Man kann doch nicht nicht-leben - Kafka Franz - E-Book

Man kann doch nicht nicht-leben E-Book

Kafka Franz

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Beschreibung

Der jung verstorbene Prager Schriftsteller Franz Kafka gilt mit Recht als einer der bedeutendsten Autoren der Moderne. Wie kein anderer hat er das Ausgeliefertsein des modernen Menschen an anonyme Mächte und dessen existenzielle Obdachlosigkeit in seinen Texten verarbeitet. Sein Erzählstil ist einzigartig in der Literaturgeschichte. Das kunstvolle Verweben von Realität und fantastischen Elementen, von Traum und Wirklichkeit, sowie fabelartige und cineastische Verfremdungseffekte sind die literarischen Mittel, mit deren Hilfe es ihm gelingt, die Schrecken des 20. Jahrhunderts einzufangen. Der vorliegende Band bietet einen repräsentativen Einblick in Kafkas Werk. Neben den wichtigsten Erzählungen und Auszügen aus seinen Romanen enthält er auch schwer zugängliche Skizzen aus dem Nachlass und eine Auswahl seiner Aphorismen. Der einleitende Essay gibt wertvolle Hinweise zu Interpretation und Wirkungsgeschichte, nicht zuletzt anhand von Kafkas Tagebüchern und Briefen.

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Seitenzahl: 339

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Franz Kafka

Man kann doch nicht nicht-leben

Franz Kafka

Man kann doch nicht nicht-leben

Texte zwischen Traum und Moderne

Herausgegeben von Bruno Kern

Inhalt

FRANZ KAFKA ODER

DIE OBDACHLOSIGKEIT DES MODERNEN MENSCHEN

ERZÄHLUNGEN

Kinder auf der Landstraße

Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande

Das Urteil

Die Verwandlung

In der Strafkolonie

Ein Bericht für eine Akademie

Auf der Galerie

Nachts

Ein Landarzt

Ein Hungerkünstler

PARABELN

Vor dem Gesetz

Eine kaiserliche Botschaft

LITERARISCHES SELBSTPORTRÄT

Brief an den Vater

AUS DEN ROMANEN

Amerika

Der Prozess

Das Schloss

APHORISMEN

SKIZZEN AUS DEM NACHLASS

Neue Lampen

Bewerbungsgespräch

QUELLENVERZEICHNIS

Franz Kafka oder die Obdachlosigkeit des modernen Menschen

Allein die Tatsache, dass das Adjektiv »kafkaesk« in den Wortschatz so vieler Sprachen Eingang gefunden hat, zeugt von der Originalität und vom bis heute anhaltenden Einfluss dieses außergewöhnlichen Prager Schriftstellers. Bezeichnet wird damit das Ausgeliefertsein des Einzelnen an undurchschaubare anonyme Mächte, an Verhältnisse, denen mit Vernunft nicht beizukommen ist, an die Absurdität als scheinbares Weltgesetz und an die Vergeblichkeit allen Sinnstrebens. In der Tat waren genau dies die großen Themen der Erzählungen und Romane des Autors. Dass vieles davon nicht vollendet und Fragment geblieben ist, kann man gerade als Bestätigung des gebrochenen Weltverhältnisses des Autors auffassen, der literarisch zuweilen so scheitert wie seine Protagonisten. Die Resonanz, die Kafkas Werk bis heute erfährt, spricht für die Gültigkeit der darin zum Ausdruck kommenden Zeitdiagnose ebenso wie des Empfindens der Unbehaustheit des Menschen in einem tieferen, existenziellen Sinn. Einen Hinweis auf die Interpretation seines Werkes gibt uns die Rezeptionsgeschichte: Vor allem existenzphilosophische Strömungen greifen auf Kafkas Werk zurück.

