Mallorquinische Sühne - Lilly Alonso - E-Book

Mallorquinische Sühne E-Book

Lilly Alonso

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Beschreibung

Tief in der mallorquinischen Vergangenheit liegt der Schlüssel zu einer Reihe grausamer Morde

Sargento Lluc Casasnovas genießt den Sommer im lauschigen Örtchen Sóller auf Mallorca. Privat läuft es bei ihm zur Abwechslung mal gut. Doch die Idylle ist schnell vorbei: In einem Orangenhain wird die Leiche einer erdrosselten Frau gefunden. In ihrem Mund steckt eine kleine Orange, ein Ohr wurde ihr entfernt. Schnell fällt der Verdacht auf ihren Geliebten. Doch da taucht ein zweites Opfer mit denselben Merkmalen auf. Hat es die Inselpolizei tatsächlich mit einem Serienkiller zu tun? Um einen dritten Mord zu vereiteln und sein balearisches Paradies vor dem skrupellosen Täter zu bewahren, muss der erfahrene Ermittler sein ganzes Können aufbringen und sich seiner eigenen Vergangenheit stellen.

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Seitenzahl: 425

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Das Buch

Sargento Lluc Casasnovas von der mallorquinischen Guardia Civil kann sich nicht beklagen: Es ist mal wieder ein Sommer, wie er im Buche steht. Das Verbrechen scheint eine Pause einzulegen, und sogar privat läuft es bei ihm zur Abwechslung mal gut, die Beziehung mit seiner Freundin Bel macht ihn glücklich. Doch es kommt, wie es kommen muss: Plötzlich zieht Bel sich zurück, und Lluc hat keinen blassen Schimmer, was er falsch gemacht hat. Dann ruft auch noch die Pflicht: Die gemütliche Inselpolizei wird ins kalte Wasser geworfen, als sie es mit einem mutmaßlichen Serienmörder zu tun bekommt, der zwei Frauen nach dem gleichen Muster tötet. Stets legt er ihnen nach dem Mord eine kleine Orange in den Mund und schneidet ihnen ein Ohr ab. Die Jagd nach dem »Orangenmörder« wühlt alte Konflikte wieder auf, die die sonst so eng zusammenstehende Gemeinschaft von Sóller auf eine harte Probe stellen.

Die Autorin

Geboren und aufgewachsen in Hannover, hat Lilly Alonso in Berlin studiert und gelebt, bis die Liebe sie schließlich nach Mallorca geführt hat. Hier genießt sie seit fast 20 Jahren das Inselleben, arbeitet als Zahnärztin, beobachtet Land und Leute und schreibt Krimis.

LILLY ALONSO

MALLORQUINISCHE SÜHNE

KRIMINALROMAN

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Originalausgabe 04/2024

Copyright © 2024 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Ingola Lammers

Umschlaggestaltung: zero-media.net unter Verwendung von Getty Images/Helmut Hess

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-31628-0V001

www.heyne.de

Für Mama und Papa

1

Die Geschichte, die sich seit Wochen zwischen ihnen anbahnte, hätte das Potenzial zu einer ganz großen Liebe gehabt.

Schmetterlinge flatterten wild in ihrem Bauch, als Gloria Ortiz die letzte Stufe der Badeleiter erklomm und sich auf die Faeton 780 Moraga hievte. Salzwasser tropfte von ihrem Körper auf das helle Teakholz, doch so nass fielen wenigstens ihre feuchten Hände nicht auf.

Es war Montagabend, fünf Minuten vor neun Uhr. Die Sonne schwebte über dem Wasser, färbte den Himmel tiefrot, um in Kürze in den Fluten zu versinken.

Die Bucht von Sa Calobra war fast menschenleer. Nur eine Llaüt Menorquin schaukelte neben ihnen in den türkis glitzernden Wogen des Mittelmeers. Eine Welle klatschte gegen den Bootsrumpf, Grillen zirpten auf den buschbewachsenen Felsen, Kokosduft von Sonnencreme lag in der Luft – der Dreiklang des Sommers.

Gloria versuchte, ihr breiiges Grinsen einzustellen, doch es vertiefte sich im gleichen Maß wie ihre Aufregung. Sie war ein Glückspilz, alles lief wie am Schnürchen. Obwohl sie sich fragte, worauf JM noch wartete.

Verstohlen sah sie zu dem Mann, der auf dem Bauch ausgestreckt auf den Polstern der Liegefläche am Bug der Faeton lümmelte.

Unter normalen Umständen hätte das euphorische Kribbeln in ihrem Bauch Glorias Wachsamkeit geweckt.

Doch normal war gestern, und heute gehörte einer neuen Ära an. Die in sechsunddreißig Jahren kontinuierlich entwickelte Bedenkenträgerin in ihr hatte mit dem Mindfulness-Kurs zu Jahresbeginn einen schweren Schlag erlitten.

Schmunzelnd wrang sie das salzige Wasser aus den langen dunkelblonden Haaren und zog den Schlauch der Heckdusche aus der Vorrichtung. Das lauwarme Süßwasser floss in dünnem Rinnsal über ihre Haut. Schon jetzt, Ende Juni, überzog eine schimmernde Bräune ihren schlanken Körper, den das warme Licht der untergehenden Sonne vorteilhaft in Szene setzte.

Sie benutzte nie seinen vollen Namen, nannte ihn nur JM. Das klang so schön nach Cyborg. Einer Maschine ohne die geistigen Fehlleistungen und körperlichen Schwachstellen, die gewöhnliche Menschen plagten. Denn bisher waren nur wenige an ihm festzustellen. Und sie hatte gesucht – offensichtlich war die Bedenkenträgerin nicht einfach verschwunden, ohne Souvenirs zu hinterlassen.

JM war klug, gebildet und besaß Vorausschau. Sei es der Vorzug der spanischen Nationalwahlen auf Juli, die anschließende Pattsituation oder sein Zweifel an der offiziellen Theorie über die Staudammkatastrophe auf dem Festland, der sich nun medienträchtig bewahrheitete – JM hatte alles mit der beängstigenden Präzision eines Wahrscheinlichkeitsrechners vorhergesehen. Und das in den wenigen Wochen, die sie sich kannten.

Die rot glühende Sonne im Rücken ließ seine Silhouette vor dem tiefblauen Meer aufleuchten. Doch es war nicht das Klischee der ausladenden Schultern, muskulären Statur und des kantigen Kinns, das die Sogwirkung auf Gloria ausübte.

Sie hatte eine Schwäche für Unterarme. Breit und behaart, mit dicken blauen Adern, die unter der gebräunten Haut heraustraten. So wie bei JM. Lernte sie einen Mann kennen, landete ihr Blick immer zuerst auf der Innenseite der Unterarme.

JM trug eine Sonnenbrille, doch Gloria wusste, dass er hinter den verspiegelten Gläsern jeden Zentimeter ihres Körpers scannte. Er lächelte, seine vollen Lippen eine Einladung, der sie gleich nachzukommen gedachte.

Die Geschehnisse der letzten Wochen liefen wie ein Film vor ihrem inneren Auge ab. Sie versuchte zu verstehen, wie sie an diesen Punkt in ihrer Beziehung gekommen waren, scheiterte und landete wie jedes Mal beim schlechten Gewissen.

Während der warme Strahl der Dusche über ihre Beine rann, traf Gloria die Entscheidung. Sie würde JM alles erzählen. Die ganze Wahrheit. Bald.

Sofort stellte sich eine Leichtigkeit ein, die ihr Herz beflügelte. Gloria streckte den Rücken für JMs bewundernden Blick durch und wusch das Salz aus ihren Haaren.

Die Badegäste des Strandes von Sa Calobra, die sich vorher als kleine bunte Striche am Ufer abgezeichnet hatten, waren längst mit der letzten Fähre der Barcos azules zurück in den Hafen von Sóller gefahren.

Auf dem Landweg erreichte man die einsame Bucht nur beschwerlich über eine serpentinenartige Straße, was sie zum perfekten Ort für ihre Art von Date machte.

»Es war eine gute Idee von dir, nicht am Wochenende herzukommen. Gestern war es bestimmt nicht so friedlich«, rief sie JM zu.

»Leider stehen mir keine Lorbeeren zu. Es war eher eine notgedrungene Entscheidung. Ich hätte dich lieber schon am Samstag getroffen. Doch wegen der Sturmausläufer konnten wir erst gestern Abend zurück.«

»O Gott, der Sturm. War das Meer aufgewühlt?« Meterhohe Wellen zogen vor ihrem inneren Auge vorbei wie in diesem Film mit George Clooney.

