aus dem Kloster entführt! Und ich bin vor Angst tausend Tode gestorben.»

«Wie Sie mir seitdem oft genug versichert haben. Ja, sie hat sie aus dem Kloster geholt, aber auf meinen ausdrücklichen Wunsch hin. Wenn Sie unbedingt jemanden verurteilen müssen, dann verurteilen Sie mich!»

Ihre Mutter antwortete nicht, und Barbe riskierte einen Blick auf ihre Eltern, die am Fenster standen. Die Mutter hatte den Kopf gesenkt, und der Vater sah stumm hinaus in den Garten. Barbe betrachtete die beiden durch ihre Wimpern hindurch, sah die grauen Strähnen im Haar ihrer Mutter und die immer noch stattliche Statur ihres Vaters. Ein plötzliches Gefühl liebevoller Zuneigung erfüllte sie. Selbst ihrer Mutter mochte sie nicht zürnen. Sie hatte nicht gewusst, dass dieses Ereignis ein Streitthema zwischen den beiden war. Das, was damals im Sommer 1789 passierte, als sie ein Mädchen von elf Jahren gewesen war und Adèle Dubois sie zum ersten Mal gerettet hatte.

 

Solange sie denken konnte, hatte sich Barbe mit ihrem Vater weit besser verstanden als mit ihrer Mutter. Damals, in jenem Sommer, auf den ihre Eltern angespielt hatten, war er monatelang fort gewesen. Wie sehr sie ihn vermisst hatte! Es sah ihrem Vater nicht ähnlich, seine Geschäfte solange sich selbst zu überlassen, aber die Bürger von Reims hatten ihn zu ihrem Vertreter gewählt, damit er in ihrem Namen in der von König Ludwig XVI. einberufenen Nationalversammlung in Paris für sie abstimmte. Es war ein großes Ereignis gewesen. Die erste Nationalversammlung seit hundertsechzig Jahren! Ihr Vater hatte die Wahl der Reimser nicht ablehnen können. Er war sich seiner Verantwortung für die Stadt nur zu gut bewusst und dem König treu ergeben. Abgesehen davon, machte sich die wirtschaftlich trübe Lage mittlerweile auch in seinem Tuchhandel negativ bemerkbar. Der König hatte durch seine Unterstützung des amerikanischen Unabhängigkeitskriegs den Staatshaushalt viel zu stark beansprucht. Die miserablen Ernten und immer höheren Steuern drückten nicht nur auf die Stimmung im Volk, es drohte sogar eine Hungersnot. Es erschien allzu deutlich, dass sich etwas ändern musste.

Barbe war damals freilich noch ein naives kleines Mädchen gewesen, dessen Alltag fern von Politik ablief. Sie war Internatsschülerin der Klosterschule des Abbaye St.-Pierre-les-Dames, das es, ebenso wie ihre Taufkirche, längst nicht mehr gab, was sie sehr bedauerte. Noch lebhaft erinnerte sie sich an den Schlafsaal der Mädchen, an den Geruch von Stroh, Leinen und Wolle, das Flüstern ihrer Mitschülerinnen, wenn sie sich heimlich und verbotenerweise abends Geschichten erzählten.

Sie war gerne zur Schule gegangen. Manche der Nonnen waren selbst gerade erst dem Kindesalter entwachsen, und sie hatte Freundinnen dort, mit denen sie reden und lachen konnte. Anders als die meisten der Mädchen mochte sie sogar die Schulkleidung, weil ihr dadurch ein Mieder und Kleidungsstücke, die man umständlich feststecken musste, Bänder, Schleifen und Haarschmuck erspart blieben. Einmal pro Woche flocht ihr eine der Mitschülerinnen die Haare neu, darüber kam eine weiße Haube, das war alles. Große Freude machte ihr die Arbeit mit der Schwester Gärtnerin, die so viel über Pflanzen und ihre Verwendung wusste. Auch die Heiligengeschichten und die Geschichten aus der Bibel mochte sie gerne und natürlich Rechnen. Im Rechnen war sie sogar so gut, dass sie heimlich dem Unterricht der Großen folgte, der zur selben Zeit im selben Raum abgehalten wurde. Eigentlich wäre sie überhaupt und immer sehr gerne zur Schule gegangen, hätte man sie auch noch Latein lernen lassen, so wie ihren Bruder, oder hätte man nicht ständig Handarbeiten von ihr verlangt. Eine Qual!