Die Vielschichtigkeit seines literarischen Werkes, das darin nicht aufgelöste Rätselhafte, hat viele zu allzu einseitigen Interpretationsversuchen verlockt, die die Figuren, die beschriebenen Konstellationen, die Atmosphäre einer fiktiven Erzählung auf ein vertrautes Erklärungsmuster reduzieren wollten. Etliche dieser Versuche scheinen mir völlig untauglich zu sein – so insbesondere diejenigen, die im Werk allein das Spiegelbild der Biografie des Autors entdecken wollen, diejenigen, die Kafkas Judentum als den entscheidenden Verstehensschlüssel sehen, und vor allem die »theologischen« Interpretationen, die gewagte Allegorien konstruieren, welche im Text selbst kaum Anhaltspunkte finden (zu Letzterem vgl. vor allem Citati 1990). Anderen Zugängen wiederum kommt immerhin das Verdienst zu, auf wichtige Aspekte aufmerksam zu machen, und solange sie der Versuchung nicht erliegen, daraus ein Passepartout zu fabrizieren, erschließen sie in der Tat ein vertieftes Verständnis. In diesem Sinne haben etwa psychoanalytische Deutungsversuche ihr begrenztes Recht. Vor allem in der Erzählung Ein Landarzt scheinen sie ein fruchtbarer Ansatz zur Aufschlüsselung einer bestimmten Symbolik zu sein. Die kritische Einsicht der Psychoanalyse, dass der Mensch nicht mehr Herr im eigenen Haus ist (»Man weiß nicht, was für Dinge man im eigenen Haus vorrätig hat«, sagt das Dienstmädchen Rosa; s. weiter unten, S. 154), dass seine Handlungsimpulse und inneren Antriebe nicht völlig seiner rationalen Kontrolle unterliegen, wird in der Tat in dieser Erzählung eindrucksvoll vermittelt. Kafka hat sich nachweislich intensiv mit der Psychoanalyse auseinandergesetzt. Allerdings hatte er ein durchaus ambivalentes Verhältnis zu dieser jungen Wissenschaft. Er hielt ihre Erklärungskraft für überschätzt, und ihre zergliedernde Methode schien ihm der Komplexität der seelischen Wirklichkeit nicht gerecht zu werden. Zudem ist seine Rezeption dieser Wissenschaft nicht unerheblich von Otto Groß beeinflusst, der psychoanalytische Einsichten mit einer radikalen Gesellschaftskritik verband und damit in eindrucksvoller Weise Denkansätze der späteren Kritischen Theorie der Frankfurter Schule (insbesondere Max Horkheimers und Herbert Marcuses) vorwegnahm. Das führt uns unmittelbar zu einem anderen Strang der Interpretation, die das – unzweifelhaft stark dominierende – gesellschaftskritische Moment an Kafkas Werk hervorhebt. Klaus Wagenbach (vgl. Wagenbach 42005), aber viel mehr noch Michael Löwy (vgl. Löwy 2023), betonen den politisch sensibilisierten Kafka. Insbesondere Löwy betrachtet den Antiautoritarismus als den erkennbaren roten Faden in Kafkas literarischem Schaffen und hebt sogar Züge einer dem Marxismus verwandten Gesellschaftskritik hervor. So meint er da und dort – insbesondere im unvollendet gebliebenen Roman Der Verschollene (bzw. mit Max Brods Titel Amerika) – die Marx’sche Fetischismusanalyse (von der Kafka mit Sicherheit nichts wusste) zu erkennen, also die Charakterisierung des kapitalistischen Produktionsverhältnisses als anonyme, sich gerade gegenüber jenen Subjekten verselbstständigende Macht, aus deren Köpfen und Händen sie entspringt. Löwy arbeitet die biografischen Anhaltspunkte sehr gründlich heraus, liefert aber gleichzeitig auch sorgfältige werkimmanente Interpretationen. Überzeugend stellt er so einen Grundzug Kafkas heraus, der tatsächlich wesentlich zur Erschließung des Werkes beiträgt. Allerdings scheint für Löwy jede existenzielle, die Conditio humana selbst betreffende Interpretation von vornherein unter Ideologieverdacht zu stehen, da hier nach seiner Auffassung konkrete historische Konstellationen anthropologisch verankert und damit für unabänderlich erklärt werden. Deshalb ist er wenig empfänglich für jenes gebrochene Weltverhältnis, das mit unserem Daseinsvollzug selbst gegeben und uns als Bürde auferlegt ist. So überzeugend viele Interpretationen Löwys auch sind: Er ist nicht imstande zu sehen, dass für Kafka die Zivilisation der Moderne, die unerbittliche Gesetzmäßigkeit des Produktionsapparats, die bürokratischen Verkrustungen, der atemberaubende technische Fortschritt, mit dem der Mensch selbst letztlich nicht mithalten kann, lediglich Symptome, Oberflächenphänomene und konkrete Ausdrucksformen einer viel tiefer verwurzelten existenziellen Ausgesetztheit des Menschen sind.

Am adäquatesten scheint mir Milena Jesenská, die Vertraute und Geliebte Kafkas in seinen späten Jahren und die Übersetzerin seiner Schriften ins Tschechische, das Wesen Franz Kafkas erfasst zu haben. In einem Brief an Max Brod vom August 1920 schreibt sie:

[…] Sie sagen, wie es komme, dass sich Frank [so nennt Milena Franz Kafka] vor der Liebe fürchtet und vor dem Leben nicht fürchtet? Aber ich denke, dass es anders ist. Für ihn ist das Leben etwas gänzlich anderes als für alle andern Menschen, vor allem sind für ihn das Geld, die Börse, die Devisenzentrale, eine Schreibmaschine völlig mystische Dinge (und sie sind es ja in der Tat, nur für uns andere nicht), sie sind für ihn seltsame Rätsel, zu denen er durchaus nicht so steht wie wir –. Ist denn etwa seine Beamtenarbeit eine gewöhnliche Ausführung eines Dienstes? Für ihn ist das Amt – auch sein eigenes – etwas so Rätselhaftes, so Bewundernswertes wie für ein kleines Kind eine Lokomotive. Die einfachste Sache auf der Welt versteht er nicht. […] Ach nein, diese ganze Welt ist und bleibt ihm rätselhaft. Ein mystisches Geheimnis. Etwas, was er nicht zu leisten vermag und was er mit rührender reiner Naivität hochschätzt, weil es »geschäftstüchtig« ist. Aber Frank kann nicht leben. Frank hat nicht die Fähigkeit zu leben. Frank wird nie gesund werden. Frank wird bald sterben.

Gewiss steht die Sache so, dass wir alle dem Augenschein nach fähig sind zu leben, weil wir irgendeinmal zur Lüge geflohen sind, zur Blindheit, zur Begeisterung, zum Optimismus, zu einer Überzeugung, zum Pessimismus oder zu sonst etwas. Aber er ist nie in ein schützendes Asyl geflohen, in keines. Er ist absolut unfähig zu lügen, so wie er unfähig ist, sich zu betrinken. Er ist ohne die geringste Zuflucht, ohne Obdach. Darum ist er allem ausgesetzt, wovor wir geschützt sind. Er ist wie ein Nackter unter Angekleideten. Es ist das alles nicht einmal Wahrheit, was er sagt, was er ist und lebt. Es ist solch ein determiniertes Sein an und für sich, von allen Zutaten entledigt, die ihm helfen könnten, das Leben zu verzeichnen – in Schönheit oder in Elend, einerlei. Und seine Askese ist durchaus unheroisch – hierdurch allerdings umso größer und höher. Jeder »Heroismus« ist Lüge und Feigheit. Das ist kein Mensch, der sich seine Askese als Mittel zu einem Ziel konstruiert, das ist ein Mensch, der durch seine schreckliche Hellsichtigkeit, Reinheit und Unfähigkeit zum Kompromiss zur Askese gezwungen ist. […] Seine Bücher sind erstaunlich. Er selbst ist viel erstaunlicher. Jesenská 1996, 40–44)