»Nein, am Sonntag war alles weg. Was für ein Kahn! Der würde sogar einen Sturm überstehen. Da kommt man sich vor wie Bill Gates, und das, ohne einen Cent ausgeben zu müssen.« JM begann, von der sechsundzwanzig Meter Explorer zu schwärmen, die er als professioneller Kapitän vom Festland auf die Insel überführt hatte.

Vollverdrängerrumpf, harte Kimm, Gyroskopstabilisatoren – Gloria blendete sein Fachchinesisch aus und beobachtete stattdessen die Bewegungen seines Mundes. Sie verstand nichts von Schiffshydraulik, doch wenigstens erklärte der berufsbedingte Wochenendtrip das merkwürdige Montagsdate, das sie anfangs etwas irritiert hatte. Eigentlich bis eben noch.

JM beendete seine Ausführung und sah sie gespannt an, als würde er eine Antwort erwarten. Fieberhaft suchte sie nach etwas Geistreichem, unspezifisch genug, um zum Thema und zu möglichen Abzweigungen davon zu passen. »Der Eigner kann froh sein, Leute wie dich zu haben.«

»Er kann nicht einmal ein Ruderboot lenken. Doch dafür ist er schlau genug, sich ein solches Gefährt zu leisten. Guter Ausgleich, wenn du mich fragst. Man kann eben nicht alles haben.« JM zuckte mit den Schultern, prostete ihr mit seinem leeren Weinglas zu und strich sich die Haare aus dem attraktiven Gesicht.

Eckdaten über ihr Leben, ihre Familiensituation, Lieblingsfarben und -gerichte waren in zwei zuvor erfolgten Treffen ausgetauscht worden. Lubina in Salzkruste und Safarigrün deuteten auf einen Mann mit Geschmack hin, seine überraschende Feinfühligkeit ein Relikt der Kindheit neben zwei älteren Schwestern und einem kleinen Bruder. Nun war es Zeit, anzutesten, ob sie auch körperlich harmonierten.

Ein lautes Tuckern riss sie aus ihrem versenkten Suhlen im Glück.

Die Segeljacht nebenan lichtete die Ankerkette und legte den Rückwärtsgang ein. Der Kapitän, ein grauhaariger Mann mit ledrig zerfurchtem Gesicht wie eine Landkarte, winkte ihnen zum Abschied zu.

Die Llaüt tuckerte aus der Bucht und zog einen weißen Schaumschleier hinter sich her. Endlich waren sie allein.

Der unausgesprochene Plan bestand darin, die Nacht hier draußen gemeinsam zu verbringen. Zumindest hatte Gloria es so interpretiert.

Sie schob ihre Zweifel beiseite. Notfalls würde sie dafür sorgen. Es bestand kein Zeitdruck, niemand musste morgen ins Büro – sie selbst arbeitete noch zwei Wochen im Homeoffice, und JM trat seine neue Stelle erst nächsten Monat an.

»Jetzt ein kühles Gläschen Wein«, sagte Gloria, um irgendetwas zu sagen, und kam sich augenblicklich idiotisch vor. Schmetterlinge im Bauch und Gehirnerweichung standen in direktem Zusammenhang.

»Eiskalt in der Tat.« JM zog zum Beweis die Flasche Rosado aus dem Sektkübel, nahm langsam die Sonnenbrille von der Nase und sah ihr tief in die Augen.

Für einen Moment stand die Zeit still. Unterstützt vom Zirpen der Zikaden dudelte Bobby Farrells »Happy Song« wie das Leitmotiv des Abends aus der tragbaren Bose-Box und öffnete ein Fenster in die Ewigkeit.

Gloria schlang sich ein Badehandtuch um den Körper, löste den Blick und unterbrach damit den magischen Moment, der beinahe unerträglich geworden war. Sie lachte auf, was lässig wirken sollte, doch nur ihre Verlegenheit wiedergab.

Schnell kletterte sie zu JM auf den Schiffsbug. Er legte den Arm um sie und beugte sich zu ihr zu einem Kuss. Seine vollen Lippen waren weich und schmeckten salzig von dem Restmeerwasser auf Glorias Haut.

Widerstrebend löste er sich von ihr und stöhnte auf. »Ein Gläschen auf den Sonnenuntergang. Nachher ist es so dunkel, dass man die Hand vor Augen nicht mehr sieht.« Bedeutungsvoll ließ er die Augenbrauen auf und ab tanzen.

Das leise Ploppen des Korkens läutete den zweiten Akt des Abends ein. JM goss den Rosado in die Gläser und reichte Gloria eins.

Mit zittrigen Fingern hielt sie sich an dem bauchigen Kelch fest. »Salut.«

Sie stießen an. Glücklicherweise setzte JM seine Sonnenbrille wieder auf und ersparte Gloria, sich ein weiteres Mal in die Tiefen der Seele blicken zu lassen.

Aneinandergeschmiegt nippten sie schweigend an dem leicht prickelnden Rosé und beobachteten, wie die Sonne in der silbrigen Oberfläche des offenen Meeres verschwand.

Die Welt war weit, wunderbar und buchstäblich rosarot. Der Himmel brannte, der glühende Ball versank, und schon Sekunden später übernahmen die Schatten die Regie.

»Finden wir nachher im Dunkeln zurück?« Natürlich hatte Gloria diesbezüglich keine Befürchtungen. Als erfahrener Kapitän kannte JM diesen Teil der Küste besser als seine Westentasche. Doch die Antwort würde einen Blick auf seine Pläne eröffnen. Und ihre Zweifel beilegen.

»Wir können auch einfach hierbleiben.« Er schob sich die Sonnenbrille auf den Kopf, und sein durchdringender Blick vermittelte genau die Botschaft, die Gloria erhofft hatte.

Dunkelheit zog in rasantem Tempo über die Bucht, als hätte jemand einen Dimmer betätigt, und umhüllte sie wie ein schweres Tuch. Nur sie beide und die Grillen in der wilden Natur der Felsküste.

Die ersten blassen Sterne zeichneten sich am wolkenlosen Nachthimmel ab.

JM drehte die Musik auf und schaltete die Außenleuchten der Faeton an, die im dunklen Wasser einen türkisfarbenen Heiligenschein um das Boot erzeugten.

Eine kühle Brise vom offenen Meer stellte die feinen Härchen auf Glorias Armen auf. »Ich ziehe mir mal besser etwas Trockenes an.« Auch wenn das frische Kleidungsstück nicht lange an ihrem Körper verweilen würde.

Vorsichtig stieg sie die drei feuchten Treppenstufen in die Kajüte hinunter. Ihre Tasche lag verstaut in dem eingebauten Fach unter dem großen Bett. Die Liegefläche nahm zwar den Großteil des Raumes ein, bot aber auf der gegenüberliegenden Wand ausreichend Platz für eine schmale Küchenzeile und eine Toilettenkabine. Schwimmutensilien, Handtücher und anderer Kram bedeckten die halbe Matratze.

Wie immer unter Deck überkam Gloria ein leichter Schwindel. Sie schloss die Augen und kämpfte gegen die ansteigende Übelkeit an. Als die erste Welle verebbte, schob sie Schwimmflossen, Taucherbrillen und eine alte Zeitung beiseite, um Platz für ihren Korb zu schaffen.

Schnell streifte sie die nassen Badeklamotten ab und zog den meerblauen Paillettenbikini über, den sie vor einigen Tagen für dieses Date in Palma gekauft hatte. Die Farbe akzentuierte ihre Bräune und bildete einen coolen Kontrast zu ihren hellen Haaren.

Die nassen Sachen wickelte sie in eine Plastiktüte, verstaute sie in ihrer Tasche und schob diese zurück in das Fach unter das Bett.

Ein Funkeln auf dem Boden erregte ihre Aufmerksamkeit.

Sie verharrte in ihrer gebückten Haltung und streckte die Hand nach dem Gegenstand aus. Ein erneuter Schwall Übelkeit überfiel sie, als das Boot von einer stärkeren Welle getrieben leicht seitwärts kippte. Gloria kniff die Augen zusammen, atmete tief aus, bis die Faeton zurück in die stabile Lage schaukelte. Leider schien dieses Boot nicht über diese vorher erwähnten Gyrosstabilisatoren zu verfügen – oder wie die Teile hießen.

Ihre Finger schlossen sich um kühles Metall. Sie richtete sich auf und betrachtete den Gegenstand.

Neugierde verwandelte sich in Entsetzen, als sie das Ding auf ihrer Handfläche anstarrte. Das Blut rauschte in ihren Ohren, während ihr Atem sich beschleunigte, im Versuch gegen die plötzlich entstandene Enge in ihrer Kehle anzukämpfen.

