Mami 2072 – Familienroman - Corinna Volkner - E-Book

Mami 2072 – Familienroman E-Book

Corinna Volkner

0,0

Beschreibung

Die Familie ist ein Hort der Liebe, Geborgenheit und Zärtlichkeit. Wir alle sehnen uns nach diesem Flucht- und Orientierungspunkt, der unsere persönliche Welt zusammenhält und schön macht. Das wichtigste Bindeglied der Familie ist Mami. In diesen herzenswarmen Romanen wird davon mit meisterhafter Einfühlung erzählt. Die Romanreihe Mami setzt einen unerschütterlichen Wert der Liebe, begeistert die Menschen und lässt sie in unruhigen Zeiten Mut und Hoffnung schöpfen. Kinderglück und Elternfreuden sind durch nichts auf der Welt zu ersetzen. Genau davon kündet Mami. Die lauten Stimmen drangen aus dem Wohnraum bis zu den Kindern herein. Es waren harte, streitende Stimmen, und sie bereiteten Kai und Heike ein Gefühl schmerzlicher Verlassenheit. »Das ist Onkel Max!« flüsterte der achtjährige Kai nun seinem Schwesterchen zu. Heike, die gerade sechs geworden war und nach den großen Ferien in die Schule sollte, blickte aus tränenumflorten Augen zu Kai auf. »Fürchtest du dich auch, Kai? Ich fürchte mich ganz schrecklich.« Beruhigend legte Kai den Arm um die zarten Schultern seiner Schwester. »Du brauchst dich nicht zu fürchten, Heike. Ich bin doch bei dir und… und…« Seine Stimme brach heiser ab, denn ein dicker Kloß steckte ihm plötzlich in der Kehle. Beide Kinder hockten auf dem Bett des Jungen in dem sonnigen Kinderzimmer. Sie saßen eng aneinandergeschmiegt, als könnten sie so einander Schutz und Hilfe geben. Vor dem Bett lag Bimbo, der kleine zottelige Spaniel, liebster Spielgefährte der beiden. Kai hatte ihn vor zwei Jahren von den Eltern zum Geburtstag erhalten. Seitdem teilte Bimbo das Leben der Kinder in schönster Harmonie. Die Eltern! Noch konnten Kai und Heike den entsetzlichen Tod der geliebten Eltern nicht voll erfassen, die man heute begraben hatte. »Nun denn!« ertönte vom Wohnzimmer aus die Stimme des Onkels, der irgendwo in Süddeutschland wohnte und mit Tante Rita heute zum Begräbnis gekommen war.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 141

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Mami – 2072 –

Wir wollen nicht ins Waisenhaus

Unveröffentlichter Roman

Corinna Volkner

Die lauten Stimmen drangen aus dem Wohnraum bis zu den Kindern herein.

Es waren harte, streitende Stimmen, und sie bereiteten Kai und Heike ein Gefühl schmerzlicher Verlassenheit.

»Das ist Onkel Max!« flüsterte der achtjährige Kai nun seinem Schwesterchen zu.

Heike, die gerade sechs geworden war und nach den großen Ferien in die Schule sollte, blickte aus tränenumflorten Augen zu Kai auf.

»Fürchtest du dich auch, Kai? Ich fürchte mich ganz schrecklich.«

Beruhigend legte Kai den Arm um die zarten Schultern seiner Schwester.

»Du brauchst dich nicht zu fürchten, Heike. Ich bin doch bei dir und… und…«

Seine Stimme brach heiser ab, denn ein dicker Kloß steckte ihm plötzlich in der Kehle.

Beide Kinder hockten auf dem Bett des Jungen in dem sonnigen Kinderzimmer.

Sie saßen eng aneinandergeschmiegt, als könnten sie so einander Schutz und Hilfe geben.

Vor dem Bett lag Bimbo, der kleine zottelige Spaniel, liebster Spielgefährte der beiden.

Kai hatte ihn vor zwei Jahren von den Eltern zum Geburtstag erhalten. Seitdem teilte Bimbo das Leben der Kinder in schönster Harmonie.