Sucht man nach einem Bezugspunkt außerhalb des Werkes selbst, der dazu taugt, dieses näher zu ergründen, so ist dies am ehesten die Philosophie Søren Kierkegaards. Der dänische theologische und philosophische Schriftsteller hat den Einzelnen in seinem Daseinsvollzug zur entscheidenden Kategorie des Denkens erhoben und wurde so zur Gründergestalt der Existenzphilosophie und des Existenzialismus. Kafka war sowohl von der Person als auch von den Schriften Kierkegaards fasziniert. Aus seinen Tagebuch-Eintragungen, seiner Korrespondenz und aus dem bekannten Bestand seiner Bibliothek geht hervor, dass Kafka die intensive Lektüre Kierkegaards ein Leben lang begleitet hat. Im August 1913 findet sich der Tagebuch-Eintrag:

Wie ich es ahnte, ist sein Fall trotz wesentlicher Unterschiede dem meinen sehr ähnlich, zumindest liegt er auf der gleichen Seite der Welt. Er bestätigt mich wie ein Freund. (TB 1910–1923, 318)

Natürlich drängt sich die biografische Parallele zwischen Kierkegaards Auflösung der Verlobung mit Regine Olsen und Kafkas insgesamt drei wieder zurückgenommenen Eheversprechen auf. Doch die Geistesverwandtschaft geht weit über diese lebensgeschichtliche Übereinstimmung hinaus. Kierkegaard reflektiert wie keiner vor ihm die Kontingenz, die Nicht-Notwendigkeit und Endlichkeit, die Grund- und Bodenlosigkeit des menschlichen Existenzvollzugs. In zwei seiner wirkmächtigsten Schriften (Der Begriff Angst und Die Krankheit zum Tode) analysiert der dänische Philosoph jene Kategorie, die in Kafkas Schriften, in seinen Briefen und seinen Aufzeichnungen durchgehend auftaucht und ein bestimmendes Moment seines Lebens und Schreibens bildet: die Angst. Allerdings ist damit keineswegs das zu verbinden, was uns in einem banalen, alltäglichen Sinn bedrängen mag, und es ist erstaunlich genug, dass ein so profunder Kenner der Literatur wie Marcel Reich-Ranicki Kafkas Angst offensichtlich nicht anders als im Sinne einer Charakterschwäche verstehen kann (Reich-Ranicki 2014, 271). Angst ist hier vielmehr die Kehrseite der Tatsache, dass der Mensch sein Dasein in Freiheit selbst entwerfen muss, die Kehrseite der mit dem Menschsein gegebenen Möglichkeit der Freiheit, des vom Menschen zu leistenden Selbstverhältnisses, in dem er die Synthese zwischen Endlichem und Unendlichem, Zeitlichem und Ewigem vollzieht. In einem Brief an Max Brod (13. Januar 1921) hat Kafka eine eingängige Metapher zur Beschreibung dieser Angst gefunden:

So wie wenn einer der Verlockung nicht widerstehen kann, in das Meer hinauszuschwimmen, glückselig ist, so getragen zu sein, »jetzt bist du Mensch, bist ein großer Schwimmer«, und plötzlich richtet er sich auf, ohne besonders viel Anlass und sieht nur Himmel und Meer und auf den Wellen ist nur sein kleines Köpfchen und er bekommt eine entsetzliche Angst, alles Andere ist ihm gleichgültig, er muss zurück und wenn die Lunge reißt. Es ist nicht anders. (Br 290–291)

Allerdings: Im Gegensatz zu Kierkegaard ist Kafka zu keiner positiven religiösen Antwort auf das Grunddilemma des Menschen fähig, dessen grund-loses, nicht notwendiges, endliches Dasein, das sich in seiner ethischen Entscheidung dennoch als end-gültig setzen muss, seinen Halt in der Bejahung durch einen Schöpfergott findet. Was sich für Kierkegaard als das Paradox des Glaubens darstellt, bleibt für Kafka rätselhaft, ja absurd. Er selbst schreibt:

Ich bin nicht von der allerdings schon schwer sinkenden Hand des Christentums ins Leben geführt worden wie Kierkegaard und habe nicht den letzten Zipfel des davonfliegenden jüdischen Gebetsmantels noch gefangen wie die Zionisten. Ich bin Ende oder Anfang. (NSF II, 98)

Von Kafkas Verhältnis zur Religion soll in anderem Zusammenhang noch ausführlicher die Rede sein (s. weiter unten S. 36). An dieser Stelle sollte lediglich auf eine Schlüsselkategorie für das Verständnis von Kafkas Werk aufmerksam gemacht werden.

Im Folgenden soll uns Kafkas Leben als Leitfaden und Zugang zu seinem Werk dienen. Dabei will ich keineswegs eine der Biografien ersetzen, auf die im Literaturverzeichnis hingewiesen wird. Die Darstellung wird notwendigerweise lückenhaft, unvollständig, in gewissem Sinne eklektisch sein müssen. Ebenso kann auch keine ausführliche Besprechung seiner Werke geleistet werden. Die sparsamen Hinweise wollen eine allzu starke Festlegung auf bestimmte Interpretationsschemata vermeiden. Kafkas Selbstzeugnisse in seinen Briefen, seinen Tagebüchern und den Aufzeichnungen in den Oktavheften sind für die folgende Darstellung die wichtigste Referenz – dies auch angesichts der Tatsache, dass diese schriftlichen Zeugnisse quantitativ das literarische Werk überwiegen und in der hier gebotenen Auswahl aus Kafkas Werken aufgrund des begrenzten Raums keine Berücksichtigung finden konnten.