Doch in diesem Sommer war alles anders gewesen, und sie hätte gerne freiwillig den ganzen Tag Strümpfe gestrickt, wenn man sie nur nach Hause gelassen hätte. Stattdessen hatte sie die Monate Mai und Juni und den halben Juli hindurch im Kloster bleiben müssen. Eine Anordnung des Vaters, der nach wie vor in Paris weilte, hieß es, doch damals verstand sie die Zusammenhänge noch nicht. Sie wusste nicht, dass ihr geliebter Vater in den vergangenen Wochen zum Feindbild der armen Bevölkerung geworden war. Aus deren Sicht war Nicolas Ponsardin beinahe ebenso schlimm wie die Adligen, all die Barone, Herzöge, Grafen und Gräfinnen, die nur zu gerne im Hôtel Ponsardin logierten und bei ihm edle Stoffe kauften. Ebenso reich wie sie war er auf jeden Fall, vermutlich besaß er sogar mehr Geld als die meisten von ihnen. Und sie, Barbe, die älteste Tochter, wäre ein leichtes Opfer gewesen, an dem man sich hätte rächen können.

Über all diese Dinge, die sie erst viel später erfuhr, hatte damals niemand mit ihr gesprochen. Sie und die anderen Schülerinnen reimten sich ein bisschen was zusammen. Jede von ihnen, allesamt Töchter der bessergestellten Familien der Stadt, trug etwas zu den Gerüchten bei, in Paris würden sich die einfachen Bürger und Bauern erheben, flüsterten sie einander zu, aber letztlich blieben es Gerüchte.

Am 18. Juli 1789 hatte sich Barbes Leben grundlegend verändert. Sie hatte beinahe das Morgengebet verschlafen, schlüpfte im letzten Moment in die Kirche und kniete sich unauffällig zu ihren Mitschülerinnen in die Bank. Im Chor saßen sich die Schwestern wie immer in je zwei Reihen gegenüber und sangen mit hellen Stimmen die für die Laudes festgelegten Psalmen und Gebete. Eigentlich mochte sie die Gebetsstunden in der Klosterkirche, doch an diesem Tag fiel es ihr schwer, sich zu konzentrieren. Sie betrachtete die Nonnen in ihrem schwarzen Habit, bemerkte die Blicke, die hin und her gingen, ein Umblättern der Seiten, wo keines nötig war, einen Griff an die Haube, um eine unsichtbare Haarsträhne zu verstecken. Außerdem war es viel lauter als sonst. Vor dem Eingangsportal der Kirche herrschte ein regelrechter Aufruhr. Stimmen riefen durcheinander, man hörte die Hufe von Reitpferden, Poltern und Geschrei.

Plötzlich öffnete sich mit einem metallischen Scheppern die Seitentür am hinteren Ende des Kirchenschiffs. Über die Schulter hinweg sah Barbe, dass Schwester Bernadette hereingekommen war und auf die in der Bank knienden Mädchen zusteuerte. Rasch blickte sie wieder auf ihre gefalteten Hände. Kurz darauf blieb die Schwester Pförtnerin direkt neben ihr stehen und beugte sich zu ihr hinunter. Eine jähe Hoffnung machte sich in ihr breit. Vielleicht stand ja ihr Vater draußen vor der Tür, um sie abzuholen.

«Kommen Sie mit», sagte Schwester Bernadette.

Mit raschen Schritten ging die Nonne voraus, führte sie durch den hinteren Ausgang auf den inzwischen hell in der Morgensonne liegenden Hof und von dort hinüber ins Pförtnerhaus, dessen einziges Fenster so winzig war, dass sie im Dämmerlicht fast nichts sah und es einen Moment dauerte, bis sie die Frau bemerkte, die in einer Ecke stand. Nach einem weiteren Blinzeln erkannte sie Adèle Dubois. Trotz ihrer Enttäuschung, dass nicht ihr Vater gekommen war, um sie abzuholen, war sie so froh, ein vertrautes Gesicht aus ihrem familiären Umkreis zu sehen, dass sie sich in ihre Arme warf.

«Ist mein Papa zurück?», fragte Barbe und sah zu ihr auf.

«Ich habe einen Brief von Ihrem Herrn Vater dabei, den ich der ehrwürdigen Schwester gegeben habe. Er denkt fest an Sie und lässt Sie grüßen.»

«Aber ist er auch hier?», fragte Barbe. Die Miene der Schneiderin verdüsterte sich.

«Nein, Mademoiselle, er ist noch nicht zurück. Aber er hat mich geschickt, Sie zu holen.»

Wieder drangen von draußen Geräusche herein. Die Klosterpforte lag in einer Nebenstraße, trotzdem hörte man auch hier den Lärm der Stadt.

