Magic Kids - Der einzige Weg - Lisa Thyssen - E-Book

Magic Kids - Der einzige Weg E-Book

Lisa Thyssen

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Beschreibung

Seridula. Endlich ein Zuhause für die müden und gequälten Kinder. Aber sind sie da auch wirklich sicher? Oder wird die Zerstörungswut der Monster wieder alles ruinieren? Selbst in Seridula sind nicht alle Schmerzen vorbei und vergessen. Längst nicht. Nicht für alle. Währenddessen gräbt Silugana in ihrer Vergangenheit und kommt einer ganz und gar nicht harmlosen Sache auf die Spur. Und das Leben der Zwillinge hängt am seidenen Faden. Was hat das Schicksal mit ihnen vor? Werden sie ihre gefährliche Mission überleben? Doch dem grossen Problem ist noch nicht Einhalt geboten: Die Monster terrorisieren nach wie vor Atilendia. Wer schafft diese Bedrohung endlich aus der Welt? Es gibt viel zu tun für die Kinder, Silugana und Liumana. Zu viel. Werden es alle überleben?

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 592

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Inhaltsverzeichnis

Helenas Tochter

Seridula

Die Warnung des Löwen

Eine tödliche Verletzung

Sport

Mulirias Geheimnis

Die verfluchte Wunde

Das Virus

Siluganas Familie

Rillanda

Felixchen

Die Party

Das Süssigkeitenquiz

Das Magiemonster

Die Nachwirkungen

Das Ende des Friedens

Die Familie Alfaria

Trainingstag

Olivias Plan

Zeit unter Freundinnen

Tröstliche Erinnerungen

Der geheimnisvolle Anhänger

Die Kinder

Solfurs Diener

Der süsseste Junge der Welt

Nein!

Besessen

Kiluma Hexavalla

Die Zutaten

Säbelbeeren

Der Trank der Rache

Leben oder Tod

Liw zizeme Wesrallan Valos savelya

Mondwasser

Das Ende der Monster

Der letzte Kampf?

Epilog

Anhang (Dank, Portrait der Autorin)

Helenas Tochter

Zitternd hob Tim seine Tochter auf. Er nahm sie auf den linken Arm und griff mit der rechten Hand nach dem Messer. Das Mädchen sah zu ihm herauf. Sie schien zu spüren, dass etwas nicht in Ordnung war, denn sie begann zu schreien. Tim schaukelte sie in seinen Armen und versuchte, sie zu beruhigen. Ich muss stark sein. Zumindest heute. Das Kind in Sicherheit bringen. Das bin ich Helena schuldig, dachte er. Helena. Mit einem verzweifelten Schluchzen sank er auf das Bett. «Oh, Helena!», schluchzte er. «Meine liebste, wunderschöne Helena! Wieso? Wieso sie? Helena, wieso hast du mich verlassen? Warum?», schrie er verzweifelt. Jetzt erst bemerkte er, dass das Baby noch lauter schrie. Ich muss das schaffen, dachte er. Helena zuliebe. Er erhob sich und schaffte es, sich und das Kind zu beruhigen. Er machte sich auf den Weg – um seine letzte Reise abzuschliessen.

Im Auto dachte er noch einmal über sein Vorhaben nach. Sollte ich nicht besser doch… aber er wusste, dass er das nicht sollte. Dass er es nicht konnte. Und, dass sein Kind nie glücklich wäre. Sie braucht zwei liebende Eltern, nicht einen Vater, der der Vergangenheit nachtrauert. Sie braucht es ja nicht zu wissen. Ich hoffe nur, sie entfaltet keine magischen Fähigkeiten. Er schaute nach hinten, betrachtete ihre blauen Augen. Dieselben Augen wie Helena.

Er war dem Mädchen nicht böse. Sie konnte nichts dafür. Helena hatte es gewusst. «Sie wird eine der Grössten unserer Familien werden», hatte sie gesagt. Dann waren ihre Augen traurig geworden: «Aber du wirst sie allein aufziehen müssen. Ich werde ihre Geburt nicht überleben.» Tim hatte es nicht glauben wollen, bis es dann tatsächlich geschah. Aber er wusste, dass er ihre Tochter nicht allein aufziehen konnte. Ich bin so froh, dass sie sich bereit erklärt haben, sie aufzuziehen.

Er sah sie schon von weitem. Schnell parkierte er sein Auto und stieg mit dem Baby auf dem Arm aus. «Bist du dir sicher?», fragte sein Cousin Dario anstelle einer Begrüssung. Sein Gesichtsausdruck war besorgt. Tim nickte. «Es gibt keinen anderen Weg für mich.» Andrea, Darios Frau, legte ihm eine Hand auf den Arm. «Es gibt immer einen anderen Weg. Wieso das Kind alleine zurücklassen?» – «Wäre es dann besser, sie aufzuziehen, während ich ihrer Mutter nachtrauere? Ich möchte, dass sie in einem glücklichen Umfeld aufwächst. Sie muss ja nicht wissen, dass ihr nicht ihre leiblichen Eltern seid.» Andrea sah ihn entsetzt an, aber ihr Mann legte ihr eine Hand auf den Arm und drückte ihn. «Ich denke, das wäre das Beste für das Mädchen – und für unsere Beziehung zu ihr.» – «Okay… aber ich denke immer noch…» – «Es gibt keinen anderen Weg für mich», unterbrach Tim. «Helena war mein Ein und Alles. Ausserdem…» Soll ich ihnen von der Prophezeiung erzählen? Er musterte das Paar, das vor ihm stand. Nein, entschied er. Er wollte sie nicht beunruhigen.

«Ausserdem was?», hakte Dario nach. – «Nichts. Es ist nichts.» Er händigte Dario das Mädchen aus. Der nahm sie entgegen und lächelte. «Sie ist wirklich niedlich.» Er sah seinen Cousin an. «Möchtest du bei uns bleiben? Nur für diese Nacht. Du siehst sehr müde aus.» Tim wollte verneinen, aber Dario hatte Recht, er war so müde… «Okay. Wenn es euch keine Umstände macht. Aber nur für diese eine Nacht.» – «Gut. Komm rein. Es gibt sowieso gleich Abendessen.»

Am nächsten Tag machte sich Tim bereit, aufzubrechen. Er frühstückte noch mit Dario und Andrea, dann erklärte er, dass er nun ginge. «Wo gehst du hin?», fragte Andrea. – «Werden wir dich je wiedersehen?», wollte Dario wissen. – «Nein», antwortete Tim ihm. An Andrea gewandt erklärte er: «Ich kann euch nicht sagen, wo ich hingehe. Das braucht euch auch nicht zu interessieren. Ich werde weder euch noch das Mädchen je wiedersehen. Danke noch einmal, dass ihr sie aufzieht. Dafür stehe ich auf ewig in eurer Schuld.»

Darios Augen waren traurig, als er sagte: «Na, dann ist das wohl der Abschied. Mach’s gut, Cousin. Vielleicht überlegst du es dir doch noch anders. Wir werden hier bleiben, denke ich.» Er warf seiner Frau einen fragenden Blick zu. Sie nickte. «Ich denke schon.» – «Ich denke kaum, dass ich mich noch umentscheiden werde.» Dafür werde ich auch bald keine Gelegenheit mehr haben. «Macht’s gut. Und noch einmal tausend Dank, dass ihr diese Verantwortung übernehmt, die ich nicht tragen kann.» Ein letztes Mal nahm Tim seine Tochter in den Arm und sagte ihr Lebewohl.

Er stieg ins Auto und gab Gas. Schnell entfernte er sich von seinem Cousin, dessen Frau… und seiner Tochter. Ich muss weg hier. Ich halte das nicht mehr länger aus. Ich muss weg. Es beenden. Helena. Oh, Helena. Er fuhr zu schnell. Aber das war ihm egal. Und wenn er noch so oft geblitzt wurde. Er wollte nur noch weg. In die Wildnis. Nur weg von allen Menschen.

Tim dachte über Helena nach. Als er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Vor zehn Jahren, am 10 Oktober 4337. Sie war erst 17 gewesen, Tim 18. Beide so jung. Jung und glücklich. Nicht wissend, was für schreckliches Unheil auf sie zukommen würde. Tim legte den Kopf in den Nacken und schrie. Ein schriller Schrei der Verzweiflung und Trauer. Er dachte an Helenas Tod. Die Geburt des Mädchens. Er hatte Helenas Hand gehalten, bis zum Ende. Ihr erzählt, dass alles gut werde, dass sie nicht sterben werde. Und dann war sie gestorben. Und Tims Leben war in sich zusammengebrochen. Er hatte seine Eltern bei einem Flugzeugabsturz verloren. Seine Grosseltern waren schon lange tot, und andere Verwandte, abgesehen von Dario, dessen Eltern in demselben Flugzeugabsturz wie die von Tim gestorben waren, hatte er nicht. Helena war alles gewesen, was er noch hatte. Die einzige Person auf der Welt, die ihn liebte, die ihn verstand. Und nun war auch sie ihm genommen worden. Tim war allein in der Welt. Allein mit einer Tochter, um die er sich kümmern musste – eine Aufgabe, der er nicht gewachsen war.