HERKUNFT UND KINDHEIT IN PRAG

Am 3. Juli 1883 kommt Franz Kafka als erstes Kind des Ehepaars Hermann und Julie Kafka (geb. Löwy) in Prag zur Welt. Die Eltern, wiewohl beide Juden, weisen eine recht unterschiedliche Ahnenreihe auf: Hermann Kafka entstammt einer Handwerkerfamilie – sein Vater war Metzger – und arbeitete sich zu einem recht erfolgreichen Kaufmann empor. Durchsetzungskraft und praktische Veranlagung, das »fest mit beiden Beinen im Leben Stehen«, zeichnen ihn aus und beeindrucken den jungen Franz durchaus. Nicht zuletzt durch das Vermögen seiner Ehefrau gelingt es Hermann Kafka, sich als Textilwarenhändler (Galanterie- und Kurzwaren) zu etablieren und gesellschaftlich aufzusteigen. Mütterlicherseits finden sich hingegen recht weltfremde, oftmals von einer mystischen Frömmigkeit geprägte Sonderlinge und eher tragische Schicksale. Im Haus Kafka wird Deutsch, die Sprache der Gebildeten, gesprochen. Wenn auch die deutsche Volksgruppe eine Minderheit bildet, so ist sie doch kulturell dominierend. Franz wird aber – vor allem durch Hausangestellte – früh schon mit dem Tschechischen vertraut, das er sein Leben lang fließend spricht, wenn auch nicht fehlerlos schreibt. Nach dem Zusammenbruch der Donaumonarchie und mit dem Entstehen der Tschechoslowakei sichert dies Kafka immerhin seine berufliche Stellung.

Über Hermann Kafka liegt uns ein außergewöhnliches literarisches Dokument aus erster Hand vor: Franz Kafkas 1917 verfasster Brief an den Vater (s. weiter unten, S. 177). Selbst wenn man berücksichtigt, dass die Intention des Briefes, eine Aussöhnung mit dem Vater herbeizuführen, die Darstellung beeinflusst haben mag (Kafka selbst spricht von »advokatorischen Kniffen«), so darf das darin Geschilderte durchaus als authentisch gelten. Der Brief beeindruckt vor allem deshalb, weil Kafka anhand des Beispiels seines eigenen Vaters sehr scharf das Wesen willkürlicher, tyrannischer Machtausübung analysiert, was ihm über das eigene familiäre Erleben hinaus den Blick für Herrschaftsverhältnisse und deren Mechanismen in anderen gesellschaftlichen Sphären schärft. Ein Grundthema von Kafkas literarischem Werk hat hier seinen Ursprung. Der Antiautoritarismus, den Michael Löwy als das bestimmende Grundmotiv von Kafkas Schriften zu erkennen meint, entfaltet bei Kafka bald gesellschafts- und zivilisationskritische Kraft, bestärkt durch seine Lektüre anarchistischer Autoren wie Alexander Herzen und Pjotr Kropotkin.

Aufschlussreich ist der Brief an den Vater nicht zuletzt im Hinblick auf das ererbte Judentum. Während man bei der Mutter eine authentische jüdische Religiosität vermuten darf, erschöpft sich die Religionszugehörigkeit beim Vater in gesellschaftlicher Konvention. Franz spricht von einem »Nichts von Judentum« und schildert sein eigenes kindliches Erleben folgendermaßen:

Ich durchgähnte und durchduselte also dort die vielen Stunden (so gelangweilt habe ich mich später, glaube ich, nur noch in der Tanzstunde) und suchte mich möglichst an den paar kleinen Abwechslungen zu freuen, die es dort gab, etwa wenn die Bundeslade aufgemacht wurde, was mich immer an die Schießbuden erinnerte […].Übrigens habe ich dort auch viel Furcht gehabt […], auch deshalb, weil du einmal nebenbei erwähntest, dass auch ich zur Tora aufgerufen werden könne. Davor zitterte ich jahrelang. Sonst aber wurde ich in meiner Langeweile nicht wesentlich gestört. (BrV, 45–46)

Als Gymnasiast sollte sich Kafka dem Judentum dann entfremden. Der Religionsunterricht bestand für ihn einerseits aus einer aufgeklärten jungen Menschen nicht mehr zu vermittelnden Moral und andererseits aus unnützer philologischer Gelehrsamkeit. Dennoch wird Kafka sich ein Leben lang in unterschiedlicher Weise und mit unterschiedlicher Intensität mit der überkommenen Religion auseinandersetzen. Durch seinen engen Schulfreund Hugo Bergmann, der später in Israel ein viel beachteter Philosoph werden sollte, wird er mit dem Zionismus konfrontiert, zu dem er allerdings zeit seines Lebens Distanz hält – wiewohl er immerhin die Zeitschrift Selbstwehr abonnieren wird. Recht erstaunlich ist auch seine Freundschaft mit Jizchak Löwy, dem Leiter einer Schauspieltruppe aus Lemberg, dessen chassidisch geprägtes Judentum Kafka in scharfem Kontrast zur Religionspraxis seines Vaters empfunden haben muss. Letzterer bezeichnet den Schauspieler denn auch wenig schmeichelhaft als einen Hund, der ihm die Flöhe ins Haus bringt. Kafka setzt sich ernsthaft mit dem philosophisch reflektierten Judentum seiner Zeit (etwa Martin Buber) auseinander, er ist fasziniert vom Gemeinschaftsleben der Kibbuzim, lernt eine Zeit lang intensiv Hebräisch und hegt bis zuletzt Auswanderungspläne nach Palästina. In seinem letzten Lebensjahr lebt er in Berlin mit Dora Diamant, einer polnischen Jüdin, zusammen und scheint mit ihr die jüdische Religion mit all ihren Riten, Bräuchen und Festen wieder ganz selbstverständlich gelebt zu haben.