Das konnte nicht wahr sein. Nicht schon wieder.

Gloria Blick fiel auf die Última hora, die zusammengefaltet unter einem feuchten Handtuch begraben lag. Ihre Hand zitterte, als sie nach der Zeitung griff und, einer Eingebung folgend, das Datum der Ausgabe auf der Titelseite suchte.

Sonntag. Gestern.

Eine Lüge. Es war alles eine verdammte Ausrede.

Manchmal war das Leben zu schön, um wahr zu sein. Das farbenfrohe Geschehen welkte wie ein verdorrtes Blatt. Die Illusion, die Euphorie und alles Rosarot schmolzen zu einem unförmigen braunen Klumpen zusammen.

Glorias Knie wurden weich, als das überschießende Glücksgefühl nun vollends ihrem Körper entwich. Stumpf und ausgelaugt starrte sie auf das von Feuchtigkeit gewellte Frontblatt der Zeitung.

Was nun?

Gloria schloss die Augen und fühlte das Brennen hinter ihren Lidern.

Wütend biss sie die Zähne zusammen und blinzelte die Tränen fort.

Es hatte alles so gut begonnen. Wehret den Anfängen, jetzt galt es, die richtigen Züge zu spielen, bevor diese Beziehung schon am Anfang in eine ungesunde Richtung abdriftete, und eine respektvolle Einstellung zu sich selbst einzunehmen.

Doch welche war das?

Es kribbelte ihr in den Fingern, JM zu konfrontieren und ihm zu sagen, wohin er sich sein verlogenes Geschwätz hinstecken konnte. Zuzusehen, wie das Lächeln aus seinem glatten Lügnergesicht rutschte.

Wenn er sie ein Stück hinausfuhr, würde sie den alten Mann mit der Llaüt erwischen und bitten, sie zurück nach Port de Sóller zu bringen. Bei dem Schneckentempo konnte der nicht weit gekommen sein.

Doch ein Teil von Gloria war nicht bereit, die romantische Vorstellung einer Verbindung mit JM loszulassen. Es passte einfach zu gut. Sie dachte an sein Lächeln, seine unaufdringliche Intelligenz und natürlich an diese Unterarme. Vielleicht gab es eine logische Erklärung für alles?

Zum x-ten Mal in ihrem Leben verfluchte sie den Umstand, bei der Geburt keine Gebrauchsanweisung erhalten zu haben mit klaren Instruktionen für Situationen wie diese.

Rutschte sie gerade in die Falle ihrer abgelegt geglaubten Muster zurück? Oder stellte das Ignorieren ihrer Bedenken die Falle dar? Die Augen vor den Fakten zu verschließen? Immerhin hatte Gloria ihn bei einer Lüge ertappt. Niemand konnte sich gleichzeitig in Barcelona und Mallorca aufhalten.

Sie schloss die Augen, atmete tief durch. Und traf eine Entscheidung.

Entschlossen zupfte sie sich das Bikinihöschen zurecht und schüttelte die nassen Haare aus, die ihr in kaltem Fächer über den Rücken fielen.

Den Metallgegenstand spitz zwischen Daumen und Zeigefinger geklemmt, stieg sie klopfenden Herzens die Stufen an Deck hoch.

In der Zwischenzeit hatte JM es sich auf der Sitzbank am Bug bequem gemacht, hielt sein Gläschen Rosado in der Hand und sah verträumt in die Dunkelheit. Sein Blick schweifte zu Gloria, glitt bewundernd über ihren Körper und den meerblauen Paillettenbikini. Das Lächeln auf seinen Lippen gefror, als er ihre in die Hüfte gestemmte Hand und ihren Gesichtsausdruck wahrnahm.

»Was ist los?« JM stellte das Weinglas ab. »Alles in Ordnung?« Er setzte sich auf und produzierte ein Quietschen auf dem Sitzbankleder.

Sein besorgter Blick landete auf dem Gegenstand, den Gloria ihm zwischen spitzen Fingern entgegenhielt.

»Was ist das?«, fragte er.

»Das lag unten auf dem Boden. Hat wohl jemand kürzlich verloren.« Glorias Stimme klang weich, neutral und vorwurfslos in ihren Ohren, als sie ihm das Ding vor die Nase hielt und sein Gesicht auf der Suche nach einer Regung scannte.

Seine Augen weiteten sich vor Überraschung. Die Verblüffung der Lügner, wenn sie entlarvt und mit ihrer Lüge konfrontiert werden? Er schien nachzudenken, wobei seine Augenbrauen sich fast über der Nasenwurzel vereinten.

Sein Blick wanderte von ihrer Hand nach oben und traf sich mit ihrem. Ruhig, gelassen, direkt. Ohne ein Blinzeln oder Ausweichen. »Ich habe keine Ahnung, was das ist. Mir gehört es jedenfalls nicht.« JM wirkte ratlos, fast unschuldig, doch Gloria entging nicht das kleine Aufflackern in seinem Blick.

Er ließ sich auf die Polster der Sitzbank zurückfallen. Sein Lächeln erschien ihr wie eine Hand, die sie nur ergreifen musste, um ins rosarote La-La-Land zurückzukehren.

Gloria zögerte. Ihre Gedanken rasten, überholten einander, stolperten.

Ihre Bedenken schmolzen dahin. Sie schalt sich eine Idiotin. Herzklopfen, Schmetterlinge, I am happy …

JM lächelte noch immer in Erwartung ihrer Reaktion, die den weiteren Verlauf des Abends bestimmen würde.

Gloria atmete tief ein. Gab den Widerstand auf und setzte zum Sprechen an.

Doch bevor auch nur ein Wort über ihre Lippen kam, blitzte ein Licht aus dem Nichts auf, verdrängte die Dunkelheit am Horizont, wo Sekunden zuvor nur die pechschwarze Finsternis des Mittelmeeres geherrscht hatte.

JM fuhr herum. »Was zum Teufel …«

Ein Streifen zog über den Himmel wie eine Sternschnuppe. Nur schneller. Schneller als alle Flugobjekte, die Gloria jemals gesehen hatte.

Das Phänomen erinnerte an den im August stattfindenden Perseiden-Meteoritenschauer, die Lágrimas de San Lorenzo. Doch während diese sogenannten Laurentiustränen lilafarben in Hunderten Kilometern Entfernung am Himmel ihre Bahn zogen, flog diese Erscheinung näher. Viel näher.

Es produzierte weder das Geräusch eines überfliegenden Flugzeuges noch die blinkenden Lichter anderer Farben, die sie als Warnleuchten von Heckflügeln oder Rotoren gekennzeichnet hätten. Nur den grellen weißen Schweif.

Gloria vergaß ihr Entscheidungsdilemma, den Mund zu schließen und sogar zu atmen.

Das Objekt zog eine halbkreisförmige Bahn am Himmel und verschwand dann westlich im Meer, genau wie vorher die Sonne, als existierte dort ein verborgener Ausgang aus dieser Welt.

Hinter ihnen bohrte sich ein zweites Licht durch die Dunkelheit. Ein Lichtkegel aus einer unbewegten Quelle an Land. Dunkler, normaler.

Sie fuhren beide herum. Der riesige Scheinwerfer des Militärradars auf dem Puig Mayor folgte dem gleißenden Lichtobjekt – dem Ding hinterher, das gerade am Horizont im Meer verschwunden war. Die golfballförmige Konstruktion auf dem Gipfel des höchsten Berges der Insel überwachte das westliche Mittelmeer bis nach Algerien. Dann erlosch auch der Suchscheinwerfer.

Der sternenklare Nachthimmel wirkte trotzdem einen Deut heller als noch einen Moment zuvor.

Obwohl nur wenige Sekunden vergangen waren, erschien es, als würde die Zeit zu einem greifbaren Gebilde erstarren.

Gloria blinzelte. Ihr Herz trommelte wieder einen wilden Rhythmus, doch dieses Mal steckte ein anderer Grund dahinter.

Sprachlos sah sie JM an. Sein Gesicht spiegelte ihr eigenes Erstaunen.

Alles hatte sich verändert. Und das bezog sich nicht auf die Romantik, denn die hatte sich schon vorher grußlos verabschiedet. Obwohl aus der Lautsprecherbox weiterhin Musik dudelte, hatte sich auch die Geräuschkulisse gewandelt. Es fiel Gloria schwer, den Grund auszumachen, bis es ihr dämmerte.

Die Zikaden waren verstummt.

2

Agente Francisca Gual von der Guardia Civil hatte ein Problem. Und ihr blieben noch genau neun Tage Zeit, es zu lösen.