Endlich kam er an, an dem Ort, den er sich zum Sterben ausgesucht hatte. Weit weg von jeglicher Zivilisation, in der Wildnis, wo ihn hoffentlich niemand stören würde. Tim packte das Messer aus. Die Klinge war scharf, scharf genug, um sich damit zu töten. Doch als Tim das Messer betrachtete wurde ihm klar, dass er es nicht tun konnte. Er hatte Angst. Klar wollte er sterben, nichts hielt ihn mehr auf dieser Welt, aber er konnte es nicht tun. Nicht mit einem Messer. Und Gift hatte er nicht.

Was mache ich jetzt? Tim wusste weder vor noch zurück. Er stieg aus, um frische Luft zu schnappen. Spazierte etwas herum.

In der Wildnis. Dann bemerkte er, dass er nahe einer Klippe parkiert hatte. Eine Klippe! Meine Rettung! Vielleicht könnte er springen. Tim ging zum Rand der Klippe und schaute hinunter. Es war so hoch. Er trat noch näher und wollte springen, aber es ging nicht. Er konnte es nicht tun. «Was mache ich jetzt?», flüsterte er verzweifelt. Hier war er, in einer menschenverlassenen Gegend, an einer Klippe; es war die perfekte Gelegenheit für einen Selbstmord, aber er konnte es nicht tun. Er wollte Selbstmord begehen, er wollte sein sinnloses Leben beenden, aber er hatte zu viel Angst.

Dann schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf. Das Auto! Vielleicht wenn er Gas gab, auf die Klippe zuraste, würde er es schaffen. Alles, was er tun musste war, das Gaspedal durchzutreten und nicht zu bremsen. Das schaffe ich. Ja, das schaffe ich. Tim stieg in das Auto, wendete es so, dass es auf die Klippe zufuhr und gab Gas.

Unkontrolliert raste das Auto auf die Klippe zu, dann darüber hinaus und auf den Boden zu, Hunderte Meter unter ihm. Tim schrie. Helena, war sein letzter Gedanke, bevor das Auto auf dem Boden aufschlug.

Seridula

«Hey, Oliver, hast du schon mal was von Style gehört?» – «Halt die Fresse, Sophie!», knurrte Olivia. Diese Supertussi regte sie auf. – «Aber hast du schon mal gehört, dass hellblau gerade voll aus der Mode ist, ganz zu schweigen von Einteilern?» – «Hast du etwas Interessantes zum Unterricht beizusteuern, Sophie?», fragte Frau Jelintano. Olivia begann zu grinsen. – «Ich gebe Oliver Fashion-Tipps», antwortete Sophie, als wäre es selbstverständlich, dass sie damit den Unterricht stören durfte. Frau Jelintano schaute sie streng an. «Das kannst du auch in der Pause machen. Und ausserdem heisst sie Olivia.» Sie wandte sich wieder der Wandtafel zu. Sophie lehnte sich wieder vor, um Olivia weitere «Fashion-Tipps» zu geben, da drehte sich Frau Jelintano noch einmal um: «Und wenn du noch einmal mit so etwas Belanglosem den Unterricht störst, Sophie, gibt es Nachsitzen. Das vorhin war schon das elfte Mal.»

Sophie lehnte sich schnell wieder zurück, und Olivia musste sich auf die Lippe beissen, um nicht laut loszuprusten. Yesss! Diese elende Tussi hatte es sowas von verdient. Sie nervte sowas von. Aber sie war nicht die Einzige, die Olivia «Oliver» nannte; die halbe Klasse tat das, weil Olivia sich ständig mit Jungen prügelte, sich rüpelhaft benahm und nun auch noch kurze Haare hatte. Olivia kümmerte das nicht. Sie war ein Mädchen und zufrieden damit, aber sie hatte nichts gegen Jungen und sah es nicht als Beleidigung, wenn sie «Oliver» genannt wurde. Bei Jungen war es eher ein Problem, wenn sie «Mädchen» genannt wurden. Das bedeutete nämlich meistens, dass sie in den Augen derer, die sie «Mädchen» nannten, Schwächlinge waren. Zwar fanden die Jungs nicht, dass Mädchen Schwächlinge waren, aber irgendwie benutzten sie «Mädchen» immer noch als Beleidigungswort für andere Jungen.

Das war Felix’ Problem. Und dann war der wohl nächste Mädchenname an «Felix» auch noch sein Nachname: Felizia. Die meisten Jungen in seiner Klasse nannten ihn «Felizia», vor allem wegen seinem, seinen langen Haaren verschuldeten, mädchenhaften Aussehen, aber auch, weil er sehr ruhig war und auf Sticheleien meistens gar nicht oder sonst gelassen reagierte – das interpretierten die anderen natürlich so, dass er Angst vor einem einfachen Streit hatte. Felix kümmerte das alles nicht. Nico und Olivia und Luna regten sich deswegen auf, aber Felix meinte, die sollen ruhig reden – damit würden sie ihm nicht schaden. Nachdem, was Julia mit ihm angestellt hat, kann man ihn damit nicht mehr ärgern. Nicht zum ersten Mal ballte Olivia die Hände zu Fäusten beim Gedanken an Felix’ schreckliche angebliche Schwester.

Die Schulglocke läutete und riss Olivia aus ihren Gedanken. Alle packten zusammen, und auch Olivia schmiss alles in ihren Schulrucksack. Sie hatte sich mit den Jungs und Nina beim Brunnen verabredet, da sie alle vier denselben Schulweg hatten. Luna und Leslie sahen sie erst zu Hause wieder. Luna war schon in der Oberstufe, Leslie zwar noch in der sechsten Klasse, aber bei einer Monsterattacke war ein Teil des Primarschulhauses beschädigt worden, weshalb die Sechstklässler im Schulgebäude der Oberstufe Unterricht hatten.

Beim Brunnen rangen die Jungs gerade miteinander. Nina stand daneben und schüttelte lächelnd den Kopf. Olivia gesellte sich zu ihr. «Was machen die Jungs für Blödsinn?» Nina grinste. «Nico hat sich gefragt, wie lange Felix’ Haare zum Trocknen brauchen würden und wollte es herausfinden. Felix wollte das verständlicherweise nicht. Ehrlich gesagt bin ich überrascht, dass Nico ihn nicht schon in den Brunnen gekriegt hat. Ich dachte immer, er sei, vor allem vom Schwerttraining jetzt, deutlich stärker als Felix. Ausserdem ist er grösser und schwerer.» – «Also viel grösser ist er jetzt auch nicht», widersprach Olivia. «Wegen sechs Zentimetern… aber du hast Recht, ich dachte auch, Nico wär stärker als Felix…» Sie hörten jemanden schreien und ein Platschen. Grinsend drehten sie sich um. «Na, endli… Nico, was machst du denn im Brunnen?», fragte Nina verdutzt. Nico kletterte aus dem Brunnen und zeigte anklagend auf Felix. «Der Junge ist stärker als er aussieht!» Felix grinste schuldbewusst. «Es war Notwehr. Er wollte mich in den Brunnen schubsen. Tut mir ja leid, aber was soll ich machen?» – «Mich nicht in den Brunnen schmeissen», schlug Nico vor. – «Und wie hätte ich dich dann von deiner blöden Idee abgebracht?» – «Überzeugendes Argument… aber es war eine gute Idee!», protestierte Nico. – «Das kommt ganz auf den Standpunkt an…»

«Du hast dich jetzt nicht ernsthaft von dem Mädchen in den Brunnen werfen lassen, oder Nico?», fragte ein Junge aus der Klasse der Jungs, den Olivia schon mehrere Male gesehen hatte. Er war rücksichtslos, arrogant, selbstverliebt und einfach ein totaler Idiot. – «Nein, Olivia hat mich nicht mal in den Brunnen geworfen. Auch wenn ich es ihr zugetraut hätte», erwiderte Nico. Der andere Junge sah ihn genervt an. «Du weisst, wen ich meine.» Nico starrte ihn an: «Glaubst du im Ernst, dass Nina mich in den Brunnen schmeisst? Du bist noch blöder als ich dachte, Mattia!» Mattia funkelte ihn böse an. «Sag das noch einmal, und du landest nochmal im Brunnen… diesmal härter. Aber du hast meine Frage nicht beantwortet. Du hast dich doch nicht im Ernst von Felizia in den Brunnen werfen lassen, oder?» – «Ach, Felix meinst du? Doch, er hat mich tatsächlich in den Brunnen geschmissen. Ich hab ihn etwas unterschätzt.» – «Ich denke eher, du hast dich überschätzt», meinte Mattia abschätzig. Er drehte sich um und stolzierte davon. Wenn er jetzt ein Mädchen gewesen wäre, hätte er beim Umdrehen noch die Haare nach hinten geworfen und wäre dann mit dem Po wackelnd davonstolziert, dachte sich Olivia grinsend. So einer war Mattia.

«Ich hätte nicht gedacht, dass du so gewalttätig bist, Felizia», spottete ein Junge namens Luka, der auch in derselben Klasse wie die Jungs war. Er war ein rücksichtsloser Arsch, der sich für etwas Besseres hielt. – «Weisst du, Vukavich, du hast keine Ahnung, wozu ich fähig bin», antwortete Felix gelassen, in einer süssen, unschuldigen Stimme. Luka schaute ihn abschätzig an: «Ach ja? Jetzt hab ich aber Angst, Mädchen!» Er drehte sich um und stolzierte Mattia hinterher.