In einem Brief an Max Brod aus dem Jahr 1921 reflektiert Kafka – in Anschluss an die Lektüre einer Schrift von Karl Kraus – auch die Stellung der Juden in der Literaturszene in unnachahmlicher Weise:

Besser als die Psychoanalyse gefällt mir in diesem Fall die Erkenntnis, dass dieser Vaterkomplex, von dem sich mancher geistig nährt, nicht den unschuldigen Vater, sondern das Judentum des Vaters betrifft. Weg vom Judentum, meist mit unklarer Zustimmung der Väter (diese Unklarheit war das Empörende), wollten die meisten, die Deutsch zu schreiben anfingen, sie wollten es, aber mit den Hinterbeinchen klebten sie noch am Judentum des Vaters und mit den Vorderbeinchen fanden sie keinen neuen Boden. Die Verzweiflung darüber war ihre Inspiration. (Br, 337)

Die Korrespondenz Kafkas zeugt auch davon, dass er sich intensiv mit der Leidensgeschichte seines Volkes, näherhin mit den Pogromen, auseinandersetzt und dass diese jüdische Passion einen großen Eindruck bei ihm hinterlässt. So manche Interpreten hat dies dazu verleitet, in Kafkas Romanfiguren (etwa im Landvermesser in Das Schloss) vor allem eine Verkörperung des jüdischen Paria, des von der Gesellschaft ausgestoßenen Juden, zu sehen. Solche Deutungsversuche stoßen allerdings auf die Schwierigkeit, dass in der Zeichnung dieser Figuren jeglicher Hinweis auf spezifisch jüdische Züge und Problematiken fehlt. Sie bleiben deshalb wenig überzeugende Spekulation.

DER GYMNASIAST, DER STUDENT UND ERSTE LITERARISCHE VERSUCHE

Die Tatsache, dass Kafka ein deutschsprachiges humanistisches Gymnasium besuchte, entsprach ganz und gar den gesellschaftlichen Ambitionen des Vaters. Kafka legte bald eine recht eigenständige Entwicklung an den Tag: Nicht nur das »märchenhafte« Judentum legte er ab, sondern darüber hinaus jegliche religiöse Weltanschauung – ein Streitthema zwischen ihm und dem Schulfreund Bergmann. Der Naturkundeunterricht regte ihn zu wissenschaftlich-weltanschaulicher Auseinandersetzung an, und er beginnt Darwin und Haeckel zu lesen. Bald schon schließt er sich dem antiklerikalen Verein »Freie Schule« an, und auch seine politische Gesinnung reift heran: Selbstbewusst erscheint der Sechzehnjährige mit der roten Nelke im Revers und bekundet so seine Sympathie für die Sozialdemokratie. Die älteren Schüler des Gymnasiums wurden kollektiv einer vorstudentischen Verbindung eingegliedert. Als bei deren Versammlung die obligatorische »Wacht am Rhein« (in Prag an den Ufern der Moldau!) intoniert wurde, blieb Kafka zusammen mit Hugo Bergmann demonstrativ sitzen – was natürlich den sofortigen Hinauswurf zur Folge hatte.

In Kafkas Nachlass findet sich eine Passage, die auf seine Schulzeit reflektiert und einen Grundzug Kafkas im Verhältnis zu seiner sozialen Mitwelt, zu den Anforderungen der Gesellschaft überhaupt, zu deren Fremdheit und Undurchschaubarkeit, erkennen lässt: Das Gefühl der Unzulänglichkeit mündet im gegen sich selbst gerichteten Verdacht der Täuschung und des Betrugs und in der ständigen Furcht, entlarvt zu werden:

Oft sah ich im Geist die schreckliche Versammlung der Professoren […] wie sie, wenn ich die Prima überstanden hatte, also in der Tertia usw. zusammenkommen würden, um diesen einzigartigen himmelschreienden Fall zu untersuchen, wie es mir, dem Unfähigsten und jedenfalls Unwissendsten gelungen war, mich bis in diese Klasse zu schleichen, die mich, da nun die allgemeine Aufmerksamkeit auf mich gelenkt war, natürlich sofort ausspeien würde, zum Jubel aller von diesem Albdruck befreiten Gerechten. (ZFG, 50)

Der durchweg gute Schüler Kafka hatte keinen objektiven Grund für diesen Pennäler-Albtraum. In so mancher seiner Figuren hat er allerdings das gestaltet, was hier zum Ausdruck kommt: Die als feindselig, fremd und undurchschaubar, von Lüge durchdrungen begegnende soziale Mitwelt führt zur Internalisierung als Selbstverurteilung.

Dem durchaus beliebten und umgänglichen Kafka wird von seinen Mitschülern zugleich eine gewisse Distanziertheit und Fremdheit bescheinigt. Darin offenbart sich ein Grundzug, der Kafka zeit seines Lebens begleitet und ein zentrales Motiv seines literarischen Schaffens sein wird: der schwer aushaltbare Widerspruch zwischen einer ausgeprägten Gemeinschaftssehnsucht einerseits und andererseits dem Empfinden der Unmöglichkeit von deren Realisierung. In einem Brief (9. November 1903) an seinen damals engsten Freund, Oskar Pollak, artikuliert dies Kafka selbst prägnant und eindringlich:

[…] Verlassen sind wir doch wie verirrte Kinder im Walde. Wenn du vor mir stehst und mich ansiehst, was weißt du von den Schmerzen, die in mir sind, und was weiß ich von den deinen. Und wenn ich mich vor dir niederwerfen würde, und weinen und erzählen, was wüsstest du von mir mehr als von der Hölle, wenn dir jemand erzählt, sie ist heiß und fürchterlich. Schon darum sollten wir Menschen voreinander so ehrfürchtig, so nachdenklich, so liebend stehn wie vor dem Eingang zur Hölle. (Br, 19)

In der Tat ist in diesen wenigen Zeilen der ganze Kafka enthalten: überaus sensibel, an der Einsamkeit leidend, sich nach Mitteilungsfähigkeit sehnend im Wissen darum, dass uns Kommunikation im tiefen, eigentlichen Sinne verwehrt ist. Vor allem aber offenbaren diese Zeilen auch Kafkas Fähigkeit, eben diese Situation des Ausgesetztseins und der Vergeblichkeit in Worte fassen und damit wenigstens vorübergehend bannen zu können.