«Wir müssen uns beeilen. Hier, Mademoiselle, bitte ziehen Sie das an.»

Überrascht betrachtete Barbe das Kleidungsstück, das ihr die Schneiderin hinhielt. Es war ein formloser Bauernkittel, man konnte sehen, wie kratzig er sich auf der Haut anfühlen musste. Auch Adèle war viel einfacher gekleidet als sonst. Sie sah aus wie eine Marktfrau, trug ein Dreieckstuch aus grobem Stoff und eine billige Schürze.

«Warum verkleiden wir uns?»

«Ihre Fragen beantworte ich später, Mademoiselle.»

Adèle Dubois streckte ihr immer noch die Kleider entgegen, in der anderen Hand hielt sie ein paar Holzpantinen. Barbe war nicht überzeugt.

«Mademoiselle Ponsardin, tun Sie, was die Veuve Dubois sagt und ziehen Sie sich die Kleider an. Ihre Sachen werden Ihnen nachgeschickt», mischte sich nun auch Schwester Bernadette ein.

Wenige Minuten später trat Barbe an der Hand der Witwe Dubois auf die Gasse hinaus und hörte, wie hinter ihnen die Klosterpforte zweimal abgeschlossen wurde. Sie sahen die Gasse hinauf und hinunter. Entlang der langen, von Efeu und wildem Wein bedeckten Klostermauer war kein Mensch zu sehen.

«Gut», sagte die Witwe erleichtert, «kommen Sie.»

Sie zog das Mädchen hinter sich her, bis sie auf die Straße hinaustraten, wo sie fast von ein paar Männern umgerannt worden wären, die in Richtung der Kathedrale unterwegs waren. Sie trugen Dreschflegel und Mistgabeln bei sich, emporgereckt wie Waffen. Dann stürmten weitere Männer um die Ecke und stimmten ein lautes Geschrei an, immer mehr strömten auf die Straße. Barbe sah die Klingen von Sensen, Äxten und Beilen in der Sonne blitzen, und alle trugen sie dieselben roten Kopfbedeckungen.

Barbe zitterte vor Angst.

Je näher sie dem Zentrum kamen, desto mehr Menschen waren auf der Straße. Nicht weit von ihnen entfernt begann jemand im Takt des Marschierens eine Trommel zu schlagen.

«Was ist los, wo wollen die alle hin?», fragte sie die Witwe.

«Zum Bischofspalast», antwortete Adèle Dubois.

Der Zorn der Menschen erschütterte Barbe. Also war es wirklich wahr! Es gab einen Aufstand, und zwar nicht nur in Paris, sondern auch hier in Reims! Sie wollte jetzt nur noch nach Hause in die Rue Cérès. Doch als sie an die Stelle kamen, wo sie hätten abbiegen müssen, zog die Witwe sie in eine Nebenstraße, die in die entgegengesetzte Richtung führte.

«Halt, hier geht es lang», japste Barbe.

«Nein, wir gehen zu mir», sagte die Schneiderin knapp. Das war zu viel. Barbe begann zu weinen und sich zu wehren. Ohne lange zu überlegen, nahm die Witwe sie auf den Arm. Barbe war klein für ihr Alter, stellte aber für die zierliche Frau ein ordentliches Gewicht dar, zumal sie zappelte und zeterte.

«Halten Sie endlich still», zischte die Witwe und packte sie so fest, dass es weh tat, und Barbe, die die sanfte Frau nie wütend erlebt hatte, erschlaffte in ihrem Armen und …

Kapitel 3

«Guten Morgen, Madame Clicquot!»

Barbe öffnete die Augen. An ihrem Bett saß Adèle Dubois. «Guten Morgen? Ist denn schon Morgen?», fragte sie mit schwacher Stimme. Sie war verwirrt und musste sich anstrengen, ihren von Kindheitserinnerungen durchzogenen Traum abzuschütteln.

«Aber ja. Sie haben vierzehn Stunden durchgeschlafen. Und seit gestern haben Sie kein Fieber mehr. Was mich sehr freut.»

«Wie schön, dass Sie gekommen sind, Adèle», antwortete Barbe immer noch benommen. Ihre Stimme war das Sprechen nicht mehr gewohnt, klang kratzig und fremd. Sie räusperte sich und versuchte, sich aufzurichten, kam jedoch kaum hoch. Die Witwe half ihr, indem sie ihr die Kissen zurechtrückte, und gab ihr einen Schluck Tee zu trinken. «Meine Mutter hat Sie also hereingelassen.»