Olivia prustete los. «Vukavich?» Felix zuckte die Schultern. «Ich kann nichts für seinen Nachnamen.» Olivia bekam einen erneuten Lachanfall: «Das ist sein Nachname?» Sie beruhigte sich etwas. «Wieso sprichst du den Idioten bei seinem Nachnamen an?» – «Na, er spricht mich ja auch bei meinem Nachnamen an», antwortete Felix unschuldig. Nico grinste. «Dein Blick: Und was kann ich dafür, dass mein Nachname so viel normaler klingt als seiner?» – «So habe ich das aber nicht gemeint!», protestierte Felix. Olivia sah ihn belustigt an: «Nennst du jetzt im Ernst alle, die dich Felizia nennen, bei ihrem eigenen Nachnamen?» – «Ja», antwortete Nico, «er zieht das eiskalt durch. Und er war vor allem schnell. Er wusste schon all die Nachnamen, bevor ich mir überhaupt die Vornamen alle hatte merken können…» Nina nickte beeindruckt. Olivia wusste, dass sie beeindruckt sein sollte, aber so gut kannte sie Felix schon. «Ach komm, ich weiss, dass Felix überdurchschnittlich intelligent ist, erzähl mir was Neues!», erklärte sie. Felix lief knallrot an, sagte aber nichts. Olivia lachte. «Du kannst nicht mal was sagen, weil du ja selber weisst, dass es stimmt! Aber ganz im Ernst… wieso ist dir das so unangenehm?» – «Es gibt da so etwas, das sich Bescheidenheit nennt», belehrte sie Nina. «Übrigens: Wir sollten vielleicht mal nach Hause gehen. Die anderen warten bestimmt schon.» – «Bescheidenheit… Felix übertreibt einfach…» – «Nina hat Recht, wir sollten nach Hause gehen», lenkte Felix ab. Also gingen sie los. Auf dem Weg neckte Olivia Felix aber weiterhin: «Es ist seltsam. Leslie errötet so gut wie nie und du errötest wegen jedem Scheiss. Jemand sagt einmal, du seist süss. Du wirst rot. Jemand sagt, du seist überdurchschnittlich klug. Du wirst rot. Selbst wenn man nur sagt Das hast du gut gemacht!, schaust du meistens auf deine Füsse, manchmal wirst du sogar dann rot. Wieso?» – «Ich weiss es nicht», antwortete Felix, aber Olivia war sich ziemlich sicher, dass er es doch wusste, es einfach nicht sagen wollte. Felix schaute nachdenklich in die Ferne. «Leslie macht das um einiges besser als ich. Wenigstens neckt sie niemand damit, immer rot zu werden.» Er grinste. Nico zuckte die Schultern. «Olivia hat schon Recht…»

Als sie zu Hause ankamen, waren Luna und Leslie schon da. Olivia ging in das Zimmer, das sie mit Nina teilte, und schmiss erst einmal ihren Schulrucksack in eine Ecke. Nina stellte ihr Schulzeug etwas vorsichtiger weg, schien aber den Gedanken an Schule übers Wochenende auch erst einmal verbannen zu wollen.

Eigentlich hätten sich lieber Luna und Nina, sowie Leslie und Olivia, ein Zimmer geteilt, aber da Luna und Leslie beide schon in der Oberstufe, oder zumindest im Schulgebäude der Oberstufe, und ausserdem vom Alter her einander näher waren, hatten sie entschieden, es so zu organisieren. Dass sich die Jungen, die beide in derselben Klasse, ungefähr im selben Alter, und ausserdem Jungen waren, ein Zimmer teilten, war von Anfang an klar gewesen.

Ihr Zuhause war ein kleines, leerstehendes Haus. Davon gab in dieser Stadt leider viele, da viele Einwohner den Monstern zum Opfer gefallen waren, bevor die Überlebenden es geschafft hatten, die Stadt mit Hilfe von einigen Zaubern oder irgendeinem zauberähnlichen Zeugs, das sie Mitchica nannten, für die Monster unsichtbar und unriechbar zu machen, während Menschen sie immer noch finden konnten. Leider bekamen nur sehr wenige Menschen überhaupt die Chance, die Stadt zu finden; die meisten wurden von den Monstern getötet oder, wenn das, was Feuerlein behauptete, stimmte, unterworfen und in ihrer Heimatsstadt gefangen gehalten. Nicht viele entkamen den Monstern. Und noch weniger überlebten die lange Reise durch die Wildnis, bis sie eine Stadt erreichen konnten. Deshalb hatte es für die wenigen überlebenden Flüchtlinge genug Platz in Seridula, der Stadt, wo sie sich gerade befanden. Die Überlebenden bekamen ein Haus zugeteilt, normalerweise in den Gruppen, in denen sie gekommen waren. Auch wenn es Kinder waren. Solange sie wirkten, als könnten sie auf sich selbst gut genug aufpassen, wurden sie alleingelassen. Sie bekamen regelmässig Geld für das Nötigste und konnten sich bei Problemen jederzeit an die Stadtverwaltung wenden. Aber eigentlich waren sie auf sich allein gestellt. Die Stadt hatte schon genug eigene Probleme.

Wenn Atilendia nur ein vereintes Land gewesen wäre, wäre es nicht so schwierig gewesen, die Monster zu bekämpfen. Aber so war es nicht. Atilendia hatte die geringste Bevölkerung und den höchsten Anteil an Natur in der ganzen Welt. Leider wohnte die Bevölkerung in verschiedenen Städten, die sich gegenseitig nicht irgendwie nicht mochten, aber nicht viel Kontakt hatten. Niemand interessierte sich gross für die anderen Städte, die weit weg von der eigenen Heimatstadt waren. Es gab keine vernünftigen Strassen, die die verschiedenen grossen Städte verbanden, zwar schon Wege der Kommunikation, aber keine wirkliche Möglichkeit, sich gegenseitig mit irgendetwas zu beliefern. Normalerweise war das auch gar nicht nötig. Die vierzehn grossen Städte und die zu ihnen gehörenden kleineren Städte und Dörfer konnten sich gut selbst versorgen, und die Natur lieferte beinahe alles, was sie brauchten. Ausserdem hatte jede grosse Stadt einen kleinen Flughafen, um Waren aus den anderen Ländern zu importieren, mit denen sich Atilendia zwar nicht sonderlich gut verstand, aber trotzdem Geschäfte machte.

Seridula war eine grosse Stadt, aber keine der grossen Vierzehn. Trotzdem war sie eigentlich gut imstande, sich selber zu verteidigen. Olivia war froh, nach Feuerleins Attacke entschieden zu haben, doch eine noch stehende Stadt, überlebende Menschen zu suchen. Silugana hatte erklärt, sie würde entweder weiterhin nach den Zwillingen und Liumana suchen oder zum Hexenberg zurückkehren und sich auf eine grosse Schlacht vorbereiten. Sie sagte, sie glaubte kaum, dass sie in einer Stadt glücklich sein könnte. Die anderen sechs hatten eine Stadt gesucht und gefunden, wo sie sofort freudig aufgenommen wurden. Die Behörden erklären ihnen, dass es nicht viele schafften. Und dass sie froh um jeden Menschen waren, insbesondere um solche, die ein paar Dinge über die Monster wussten.

Ausserdem hatte Olivia endlich eine Axt bekommen, nachdem sie ihr Waffenproblem dargelegt hatte. Zwar sollten sie ihre Waffen nur während Monsterattacken zur Hand nehmen – in der Schule waren sie verboten – aber Olivia freute sich trotzdem, endlich eine Axt zu haben. Natürlich hielt sie sich an diese Regel und liess ihre Axt zu Hause, denn es gab wirklich keinen Weg, wie die anderen Menschen sie nicht irgendwann bemerken würden. Zu Olivias Überraschung hielten sich genau Leslie und Felix, von denen sie erwartet hatte, sich an Regeln zu halten, nicht an diese Regel. Beide trugen immer mindestens ein Messer versteckt mit sich. Zur Selbstverteidigung. Olivia verstand, wieso sie es taten, aber es war trotzdem ein Regelverstoss. Was sie ihnen auch gesagt hatte.

«Diese Regel ist für die normalen Kinder gemacht», hatte ihr Leslie erklärt. «Welche, die die Waffen vielleicht nicht so ernst nehmen, welche, die schnell ausrasten und dann andere angreifen. Ich verstehe vollends, dass man in der Schule keine Waffen dabeihaben sollte, aber es gibt ja auch keinen Ort, wo man sie deponieren kann. Wenn man also seine Waffen nicht irgendwo in der Nähe verstecken und hoffen will, dass sie niemand stiehlt, hat man keine andere Wahl, als entweder unbewaffnet herumzulaufen oder die Regel zu brechen. Ich habe dir schon erklärt, wieso es diese Regel gibt. Glaubst du ernsthaft, dass Felix oder ich Leute angreifen würden oder dergleichen? Wir gehen eben lieber auf Nummer sicher. Du weisst, wieso.» Ja, klar. Sie beide waren sehr vorsichtig, und zumindest bei Felix verstand Olivia, dass er nicht mehr unbewaffnet, hilflos, sein wollte. Nicht, nachdem, was Julia ihm angetan hatte.