Bereits während der Gymnasialzeit beginnt Kafka auch zu schreiben. Auch wenn er diese ersten Versuche rückblickend sehr selbstkritisch beurteilt: Es zeigt sich früh, dass für Kafka – im Gegensatz zu seinen berühmten Zeitgenossen, die ihm später im Café Arco begegnen werden – die schriftstellerische Tätigkeit alles andere als künstlerische Selbstverwirklichung, ästhetische Befriedigung, Suche nach Bestätigung und Anerkennung des eigenen Talents usw. ist. Schreiben ist für Kafka zeit seines Lebens pure Überlebensnotwendigkeit! Es gilt, den kalten Raum unserer Welt ein wenig zu erwärmen, in dem wir sonst, nackt und ausgesetzt, wie wir sind, erfrieren müssten. Schreiben ist ein existenzieller Notwehrakt, ein Bewältigungsversuch unseres verlorenen Daseins in einer fremden Außenwelt, in der wir Menschen uns ebenso als Fremde begegnen, ein Versuch, uns auf diesem schwankenden Boden mühsam aufrechtzuhalten. Aus der Perspektive eines Lesers formuliert Kafka in einem Brief an den bereits erwähnten Freund Oskar Pollak (vom 27. Januar 1904) den Anspruch, den er selbst mit Geschriebenem verbindet:

[…] Wir brauchen aber die Bücher, die auf uns wirken wie ein Unglück, das uns sehr schmerzt, wie der Tod eines, den wir lieber hatten als uns, wie wenn wir in Wälder verstoßen würden, von allen Menschen weg, wie ein Selbstmord, ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. Das glaube ich. (Br, 27–28)

In der kurzen Erzählung Nachts (s. weiter unten, S. 153) scheint Kafka sein eigenes Selbstverständnis als Schriftsteller zum Ausdruck gebracht zu haben.

Im Sommer 1901 legt Kafka schließlich das Abitur ab, beginnt zunächst Chemie zu studieren, um jedoch bald an die juristische Fakultät zu wechseln. Im Vordergrund aber stehen in dieser Zeit die literarischen und philosophischen Interessen. Kafka liest intensiv Nietzsche, er schließt sich einem Philosophenzirkel, der »Louvre-Runde«, an, deren recht einseitig Franz Brentano verpflichtete Denkweise ihn jedoch nicht befriedigt, und er sucht nach literarischen Vorbildern sowie nach einer ehrlichen, ungekünstelten sprachlichen Ausdrucksweise. Entscheidend für sein gesamtes weiteres Wirken wird seine lebenslange Freundschaft mit Max Brod, den er 1902 kennenlernt. Brod arbeitet als Beamter in der Postdirektion, ist aber zugleich ein äußerst produktiver Schriftsteller. Vor allem aber fördert er offenbar recht uneigennützig alles, was er in seiner Umgebung als echtes Talent erkennt. Er ist im damaligen Literaturbetrieb eine feste Größe und wird auch Kafkas erste Veröffentlichungen entscheidend voranbringen. Nicht unbedeutend sind für Kafka auch die gemeinsam unternommenen Reisen (etwa nach Oberitalien), die ihm Eindrücke jenseits von Prag vermitteln.

Bereits die ersten Veröffentlichungen – die ersten Prosatexte erscheinen im Jahr 1908 in der Zeitschrift Hyperion und später unter dem Titel Befruchtung als Buch – zeugen davon, dass Kafka von Anfang an selbstbewusst zu dem ihm eigenen Stil findet. Im Gegensatz etwa zu den jungen Prager Schriftstellern, die sich im Café Arco treffen (von Karl Kraus spöttisch als »Arconauten« bezeichnet) und einem aus heutiger Sicht schier unerträglichen aufgedunsenen Expressionismus huldigen, ist Kafkas Deutsch schnörkellos, sachlich, nüchtern und prägnant. Umso intensiver wirken dadurch seine Detailbeobachtungen. Reinheit der Sprache, Geschlossenheit der Form, Verzicht auf Geschwätzigkeit, Verspieltheit und jegliche Art von Manierismen – dies sind Kafkas Ansprüche an das eigene Schreiben. Die literarische Gestaltung seiner Szenen besticht durch ein kunstvolles Verweben von Realität und fantastischer Wirklichkeit. Er nimmt damit das vorweg, was später in der Literaturwelt Lateinamerikas als »magischer Realismus« bekannt werden sollte: Die Protagonisten selbst empfinden das die Gesetze der Realität durchbrechende Geschehen als völlig selbstverständlich! Gabriel García Márquez, Literaturnobelpreisträger und einer der bekanntesten Vertreter dieses »magischen Realismus«, schildert in seinem autobiografischen Buch Leben, um davon zu erzählen, seine Eindrücke nach der Lektüre von Kafkas Erzählung Die Verwandlung (s. weiter unten, S. 63) und bekennt: »… es [das Buch] hat meinem Leben einen neuen Weg gewiesen …« (García Márquez 2002, 307). Der Einfluss Kafkas auf sein eigenes Erzählwerk ist unverkennbar. Und äußerst treffend charakterisiert er Kafkas Erzähltechnik, die bald auch die seine werden sollte:

Der Autor musste nur etwas schreiben, damit es wahr wurde, keine anderen Beweise waren erforderlich als die Kraft seines Talents und die Autorität seiner Stimme. Da war wieder Scheherezade, aber nicht in ihrer tausendjährigen Welt, in der alles möglich schien, sondern in einer anderen, irreparablen Welt, in der schon alles verloren war. (García Márquez 2002, 308)

Formalästhetisch ist Kafkas literarisches Gestalten von zwei Eindrücken bestimmt: der assoziativen, den physikalischen Gesetzmäßigkeiten nur bedingt gehorchenden Welt des Traums im Halbschlaf sowie dem zu jener Zeit gerade aufkommenden und höchst einflussreichen Massenmedium Kino und dessen die Gesetze der Wirklichkeit durchbrechenden Möglichkeiten. Welch starken Einfluss gerade der Film auf Kafka hat, bezeugt unter anderem eine Passage aus einem Brief an Max Brod vom Sommer 1909, in dem er von seiner Tätigkeit an der Arbeiterunfallversicherungsanstalt in einer Weise berichtet, die durchaus an Charlie Chaplin gemahnt:

In meinen vier Bezirkshauptmannschaften fallen […] wie betrunken die Leute von den Gerüsten herunter, in die Maschine hinein, alle Balken kippen um, alle Böschungen lockern sich, alle Leitern rutschen aus, was man hinauf gibt, das stürzt hinunter, was man herunter gibt, darüber stürzt man selbst. Und man bekommt Kopfschmerzen von diesen jungen Mädchen in den Porzellanfabriken, die unaufhörlich mit Türmen von Geschirr sich auf die Treppe werfen. (Br, 73)

Die literarische Form entspricht genau jenem bereits oben beschriebenen Weltverhältnis Kafkas, der die für uns alltäglichsten Dinge gerade nicht als selbstverständlich hinnehmen kann, ihnen staunend wie ein Kind begegnet oder vor ihrer feindseligen Fremdheit zurückschreckt. In einem Brief an Max Brod findet sich im Anschluss an die Schilderung einer scheinbar belanglosen Alltagsszene jener Satz, der durchaus als Schlüssel für Kafkas Werk dienen kann: »Da staunte ich über die Festigkeit, mit der die Menschen das Leben zu tragen wissen.« (Br, 29)

Im Jahr 1906 wird Kafka zum Dr. jur. promoviert. Dass ihm von der Fakultät als Promotor Alfred Weber zugewiesen wird, ist möglicherweise nicht ganz unerheblich für Kafkas literarische Motive. Der jüngere Bruder des wesentlich bekannteren Max Weber ist ebenfalls Soziologe. Während Max Weber sehr präzise das »eherne Gehäuse« des Kapitalismus beschreibt, zeichnet sich Alfred Weber durch scharfsinnige Analysen des Beamtentums und einer drohenden »Bürokratisierung der Gesellschaft« aus. Auch wenn keine positiven Bezugnahmen Kafkas darauf bekannt sind, ist es dennoch nicht unwahrscheinlich, dass Alfred Webers Artikel Der Beamte einen deutlichen Einfluss auf Kafka ausübte. Die entsprechenden Beschreibungen und Karikaturen vor allem im späten Roman Das Schloss (s. weiter unten, S. 220) legen das jedenfalls nahe.

Nach einem obligatorischen Praktikum am Gericht tritt Kafka zunächst als Aushilfskraft in eine private Versicherungsgesellschaft ein, bis er schließlich bei der Arbeiterunfallversicherungsanstalt des Königreichs Böhmen seine lebenslange Anstellung findet. Als Jude wäre ihm eine Tätigkeit in dieser Behörde ohne Protegierung nicht möglich gewesen. Kafkas berufliche Tätigkeit vermittelt ihm direkte Eindrücke von der Lebens- und Arbeitswirklichkeit des damaligen Industrieproletariats, die in seinem Werk deutlich ihre Spuren hinterlassen (vgl. auch die beiden Skizzen aus dem Nachlass, weiter unten, S. 233). Seine eigene, sehr zielgerichtete und effektive berufliche Wirksamkeit im Sinne der Betroffenen bildet übrigens einen scharfen Kontrast zu den absurden bürokratischen Apparaten in seinem literarischen Werk, denen der Einzelne ohnmächtig ausgeliefert ist. Die Schriftsätze, die Kafka im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit verfasst hat, sind publiziert und dazu geeignet, das aus dem Erzählwerk entstehende Bild des Prager Schriftstellers zu vervollständigen (vgl. Kafka 1984).