Die Eltern! Noch konnten Kai und Heike den entsetzlichen Tod der geliebten Eltern nicht voll erfassen, die man heute begraben hatte.

»Nun denn!« ertönte vom Wohnzimmer aus die Stimme des Onkels, der irgendwo in Süddeutschland wohnte und mit Tante Rita heute zum Begräbnis gekommen war. »Wir nehmen den Jungen. Bleibt uns wohl nichts anderes übrig, obwohl wir mit unseren beiden eigentlich genug zu tun haben.« Seine Stimme klang ärgerlich und scharf, während er rasch weitersprach: »Aber der Hund muß fort! Wir haben selbst einen Dackel. Ausgeschlossen, dazu noch diesen Bimbo zu halten.«

»Ja, das geht auf keinen Fall«, warf eine Frauenstimme ein, in der die Kinder die aufgeregte Stimme von Tante Rita erkannten.

Sie war Vatis ältere Schwester und immer schrecklich nervös. Kai und Heike hatten sie nur wenige Male gesehen, denn ihre Eltern hatten kaum Kontakt mit ihr gehabt.

»Aber in meiner gepflegten Etagenwohnung kann ich den Hund auch nicht halten«, ertönte nun die Stimme von Tante Sofia. »Schon schlimm genug, daß ich auf meine alten Tage noch ein Kind großziehen soll. Immerhin bin ich fast fünfzig und hatte gottlob meine Gundula verheiratet. Sie erwartet ein Baby und hofft auch auf ein wenig Hilfe von mir. Es ist fürchterlich! Es wirft alle Pläne um. Aber was sollen wir tun? Die Kinder ins Waisenhaus geben? Da reden doch die Leute über einen.«

Und dann warf Onkel Jobst ungeduldig ein: »Wir müssen das Kind nehmen, Sofia, aber der Hund wird verkauft oder ins Tierheim gebracht. Gibst du mir bitte noch eine Tasse Kaffee?«

Erschauernd sahen sich die Kinder an.

»Hast du gehört?« flüsterte Heike mit zitternden Lippen. »Wir dürfen nicht zusammenbleiben. Und… und Bimbo…?«

Ihre zarte Stimme brach weinend ab. Dafür begann nun Kai zu reden, leise und in fieberhafter Hast, hinter der sich die ganze Herzensnot des Jungen verbarg.

»Ich dulde nicht, daß man Bimbo ins Tierheim steckt! Ich… ich will auch nicht nach Süddeutschland zu Onkel Max und Tante Rita. Bestimmt hätten Mutti und Vati auch nicht gewollt, daß wir uns trennen, Heike.«

Fester schlangen sich Kais Arme um die haltlos aufweinende Schwester.

»Wir bleiben zusammen! Aber nun sei doch still, damit ich dir was sagen kann!«

Ein leiser Hoffnungsschimmer glühte in Heikes Augen auf.

»Was… was willst du mir denn sagen, Kai?«

Noch zögerte der Junge, aber ein Blick auf den leise winselnden Hund, der etwas von der Tragik der verlassenen Kinder spüren mußte, brachte Kai Gewißheit.

»Es geht nicht anders!« sagte er trotzig und begann dann leise und energisch auf Heike einzureden. »Wir müssen fort, ehe die da drin fertig sind mit Kaffeetrinken! Sie denken, wir seien müde geworden und eingeschlafen, das… das Begräbnis von Vati und Mutti habe uns erschöpft. Aber wir sind hellwach! Wir lassen uns nicht so auseinanderreißen. Und ins Heim gehe ich auch nicht wieder. Die zwei Tage haben mir genügt.«

»Mir auch! Mir auch, Kai!« rief Heike erschreckt aus.

Seit jene Frau zum Kindergeburtstag von Will Reiten gekommen war, um sie abzuholen und in dieses Heim zu bringen, weil ihre Eltern mit dem Auto verunglückt seien und nicht wieder zu ihnen kommen konnten, lebte Heike in einem einzigen schrecklichen Traum aus Weinen und Warten auf die geliebten Eltern.