«Und, was hast du dieses Wochenende vor?», fragte Nina fröhlich. Olivia dachte an die bevorstehenden Tage. «Hmm… weiss ich, ehrlich gesagt, noch nicht… was hast du vor?» – «Ich überlege auch noch. Vielleicht kann ich die anderen überzeugen, etwas mit mir zu unternehmen. Was hältst du von der Idee?» – «Ich finde sie gut. Es wär schön, mal wieder was Normales mit euch zu machen. Ohne Monster und Feuerlein und so. Als wären wir normale Kinder in einer normalen Situation.» Nina nickte. «Genau, das dachte ich mir auch. Hilfst du mir, die anderen zu überzeugen?»

Beim Abendessen sprach Nina das Thema an. «Hat jemand von euch schon was Bestimmtes vor am Wochenende?» Die anderen schüttelten den Kopf. «Woran denkst du, Nina?», fragte Leslie. – «Nun, ich fände es schön, wenn wir zusammen etwas unternehmen könnten», erklärte Nina. «Luna und Nico kannte ich schon vorher, aber mit euch anderen hab ich noch nie was Normales unternommen. Ich kenne euch nur so, wie ihr euch in der Wildnis, beim Kampf gegen die Monster, kurz gesagt in einer Extremsituation verhaltet. Ich würde gerne mal etwas Normales tun, so tun, als wären wir normale Kinder in einer normalen Welt. Hättet ihr nicht auch Lust dazu?» – «Oh ja, ich finde das eine tolle Idee!», antwortete Luna aufgeregt. – «Ich finde es auch eine gute Idee», stimmte ihr Olivia zu. Sie schaute Leslie, Nico und Felix an: «Wir sind zum ersten Mal seit Monaten wieder in Sicherheit, führen ein halbwegs normales Leben. Ich will euch kennenlernen. Leslie, Felix. Ich meine, ich kenne euch schon, aber auch nur aus dem Labor und auch nicht lange oder sonderlich gut. Und dich, Nico, kenne ich sowieso kaum. Also ja, doch, ich kenn dich, aber nicht in einer normalen Situation. Wenn wir was zusammen unternehmen, und wenn es nur was Kleines ist, lernen wir uns doch alle besser kennen. Also ich schliess mich den Mädchen an.»

«Ich hab einfach keinen Bock, früh aufzustehen, oder am Wochenende etwas Anstrengendes zu machen», stellte Nico klar. «Das Wochenende ist zur Erholung da.» – «Jaaa. Niemand hat gesagt, du musst früh aufstehen. Und niemand zwingt dich, was mit uns zu unternehmen.» Olivia war klar, dass sie nur noch Nico herumkriegen musste. Leslie und Felix waren nicht unbedingt begeistert von der Idee, da sie grundsätzlich lieber allein waren, aber sie schienen dem Vorschlag eigentlich auch nicht abgeneigt zu sein. Wenn alle sonst mitkamen, würden sie nichts dagegen sagen.

«Und was versteht ihr unter nicht früh aufstehen?», fragte Nico misstrauisch. – «Was verstehst du darunter?», fragte Olivia entnervt zurück. Nico regte sie auf. – «Auf jeden Fall nicht vor zehn.» – «Na toll.» Olivia war keine Frühaufsteherin, aber sie schlief auch nicht bis um zehn Uhr. Um acht oder halb neun war sie meistens wach. – «Niemand hat gesagt, dass wir vor zehn aus dem Haus müssen. Und sonst können diejenigen, die schon wach sind, ja einen Spaziergang machen oder so», schlug Nina vor. «Da wärst du nicht sauer, oder Nico? Du magst Spaziergänge ja nicht sonderlich…» – «Nö, allerdings nicht. Das ist eine gute Idee.» – «Also bist du dabei?», fragte Olivia zur Sicherheit nach. – «Ja. Bin ich.» – Nina wandte sich an Leslie und Felix: «Was ist mit euch? Macht ihr mit?» Beide nickten. – «Super!», strahlte Nina. «Das wird bestimmt toll morgen!»

Als sie schlafen gingen, dachte Olivia über ihre Situation nach, wie so oft. «Wir hatten echt Glück, so schnell eine Stadt zu finden. Und dass sie uns hereingelassen haben.» – «Ja, hatten, beziehungsweise haben wir», antwortete Nina. «Und, dass die Seriduler so freundlich zu uns sind.» – «Allerdings», murmelte Olivia nachdenklich. Sie fragte sich, wie es wohl für Luna und Nina war. Und Nico. Sie vergass immer, dass er neben seiner unsterblichen Mutter, mit der er kaum Kontakt hatte, auch noch sterbliche Pflegeeltern hatte. Olivias Eltern waren tot, worüber sie immer noch überhaupt nicht gerne nachdachte, aber wenigstens wusste sie, dass sie tot waren. Sie hatte es in der Zeitung gelesen, nachdem sie sich sowieso schon ziemlich sicher gewesen war, als sie von ihrem brennenden Zuhause weglief. Aber Ninas Eltern, genauso wie Lunas Mutter und ihr Stiefvater und Nicos Pflegeeltern waren möglicherweise noch am Leben; das waren sie laut Luna zumindest, als die Kinder in Elis Palast waren, noch gewesen, sie hatte in einem Traum diese Botschaft bekommen, aber niemand hatte eine Ahnung, wo sie waren. Für alle drei «Magic Kids» – Olivia mochte diesen Namen nicht, sie fand ihn etwas arrogant – war es eine völlig neue Erfahrung, einen Alltag ohne Eltern zu bestreiten. Ohne Erwachsene, die sich ständig um sie kümmerten, deren einziges Kind sie waren – oder eben Stief-/Pflegekind, angeblich einziges Kind, wie auch immer… tatsächlich war Nina die Einzige, deren richtige Eltern beide sterblich und potenziell noch am Leben waren. Und die Einzige, die bis vor der Monsterattacke mit ihren beiden biologischen Eltern zusammengelebt hatte.

«Wieso nennt ihr euch eigentlich Magic Kids?», fragte Olivia, als sie schon im Bett lag. Sie hörte Nina sich umdrehen: «Wieso fragst du?» – «Naja… also ich finde, das klingt schon etwas arrogant…» Nina seufzte. «Ich weiss. Aber irgendwie waren wir die Einzigen in unserer Stadt, die magische Fähigkeiten hatten, und irgendwann kam Luna auf den Begriff. Damals haben wir den genommen, weil wir uns besser fühlten als die anderen. Das war vielleicht arrogant, aber wir hatten unsere Gründe. In der Schule mochte uns niemand sonderlich, weil wir nur schon Magie ausstrahlten, was sie nicht zuordnen konnten. Wenn sie effektiv gesehen hätten, wie wir Magie benutzen – abgesehen von Lunas Zuckerauflösungstricks, die sie immer irgendwie anders erklärte – weiss ich nicht genau, was geschehen wäre. Ich will es auch nicht wissen. Wahrscheinlich wären wir verbannt worden. Weisst du, in unserer Heimatsstadt wurde Magie nicht wirklich toleriert. Magisch begabte Menschen wurden als abnormale Monster gesehen und verabscheut. Es war verboten, Magie zu benutzen. Deshalb haben wir unsere Fähigkeiten nie gezeigt. Und diesen idiotischen Leute zum Trotz, begann wir, uns – undercover, sozusagen – Magic Kids zu nennen. So nach dem Motto: Ätsch, wir sind viel besser als ihr, ihr hasst uns doch nur, weil ihr Angst habt oder neidisch seid! Deswegen nannten wir uns Magic Kids. Und irgendwie existiert der Name immer noch.» – «Was seltsam ist, da du, Luna und Nico damit gemeint seid. Obwohl Nico gar keine magischen Fähigkeiten mehr hat. Und Felix, der noch welche hat, sehr mächtige sogar, ist damit nicht gemeint…» – «Ich weiss. Seltsam. Aber es ist jetzt wohl eher eine Art Sammelbegriff für uns drei von früher. Wie auch immer…», sie gähnte, «ich denke, wir sollten mal schlafen.» – «Da hast du wohl Recht. Gute Nacht.» – «Gute Nacht.»

Als Olivia am nächsten Morgen um halb neun essen ging, entdeckte sie, dass Luna auch nicht viel früher aufgestanden zu sein schien – sie war noch am Essen; Leslie und Felix sassen in der Nähe auf einem Sofa und waren in ein Gespräch vertieft. Olivia war schlecht darin, Leute zu lesen, besonders diese beiden guten Schauspieler, aber selbst sie konnte sehen, dass es nichts wirklich Ernstes war, worüber die beiden so angeregt diskutierten. Es war etwas, was sie ernst nahmen, aber ihr Gesichtsausdruck verriet, dass es nichts Gefährliches oder so war.

«Hallo Olivia, schön dich zu sehen», begrüsste sie Luna freundlich. Sie zwinkerte ihr zu. «Vor allem, weil diese beiden», sie zeigte mit dem Daumen über die Schulter in Richtung Leslie und Felix, «gerade nicht zu gebrauchen sind. Ehrlich gesagt, hab ich keine Ahnung, worüber sie sich da unterhalten. Es muss auf jeden Fall etwas mehr oder weniger Geheimes sein, da sie recht leise sprechen. Ich freue mich auf heute. Du auch?» Olivia nickte. «Sehr. Das wird bestimmt cool!» Sie setzte sich, nahm sich eine Scheibe Brot und viel Käse – Olivia liebte Käse – und begann, mit Luna zu plaudern.