An diesem frühen Dienstagmorgen um kurz nach sieben war der Strandabschnitt von d’en Repic in Port Sóller fast menschenleer. Nur eine Rentnerin in pinken Caprileggins und passender Bauchtasche zog ihre Walkingrunden am Ufer, unterbrochen von gelegentlichen Kniebeugeeinlagen an der Promenadenmauer.

Gual hob die Hand zum Gruß und blickte sich um. Wer Augen hatte, der sah. Die Welt stand in ständiger Kommunikation mit ihren Bewohnern, es erforderte nur ein bisschen Aufmerksamkeit.

Der wolkenlose Himmel bot heute keine Zeichen, ein heißer Tag bahnte sich an. Eine auflandige Brise wehte den Geruch von Salz und Algen in den runden Naturhafen. Nicht einmal die Sturmtaucher und Korallenmöwen hatten etwas zu meckern, das Gual Stoff zur Interpretation geliefert hätte.

Dann sah sie es.

Das vergessene Wahlplakat hing an einem Laternenpfahl, oberhalb eines Jobgesuchs für Gartenarbeiten. Vergilbt und von der Witterung an den Rändern aufgeweicht, hatte das Poster organische Eigenschaften angenommen und sich wie ein Chamäleon in die Natur integriert. Ein Lokalpolitiker der PSOE mahnte, dass, wenn Großes bevorstand, Vertrauen der Weg sei.

Aus dem Handylautsprecher eines Mitarbeiters der Straßenreinigung ertönte Pharrell Williams’ »Happy«, während der Mann seine Tonne auf Rädern hinter sich herzog.

Zufrieden nickte Gual im Rhythmus der fröhlichen Klänge. Etwas Bevorstehendes, Großes. Vertrauen. Happy. Gab es ein deutlicheres Omen? Man musste kein erfahrener Zeichendeuter sein, um die Botschaft zu verstehen – und Gual verstand sich auf Zeichen.

Sie fühlte es im Kribbeln ihrer Zeigefingerspitzen, in der vibrierenden Unruhe der Muskeln ihrer Wade, in dem aufsteigenden Brennen ihres Reflux.

Heute würde etwas geschehen. Vielleicht der große Durchbruch? Sie musste nur vertrauen.

Trotz des früheren Aufstehens war die Einsamkeit am Morgen bewusst gewählt. Denn Badegäste, auf die sie Rücksicht nehmen musste, Zuschauer oder noch schlimmer Zeugen ihres Misslingens brauchte Gual jetzt wie eine Influenza A während der Sommerferien.

Sie überquerte den Sand zum Ufer, legte ihre Sachen ordentlich zusammen und ließ den Blick über das glatte Hafengewässer wandern.

Wie immer wellenfrei, glich es am frühen Morgen auch farblich einem Spiegel. Silbern glitzerte es in der Morgendämmerung und den ersten Sonnenstrahlen. Es wirkte eben und solide, dass sogar Übers-Wasser-Gehen wie eine ernsthafte Option erschien.

Eine Miniwelle umspielte Guals nackten Knöchel, ließ den Glitzernagellack auf ihren Zehen wie regenbogenfarbene Fischschuppen reflektieren.

Langsam watete sie ins Meer, während sie das mitgebrachte Stand-up-Paddelboard neben sich herschob. Den Grund ihres Kommens.

Der weiche Sand unter ihren Füßen spendete Trost und Zuspruch, beruhigte die flaue Angst in ihrer Magengrube.

Als sie sich hüfttief im kalten Wasser befand – fünfundzwanzig Grad klangen wärmer, als sie sich anfühlten –, blieb sie stehen und starrte das Ding an.

Groß und wuchtig und himmelblau. Und dabei hatte Gual die Hölle immer mit Rot oder Orange assoziiert.

Sie zog die Mundwinkel nach oben und lächelte das Board freundlich an. Von wegen Echo und so.

Ziemlich neutral lag das Brett wie ein … Brett auf der Wasseroberfläche. In Guals Zeichenanalogie bedeutete das eine Einladung, den heutigen Übungstag zu starten.

Sie zählte bis drei, stieß sich ab und ließ sich der Länge nach auf das Board fallen. Obwohl das elegantere Gleiten früherer Versuche sich nicht bewährt und das Fallenlassen sich als stabilere Lösung erwiesen hatte, kam es gefährlich ins Schwanken.

Gual biss ärgerlich die Zähne zusammen und balancierte das Ding aus. Verhinderte im letzten Moment den ersten Ausflug ins Wasser.

Eine gute Stunde blieb ihr, bevor ihr Dienst im Revier der Guardia Civil begann. Da der Chef heute seinen ersten Urlaubstag antrat, ermahnte Gual sich, pünktlich zu sein – auch wenn sie nicht wirklich Gefahr lief, vor lauter Selbstvergessenheit und Freude die Zeit aus den Augen zu verlieren.

Glücklicherweise hatte Francisco diese Woche Fahrdienst, um die Kleine morgens in den Kindergarten zu bringen.

Niemand ahnte, dass sich Guals Bemühungen auf dem verhexten Stand-up-Paddelboard bislang nur auf Paddeln beschränkten – von Stehen keine Rede. Und bis zu ihrem Urlaubsantritt in neun Tagen musste sie es irgendwie geschafft haben, sich in aufrechter Haltung auf dem Ding fortzubewegen. Sonst konnte sie gleich zu Hause bleiben.

Sie legte das Ruder quer übers Board und paddelte mit den Händen hinaus aufs Meer.

Glatt und wellenfrei. Gual atmete tief durch, erinnerte sich an ihr Mantra. Kein Feind weit und breit, niemand trachtete danach, sie scheitern zu sehen. Weder das Board noch das Meer hatten Böses im Sinn.

Ohne die Wasseroberfläche aus den Augen zu verlieren, schob sie sich in die kniende Position.

Ein Zodiac tuckerte zur Hafenausfahrt, wirbelte einen weißen Schaumkronenschwanz hinter sich auf, der sich in Miniwellen zum Ufer fortsetzte. Als sie Gual erreichten, hatten sie die Größe eines Tsunamis angenommen.

Das Board hüpfte über die winzigen Wogen. Gual versteifte sich, stellte Hände und Knie tischförmig in sicherem Rechteck auf.

Die Wellen zogen vorbei. Gual blieb auf dem Board.

Beflügelt vom Fortschritt, beschloss Gual, es zu wagen. Das heilige Aufstehen.

Sie wartete ab, bis das Wasser wieder Spiegelcharakter annahm und niemand im unmittelbaren Umfeld Anstalten machte, den Motor seines Bootes anzuschmeißen oder den Hafen zu verlassen.

Vorsichtig stellte sie den linken Fuß auf, ohne ihn zu belasten. Sie verlagerte ihr Gewicht, während sie gleichzeitig den rechten in die gleiche Position nachzog. Die Oberschenkel in volle Spannung gebracht, drückte sie langsam die Knie durch.

Es geschah, was immer passierte.

Einer ihrer Füße entwickelte ein Eigenleben und belastete das Board überproportional stärker als die andere Seite. Das Brett kippte seitwärts, ihre linken Zehen versanken im Wasser. Panisch verstärkte Gual das Gewicht auf den rechten Fuß, um Ausgleich zu schaffen.

Leider traf sie nicht die richtige Stärke für eine simple Balance. Das Brett kippte nun nach rechts.

Es folgte eine Wipppartie wie auf dem Kinderspielplatz. Mal links, dann rechts, bis Gual das Gleichgewicht verlor und eine saftige Seitenbombe ins Wasser hinlegte, wobei sie ihr linkes Knie überdehnte.

Das eiskalte Meer zeigte Zähne, schnappte nach ihrer mittlerweile aufgeheizten Haut. Doch schlimmer schmerzte das Versagen.

Triefend wuchtete Gual sich zurück aufs Brett.

Buchstäblich jeder, den sie kannte, konnte stand-up-paddeln. Zwar war sie nicht die athletischste Person der Welt, doch wie viel Sportlichkeit erforderte ein simples Aufrichten auf einer schwimmenden Plattform der Größe eines ausgewachsenen Wals?

Sie würde es schon schaffen. Sie musste einfach. Zu viel hing davon ab. Ihr Ansehen, ihre Würde und die linke Patellasehne.

Vermutlich verhielt es sich wie mit dem Fahrradfahren ohne Stützräder, das bei Gual ebenfalls einige Wochen und viele gescheiterte Versuche in Anspruch genommen hatte. Schon frühzeitig war dieser ausgeprägte Mangel an Balance aufgefallen, der weit über das Normale der anderen Kinder hinausging.