Sie konnte einfach nicht verstehen, daß Vati und Mutti niemals mehr zu ihr kommen würden.

»Ich will auch tot sein!« weinte sie nun jäh wieder auf und begrub ihr Gesichtchen im Kissen. »Ich will nicht zu Tante Sofia und Onkel Jobst nach Düsseldorf! Ach, wären doch Mutti und Vati wieder da! Es ist so schrecklich ohne sie.«

»Nicht weinen, Heike! Bitte, sei doch ruhig, sonst hört man uns nebenan! Wir werden fortgehen! Schau nur, ich habe schon meine große Sporttasche gepackt. Vorhin, als die da drüben sich zankten um Muttis Schmuck, da habe ich gleich gewußt, daß ich mit denen nichts zu tun haben will. Ich gehe mit Bimbo zu Old Henry!«

Das letzte rief Kai fast trotzig und herausfordernd aus, während seine blauen Augen aufmerksam auf dem geröteten Gesichtchen der Schwester ruhten.

Darin las er nun Angst und Bestürzung, während Heike atemlos hervorstieß: »Zu Onkel Henry? Aber, Kai! Der ist doch so böse! Zu dem will ich nicht! Der mag Vati doch nicht. Immer hat er geschimpft mit ihm. Weißt du das denn nicht mehr?«

»Klar weiß ich das«, gab Kai mürrisch zurück. »Aber er war zu uns und Mutti immer ganz freundlich. Mutti hat mal zu mir gesagt, Old Henry sei der zuverlässigste Mensch, den sie kenne. Aber so besonders mag ich ihn ja auch nicht. Ich habe mir nur was überlegt, Heike. Hör mal zu!«

Sehr aufmerksam hörte das Mädchen zu, und nun flog ein Leuchten über Heikes Züge.

»Glaubst du, Kai?« fragte sie hoffnungsvoll.

»Bestimmt!« flüsterte Kai. »Die alte Lina mag uns doch. Sicher hilft sie uns. Aber nun komm! Wir müssen uns davonschleichen. Bimo, sei leise! Hier, Heike, nimm noch den Beutel. Wir brauchen ja einige Sachen zum Anziehen. Fahrgeld habe ich zum Glück, und den Weg kennen wir ja. Haben ja oft mit Mutti dort Ferien gemacht.«

»Ja«, wisperte Heike und rutschte vom Bett, »aber Vati ist immer gleich wieder dort abgehauen. Wegen Henry! Erst fuhr Vati fort und dann Onkel Henry. Warum waren sie so böse miteinander?«

»Weiß ich auch nicht. Ist jetzt auch egal. Komm! Und sei leise!«

*

Der Anruf erreichte Frau Steiger, kurz bevor sie ihr Büro verlassen wollte.

Er kam von der Polizei und entwickelte sich zu einem langen Gespräch, in dem es um zwei verschwundene Kinder ging, nämlich um Kai und Heike Brünnig, die vor drei Tagen durch einen Autounfall ihre Eltern verloren hatten und die bis heute in einem Kinderheim der Stadt Hannover untergebracht waren.

Gegen Mittag waren sie von einem angereisten Onkel abgeholt und mit zum Begräbnis der Eltern genommen worden, weil das dem Wunsch des Jungen entsprach.

»Ja, ja! Das ist mir alles hinreichend bekannt«, unterbrach Frau Steiger leicht ungeduldig die Rede des Polizeibeamten. »Ich weiß, daß die Kinder sich bei den Verwandten befinden, und zwar in der Wohnung der Verstorbenen. Wir haben das für eine vernünftige Lösung gehalten. Es gibt einen Bruder der verstorbenen Frau Brünnig und eine Schwester des Herrn Brünnig. Sehr wahrscheinlich wird jedes der Ehepaare eines der Kinder in seine Obhut nehmen. Sonst sind ja keine Verwandten da.«

»Nun«, ertönte trocken die Stimme des Beamten, »vorerst sind einmal die Kinder nicht mehr da, verehrte Frau Steiger. Sie, als Leiterin des Vormundschaftsamtes, sollten das vorrangig erfahren. Anscheinend ist da in Ihren Vorstellungen einiges schiefgelaufen. Wir müssen die Kinder suchen, da die Verwandten sie als vermißt gemeldet haben.