Zehn Minuten später kam auch Nina, immer noch im Pyjama – sie hatten hier alles bekommen, was sie an Hygieneartikeln, Kleidern und anderen nötigen Dingen brauchten –, und setzte sich auch an den Tisch. Sie griff nach einem Erdbeerjoghurt und schenkte sich ein Glas Milch ein. Dann rieb sie sich den Schlaf aus den Augen. «Es hat gut getan, etwas länger zu schlafen. Auch wenn ich normalerweise bis mindestens neun im Bett bin. Wie geht es euch?» – «Mir geht’s gut», nuschelte Olivia mit halbvollem Mund. – «Mir auch», antwortete auch Luna. «Und dir, Nina?» – «Mir auch, danke der Nachfrage. Was ist eigentlich mit denen?» Sie zeigte auf Leslie und Felix. – «Die diskutieren was», antwortete Olivia. «Keine Ahnung, was genau.» – «Sie scheinen schon seit einer Weile wach zu sein», ergänzte Luna. «Ehrlich gesagt, frag mich nicht, wann die jeweils aufstehen, ich weiss es nicht. Es ist auf jeden Fall früh!» – «Das stimmt allerdings», stimmte ihr Olivia zu. «Ich war im Labor ja mit Leslie im Zimmer – halt im Mädchenzimmer, die Schlafzimmer waren nach Geschlechtern getrennt – und die war immer schon weissichwann wach… auf jeden Fall deutlich vor mir.»

Als alle fertig gegessen hatten, überlegten sie, was sie tun sollten. Es war erst neun, Nico würde sich frühestens in einer Stunde aus seinem Bett erheben. Also entschieden sie, ein wenig durch die Stadt zu schlendern. «Wir machen einen Spaziergang», kündigte Luna an. «Leslie, Felix, kommt ihr mit?» Die beiden sahen sich kurz an, dann nickten sie.

Als sich alle fertig angezogen hatten, verliessen sie das Haus. Seridula war eine einigermassen dicht bevölkerte Stadt gewesen, aber es hatte trotzdem viel Natur. Beispielsweise hatte es mitten in der Stadt ein kleines Wäldchen, welches sie jetzt anpeilten. Nicht einmal Nico konnte sich beschweren, dass es zu wenig Natur hatte – oder zu viele Menschen. Nicht, nachdem die Monster Seridula heimgesucht hatten.

Auf dem Weg verwickelten Luna und Nina Leslie in ein Gespräch, weshalb sich Olivia zu Felix zurückfallen liess. «Schön heute, nicht wahr?» Felix nickte. «Hat dich Sophie gestern wieder genervt?» Olivia grinste. «Ja. Also, sie hats versucht. Wollte mir Fashion-Tipps geben.» Sie verzog angewidert das Gesicht. «Aber dann…», sie prustete los, «dann erwischte sie Frau Jelintano! Und sie hat so gefragt, ob sie was Interessantes zum Unterricht beizusteuern hatte. Hatte sie nicht. Aber das Beste kommt noch: Als Sophie mir gerade weitere Fashion-Tipps geben wollte, hat Frau Jelintano sie gemahnt, dass sie, wenn sie den Unterricht noch einmal mit so etwas Blödem stört, nachsitzen muss! Ich meine, sie hat es sowas von verdient!» Felix grinste. «Das hat sie allerdings.» – «Und was ist mit dir? Hat dich jemand genervt?» Felix zuckte mit den Schultern. «Das Übliche halt. Felizia. Sie haben irgendwie immer noch das Gefühl, dass mich das ärgert. Ach ja, und Luka hat mir gedroht, meine Haare abzuschneiden. Ich weiss selbst nicht mehr genau, wieso.» – «Diese Vorstellung scheint dich ja nicht sonderlich zu beunruhigen», bemerkte Olivia. – «Naja… der schafft es sowieso nicht, sie so kurz zu schneiden, dass es mich wirklich stört. Und ich habe selber schon überlegt, sie wieder kurz zu schneiden.» – «Kurz. Du nennst das kurz.» – «Im Vergleich zu meiner Länge jetzt… früher habe ich meine Haare eigentlich nie als kurz bezeichnet. Aber diese Länge jetzt hat mich ein bisschen umgewöhnt.» – «Versteh ich. Aber falls du sie wirklich kurz schneidest, solltest du dir das wieder abgewöhnen. Für einen Jungen ist das wirklich nicht kurz.» Zumindest nicht in dieser Zeit.

Olivias Vater hatte ihr manchmal Fotos gezeigt, auf denen er noch ein kleiner Junge war. Auf einigen dieser Fotos hatte er recht lange Haare gehabt. Er hatte Olivia erklärt, dass früher recht viele Jungen längere Haare trugen. Dass es damals sogar «in» war. Aber jetzt schien es völlig aus der Mode gekommen. Die meisten Jungen trugen ihre Haare raspelkurz; sogar Nicos waren lang, verglichen mit dem Rest. Nina hatte Olivia einmal erzählt, dass Nico seine Haare früher auch kurz trug. Olivia konnte sich das kaum vorstellen. Nico mit ganz kurzen Haaren? Das musste echt doof ausgesehen haben. Aber vielleicht hatte er einfach nicht als anders gelten wollen, oder es hatte ihm tatsächlich gefallen.

«Hast du deine Haare jemals kurz getragen?», fragte Olivia, an Felix gewandt. «Ich meine, bevor du entschieden hast, was du für eine Länge willst.» Muss er wohl. Seine Eltern liessen sie ihm vermutlich so schneiden, wie es alle Jungs gerade trugen. Zu ihrer Überraschung aber antwortete Felix: «Nein, nie. Also ausser als ganz kleines Baby, bevor sie gewachsen sind.» Olivia sah ihn überrascht an: «Nie? Und deine Eltern – also deine angeblichen Eltern – haben nichts getan? Sie haben doch nicht im Ernst deine Haare einfach wachsen lassen?!» – «Doch, das haben sie», antwortete Felix. Er schien nicht zu verstehen, was daran so ungewöhnlich war. – «Im Ernst?», fragte Olivia, obwohl sie von seinem Ton her wusste, dass er es ernst meinte. Felix war ein guter Schauspieler, aber dieser Ton war ehrlich – ehrlich überrascht. Felix nickte. «Ja. Was ist daran so seltsam?» – «Also, wir leben in einer Zeit, wo alle Jungen raspelkurze Haare tragen. Jeder, der eine andere Frisur trägt, wird mindestens seltsam angesehen. Und deine Eltern lassen deine Haare einfach unkontrolliert wachsen?» – «Ja. Wieso nicht? Vor dem Kindergarten war ich sowieso meistens zu Hause. Wenn ich einmal ausserhalb des Hauses war, sah mich niemand komisch an, weil mich alle für ein Mädchen hielten. Und wenn Mama, also Laura, einmal jemandem sagte, dass ich kein Mädchen war, sagte niemand etwas zu meiner Frisur. Vater – John – war sehr einflussreich und niemand wollte in seinen Augen irgendwie schlecht erscheinen – zum Beispiel, weil sie seine Fähigkeit, sich um seine väterlichen Pflichten zu kümmern, beleidigt hatten.» Er grinste. Olivia nickte nachdenklich. Sie hatte schon gewusst, dass John einflussreich gewesen war, aber das war schon etwas Neues. Etwas anderes aber irritierte sie: «Du sprichst von deiner angeblichen Mutter als Mama, von deinem angeblichen Vater aber als Vater. Wieso nicht Papa?» – «Er war… nicht besonders väterlich. Irgendwie hätte es sich nicht richtig angefühlt, ihn Papa zu nennen. Und ausserdem hätte er es selber vermutlich nicht gemocht…» – «John war kein guter Vater», erklärte Olivia. Felix wiegte nachdenklich den Kopf. «Vielleicht war er nicht besonders sanft, aber…» – «Nicht besonders sanft???», unterbrach ihn Olivia. «Er war grob! Er war total grob!» – «Ach, komm jetzt. Vielleicht war er manchmal ein bisschen grob, aber immerhin war er da. Er war wie ein Vater. Ein sehr strenger und manchmal etwas grober Vater vielleicht, aber trotzdem… Zau war nicht wirklich da. Genausowenig wie Lunas Mutter.» – «Lunas Mutter? Sie ist auch deine Mutter!» Felix seufzte. «Ja. Aber wenn ich von Lunas Mutter spreche, ist klar, wen ich meine. Wenn ich von meiner Mutter spreche, könnte ich auch Laura meinen.» – «Hmm… aber ich dachte, du seist froh, dass die doch nicht deine Familie sind. Wäre ich zumindest.» – «Ich bin froh, dass ich nicht mit Julia verwandt bin, ja. Aber es ist schon sehr schwer, sich umzugewöhnen… wie auch immer, wir sind komplett vom Thema abgekommen. Ursprünglich haben wir über unsere Klassenkameraden gesprochen.» – «Ja, und dann über Haare», erinnerte sich Olivia. «Wir können von mir aus schon über Haare sprechen…» – «Also ehrlich gesagt habe ich davon genug», murmelte Felix, während er sich durch seine nun schon hüftlangen Haare strich, die er, seit sie in Seridula angekommen waren, immer offen trug. Er hatte erklärt, dass ein Zopf eher so eine Notlösung gewesen war, damit ihm die Haare beim Kämpfen nicht in den Weg kamen, aber eigentlich nervte es ihn, die Haare aus dem Gesicht zu haben. Nico hatte scherzhaft gefragt, ob Felix sie dann lieber voll im Gesicht habe, und Felix hatte vollen Ernstes «Ja» geantwortet. «Sag mal, wieso hast du deine Haare lieber im Gesicht als aus dem Weg?», fragte Olivia. – «Ich dachte, wir hätten das Thema Haare jetzt durch… oh schau einmal, wir sind da.» – «Was? Wo da?», fragte Olivia verwirrt. – «Na, bei dem Wäldchen.»