Vielleicht erklärte das äußere Ungleichgewicht Guals Bedürfnis nach innerer Rechtwinkligkeit. Geometrische Ordnung gab Halt, vermittelte Geborgenheit.

Sauber übereinandergelegte Kanten von Aktenordnern, Unterhosen oder Geschirrtüchern. All das wirkte wie ein innerer Rollator für ihre äußere Instabilität.

Warum hatte sie sich bloß auf diese Challenge eingelassen? So getan, als wäre es die beste Idee seit Menschengedenken? Doch andererseits ließen neue Herausforderungen einen als Person wachsen. Die Komfortzone verlassen – von der hatte Gual sich schon meilenweit entfernt.

Vom Ufer schrie jemand ihren Namen.

Erschrocken presste Gual sich flach aufs Brett. Ihr Herz pochte gegen das aufblasbare Hartgummi. Wer entdeckte sie um sieben Uhr früh auf einem verdammten Surfboard draußen auf dem Wasser? Sie würde einfach vortäuschen, nichts gehört zu haben.

Doch die Person ließ sich nicht beirren. Das Rufen wurde lauter.

Ihre Tochter! Vielleicht war Carolina etwas passiert? Notgedrungen drehte sie den Kopf Richtung Strand und stützte die Ellenbogen auf.

Ein Mann stand Arme schwingend am Ufer und rief ihren Namen.

Sie kniff die Augen zusammen, blinzelte gegen die helle Sonne an und wischte sich salziges Meerwasser aus den Wimpern, die sie glücklicherweise noch nicht getuscht hatte.

Francisco.

Doch was wollte ihr Mann hier?

So souverän wie möglich paddelte Gual mit den Händen zurück zum Ufer.

Wie immer, wenn er ungeduldig wurde, zog Francisco seine bulligen Schultern hoch, was ihn halslos wirken ließ. Sorgfältiges Frisieren kaschierte die lichten Stellen seines mausbraunen Haars am Oberkopf, die trotz seiner erst neununddreißig Jahre täglich zunahmen. Ein Umstand, der zu viel Kummer und morgendlichem Stau im Badezimmer führte, obwohl Gual jeden kahlen Millimeter an ihm liebte.

Francisco fuchtelte mit einem Gegenstand in seiner Hand herum, den sie auf die Entfernung nicht erkennen konnte.

»Wieso paddelst du auf dem Bauch?«, fragte er, als sie nah genug gekommen war, um ihn zu hören. »Im Stehen geht es doch viel schneller.«

Gual presste die Lippen zusammen und schwieg. Selbst Francisco, dessen einzige sportliche Betätigung im Aufstehen vom Sofa bestand, um sich die zweite Tüte Chips zu holen, schaffte verdammtes Stand-up-Paddeln.

Sie liebäugelte mit dem Gedanken, hier und jetzt die Bombe platzen zu lassen. Tränen der Wut sammelten sich in ihren Augenwinkeln, verdampften im Feuer des Ärgers.

Doch ihr Mann kannte sie zu gut. Er legte den Kopf schräg und sah sie forschend an. »Was ist los?«

»Nichts. Warum bist du hier? Ist was passiert?« Spionierte er ihr etwa nach? Adrenalindurchflutet und klopfenden Herzens setzte Gual sich auf. Das Brett wackelte bedenklich.

Francisco runzelte die Stirn und heftete seinen Blick auf das Board. »Du hast deinen Hausschlüssel vergessen.«

Die Anspannung fiel von Gual ab. »Mist. Carolina wollte heute Gummistiefel anziehen. Und das bei angesagten achtunddreißig Grad.« Jeder Morgen entfachte einen neuen Kampf mit dem Willen der Vierjährigen. Grenzen wurden gedehnt, Limits ausgetestet und neue rote Linien in den Sand gemalt. »Danke Francisco. Lieb von dir, ihn zu bringen.« Sie wies auf ihren Handtuchhaufen direkt am Uferrand, unter dem sie ihre Tasche versteckt hatte. »Leg ihn in den Strandkorb.«

Ihr Mann verstaute den Schlüsselbund in den Tiefen der Strohtasche und bedeckte sie mit den Handtüchern.

Und machte keine Anstalten zu gehen.

»Musst du nicht zur Arbeit?« Auf einen selbstständigen Handwerker wartete niemand mit Stechuhr, doch die Fliesen eines Badezimmers legten sich nicht von alleine.

»Die Baustelle ist oben an der Kirche.« Fünf Minuten Fußweg vom Strand. »Ich bin gut in der Zeit.«

Sie starrten sich über das Wasser hinweg an. Von der Brandung getrieben, schaukelte Guals Surfboard näher ans Ufer.

»Brauchst du Hilfe?«

»Wieso?« Gual schwitzte, obwohl sie noch immer nass war. »Seh ich so aus?«

»Ja.«

Mist. Sie verschoss Munition, wenn sie ihr Dilemma zugab und sich als komplette Loserin outete. Besonders, da sie ihrem Mann vorwarf, unselbstständig zu sein und nicht die einfachste Tätigkeit ohne ihre Hilfe durchzuführen. Er wusch Feinwäsche bei neunzig Grad, ließ Carolina während seiner Aufsicht die Schränke ausräumen und putzte Spiegel mit Antikalkspray.

Doch vielleicht konnte Francisco ihr helfen?

Bevor sein kritischer Blick ihre Resolution schwanken ließ, durchbrach gedämpftes Quaken die aufgeladene Stille zwischen ihnen. Er wandte sich zum Handtuchbündel und deutete auf die Tasche. »Soll ich rangehen?«

Das Quaken erstarb.

Den wichtigsten Kontakten hatte Gual ein bestimmtes Klingelsignal in ihrem Handy zugeordnet. Ihre Mutter rief mit Luis Fonsis »Échame la culpa« an, was Guals Meinung nach das schuldbehaftete Verhältnis tiefsinnig widerspiegelte. Francisco gehörte zum Hundebellen – denn die bissen nie, und alles Jobrelevante, also Lluc, Fina und der Festanschluss des Polizeireviers, zum Froschgequake.

Dankbar für die Ablenkung sprang Gual vom Brett, sprintete durchs flache Wasser und zog das Board hinter sich her.

In wenigen Schritten hatte sie ihre Tasche erreicht und wühlte das Telefon unter Klamotten, Kekspackung und Schminktäschchen hervor.

Vicente, der wachhabende Kollege, hatte eine unmissverständliche Nachricht geschickt.

Bitte sofort melden. Wir haben eine Leiche.

Guals Herz schlug schneller. Scham und Frust vergessen, schuf es Raum für Entsetzen. Doch wenigstens verschaffte ihr das eine Ausrede, die Stunde frühzeitig zu beenden.

Die Zeichen am Morgen – Gual hatte sie richtig erkannt, doch ärgerlicherweise falsch interpretiert.

Heute war tatsächlich etwas geschehen.

Nur leider nicht ihr erhoffter Durchbruch.

Noch acht Tage.

3

Die befürchtete Frage, die drohte, die Idylle von Lluc Casasnovas’ kleiner Wanderung zu zerstören, kam kurz vor dem ersten Glas frisch gepressten Orangensafts auf der Finca Balitx d’Avall.

Die Welt war friedlich gewesen an diesem Dienstagmorgen um Viertel nach acht, als er seine Freundin Bel die Küstenroute Richtung Cala Tuent entlangführte.

Der erste Tag seines lang ersehnten Urlaubs.

Insekten zirpten in den Aleppokiefern, der Duft von honigsüßem Steinkraut und feuchter Erde erfüllte die klare Luft.

Lluc ging voran, die sichere Vorhut ihres Marsches, Bels leises Schnaufen nur wenige Schritte hinter ihm.

Sie waren am Aussichtspunkt des Mirador de ses Barques gestartet. Die erste Etappe der Route führte durch wilde Berglandschaft, an malerischen Orangenbäumen und jahrhundertealten Olivenhainen entlang. Der zweite Teil der Strecke verlief mit Blick aufs Meer direkt an der Steilküste zur beliebten Badebucht von Cala Tuent. Dort wartete frischer Calamar mit Tumbetgemüse zum Mittagessen und eine Rückfahrt mit einem kleinen Boot der Barcos azules.

In der Tramuntana gab es unzählige Wanderwege, doch hatte Lluc diese Tour bewusst gewählt – ein idealer Auftakt für seine sogenannte Woche der Genesis. Laut Bibel erschuf Gott die Welt in sieben Tagen. Obwohl Lluc nicht sonderlich religiös war, erschien es ihm trotzdem ein guter Maßstab, in derselben Zeitspanne eine viel kleinere Tat zu bewerkstelligen – schließlich litt er nicht unter Größenwahn.