«Ich kann sehr überzeugend sein, wenn ich will», antwortete Adèle lächelnd. Barbe tastete nach ihrer Hand. «Aber einfach war es nicht.»

«Ich muss mich für meine Mutter entschuldigen. Sie meint es nicht so, sie ist nur …»

«Sie brauchen mir nichts zu erklären, Madame. Es bedeutet nichts. Übrigens habe ich den Auftrag, Sie zu füttern», fügte sie zwinkernd hinzu und deutete auf eine Schale mit duftender Brühe, die auf dem Nachttisch stand.

«Einen Moment noch, Adèle», sagte Barbe. «Ich habe Sie rufen lassen, um mich bei Ihnen zu bedanken. Ich war nicht recht bei mir seit jener Nacht …» Ihr versagte die Stimme, als das Bild von François, leblos an seinem Schreibtisch, ungebeten in ihrer Vorstellung auftauchte. Tapfer schob sie es beiseite und fuhr fort: «Doch eines weiß ich: Ohne Sie hätte ich es niemals geschafft. Das werde ich Ihnen niemals vergessen.»

«Das war doch selbstverständlich», sagte Adèle ruhig.

«Sie sind ein guter Mensch, Adèle. Sie haben mich nun schon zum zweiten Mal aus großer Not gerettet.»

Adèle schüttelte den Kopf. «Reden Sie nicht davon. Das ist lange her. Und es belastet Sie nur.»

Doch Barbe ließ sich nicht beirren. «Ich habe eben von diesem Tag geträumt. Nur zwei Stunden nachdem Sie mich damals geholt hatten, wurde das Kloster gestürmt. Adèle, wer weiß, was passiert wäre, wenn Sie mich nicht vorher rausgeholt hätten.»

«Nun …», die Witwe griff nach der Schale mit Brühe. «Alles ist gut gegangen. Und jetzt sollten Sie essen.»

«Wenn es sein muss», sagte Barbe mit einem Blick auf die Schale. «Ich habe zwar keinen Appetit, aber geben Sie mir etwas von dieser Suppe. Wie lange war ich eigentlich krank?»

«Drei Wochen.»

«Drei Wochen?», Barbe erschrak. «Welchen Tag haben wir heute?»

«Den ersten Advent. Ihre Eltern sind in der Kirche, um für Sie zu beten.»

«Oh mein Gott.» Barbe schob den Löffel weg, den ihr die Witwe hinhielt. «Was ist mit Mentine? Wie geht es ihr? Sie muss immer noch furchtbar verstört sein! Und die Firma? Wer kümmert sich um die Firma? Wir erwarten Lieferungen. Der Kellermeister braucht seine Instruktionen, und die Arbeiter müssen bezahlt werden. Ich muss sofort nach Hause und nach dem Rechten sehen!»

Adèle legte ihr beruhigend die Hand auf den Arm. «Mentine ist bei Ihrer Schwester. Es geht ihr gut. Sie wissen, wie Kinder sind – wenn sie Spielkameraden und ein wenig Abwechslung haben, lassen sie sich leicht ablenken. Und bitte vergessen Sie den Weinhandel, Barbe. Sie müssen erst zu Kräften kommen.»

«Das Geschäft vergessen? Aber das kann ich nicht! Was ist mit Louis Bohne. Gibt es Neuigkeiten von Louis?»

«Ihr Vater hat mir erzählt, er sei auf dem Weg hierher. Er wird jedoch frühestens Mitte Dezember erwartet», sagte Adèle, seufzte und stellte die Schale wieder weg. «Also gut, wenn Sie unbedingt darüber reden wollen.»

«Das will ich. Das muss ich. Sagen Sie es mir, Adèle. In meinem Kopf geht es drunter und drüber. Wem gehört die Firma François Clicquot jetzt?»

Adèle Dubois sah ihrer Freundin ernst in die Augen. «Sie gehört Ihnen, Barbe, denn Sie sind Monsieur Clicquots Witwe und somit geschäftsfähig. Vor dem Gesetz haben Sie einen Anspruch darauf.»

«Also ist es wirklich wahr», sagte Barbe langsam, während Gedanken auf sie einströmten. Ihr Mann war tot und der Weinhandel war sein Erbe. «Doch das ist nicht die ganze Wahrheit. Genau genommen gehört die Firma mir und meinem Schwiegervater. Ich habe daran gedacht, in den Tagen nach François’ Tod habe ich mir darüber Gedanken gemacht. Aber ich hatte so viel Angst, und bevor ich noch etwas tun oder entscheiden konnte, bin ich krank geworden. Niemand hat darüber etwas zu mir gesagt. Mein Vater nicht, mein Schwiegervater nicht und auch nicht mein Bruder.»