Tatsächlich standen sie am Rande des kleinen Wäldchens in der Mitte von Seridula. Die Mädchen vor ihnen traten ein und Olivia folgte ihnen. Sobald sie im Wäldchen war, fühlte sie sich, als wäre sie wieder in der Wildnis – was sie irgendwie beunruhigte. Luna und Nina schien es ähnlich zu gehen, Leslie und Felix aber schienen die Natur zu geniessen. Das Gefühl, in freier Wildnis zu sein. Früher hatte Olivia es geliebt, durch die angrenzenden Wälder ihres kleinen Dorfes zu streifen und sich vorzustellen, dass sie in der Wildnis war, Hunderte von Kilometern weg von jeglicher Zivilisation, und Abenteuer erlebte. Aber sie war in der Wildnis gewesen, fernab von jeglicher Zivilisation, und hatte ihre Abenteuer erlebt, die bei weitem nicht so aufregend gewesen waren, wie sie es sich vorgestellt hatte. Monster und Hunger und kein Bett zum Schlafen. Davon hatte Olivia genug.

Luna und Nina schauten sich auch etwas beklommen um und Nina fröstelte sogar. Leslie bot ihr ihren schwarzen Hoodie an, den sie um die Taille gebunden hatte, und Nina nahm dankend an. – «Puh, ich hab das Gefühl, dass jederzeit ein Monster durch die Bäume springen könnte», murmelte Luna. Auch Olivia beschlich ein mulmiges Gefühl.

Leslie liess sich zu Olivia und Felix zurückfallen. «Also mir gefällt es hier.» – «Mir auch», stimmte ihr Felix zu. – «Naja…», murmelte Olivia. «Was dagegen, wenn ich euch allein lasse?» Noch während sie das fragte, stellte sie fest, was für eine dumme Frage das war. Nein, natürlich hatten sie nichts dagegen. Das wollten sie genau. Allein sein. «Nein, habt ihr natürlich nicht. Oder? Ihr wollt doch allein sein, nicht wahr?» Leslie lächelte. «Du hast uns durchschaut.» Olivia nickte und beschleunigte ihre Schritte, um zu Luna und Nina aufzuholen. «Hallo.» – «Hallo, Olivia. Ist dir auch mulmig zumute?» – «Ja. Dieser Wald ist mir unheimlich.» – «Finde ich auch», stimmte ihr Luna zu. «Er vermittelt das Gefühl, wieder in der Wildnis zu sein. Ich meine, ich wollte früher schon nie tief in der Wildnis sein. Das lag aber hauptsächlich daran, dass ich eine blöde oberflächliche Tussi war. Aber jetzt… jetzt hat die Wildnis eine ganz andere Bedeutung für mich. Keine sehr positive.» – «Für mich auch nicht», stimmte ihr Nina zu. «Ich hab mir die Wildnis früher aufregend vorgestellt, aber meine Erfahrung war ganz anders…»

Die Warnung des Löwen

Leslie verstand, warum die andere drei die Wildnis nicht mochten. Sie wusste, dass sie schlechte Erfahrungen mit der Wildnis gemacht hatten und ihnen ein Ort, der sich wie Wildnis anfühlte, nicht geheuer war. Aber Leslie fühlte sich hier wohl. Die Wildnis hatte vielleicht einige unangenehme Aspekte gehabt, aber die angenehme Nebenwirkung, dass es nicht viele Menschen gab. Leslie hatte ja nichts gegen Menschen an sich, aber sie fand es trotzdem angenehm, für sich zu sein. Ausserdem hatte sie, seit sie in Seridula waren, kaum mit Felix privat sprechen können, weil einfach immer jemand anderes anwesend war. Das machte sie wahnsinnig!

Hier im Wald jedoch fühlte sie sich endlich einmal etwas ruhiger. Hier hatte sie Ruhe. Leslie wusste, dass all diese Gefühle bei Felix noch viel stärker waren. Er hatte effektiv etwas gegen Menschen an sich. Zumindest welche, die er nicht kannte. Denn er hatte am eigenen Leib erfahren müssen, wie grausam Menschen sein konnten. Das war einer der Gründe, wieso es ewig dauerte, um sein volles Vertrauen zu erlangen. Leslie hatte beinahe sein volles Vertrauen, soweit sie wusste. Das hatte in dem Sinne «nur» zwei Jahre gedauert… nicht einmal ganz. Aber Leslie war auch kein normaler Mensch. Genau wie Felix. Und beide wussten es. Sie verstanden sich gegenseitig, wie normale Menschen sie nie verstehen könnten. Das war der Grund, wieso er ihr vertraute und sie ihm – wo sie doch beide niemandem sonst vertrauten. «Ich will aus diesem Wald wieder raus», murmelte Olivia, während sie sich unsicher umsah. – «Ich auch», stimmte ihr Nina zu, während sie ihre Hände in die Ärmel von Leslies Hoodie zurückzog. Luna nickte zustimmend. Dann wandte sie sich an Leslie und Felix: «Und was ist mit euch?»

Leslie sah Felix an und sah in seinen Augen, dass er, genau wie sie, noch ein bisschen verweilen wollen würde. «Wenn ihr nichts dagegen habt, würden wir gerne noch ein Weilchen bleiben. Geht ihr doch schon einmal voraus.» – «Okay… aber bleibt nicht zu lange weg, okay? Wir wollten doch zusammen etwas unternehmen», erinnerte sie Nina. Leslie nickte. Das hatte sie nicht vergessen. Eigentlich hätte sie gerne einmal Ruhe gehabt, auch, um mit Felix zu sprechen, aber die anderen waren ja auch nett, und Leslie wollte keine Spielverderberin sein.

«Okay, dann gehen wir doch schon einmal los», nahm Luna Leslies Vorschlag an. «Nico wird sich aufregen, wenn er aufwacht und wir ewig weg sind. Und ich möchte nicht länger in diesem Wald bleiben als unbedingt nötig.» Die drei Mädchen wandten sich zum Gehen. Da schien Nina plötzlich noch etwas einzufallen, und sie drehte sich um: «Kann ich deinen Hoodie noch anbehalten, Leslie? Dieser Wald ist mir nicht geheuer, und der Hoodie gibt mir eine gewisse Sicherheit…» – «Ja klar, ich brauche ihn momentan sowieso nicht», antwortete Leslie. – «Danke.» Dann verschwanden die Mädchen so schnell wie möglich aus dem Wald.

Als sie weg waren, liess sich Felix auf den Waldboden fallen und lehnte sich gegen einen Baum. «Ich verstehe sie ja irgendwie… also ihre Denkweise. Aber dieser Wald ist ein Segen!» Leslie nickte. Endlich einmal eine Möglichkeit, all dem Alltag und den Menschen zu entfliehen. Sie liess sich im Schneidersitz auf dem weichen Waldboden nieder und atmete die frische Waldluft ein. Es war nichts zu hören ausser dem Zwitschern der Vögel. Leslie bereitete sich auf etwas vor, das sie schon viel zu lange nicht mehr getan hatte; ihr Notfallprogramm, wenn sie gestresst war, was bei ihr schon eine rote Flagge war; Leslie war nur sehr selten gestresst.

«Was hast du vor?», fragte Felix neugierig. – «Etwas, was gegen den Stress hilft. Dafür brauche ich Ruhe. Also, abgesehen von all den Waldgeräuschen. Es irritiert mich, wenn sich jemand oder etwas neben mir bewegt.» – «Versuchst du mir damit zu sagen, dass ich woanders hingehen sollte?», fragte Felix. – «Naja… ich würde dich bitten, dich einfach still zu verhalten. Und wenn du das nicht tun willst… ja, dann lass mich bitte in Ruhe.» – «Okay. Ich werde still sein, versprochen.» – «Okay, danke.» Leslie schloss die Augen und begann, tief ein- und auszuatmen. Sie liess von dem Alltag los und konzentrierte sich nur auf ihren Atem. Entspannte sich.

Ich habe meine Hausaufgaben noch nicht gemacht!, schoss es ihr durch den Kopf. Ja, aber ich habe noch das ganze Wochenende Zeit, beruhigte sie sich. Sie hatte gelernt, nicht zu versuchen, Gedanken zu verdrängen – sondern sie anzuerkennen und wieder gehen zu lassen. Solfur, erinnerte sie ihr Gedächtnis wieder einmal an die grosse Gefahr, die nicht von den Monstern ausging. Ja, Solfur ist noch da, aber jetzt kann ich nichts machen. Solfur wird mich jetzt NICHT stören! Nicht jetzt!