Eine Überraschung zum einjährigen Beziehungsjubiläum und Bels bevorstehenden Geburtstag. Sein Geschenk an diese wundervolle Frau und Beitrag an ihre Beziehung, der momentan ein kleiner Reanimationspush nicht schadete.

Es war kein konkreter Vorfall, der ihm das Gefühl bereitete, das sie ihm entglitt, eher subtile Anzeichen, die selbst ein unsensibler Gebirgsesel wie er zu deuten wusste. Eine nachdenkliche Abwesenheit in ihrem Blick, ein nicht fassbarer Rückzug in sich selbst, wo vorher Offenheit und Zugewandtheit geherrscht hatten.

Sieben Tage spezieller Spaß standen auf dem Programm, der in ihrem Geburtstag am nächsten Dienstag seinen Höhepunkt finden sollte. Eine Überraschung pro Tag, bestehend aus Aktivitäten, die der normale Arbeitsalltag selten erlaubte. Quality Time hieß das, wie er in einer Zeitschrift im Wartezimmer seines Zahnarztes kürzlich gelesen hatte. Der Artikel richtete sich hauptsächlich an Männer, die damit ein größeres Verständnisproblem zu haben schienen. Dankbar für die eingängigen Erläuterungen hatte Lluc den Beitrag abfotografiert und den Plan ersonnen.

Heute war die Küstenwanderung geplant, für den morgigen Tag Valldemossa, wo Lluc am Abend zwei Karten für ein Open-Air-Klavierkonzert im Klostergarten reserviert hatte. Mondscheinserenade oder so was, ständig vergaß er den Titel, aber selbst für realen Vollmond war gesorgt. Klassische Musik zählte nicht zu Llucs Vorlieben, genauso wenig wie Kunst, doch Setting und Begleitung stimmten, und eine Bar gab es auch. Ein Glas Rioja würde ihm schon über die schlimmste Langeweile helfen. Bel würde es lieben, und er liebte Bel. Ende des Themas.

Doch die größte Überraschung war für ihren Geburtstag vorgesehen: Dinner bei Kerzenschein und Sternemenü über dem Meer, im Sonnenuntergang vom Béns d’Avall. Das Romantischste, das die Insel zu bieten hatte.

Lluc kickte loses Geröll und abgebrochene Zweige zur Seite und arbeitete sich an einem unbefestigten Pfadstück hoch. »Vorsicht, Rutschgefahr. Tritt möglichst auf dieselben Steine wie ich«, mahnte er und bog für Bel den dicken Zweig einer Steineiche zur Seite, der ihm fast das Gesicht zerkratzt hatte. Ein Mittelmeersturm war am Wochenende über die Insel gefegt, hatte in einer dreißigminütigen Blitzaktion Äste zerknickt, Bäume entwurzelt und das eine oder andere Dach abgedeckt.

Aus dem Augenwinkel sah er sie mit energischen Bewegungen aufschließen. Lluc unterbrach seinen Wanderschritt, blieb am Wegesrand stehen und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

Er blinzelte gegen die helle Sonne auf das Panorama vor ihm, als würde er verschnaufen, obwohl nicht Atemnot ihn zu dieser Pause animiert hatte. Ebenso wenig wie die Aussicht – auch wenn er diese Ausrede lieber nutzte als Kurzatmigkeit.

Saftig grüne Bergflanken und terrassenförmig angelegte Zitrushaine säumten das Tal, bis hinten am Horizont das tiefe Blau des Mittelmeeres mit dem helleren Ton des wolkenlosen Himmels verschmolz. Den Weg weiter runter wartete der frisch gepresste Orangensaft aus eigenem Anbau der Finca Balitx d’Avall.

Doch Lluc hatte kein Auge für die Schönheit der Landschaft.

Schnaufend schloss Bel die letzten Meter der steilen Steigung zu ihm auf. Ihre langen, zu einem dunklen Zopf gebundenen Haare wippten im Rhythmus ihrer Schritte. Die roten Bäckchen der Anstrengung auf ihrem olivfarbenen Teint ließen sie frisch und viel jünger als ihre vierzig Jahre wirken. Sie reckte sich an ihm vorbei, um einen Blick ins Tal zu erhaschen, und die Berührung ihres Körpers entfachte kleine Stromstöße unter seiner Haut.

»Und? Was sagst du nun dazu, nächste Woche nach Sevilla zu fliegen?« Unbeirrt wiederholte Bel die vorher gestellte und von Lluc geflissentlich überhörte Frage.

Ein Schaf, rund und flauschig wie eine laufende Kumuluswolke, trat aus dem Schatten eines phönizischen Wacholders, kaute an einem Grasbüschel und sah ihn neugierig an, als wäre es ebenfalls an der Antwort interessiert.

»Der frühe Morgen ist meine Lieblingszeit. Jungfräulich wie ein weißes Blatt Papier birgt er alle Möglichkeiten.« Nichts. Genau das hatte Lluc dazu zu sagen.

»Was hältst du also davon, die besagte leere Seite mit dieser Idee zu füllen?« Bel stellte sich auf die Zehenspitzen und drückte ihm einen Kuss auf die Lippen. Ihr pudriges Parfüm – so unverkennbar Bel – stieg ihm in die Nase und ließ Lluc lächeln, obwohl ihm gar nicht danach zumute war.

»Der Vorschlag ist grandios, nur die Arbeit …«

»Du hast jetzt zehn Tage Urlaub.«

»Ein Polizist ist immer in Bereitschaft.«

»Man kann auch in Sevilla unglaublich bereit sein. Außerdem ist es nur für zwei, drei Tage.«

Lluc schloss den Mund, bevor er sich tiefer in die Grube schaufelte.

Bels Blick wog schwer, forderte eine Antwort ein.

Seine Gedanken rasten im Leerlauf, das verschwitzte Shirt klebte an seinem Körper, Bel an seinen Fersen.

Ablenken. Anderes Thema. Geburtstag. »Außerdem habe ich eine Überraschung für dich. Dein Geburtstag ist schon verplant.«

Er hatte mit etwas mehr Zeit gerechnet. Doch wie immer folgte das Leben einem eigenen Stundenplan.

»Mein Geburtstag ist am Dienstag. Danach hätten wir ausreichend Zeit, bis du wieder zurück ins Revier musst. Eine wunderbare Gelegenheit, nach Sevilla zu fliegen. Wir könnten einen Tag in die Berge.«

»Berge haben wir hier auch.« Er wies auf den Puig Mayor, der sich mit seinen knapp tausendsechshundert Metern vor das glitzernde Mittelmeer hob.

Bel seufzte. »Sei nicht so ein Mallorquiner.«

»Was soll das denn heißen?«

»Ein engstirniger Insulaner, der sich nicht von seinem Eiland fortbewegen will.«

Bel lachte, doch da war er wieder, dieser seltsame Blick, als würde ein Teil ihrer selbst sich abspalten und nach innen zurückziehen. Von ihm fort.

»Und du kannst endlich meine Familie kennenlernen«, vervollständigte sie das Argument. »Die halbe Sippe wird da sein.«

Lluc riss sich zusammen, arretierte eine Miene auf seinem Gesicht, die hoffentlich als freudig zu interpretieren war. Versah seine mit Bedacht gewählten Worte mit einer Prise Begeisterung. »Das wäre natürlich toll. Wie schade, dass ich da nicht kann.«

»Was ist dir denn so Dringendes dazwischengekommen?«

»Die Eigentümerversammlung meiner Wohnung in der Calle Bisbal.« Er beglückwünschte sich zu der spontanen Eingebung.

»Zu der du niemals gehst, weil zwei der anderen Eigentümer sich ständig streiten und der dritte die Polizei rufen will? Diese Versammlung?«

Mist, er hatte vergessen, dass sie die Anekdote kannte.

Bel schwieg, was nicht bedeutete, dass sie ihm seine Finte abkaufte. Sondern nur einen ermogelten Aufschub erlaubte.

Er kam sich kindisch vor – doch so war es nun mal. Dieses heikle Thema erforderte eine klare Problemidentifizierung und -auseinandersetzung, die er aus Zeitmangel noch nicht vorgenommen und auf seinen Urlaub verschoben hatte. Also auf jetzt. Beziehungsweise morgen. Man musste ja nicht am ersten Tag damit beginnen. Und deshalb passte es ihm gar nicht, dass sie das Thema vorwegnahm.