Ja, vor einer guten Stunde. Natürlich waren wir schon auf dem Friedhof. Keine Spur von den beiden.

Noch tragen Sie ja die Verantwortung und weniger die Verwandtschaft. Ja, gut, Frau Steiger, Sie bemühen sich ebenfalls und geben uns Bescheid, falls die Kinder bei Ihnen auftauchen sollten. Aber da habe ich eigentlich wenig Hoffnung. Wer geht schon freiwillig zurück in ein Waisenhaus? Der Junge ist immerhin schon acht Jahre. In dem Alter sind die Bengel oft recht abenteuerlustig und verfallen auf die tollsten Ideen. Na, dann Schluß für jetzt.«

»Auf Wiederhören, Herr Inspektor«, murmelte Frau Steiger gedankenschwer und legte den Hörer auf.

Sie streifte automatisch ihren Sommermantel von den Schultern, ließ sich hinter ihrem Schreibtisch in den Sessel fallen und dachte nach.

Hatte sie einen Fehler gemacht, weil sie die Krümel zurückbeordert hatte?

Fräulein Krümel wollte mit in die Wohnung, dachte die Amtsleiterin mit einem leisen Gefühl von Schuld. Sie meinte, es sei nicht ratsam, in die Verwandtschaft zu große Hoffnungen zu setzen, weil die Bindung der Kinder an Tanten und Onkel mehr als schwach sei.

Zögernd griff die Leiterin zum Telefon. Sie hatte einige Anweisungen zu geben, denn schließlich stimmte es, das Amt, das sie bekleidete, enthob sie ihrer Verpflichtung gegenüber den beiden Waisen erst, wenn diese voll in eine Familie eingegliedert waren.

Was heute hier geschehen war, durfte eigentlich nicht passieren.

Ich hätte auf die Krümel hören sollen, durchfuhr es Frau Steiger. Wir wissen doch mittlerweile, daß in solchen Fällen auf die Verwandten kaum gezählt werden kann.

Nicht zu fassen! Da verschwinden die Kinder unbemerkt aus der elterlichen Wohnung, in der immerhin vier Personen weilen, die vor diesem Schreibtisch standen und beteuerten, sie seien bereit, die Verantwortung zu übernehmen. Man sei schließlich als Onkel und Tante dazu verpflichtet.

Seufzend wählte Frau Steiger eine Nummer und meldete sich dann mit ihrem Namen.

»Fräulein Krümel, gut, daß Sie noch da sind. Bitte, kommen Sie zu mir in mein Büro.«

Während sie auf die Fürsorgerin wartete, blätterte die Leiterin in den Akten, die man von Kai und Heike Brünnig angelegt hatte.

Der Vater war Offizier eines Schiffes gewesen, das von Hamburg aus Vergnügungsfahrten unternahm, sogenannte Mittelmeerfahrten.

Er war oft unterwegs und befand sich nun hier in Hannover, weil sein Schiff in Hamburg auf dem Trockendock lag zu Reparaturarbeiten.

Die Mutter, Jutta Brünnig, war früher Sekretärin der Gesellschaft gewesen, der das Schiff gehörte. Sie lernte dort ihren Mann kennen, heiratete ihn und wurde Hausfrau.

Die Ehe galt als sehr glücklich, wenngleich der Mann auch oft unterwegs war und anscheinend viel Geld für sich persönlich ausgab.

Er fuhr den schnellen Wagen, mit dem er und seine Frau schließlich tödlich verunglückten. Die Kinder weilten zu dieser Zeit auf einer Geburtstagsparty.

Ein Glück für die beiden, sann Frau Steiger und klappte den Aktendeckel zu, oder auch ein Unglück. Das Geschick, als Waisenkind aufwachsen zu müssen, ist keinesfalls beneidenswert. Es sind immer benachteiligte Kinder, sosehr man sich auch um sie bemüht. Wie oft macht man Fehler. Nicht aus Nachlässigkeit, bei Gott, nein! Aber was für das eine Kind ein Glückstreffer ist, kann für ein anderes zur Tragödie werden. Es sind ja Kinder, mit denen man zu tun hat, die empfindsamsten Wesen der Welt.