Nach einer Weile zwang sie sich dazu, wieder in die Wirklichkeit zurückzukehren. Es war immer dasselbe; Leslie nahm sich nie die Zeit dazu, aber wenn sie sich doch einmal überwunden und sich Zeit genommen hatte, fiel es ihr unglaublich schwer, wieder zurückzukehren. Sie würde lieber weiterhin in dieser Leere sein, wo absolut nichts und niemand sie stören konnte.

Langsam schlug sie die Augen auf und liess einen Moment lang ihre Umgebung auf sich wirken. Dann sah sie Felix an, der sie interessiert musterte. «Du meditierst?» – «Ja. Aber nur, wenn ich gestresst bin. Nicht regelmässig» – «Ist das dein Geheimnis, weshalb du so ruhig bist?» – «Eines von vielen. Ein anderes ist, dass ich von Natur aus ruhig bin. Und was sind deine Geheimnisse?» – «Nun, ich bin auch von Natur aus eher ruhig…» – «Eher? Ja, genau.» – «… ich bin von Natur aus ruhig. Und die Jahre bei John und Julia haben natürlich auch geholfen, mein Temperament zu zähmen.» – … wobei ich bezweifle, dass es da viel zu zähmen gab, dachte Leslie. «Ja?», fragte sie. Sie wollte, dass Felix weitererzählte. – «Was, ja?», fragte der jedoch, und Leslie war sich nicht sicher, ob er tatsächlich nicht wusste, was sie meinte. «Also sind das deine Geheimnisse?», fragte sie deshalb. Felix lächelte geheimnisvoll: «Zwei von vielen…» Leslie seufzte. «Und mehr willst du mir nicht verraten? Vertraust du mir denn nicht?» – «Dasselbe könnte ich dich fragen. Du hast mir auch nur zwei verraten… wobei ich mir eines schon denken konnte.» – «Du hast mir auch zwei Dinge verraten… von denen eines dasselbe war wie mein eines, während ich mir das andere schon hätte denken können!» Felix lächelte unschuldig. «Und?» Leslie winkte ab. «Wie auch immer. Wir sollten vielleicht wieder zurück. Wie lange war ich eigentlich in meine Meditation vertieft?» – «Ich denke, fünf bis zehn Minuten…» Leslie starrte Felix an: «Wirklich? So lange kam es mir gar nicht vor.» Felix zuckte die Schultern und stand auf. «Ich glaube schon, dass es so lange war. Du hast Recht, wir sollten zurück.»

Plötzlich hörten sie ein Rascheln. Blitzschnell hatten beide ihr verborgenes Messer in der Hand, versteckten es aber noch, falls es ein Mensch war. Sie wollten nicht, dass alle wussten, dass sie ständig bewaffnet herumliefen. «Hallo?», rief Leslie. «Ist da jemand?» Es kam keine Antwort. Leslie sah Felix an, und beide hielten ihre Messer bereit. «Wenn hier jemand Menschliches ist, treten Sie aus dem Gebüsch hervor!», verlangte Leslie. Wieder keine Antwort. Dafür raschelte das etwas wieder im Gebüsch. Es kam näher. «Wer ist da?», versuchte Leslie es noch einmal.

Plötzlich trat ein grosser goldener Löwe aus dem Gebüsch hervor. Auf Felix’ Gesicht zeichnete sich zuerst Schock ab, dann trat er zurück. «Das ist deine Aufgabe, Leslie.» Leslie steckte ihr Messer wieder weg und trat vorsichtig auf dem Löwen zu. Dieser sah sie aus grossen Augen vertrauensvoll an. «Du bist aber ein schönes Tier», flüsterte Leslie, während sie dem Löwen über den Rücken streichelte. Der Löwe gab ein schnurrendes Geräusch von sich.

«Ein Löwe? Hier? Leslie, das ist nicht normal. Damit hat es etwas auf sich», murmelte Felix. Leslie überlegte kurz. «Stimmt. Das ist seltsam… wozu bist du hier?», fragte sie, an den Löwen gewandt. Der Löwe reckte den Hals, und Leslie sah etwas wie ein Halsband an seinem Hals. «Soll ich dir das abnehmen?», fragte Leslie vorsichtig. Der Löwe nickte, und Leslie machte sich an dem Halsband zu schaffen.

Sobald sie es geöffnet hatte, kraulte sie den Löwen ein letztes Mal, bevor der Löwe wieder verschwand. Leslie schaute ihm verträumt nach. «So ein schönes Tier…» – «In so ein schönes Tier wirst du dich selber auch einmal verwandeln können», riss sie Felix aus ihren Gedanken. «Schau einmal, da bewegt sich etwas!» Er zeigte auf den grossen roten Rubin am Halsband des Löwen in ihrer Hand. Tatsächlich, darin bewegte sich etwas!

Leslie sah einen grossen, muskulösen, sonnengebräunten Mann mit Sonnenbrille, der vor einer grossen Armee hin und her schritt. «Solfur mit seiner Armee», flüsterte Leslie besorgt. Felix trat neben sie und schaute auch in den Rubin. «Das ist nur ein Bruchteil seiner Armee. Ich habe nicht genau gesehen, wie viele es sind, aber es sind mehr als zehnmal so viele wie diejenigen, die wir hier sehen, da bin ich mir sicher. Vermutlich mehr.» Das war besorgniserregend. Felix hatte ihr zwar schon erzählt, dass Solfurs Armeen riesig waren, aber Leslie hätte nicht gedacht, dass sie so riesig waren – zumindest hatte sie gehofft, dass sie nicht so riesig waren. Aber diese Hoffnung war wohl umsonst gewesen.

«Ich denke nicht, dass wir die anderen damit belasten sollten… sie werden schon genug mit den Monstern zu tun haben, wenn wir aus dieser Stadt heraus sind…», gab Felix zu bedenken. – «Du kannst es ja kaum erwarten, wieder aus der Stadt zu verschwinden», murmelte Leslie. «Nicht wahr?» – «Also… es ist ja schön und gut, dass wir endlich einmal Ruhe haben, Essen, Betten zum Schlafen, all dieses Zeug. Aber ich fühle mich in der Wildnis einfach wohler. Also, ich habe nichts gegen Städte an sich, nicht gegen alle Städte, aber hier hat man nie seine Ruhe. Immer ist irgendjemand da. Ich meine, nicht einmal im Labor, wo viel mehr Leute waren als in unserem Haus jetzt, fühlte ich mich so eingeengt. Dort hatte es wenigstens Räume oder Nischen, wo man sich verstecken und privat unterhalten konnte. Und ich weiss, ich bin verwöhnt, aber ich bin es mir gewohnt… etwas mehr Platz zu haben. Platz, wo man sich verstecken kann. Diese Stadt stresst mich.» – «Das verstehe ich sehr gut. Empfinde ich genauso. Andere würden das vielleicht als seltsam empfinden… dich stressen deine eigenen Freunde viel mehr als all die fremden Leute oder die in der Schule, die so blöd tun.» Felix zuckte die Schultern. «Solche bin ich mir schon gewöhnt… vom Kindergarten. Ich brauche einfach manchmal Ruhe… wie auch immer, wir sollten vielleicht endlich zurückgehen.» – «Oh, stimmt… das hatte ich ganz vergessen.» – «Dann ist ja gut, bin ich da», grinste Felix. «Wenn du immer alles vergisst.» Er rannte davon. – «He!», Leslie jagte ihm hinterher. «Ich vergesse nicht alles! Nur ganz selten vergesse ich etwas! Und nur, weil du ein übermenschlich gutes Gedächtnis hast…» Natürlich meinte sie es nicht ernst. Genausowenig wie er. Aber es machte Spass, sich endlich wieder einmal wegen so einem Blödsinn zu necken. Nicht immer ernst zu sein.

Leslie blieb stehen. Sie wusste nicht, wie sie Felix einholen sollte; er war einfach zu schnell und hatte zu viel Vorsprung. Dann muss ich ihn überlisten. Felix blieb stehen und drehte sich um. Vermutlich hatte er bemerkt, dass Leslie ihn nicht mehr verfolgte. Schnell versteckte sich Leslie hinter einem Baum. Dann begann sie, sich wegzuschleichen. Sie würde einen grossen Bogen machen und dann von der anderen Seite wiederkommen.

Als sie sich von hinten anschlich, musste sie gut aufpassen, denn Felix war nicht dumm; er drehte sich ständig um. Aber Leslie war auch nicht blöd, und sie hatte damit gerechnet. Als sie nur noch drei Meter entfernt war, rannte sie los. Felix drehte sich um, hatte aber keine Zeit zu reagieren, bevor Leslie ihn am Arm packte. «Soso, ich bin also vergesslich?» Felix versuchte, seinen Arm freizudrehen. «Das habe ich nie gesagt.» – «Du sagtest, ich vergesse immer alles. Das kommt auf dasselbe hinaus.» – «Also… ich weiss nicht, wovon du sprichst…» – «Gaaanz schlechte Ausrede, Felix… etwas Besseres wird dir doch wohl einfallen, oder?» – «Ähhm… vielleicht sollten wir zurückgehen…» – «Du versuchst, abzulenken… aber du hast Recht. Gehen wir.»