Schlechtes Gewissen und Schuldgefühle lieferten sich ein Rennen. Er durfte es nicht wieder vermasseln. Nicht dieses Mal. Aus dem Augenwinkel beobachtete er, wie Gräfin Isabel de Falcó, wie Bel unter Weglassung des Bataillons ihrer Mittelnamen vollständig hieß, einem Felsbrocken gekonnt auswich.

Doch egal, wie das Resultat seiner zukünftigen Reflexionen ausfiel: Er würde unter keinen Umständen nach Sevilla fliegen.

Zum Ausgleich bot er ihr die Woche der Genesis: Quality Time und romantische Zweisamkeit. Das musste reichen.

Noch immer hatte seine Beziehung mit Bel nicht die anfängliche Aufregung eingebüßt. Was wie etwas Positives und der Traum aller Männer klang, hatte einen Haken. Sie waren noch nicht in der entspannten Phase angekommen. Oder vielleicht hatte Bel diesen unbeschwerten Raum betreten, während Lluc noch immer vor der Tür stand. Zusammen fernsehen, essen gehen, Spaß haben – ohne das Bedürfnis, den Bauch einzuziehen. So etwas in der Art.

Neulich hatte er sich dabei ertappt, sich zu freuen, dass sie sich mit einer Freundin traf, damit er sich entspannen konnte – nur um sie den ganzen Abend schrecklich zu vermissen. Dreimal den Versuch startete, sie anzurufen. Und dann doch aufzulegen.

Es fühlte sich an, als müsste er auf rohen Eierschalen einen zehenspitzigen Pas de deux tanzen, ohne die Schritte zu kennen.

Dabei hatte alles so gut begonnen.

Sie hatten sich während seines letzten Falles kennengelernt, und seither unterteilte Lluc seine Zeitrechnung in prä- und post-Bel. Nach ihrer fulminanten Scheidung vom Investor Felipe Iglesias hatte die aus Madrid stammende Bel entschieden, länger auf Mallorca zu bleiben, und sich ein Dorfhaus in Sóller gemietet. Die Ausgabe hätte sie sich sparen können, da sie die meiste Zeit in Llucs Finca in Son Sales verbrachte. Die Luft sei hier besser – eine nette Art, ein Kompliment zu verpacken. Aber natürlich verstand Lluc das Bedürfnis nach Unabhängig- und Selbstständigkeit. Obwohl es sicherlich viele Orte auf der Welt gab, in denen ihre aristokratische Familie eine Dependance zum Rückzug besaß, hielt sie sich weiterhin hier auf. Bei ihm.

»Sobald dein Urlaub um ist, mache ich mich an die Arbeit«, wechselte sie das Thema. »Es brennt mir richtig unter den Fingern. Mein erster Roman.«

»Großartig«, sagte Lluc und meinte nicht nur die Romanidee. Dankbar für das Rettungsseil, unterdrückte er einen Seufzer der Erleichterung über den Themenwechsel. »Und dann spielt er auch noch auf der Insel. Wir Mallorquiner scheinen es dir angetan zu haben.« Seitdem Bel bei einem gemeinsamen Abendessen mit Freunden von dem Fall gehört hatte, ließ die alte Begebenheit sie nicht mehr los.

»Allerdings gestaltet sich die Recherche komplizierter als gedacht.«

»Warum? Die Akte ist öffentlich, und die Details sind bekannt.« Bel war gelehrt, eine Frau mit Tiefe, die sie auch dort fand, wo nur Seichtheit herrschte. Doch solange sie beim Thema blieben und nicht wieder zu ihrer ursprünglichen Frage zurückkehrten, nahm Lluc jeden gedanklichen Exkurs dankbar an.

»Es ist wie verhext. Ich habe einen realen Kriminalfall gewählt, weil es einfacher erschien, sich auf eine wahre Begebenheit zu stützen. Ein Gerüst zu haben, an dem ich mich entlanghangeln kann.« Sie schüttelte den Kopf. »Aber mittlerweile glaube ich, es war eine Fehlentscheidung.« Sie biss sich nachdenklich auf die volle Unterlippe. »Je tiefer ich wühle, desto verwirrender wird es.«

»Du bist Journalistin. Recherche ist dein Metier. Und ein verzwickter Fall macht es doch erst spannend, oder?«

»Der Schreibprozess ist kompliziert genug. Es wäre schön, wenn ich wenigstens verstehen würde, worüber ich schreibe.«

»Dieses Problem ist nun wirklich überschaubar. Denk dir aus, was fehlt, und füll die Löcher. Schließlich ist es Fiktion, inspiriert von realen Begebenheiten. Kein dokumentarischer Tatsachenbericht. Sag mir Bescheid, wenn du Unterstützung brauchst, sei es Polizeiliches oder beim Ausdenken.« Blühende Fantasie besaß er im Überschuss.

»Das ist gemogelt. Das Reizvolle ist doch, die Geschichte zusammenzupuzzeln.«

»Es ist der alte Crespí-Fall. Damals war ich im Hauptquartier in Palma tätig und nicht in die Ermittlungen involviert. Trotzdem kann ich sicherlich bei der Suche verlorener Puzzleteilchen behilflich sein.«

»Danke. Allerdings werde ich mich auf die Verstrickung auf dem Festland fokussieren. Da sitzt der eigentliche Fall. Die Vertuschung, der Skandal. Die Geschehnisse auf Mallorca sind ein tragischer Ausläufer. Meine Story spielt in Valencia und Madrid.« Ein Schatten fiel über ihre leuchtenden Augen. »Vielleicht ist das alles eine Nummer zu groß, und ich sollte lieber mit etwas Einfacherem beginnen. Eine leichte Romanze, eine Frauenkomödie.«

»Ich weiß nicht, von welchen Verstrickungen du sprichst.« Doch er freute sich, mehr darüber zu hören, Hauptsache sie vergaß die Reise.

»Da ist im Hintergrund einiges abgelaufen, was die vordergründige Geschichte nicht hergibt. Es sieht so aus, als würde es Verbindungen in hohe Kreise auf dem Festland geben, die eine schützende Hand drübergehalten haben. Regierungsmitglieder, sogar Beamte der Polizei.« Eine Bergziege trat hinter einem verknoteten Olivenbaum hervor und kreuzte unbeeindruckt den Wanderpfad. Bel ließ sie passieren und fuhr dann fort: »Man hat den ursprünglichen Täter dort praktisch mit einem Klaps auf die Finger davonkommen lassen, auf Anordnung von ganz oben. Ein Skandal, wenn es um Kindesmissbrauch geht. Der Typ verkrümelte sich auf die Insel und trieb sein Unwesen weiter. Bis dann einer hier die rote Linie zog. Leider waren es nicht die Behörden, sondern ein Vater.«

»Es gab damals große Schlagzeilen. Alle haben darüber geredet, und ich kann mich nicht an irgendwelche Diskrepanzen erinnern.«

»Wie gesagt, die Unstimmigkeiten und der Skandal betreffen nicht die Ereignisse auf Mallorca, sondern auf dem Festland.« Sie sah nachdenklich in den Olivenhain. »Obwohl das, was hier in Sóller geschah, wirklich tragisch ist.«

Der Fall lag zehn oder fünfzehn Jahre zurück. »Ein Vater verprügelt den Typen, der seiner kleinen Tochter nachstellt, in einer Höhle, zündet dessen Motorrad an, und der ohnmächtige Verprügelte stirbt an Rauchvergiftung«, fasste Lluc die damaligen Ereignisse zusammen. »Bei mir abgelegt unter der Rubrik ›ziemlich scheiße gelaufen‹.«

»Mit deiner Genreeinteilung bin ich einverstanden. Den Rest sehe ich nicht so eindeutig. Es hätte nicht so kommen müssen. Der Vater hatte keine Absicht, ihn zu töten.«

»Deswegen wurde er auch wegen Totschlags verurteilt, nicht wegen vorsätzlichen Mordes.«

Bel seufzte. »Es ist eine Tragödie, dass er im Gefängnis gelandet ist, Lluc. Immerhin war seine Familie das Opfer. Sein Kind wurde belästigt. Ich weiß nicht, was ich tun würde, wenn jemand sich an meinem vergreift. Da ist der Typ mit der Rauchvergiftung noch harmlos weggekommen«, murmelte sie. »Das hast du jetzt bitte überhört.« Bel schüttelte verdrossen den Kopf. »Und das ist nur eine Seite der Geschichte, die mich aufwühlt.«

»Es gab einen Toten. Einen Menschen, der sein Leben verloren hat. Und der Verurteilte war verantwortlich. Dafür muss er einstehen, tragisch oder nicht. Es gibt Gesetze.« Niemand hatte behauptet, dass das Leben fair war.