Es klopfte an der Tür, und dann stand Fräulein Krümel vor ihrem Schreibtisch.

Fräulein Krümel hatte die Waisen in den ersten Stunden nach dem Unglück betreut, hatte sie auf der Kinderparty gesucht und ins Heim gebracht. Sie hatte ihnen auf ihre verwirrten Fragen nach den Eltern Antwort geben müssen.

Schlimme Stunden hatte Fräulein Krümel mit Kai und Heike durchgestanden.

»Fräulein Krümel, bitte nehmen Sie Platz. Es ist etwas geschehen, womit wir wohl nicht gerechnet haben. Die Polizei hat angerufen.«

Frau Steiger berichtete und beobachtete dabei verstohlen das Gesicht der Frau.

Sie seufzte innerlich und senkte den Blick auf die Akten der Waisenkinder Brünnig.

»Ich weiß, daß Sie eine sehr verantwortungsbewußte Beamtin sind, Fräulein Krümel. Und die Kinder kennen Sie immerhin schon. Nehmen Sie bitte die Sache in die Hände. Die Akten stehen zu Ihrer Verfügung. Sollten die Kinder heute oder morgen nicht gefunden werden, gebe ich Ihnen alle Vollmachten, die Sie vom sonstigen Dienst befreien.

Widmen Sie sich ausschließlich der beiden verschollenen Kinder. Irgendwo müssen Kai und Heike ja stecken. Vielleicht bei auswärtigen Freunden. Aber soviel ich aus den Unterlagen hier ersehen kann, besaß die Familie nicht viele Freunde. Nur von einem Henry Olsen ist hier die Rede. Er war sozusagen der Arbeitgeber von Eugen Brünnig, denn ihm gehören Schiffsanteile des Dampfers, auf dem Herr Brünnig als Offizier tätig war.«

Damit reichte Frau Steiger die Akten über den Schreibtisch. Fräulein Krümel rückte an ihrer Brille, nahm die Akten in Empfang und erhob sich.

»Ich werde mich nach Ihren Anweisungen richten. Bestimmt finden sich die Kinder bald. Es sind eigentlich sehr gut erzogene Kinder. Sie sind nur sehr verzweifelt.«

Das letzte kam fast verlegen von den schmalen Lippen. Fräulein Krümel erhob sich linkisch und klemmte die Mappe unter den Arm.

»Kann ich jetzt gehen? Ich möchte keine Zeit versäumen. Es tut mir leid, daß ich mir heute nicht freigenommen habe und in der Nähe der Wohnung war.«

So! Das war ein versteckter Vorwurf, und Frau Steiger empfand ihn als solchen.

Sieh mal an, die stille Krümel, sann sie, nachdem die Fürsorgerin schon längst das Büro verlassen hatte, die Kinder müssen es ihr aber angetan haben.

Na ja, wenn man in die Jahre kommt und weiß, daß man selbst niemals welche haben wird…

Gedankenschwer lehnte Frau Steiger sich im Sessel zurück. Minutenlang beschäftigte sie das Schicksal der Fürsorgerin, die in ihrem Beruf aufzugehen schien.

Aber Frau Steiger wußte es besser. Die Hoffnungen und Sehnsüchte der Krümel gingen einstmals in eine völlig andere Richtung. Sie würde sich voll einsetzen, um die verschwundenen Kinder zu finden.

Sie ist die richtige Person dazu, dachte Frau Steiger und erhob sich, um erneut nach ihrem Mantel zu greifen. Ein langer Arbeitstag lag hinter ihr.

*

Von Hannover bis Lippoldsberg hielt der Schnellzug nur zweimal.

Kai wußte genau, wann sie auszusteigen hatten, denn er kannte die Strecke von früheren Fahrten.