«Es war noch nicht der rechte Zeitpunkt dafür gekommen.»

«Nein, das ist es nicht allein. Ich habe die Befürchtung, dass sie es nicht befürworten werden, dass ich den Handel weiterführe, weil ich eine Frau bin. Sie denken das doch auch, Adèle. Sie denken auch, dass meine Familie versuchen wird, es zu verhindern. Ich sehe es Ihrem Gesicht an.»

Adèle schüttelte den Kopf. «Bei Ihrem Vater wäre ich mir nicht so sicher. Seitdem ich ihn kenne, war er immer für Überraschungen gut», sie zögerte, bevor sie weitersprach, «was jedoch Ihren Schwiegervater Philippe Clicquot betrifft, gebe ich Ihnen recht, wenn auch aus anderen Gründen. Auf dem Markt habe ich darüber reden hören. Er ist der Überzeugung, der Wein habe seinem Sohn Unglück gebracht. Es wäre durchaus möglich, dass er damit nichts mehr zu tun haben will.»

«Aber das ist völlig falsch gedacht. François hat den Wein geliebt! Genau darum geht es. Allein schon seinem Andenken zuliebe muss ich die Firma behalten.»

«Vergessen Sie nicht: Die Welt hält nicht viel Gutes für Frauen bereit, die ihr eigenes Geld verdienen wollen.»

Barbe griff nach ihrem Arm und sah der älteren Frau ins Gesicht. Sie fühlte sich im Stich gelassen. «Sie raten mir ab? Ausgerechnet Sie?»

«Ja, ausgerechnet ich. Eben weil Sie mir teuer sind, kann ich Ihnen nicht guten Gewissens zuraten. Sie hätten es viel leichter, wenn Sie die Firma aufgäben.»

«Aber vielleicht will ich es nicht leicht haben. Ich glaube, dass ich es könnte. Im Kontor meines Vaters habe ich viel gelernt. Vom Wein verstehe ich mindestens genauso viel, wie François es tat. Er wusste das, er hat mir vertraut», fügte sie mit leiserer Stimme hinzu. «Und ich kann ihn nicht enttäuschen.»

«Ich verstehe Sie, Barbe, ich glaube Ihnen jedes einzelne Wort, und ich wünsche Ihnen von Herzen, dass Sie es schaffen. Aber Sie werden kämpfen müssen. Man wird Ihnen alle erdenklichen Steine in den Weg legen. Ist es das wirklich wert? Sie könnten wieder heiraten, ein leichtes Leben haben.»

«Ist das so erstrebenswert? Ein leichtes Leben?»

«Für die meisten Menschen ist es das Einzige, was zählt.»

«Sie meinen, für die meisten Frauen», sagte Barbe. «Männer geben sich selten damit zufrieden. Sie haben es doch auch geschafft, Adèle, und Sie hatten es ebenfalls nicht leicht.»

«Ebendarum sage ich es ja», sagte die Schneiderin, und an ihrem eindringlichen Tonfall war zu hören, wie ernst es ihr damit war. «Ich weiß, wovon ich spreche. Sie sind jung, Sie sind reich. Sie finden einen anderen Mann, der Sie liebt.»

«Aber werde ich einen anderen Mann lieben können wie François? Er war etwas Besonderes, und wir haben beide zusammen all unsere Kraft in den Weinhandel gesteckt. Er hat verstanden, wie wichtig es mir war. Er wusste, woran mein Herz hängt.»

«Woran hängt Ihr Herz, Barbe?»

Barbe blickte zum Fenster, wo das Morgenlicht in den weißen Musselinvorhängen spielte und wo gestern noch ihre Eltern gestanden und sich gestritten hatten.

«Ich habe Ideen, ich habe Pläne, daran hängt mein Herz. Ich will Dinge verändern und besser machen. Ich will den besten Schaumwein der Champagne herstellen. Und noch etwas», Barbe wandte den Kopf und sah der älteren Freundin ins Gesicht, «ich will, dass mein Vater stolz auf mich ist. Genauso stolz, wie er auf Sie ist.»

«Auf mich? Warum sagen Sie das?»

«Weil es so ist, Adèle. Er ist stolz auf das, was Sie geschafft haben. Er mag konservativ sein und Royalist – ich weiß, mit Ihnen darf ich offen sprechen – und natürlich ist er Katholik durch und durch. Die Ehe ist meinem Vater heilig. Doch er ist auch ein sehr offener Mann. Er ist liebevoll und zärtlich. In seinem Herzen ist Platz für viele Menschen.»