Bel senkte den Blick auf das unebene Terrain zu ihren Füßen, wich gekonnt größeren Steinen auf dem Schotterweg aus. »Ohne Zweifel war es ein Fehler. Doch kann man diesen durch einen weiteren Fehler korrigieren?«

Lluc blieb eine philosophische Antwort erspart, als sein Handy in seiner Hosentasche klingelte.

Guals Name erschien auf dem Display. Höchstwahrscheinlich konnte seine gewissenhafte Assistentin, die niemand im Dorf beim Vornamen nannte, nicht bis nach seinem Urlaub warten, ihm ein unbedeutendes Detail mitzuteilen. Auch wenn es zuweilen anstrengend war, schätzte er mittlerweile diese Art der Arbeitseinstellung, die nichts ausließ. Wenigstens gingen so keine Informationen verloren.

Lluc atmete tief ein, bereitete sich mental auf eine Tirade der Nichtigkeiten vor: Die Bleistifte waren ausgegangen, die taube Nachbarin von nebenan hatte sich bei der Polizei über die Lärmbelästigung ebendieser beschwert … »Vermisst du mich schon am ersten Tag?«

Doch Guals Antwort war knapp und präzise. »Wird nix aus deinem Urlaub. Wir haben eine Leiche.«

4

Obwohl Fremdsprachen nicht zu Llucs Stärke zählten, kommunizierten Tatorte manchmal in einer Weise, die er intuitiv verstand. Auch wenn nicht jeder von ihnen eine lange Geschichte zu erzählen hatte.

Dieser Tatort sprach nicht. Er sang.

Lluc duckte sich unter das blau-weiße Flatterband der Policía Local, das das Gebiet weiträumig absperrte. Ein uniformierter Beamter reichte ihm Plastikschoner, die er über seine Wanderschuhe streifte. Da die Kollegen vom Laboratorio de criminalística den Großteil der Untersuchung beendet hatten, verzichtete er auf den knittrigen weißen Schutzanzug. Er sah sich um und sog die Details der Örtlichkeiten auf.

Hohes Pampasgras und meterhoher Bambus umsäumten pittoresk das etwa zwei Meter tiefer verlaufende Flussbett. Ein trockener Lehmpfad führte oben an beiden Ufern entlang, umgeben von dichten Orangenhainen.

Im Winter fing der Torrente von Sóller den Regen und die Schneeschmelze der höchsten Berge auf. Der Sommer raubte ihm seine Wildheit und verwandelte ihn in einen friedlich plätschernden Gebirgsbach.

Nur die Frauenleiche am gegenüberliegenden Ufer zerstörte die Idylle.

Es hatte einige Zeit in Anspruch genommen, den Weg von Balitx zur nächsten Straße zurückzulegen und ein Taxi zu finden. Abrufbare Personenbeförderung und stabile Funkverbindungen galten als seltener Luxus hoch oben in den Bergen.

Natürlich hatte Bel verständnisvoll reagiert, doch Lluc war die Enttäuschung in ihrem Blick nicht entgangen.

Ein Mordfall bedeutete nicht nur das Ende der heutigen Tagesaktivität, sondern katapultierte den Urlaub mit allen sorgsam gebündelten Plänen in den Mülleimer. In Gedanken sah Lluc seine Quality Time – seltsamerweise verstaut in einer Vintagedose Quality Street, die mit dem englischen Pärchen der Jahrhundertwende auf dem Deckel – mit metallischem Klong im Abfall verschwinden. Im Beziehungshimmel zogen sich dunkle Wolken zusammen.

Es sei denn, sie lösten den Fall schnell auf.

Am Tatort herrschte Stille. Die Mitarbeiter der Spurensicherung beendeten schweigend ihre Aufgaben, das Rascheln der weißen Schutzanzüge war das einzige Geräusch neben dem Plätschern des Baches und dem Zirpen der Grillen in den Büschen. Kameras, Scheinwerfer, Koffer mit Pudern und Pulvern, die der SpuSi unter den Kollegen den Spitznamen Los de los polvos eingebracht hatten.

Die militärische Disziplin beim Arbeiten und das Schweigen der Beamten wies auf die Anwesenheit von Doctora Gomez hin. Lluc sah sich nach dem charakteristischen grauen Haarschopf um. Tatsächlich entdeckte er die winzige Rechtsmedizinerin abseits der um die Leiche knienden Mitarbeiter. Wie ein Dirigent lenkte die natürliche Autorität der Frau das Orchester der Kriminaltechniker und Beamten ohne ein Wort der Ermahnung. Wahre Größe und Führungskraft hingen nicht von physischen Attributen ab, wie die geschätzten ein Meter fünfundvierzig der Doctora bestätigten.

In zweiter Reihe hinter den Kollegen vom Laboratorio de criminalística hockte Sargento Fina García und machte sich Notizen in ihr Moleskin.

Als würde sie den Blick auf sich spüren, sah Fina auf. Llucs Lächeln erwiderte sie nicht, winkte ihn nur wortlos zu sich herüber und richtete sich auf. Dunkel, schlank und makellos mit dezentem Make-up, wirkte Fina selbst im Einheitsgrößen-Plastikoverall adrett. In ihrer Straßenkleidung passte sie optisch eher in eine Anwaltskanzlei oder Bank als zu den gröberen Kollegen der Polizei. Von der heruntergelassenen Kapuze des Schutzanzuges nett in Szene gesetzt, tanzte selbst in der Hitze und hohen Luftfeuchtigkeit nicht eines ihrer schulterlangen dunklen Haare aus der Reihe. Nur der durchdringende Blick stach heraus. Schonungslos, unverblümt und eines Straßenrowdys würdig, ließ er keinen Zweifel darüber, wes Geistes Kind hinter der glatten Fassade wohnte.

Lose Steinchen knirschten unter Llucs Füßen, als er die kleine Steinquaderbrücke überquerte.

»Morgen Lluc. Perdón, dass wir dich enturlauben.« Fina klopfte sich Erdkrümel und Grashalme von den Hosenbeinen. Vor zwei Jahren war die Kollegin aus dem Hauptquartier der Guardia Civil in Palma zum Team nach Sóller gestoßen und fuhr jeden Tag die zwanzig Kilometer aus Mallorcas Hauptstadt hoch zum Tal in der Tramuntana.

Trotz einiger unerfreulicher Vorfälle während des letzten Falles, die wie ein Erdbeben der Richterskala sechs das kollegiale Vertrauen zu Fina erschüttert hatten, waren sie im Laufe der Monate wieder zusammengewachsen. Was Tränen, bloße Beteuerungen und demütige Buße nicht vermochten, hatte zickenloses Verhalten vorerst gekittet.

Doch eine gewisse Vorsicht würde wohl bleiben.

Fina trat zur Seite und gab die Sicht auf das Opfer frei. »Sie wurde erdrosselt.«

Überrascht wich Lluc einen Schritt zurück. Nahm blinzelnd die Details des grotesken Bildes auf.

»Kommen Sie ruhig näher, Casasnovas. Die Spurensicherung ist durch, und ich brauche nur noch einen Moment«, begrüßte ihn Doctora Gomez. Wie gewöhnlich sprach sie leise, die Stille um sie herum erforderte keine Lautstärke.

»Bon dia, Doctora«, murmelte er, unfähig, seinen Blick von dem Opfer auf dem Boden zu lösen.

Voll bekleidet in Shorts und Tanktop, lag die tote Frau senkrecht zum Bach. Das platschende Wasser umspülte ihre nackten Füße, als hätte sie sich an diesem heißen Tag zum Abkühlen hingelegt. Ein kleiner tätowierter Albatros breitete seine Schwingen auf ihrem linken Innenknöchel aus. Sie mochte Mitte dreißig sein, die honigblonden langen Haare waren ordentlich über ihre Schultern drapiert, die Hände auf dem Bauch gefaltet.

Die junge Frau wirkte friedlich, wie aufbewahrt für ein Begräbnis, sah man von zwei Details ab.

Ein dunkellila Abdruck in Form eines umgekehrten U entstellte die goldgebräunte Haut ihres Halses. Doch es war das letzte Detail, das in Lluc eine wilde Assoziationskette auslöste. Er nahm ein Paar Latexhandschuhe von Fina entgegen und beugte sich über den Torso.

Im geöffneten Mund der Leiche steckte eine kleine Orange, eingeklemmt zwischen die Frontzähne beider Kiefer.

»So wurde sie aufgefunden?«