Als die Polizei in der großen Stadt nach zwei kleinen Kindern Ausschau hielt, saßen Kai und Heike bereits im Zugabteil und verhielten sich möglichst unauffällig.

Bimbo drückte sich neben dem Jungen unter den Sitz, während Heike tapfer versuchte, nicht wieder in Tränen auszubrechen.

Das war gar nicht so einfach, denn die Erinnerung an frühere lustige Fahrten mit der Mutter schmerzte die Kinder.

»Wir wollten in den nächsten Tagen mit Mutti und Papi sowieso ins Olsenhaus«, meinte Kai und blickte aus dem Fenster. »Wäre Papi doch in Hamburg geblieben. Warum mußte er immer mit dem Auto herumrasen? Immer hatte Mutti Angst, wenn er so schnell fuhr.«

Heike schluckte krampfhaft, preßte den Papierbeutel an sich und flüsterte:

»Ob… ob Old Henry wirklich nicht da ist? Was denkst du, Kai? Sicher ist er mit dem Boot unterwegs. Das wäre gut, nicht? Ob er auch traurig ist, weil Mami nun tot ist? Wegen Papi ist’s ihm ja egal. Aber nun muß er sich einen neuen Offizier suchen für sein großes Schiff.«

Nun ja, daran hatte Kai jetzt nicht gedacht. Aber es stimmte, denn Vati arbeitete ja für Old Henry.

»Bestimmt ist er traurig, weil Mutti nicht mehr lebt, Heike. Aber nun komm, wir müssen aussteigen! Hier ist schon Lippoldsberg. Warte, ich helfe dir.«

Behutsam nahm Kai seine kleine Schwester bei der Hand. Um diese Zeit waren nicht viele Leute im Zug, und die wenigen blickten auch nur flüchtig auf die beiden Kinder, die da so allein mit dem kleinen Hund dem Zug entstiegen.

»Vorsichtig, Heike! Paß auf, Bimbo!«

Kai fühlte sich fast erwachsen. Er würde schon auf seine Schwester achtgeben, es sollte Heike nichts passieren. O nein! Sie beide würden einander nicht verlassen.

So zogen die Kinder ab, begleitet von Bimbo, der übermütig vor ihnen hersprang.

Es war ein weiter Weg bis zum Olsenhaus am Ufer der Weser. Sie mußten durch den kleinen schmucken Ort wandern, dann ein Stück durch Heidelandschaft und bestellte Kartoffelfelder, schließlich durch die Wald- und Buschlandschaft, die entlang der Weser die Klöster und einzelne alte Häuser umgab.

Eines dieser alten Häuser war das Olsenhaus. Sein verwilderter, parkartiger Garten führte bis ans Wasser, wo die Anlegestelle für Old Henrys Boot ins Schilfgras führte.

Stille umgab das Anwesen, das einen etwas heruntergekommenen Eindruck erweckte.

Aber das störte die Kinder nicht. Sie kannten das Haus, jeden Winkel der vielen Räume, die zum Teil niemals betreten wurden.

»Ob Lina in der Küche ist?«

Zaghaft blickte Heike zu Kai auf. Sie hätte es niemals eingestanden, aber Kai schien es ebenso zu ergehen, denn er seufzte und gab zurück: »Hoffentlich, denn ich bin schrecklich durstig, und Hunger hab’ ich auch.« Er grinste ein wenig, blickte in Heikes große Augen und fügte hinzu: »Na ja, wir haben doch am Mittag im Heim kaum was angerührt, und… und nun wird’s gleich dunkel.«

»Hm!« Heikes Schritte wurden immer langsamer. Sie strich um einen dicken Apfelbaum nahe vor der Haustür, zögerte nun und mußte erst wieder Kais Hand in ihrer spüren, sonst wäre sie am Ende noch davongelaufen.

»Du brauchst dich doch nicht zu fürchten!« raunte Kai ihr zu. »Wir müssen hinein, ob Old Henry da ist oder nicht. Wo sollen wir denn sonst hin? Zurück nach Hannover? Zu den Tanten und Onkel? Niemals!«

Kaum wollten Heikes Füße die letzten Meter bis zur Haustür schaffen.