«Oh», sagte Adèle, ihre Wangen erröteten, und mit einem Mal, zum ersten Mal überhaupt, wie es Barbe schien, wirkte sie verlegen. Barbe betrachtete sie. Adèle Dubois war eine schöne Frau, besaß einen hellen Teint, dunkelbraunes, kaum ergrautes Haar, rote Lippen und ein gewinnendes Lächeln, und die schwarze Witwenkleidung, die sie in all den Jahren niemals abgelegt hatte, stand ihr vortrefflich. Trotzdem hatte Barbe sie noch nie so schön gesehen wie jetzt, und für einen Moment sah sie sie mit den Augen eines Mannes. Es war offensichtlich: Adèle war auch mit über fünfzig noch immer eine begehrenswerte Frau.

«Ich würde mich wohler fühlen, wenn ich Sie auf meiner Seite wüsste, Adèle.»

«Ich bin immer auf Ihrer Seite, Barbe, das wissen Sie. Egal wie Sie sich entscheiden.»

«Das hatte ich gehofft.» Sie drückte Adèles Hand. «Wenn ich mit Ihrer Unterstützung rechnen kann, werde ich mich meinem Kampf stellen.» Sie blickte an sich herab. «Allerdings nicht im Nachthemd. Ich werde neue Kleider brauchen. Schwarze Kleider.»

Adèle blickte sie ernst an, doch dann stahl sich ein kleines Lächeln auf ihre Lippen, erfasste ihre Augen und schließlich ihr ganzes Gesicht.

«Da haben Sie recht», sagte sie und griff nach der Suppenschale. «Sobald es Ihnen besser geht, nehmen wir Maß.»

Kapitel 4

Barbe brauchte noch mehrere Tage, bis sie so weit wiederhergestellt war, dass sie das Bett wenigstens ab und zu verlassen konnte. Die Sorgen um die Firma ließen ihr keine Ruhe, noch größeren Kummer bereitete ihr jedoch, dass ihre Tochter Mentine, die seit dem Tod von François nach wie vor bei ihrer Schwester wohnte, sie nicht allzu sehr zu vermissen schien. Sie kam sie zwar in Begleitung von Clémentine besuchen und erzählte mit ihrem hellen Kinderstimmchen von ihren Erlebnissen im Haus ihrer Tante, aber es wurde ihr schnell langweilig, am Bett ihrer Mutter zu sitzen.

«Was habe ich falsch gemacht?», fragte Barbe ihre Schwester. «Hat sie mich denn völlig vergessen?»

«Was redest du denn da? Mentine ist noch so klein. Es ist verständlich, dass sie die Abwechslung und den Trubel genießt, der bei uns zu Hause herrscht. Und sie ist ganz vernarrt in das Baby. Sei froh darüber, dass sie sich so schnell erholt hat, denn als du so krank warst, war sie sehr betrübt.»

«Wirklich?» Barbe seufzte, sie war nicht überzeugt. «Ihren Vater scheint sie kaum zu vermissen. Ist das nicht merkwürdig? Sie hat nicht einmal nach ihm gefragt.» Von sich aus sprach sie mit Mentine allerdings auch nie über François. Alle in ihrer Familie hatten ihr davon abgeraten, ihn gegenüber der Kleinen zu erwähnen. Barbe war hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, Mentine nicht zu verstören, und dem Bedürfnis, das Andenken an ihren Vater zu bewahren.

«Das ist ganz natürlich», beruhigte Clémentine sie. «Die Bindung zum Vater ist bei Töchtern nicht so eng und du darfst nicht vergessen, dass François immer viel auf Reisen war.»

«Du hast ja recht. Trotzdem ist es schwer.»

«Nimm es dir nicht so zu Herzen und sieh es lieber positiv. Mentine hat eben von Natur aus ein unbeschwertes Naturell.»

Barbe sah ihre Schwester dankbar an. Die heitere Ruhe, die diese ausstrahlte, wirkte wohltuend auf sie. Clémentine war einundzwanzig und seit vier Jahren verheiratet. Ihr Mann, der Oberpostdirektor Jean-Nicholas Barrachin, hatte einen Sohn mit in die Ehe gebracht, den inzwischen achtjährigen Augustin, dessen Erziehung sie ebenso selbstverständlich übernommen hatte wie die Führung des Haushalts. Mittlerweile war sie selbst Mutter geworden. Das Baby, Marcel, war wenige Monate alt. Auch wenn Barbe sich deswegen ein wenig gekränkt fühlte, musste sie zugeben, dass sich das Heim ihrer Schwester ganz offensichtlich positiv auf Mentines Gemüt auswirkte. Unter Kindern zu sein tat ihrer Tochter offenbar wohl.