Als sie zurück bei dem Haus, das sie mit den anderen vier teilten, angekommen waren, bemerkten sie sofort, dass etwas nicht in Ordnung war: Die Stimmung war auf dem Tiefpunkt, die drei Mädchen redeten leise und in genervtem Ton mit einander, während Nico mit verschränkten Armen etwas abseits sass und wütend vor sich auf den Boden starrte.

Leslie und Felix sahen sich an und kamen stumm überein, dass Leslie mit den Mädchen sprechen würde, während Felix versuchen würde, den wütenden Nico zu beruhigen. Felix ging hinüber zu Nico und setzte sich neben ihn. «Was ist los, Nico?», fragte er sanft. Nico stampfte wütend mit dem Fuss auf. «Diese blöden Mädchen wollen mich zwingen, rauszugehen!» – «Das tun wir nicht!», widersprach Olivia heftig. «Und du bist selber blöd!» Nico wollte etwas erwidern, aber Felix fasste ihn am Arm und schüttelte den Kopf. Nico sah ihn böse an. – «Was ist denn passiert?», fragte ihn Felix vorsichtig.

«Genau, was ist passiert?», fragte Leslie, an die Mädchen gewandt. Olivia schnaubte. «Wir wollten etwas zusammen unternehmen, aber Nico will nicht rausgehen und stellt sich stur, weil er einfach egoistisch ist und nicht akzeptieren will, dass wir alle raus wollen!» – Dass ihr alle raus wollt und Felix und ich uns sowieso anpassen, egal, was ihr macht, dachte Leslie, sagte aber nichts darüber. Stattdessen fragte sie: «Wisst ihr denn, warum er nicht hinaus will?» – «Nein, eben nicht», murrte Luna. «Vermutlich ist er einfach zu faul. Er sagt, er würde, wennschon, ins Kino gehen, aber dort laufen keine schlauen Filme, und ausserdem könnten wir uns eh nie einigen, was wir schauen wollen. Also wissen wir nicht, was wir machen sollen.» – «Ich hätte eine Idee.» – «Ja?» Leslie schaute kurz zu Felix hinüber und gab ihm mit einem Blick zu verstehen, was sie wollte. Er nickte und begann, leise mit Nico zu sprechen. Leslie wandte sich wieder den Mädchen zu: «In Elis Palast haben wir ja dieses Detektivspiel gespielt. Würdet ihr das noch einmal spielen?» Die Mädchen sahen sich an, dann nickten sie. Leslie lächelte. «Sehr gut. Ich habe nämlich für so eine Situation Karten vorbereitet. Ich werde das Mordopfer sein, weil ich weiss, was auf den Karten steht. Wollt ihr das spielen?» – «Ja, warum nicht?» – «Gut, dann muss ich nur noch wissen, ob Nico einverstanden ist.» Leslie schaute zu Felix hinüber, der den Daumen hob. Leslie lächelte und stand auf. «Okay, in dem Fall hole ich jetzt die Karten», verkündete sie.

Sie verschwand in dem Zimmer, welches sie mit Luna teilte, und holte die vorbereiteten Karten, die sie schon schön zusammengefaltet hatte, hervor. Dann ging sie zurück ins Wohnzimmer, wo sie die Karten auf den Tisch fallen liess. «So, zieht eure Karten.» Die anderen zogen nacheinander eine Karte, falteten sie auf und lasen durch, was darauf stand. Felix grinste, woraus Leslie schloss, dass er Kommissar war – die einzige Rolle, bei der alle von Anfang an wussten, was man war, man sich also keine Mühe geben musste, seine «Identität» zu verstecken.

«Ich habe noch eine kleine Änderung, bevor ich getötet werde», begann Leslie. Die anderen sahen sie erwartungsvoll an. – «Um es dem Mörder nicht ganz so schwer zu machen, wartet der Kommissar oder die Kommissarin nach dem Stellen einer Frage eine halbe Minute, bevor er oder sie effektiv die Leute befragt. Felix hatte letztes Mal Glück, nie als Erster gefragt worden zu sein, und er hat sehr schnell reagiert, hatte immer eine Antwort bereit…» – Felix lächelte geschmeichelt – «aber ich will keinem Mörder zumuten, in Sekundenschnelle reagieren zu müssen. Deshalb, eine halbe Minute für den Mörder zum Denken und für die anderen, um sich auf ihre Rolle vorzubereiten. Okay?» Die anderen nickten zustimmend. Leslie grinste und lehnte sich zurück. «Ich wurde heute Morgen in den Kopf geschossen, während ich am Zeitung lesen war. Lasst das Spiel beginnen!»

Sie hatte Recht gehabt. Felix zeigte seine Karte, die er aber so abdeckte, dass man nur «Kommissar*in» lesen konnte, nicht auch die Fragen, die darunter standen. «Also, wer hat Leslie ermordet?», fragte er grinsend. Dann wandte er sich seiner Karte zu. «Ach ja, die Standardfrage: Was habt ihr heute Morgen gemacht?» Er sah die anderen an, während diese auf ihre Karten starrten und lasen, was darauf oder eben nicht darauf stand.

Nach einer halben Minute fixierte er Nina fragend: «Also? Was hast du heute Morgen gemacht?» Nina schaute noch einmal auf ihre Karte. «Ich hab einen Film geschaut.» – «Was für einen?» Nina blickte ihn überrascht an und linste noch einmal auf ihre Karte. «Einen Horrorfilm.» Leslie war froh, sich darauf vorbereitet zu haben, dass der Kommissar Fragen stellte, die nicht auf seiner Karte standen, aber naheliegend waren. Trotzdem sah sie Felix vorwurfsvoll an. Er erwiderte ihren Blick unschuldig, dann wandte er sich an Nico: «Und du?» – «Ich bin erschossen worden.»

Leslie stöhnte innerlich. Sie wusste, welche Karte Nico hatte, aber er sollte so antworten, wie es geschrieben war, nicht einfach irgendwie. Felix schaute ihn mit grossen Augen an, als wäre er ein kleines Kind, das total beeindruckt war. «Ach ja? Von wem denn?», fragte er gespielt neugierig. Das machte er gut. Er konnte total niedlich sein, wenn er wollte. – «Von so einem blöden vorprogrammierten Charakter, der dort nichts zu suchen hatte.» – «Also warst du am gamen und hast verloren.» – «Ja.» – «Okay.» Felix wandte sich an Olivia. «Was hast du getan?» Jetzt wird es spannend. Leslie hatte Nicos und Ninas Antworten erkannt; sie waren beide nicht die Mörderin. Also musste es Luna oder Olivia sein. Wenn Leslie Olivia hörte, wusste sie, wer es war.

«Ich hatte Streit mit meiner Schwester. Die blöde Nuss wollte einen anderen Film schauen als ich!» – Also, alles klar. Olivia war die Mörderin. Das war nämlich keine Antwort gewesen, die Leslie vorgegeben hatte. «Habt ihr euch geprügelt?», fragte Felix nach. Olivia verzog das Gesicht. «Ein bisschen», murmelte sie. – «Habt ihr dabei irgendwelche Gegenstände zerstört?» Langsam nervte es Leslie. Felix sollte einfach das fragen, was auf der Karte stand. Olivia sah das offenbar ähnlich; sie verpasste Felix eine Ohrfeige und knurrte: «Das steht nicht auf der verdammten Karte!» – Auf der Karte steht nichts von einem Streit, dachte Leslie, aber kluger Zug. Dann denkt er möglicherweise, dass du eine «unschuldig verdächtigt» Karte hast. Olivia funkelte Felix böse an, der «Autsch» murmelte, sie vorwurfsvoll anschaute und sich die Wange rieb. Dann wandte er sich an Luna: «Und du?» – «Ich war mit meinen Freundinnen shoppen.» – «Was denn?» Luna schaute auf ihre Karte, aber da stand nichts mehr, das wusste Leslie. Dann würde Luna wohl etwas erfinden müssen.

Was sie auch tat: «Kleider, Make-Up und Accessoires.» So wenig gern Leslie es zugab, langsam gefiel es ihr, wie Felix das Spiel spielte; auch die Unschuldigen mussten denken und nicht nur ablesen. Trotzdem musste sie mit Felix ein ernstes Wörtchen reden. Er spielte nämlich nicht nach den Regeln. Zumindest nicht nach dem, was Leslie bis jetzt für die Regeln gehalten hatte.

«Also, die nächste Frage hängt so stark mit der ersten zusammen, dass ich nicht denke, dass ihr eine halbe Minute Zeit braucht», erklärte Felix. «Sie lautet nämlich: War jemand da, der das bezeugen kann. Also, Luna? Dich, Olivia, frage ich übrigens nicht, weil ich ja weiss, dass deine Schwester da war. Oder war noch jemand da?» Olivia schüttelte den Kopf. «Niemand.» – «Okay. Also, Luna? Deine Freundinnen, klar, aber wie viele? Und wie heissen sie?» Leslie hätte ihn am liebsten ebenfalls geschlagen. Natürlich hatte sie keine Namen aufgeschrieben. Luna schaute auf ihre Karte. «Meine drei besten Freundinnen. Marie, Jenny und… Lea.»