«Ich beneide dich, kleine Schwester, weißt du das? Dir scheint alles so leichtzufallen. Aber ich habe Angst, dass Mentine mir entgleitet. Natürlich kann ich ihre Zuneigung nicht erzwingen. Wer wüsste das besser als ich? Anders als du habe ich Maman nie etwas recht machen können.»

Clémentine lachte. «Ach was. Deine Krankheit schlägt dir aufs Gemüt. Du machst dir zu viele Gedanken, Schwesterherz. Mentine liebt dich! Maman übrigens auch. Jetzt werde erst einmal wieder gesund, und wenn du nicht mehr aussiehst wie ein Schatten deiner selbst, ergibt sich alles andere wie von selbst.»

Tatsächlich hatte Barbe sich äußerlich sehr verändert und erkannte ihr eigenes Spiegelbild kaum wieder. Sie hatte abgenommen, ihr Gesicht wirkte viel spitzer als sonst, und ihre großen grauen Augen leuchteten dunkel daraus hervor. Im Grunde näherte sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben dem Idealbild einer Dame an, die nach den Vorstellungen der feinen Gesellschaft ätherisch und zerbrechlich zu sein hatte. Doch ätherisch und zerbrechlich zu sein entsprach so gar nicht ihren eigenen Vorstellungen, und das ganze Gerede davon, dass sie sich schonen müsse, ärgerte sie von Tag zu Tag mehr. Doch weil es schlicht den Tatsachen entsprach und sie es kaum aus eigener Kraft bis in den Wintergarten schaffte, nur um in eine Decke gehüllt ein wenig in der Sonne zu sitzen, akzeptierte sie, dass so viel Aufhebens um sie gemacht wurde. Um schneller wieder auf die Beine zu kommen, begann sie wieder zu essen, Suppe, Obst, Kuchen, und während ihre Mutter vorher der Meinung gewesen war, sie esse zu wenig, war es nun zu viel, das belaste ihren Magen zu sehr. Wenn ihr Vater zu Besuch kam, bat sie ihn, wegen diesem und jenem in der Firma nach dem Rechten zu sehen. Doch er behauptete, ihr Schwiegervater habe alles im Griff, und vertröstete sie auf die Zeit nach ihrer Genesung. Und eines Morgens überraschte er sie unvermittelt mit einem Vorschlag:

«Deine Mutter und ich sind der Meinung, dass du Anfang des Jahres für zwei oder drei Monate in den Süden reisen solltest, um zu Kräften zu kommen. Was hältst du von Sizilien?»

Mit offenem Mund sah Barbe ihren Vater an, der sofort merkte, dass er etwas Falsches gesagt hatte, und verlegen seine Fingernägel betrachtete. Es war offensichtlich, dass dies eine Idee ihrer Mutter war, die ihren Vater zum Überbringer der Botschaft auserkoren hatte. Wie konnte er ihr nur so in den Rücken fallen?

«Zwei Monate verreisen? Euch beiden ist wirklich jedes Mittel recht, um mich von meiner Firma fernzuhalten, nicht wahr?», sagte sie kühl.

«Aber Kind, wo denkst du hin. Deine Mutter und ich möchten nur, dass du wieder ganz gesund wirst.»

«Wenn Maman wünscht, dass ich nach Sizilien reise, soll sie es mir selber sagen, denn du, Papa, weißt doch im Grunde ganz genau, wie absurd das ist. Ich sitze schon viel zu lange untätig hier fest!»

Er schüttelte den Kopf. «Deine Mutter kann sich eben nicht vorstellen, dass du einer Firma vorstehen willst.»

«Das weiß ich wohl. Aber was ist mit dir, Papa?» Sie griff nach seiner Hand und zwang ihn dazu, ihr in die Augen zu sehen. Ihr Vater war schon immer der nachsichtigere der beiden Elternteile gewesen. «Sei ehrlich und rede endlich mit mir. Was hat mein Schwiegervater vor?»

Er zuckte mit den Schultern. «Ich weiß es nicht», gab er zu. «Philippe ist sehr verschlossen, man kommt kaum an ihn heran. Ganz gewiss hat er einiges unternommen, was nicht aufzuschieben war – soweit ich weiß, hat er alle Lieferanten und bis Ende des Jahres auch die Arbeiter bezahlt. Doch wie seine Pläne für die Zukunft aussehen, hat er mir nicht verraten.»

«Aber wie kann das sein, ihr seid doch alte Freunde», rief Barbe aus. «Und ich bin immer noch seine Schwiegertochter, warum kommt er nicht her, um mich zu sehen?» Es war ihr unbegreiflich.

«Der Tod seines Sohnes hat ihn sehr mitgenommen. Er meidet jegliche Gesellschaft und geht allen und jedem aus dem Weg, der ihn daran erinnern könnte. Auch mir. Er ist nicht mehr er selbst.» Ihr Vater sah betrübt aus, und sie fühlte, dass er aufrichtig zu ihr war und dass sein Widerstand bröckelte.

Sie drückte seine Hand. «Kann ich auf dich zählen?», vergewisserte sie sich mit sanfter und eindringlicher Stimme. «Wirst du mich dabei unterstützen, die Firma weiterzuführen?»

«Aber ist es denn wirklich das, was du willst?»

«Es ist genau das, was ich will, sonst würde ich dich nicht darum bitten.»

«Ich bin froh, dass es dir wieder …», begann er, unterbrach sich aber, schluckte, und seine Augen glänzten verdächtig. Als er weitersprach, klang seine Stimme heiser. «Du weißt ja nicht, was für Sorgen wir uns gemacht haben. Was für Sorgen ich mir gemacht habe.»

Barbe war gerührt, aber sie durfte jetzt nicht klein beigeben. «Wirst du mir helfen?», fragte sie noch einmal.

«Ich werde tun, was ich kann. Aber du wirst Philippe letztendlich selbst von deinen Absichten überzeugen müssen, denn ihn auszuzahlen wirst du dir nicht leisten können.»

Es war nicht die Antwort, die Barbe erhofft hatte. Aber was hatte sie geglaubt? Dass er ihr das Geld gab, das sie brauchte, um unabhängig von ihrem Schwiegervater zu sein, konnte sie nicht von ihm verlangen. Trotzdem hätte er es ihr anbieten können. Es wäre der Beweis dafür, dass er wirklich hinter ihr stünde. Doch so war es klar, dass ihr Vater nicht wirklich wünschte, dass sie diesen Weg ging. Von dieser Erkenntnis ernüchtert, drückte sie noch einmal seine Hand.

«Nein, das werde ich mir nicht leisten können. Trotzdem – ich danke dir Papa.»

 

Sechs Wochen nach jener Nacht, in der sie ihren Mann tot aufgefunden gefunden hatte, kehrte Barbe in ihr Haus in der Rue de l’Hôpital zurück. Sie hatte den Moment herbeigesehnt und sich gleichzeitig davor gefürchtet, denn die Fürsorge ihrer Eltern, sosehr sie sich auch dagegen gewehrt hatte, war doch etwas gewesen, woran sie sich festhalten konnte. Die großen leeren und stillen Räume ihres eigenen Heims hingegen bargen so viele traurige Erinnerungen, denen sie sich nun stellen musste.

Es fühlte sich merkwürdig an, wieder zu Hause zu sein. Clémentine und ihre Mutter hatten offensichtlich vorgesorgt, denn ihre Dienstboten hatten die Böden geschrubbt und Brot gebacken, Wäsche gewaschen, Feuer in den Kaminen gemacht und in den Zimmern die Betten frisch bezogen. Es kam ihr vor, als wollten sie darüber hinwegtäuschen, dass es nun weniger Menschen zu versorgen galt. Barbe hörte sich den Bericht ihrer Zofe Céline an, die bereitwillig die Rolle der Haushälterin übernommen hatte, nahm die Klagen der Köchin entgegen, während sie mit Bedauern, aber auch Entschlossenheit darüber nachdachte, wen sie würde entlassen müssen. Die Kinderfrau sollte bleiben. Sie hatte sich zwar entschieden, Mentine noch ein paar Wochen bei ihrer Schwester zu lassen, so lange, bis sie die wichtigsten Dinge geregelt hatte, doch dann sollte sie wieder bei ihr einziehen. Ein zärtliches Gefühl breitete sich in ihr aus, als sie an ihre Tochter dachte. Clémentine hatte recht damit behalten, dass Mentine im selben Maße, in dem es ihr besser ging, auch ihre ungewohnte Zurückhaltung wieder verlor. Sie hängte sich wie früher an sie und überschüttete sie mit Küssen. Doch es wäre egoistisch von ihr gewesen, wenn sie darauf bestanden hätte, sie jetzt zu sich zu nehmen, wo sie doch ohnehin so wenig Zeit für sie würde erübrigen können. Wenn sie den Weinhandel retten wollte, brauchte sie all ihre Kraft, wie Adèle es prophezeit hatte.