»Wie bescheiden diese Menschen sind. Sie kommen uns zu bitten. Statt die Anstalt zu stürmen und alles kurz und klein zu schlagen, kommen sie bitten.« (Brod 1962, 102). Diese von Max Brod überlieferte Sentenz bezeugt Kafkas Empörung und durchaus rebellische Einstellung den herrschenden gesellschaftlichen Zuständen gegenüber. Diese »politische Seite« Kafkas wird allzu oft unterschlagen und kleingeredet und ist doch unübersehbarer Bestandteil seines Werkes und ein bestimmender Faktor seines Lebens. Von der offen bekundeten Sympathie des Gymnasiasten Kafka für die Sozialdemokratie war bereits die Rede. Spätestens seit 1908 ist ein verstärktes Interesse am politischen Geschehen zu verzeichnen. Verbürgt ist etwa seine – allerdings eher passive – Teilnahme am Klub mladých (»Klub der Jungen«), einer sozialistischen und antimilitaristischen Vereinigung, und am Arbeiterverein Vilem Körber. Zu Kafkas Lektüre zählen unter anderem die Anarchisten Bakunin und Kropotkin sowie Belinskij und Herzen. Kafkas intensives Interesse an der Chaluz-Bewegung in Palästina ist ebenfalls in dieses starke Interesse an gesellschaftlichen Utopien einzuordnen; ja Kafka entwirft selbst mit seinem Text Die besitzlose Arbeiterschaft (NSF, 105–106) die Skizze einer sozialistischen Utopie. Den deutlichsten Niederschlag im literarischen Werk finden Kafkas politische Optionen in seinem ersten, unvollendeten Roman Der Verschollene, dem Max Brod dann den Titel Amerika geben sollte und dessen erstes Kapitel Kafka bereits 1913 als eigenständige Erzählung (Der Heizer) veröffentlicht hat (s. weiter unten, S. 183). Bereits die ersten Sätze sind ein programmatisches Statement: Die Freiheitsstatue, derer der Hauptprotagonist Karl Roßmann bei der Einfahrt in den New Yorker Hafen gewahr wird, trägt keine Fackel, sondern schwingt drohend ein Schwert! Die für den Roman unerlässlichen Hintergrundinformationen zu Amerika bezieht Kafka weniger von seiner Amerika-kundigen Verwandtschaft als vielmehr aus Arthur Holitschers Reisebericht Amerika heute und morgen. Der Autor reiht sich durchaus in die von Kafka geschätzte rebellisch-anarchistische Tradition ein und vermittelt ein äußerst kritisches Amerika-Bild, vor allem vom Taylorismus und seinen sozialen Konsequenzen. Deutlich bekundet er seine Sympathien für die anarcho-syndikalistische Organisation Industrial Workers of the World sowie für Persönlichkeiten des Sozialismus wie etwa Emma Goldman. In Kafkas Roman findet die soziale Brutalität des amerikanischen Kapitalismus etwa im Schicksal der Mutter Theresas, einer Freundin des Protagonisten, ihren Ausdruck. Die hierarchischen Verhältnisse in der Arbeitswelt schildert Kafka im Kontrast zum Freiheits- und Gleichheitsverspechen des Systems, vor allem aber findet er eindrückliche Metaphern für das Ausgeliefertsein des Menschen an die Maschine und eine Zivilisation der Vermassung und Beschleunigung, mit der der Einzelne nicht mehr Schritt halten kann. Jenseits von persönlichen Abhängigkeitsverhältnissen erfasst Kafka scharf die Umkehrung von Subjekt und Objekt, die Unterwerfung des menschlichen Subjekts unter eine zwar von ihm erdachte, aber eine unkontrollierbare Eigendynamik entfaltende Maschine, so etwa, wenn die Liftboys im Hotel unaufhaltsam Knöpfe bedienen, ohne die Funktionsweise der dahinterstehenden Mechanik zu verstehen.

LITERARISCHE PRODUKTIVITÄT UND PERSÖNLICHES SCHEITERN

Die Arbeit am Roman Der Verschollene fällt insgesamt in eine Periode äußerst intensiver schriftstellerischer Tätigkeit. Im selben Herbst 1912 entstehen auch die Erzählung Die Verwandlung (1916 publiziert; s. weiter unten, S. 63) und Das Urteil (s. weiter unten, S. 54). Letzteres Werk ist das Ergebnis der intensiven Arbeit einer einzigen Nacht! Insbesondere Die Verwandlung zählt zu den bis heute einflussreichsten Erzählungen Kafkas. In jüngster Zeit war es der ökologische Vordenker Bruno Latour, der seine Reflexionen über die Pandemie, den Lockdown und deren gesellschaftliche Folgen mit einem Rückgriff auf Kafkas Verwandlung beginnt (Latour 2021). Kafka selbst liefert uns einen entscheidenden interpretatorischen Hinweis: In seinem früheren Prosastück Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande bleibt der Protagonist »in Gestalt eines großen Käfers, eines Hirschkäfers oder eines Maikäfers glaube ich« (s. weiter unten, S. 51) im Bett liegen, während sein angekleideter Körper die unvermeidlichen sozialen Verpflichtungen übernimmt. Die Existenz des »nackten«, aller gesellschaftlichen Rollen (als Sohn, Bruder, Angestellter …) ledigen Ich, das Entsetzen hervorruft und selbst schutzlos seiner Mitwelt ausgesetzt ist, ist also in der Figur des Gregor Samsa und seiner Insektengestalt thematisiert.

Im selben Jahr 1912 kommt es bei Kafkas Freund Max Brod zur schicksalhaften Begegnung mit Felice Bauer, einer Berlinerin, deren äußere Erscheinung Kafka im Anschluss an dieses erste Kennenlernen wenig schmeichelhaft schildert. In seinem entsprechenden Tagebucheintrag ist von einem »knochigen leeren Gesicht« die Rede, »das seine Leere offen trug«, von einer fast zerbrochenen Nase, einem blonden, etwas steifen, reizlosen Haar und einem starken Kinn (TB 1910–1923, 285). Nach spontaner Verliebtheit klingt dies jedenfalls nicht! Auch intellektuell scheint die durchaus bildungsbeflissene, beruflich erfolgreiche Berliner Angestellte nicht gerade anregend auf Kafka zu wirken. Und dennoch entspinnt sich bald eine intensive, geradezu manische Korrespondenz, die mit den entsprechenden Unterbrechungen bis 1917 andauert. Über fünfhundert Briefe und Postkarten sind uns überliefert. Bei der Lektüre bleibt der Eindruck, dass die Adressatin wenigstens über weite Strecken hin nicht eigentlich gemeint ist, sondern Kafka lediglich als Projektionsfläche dient. Je intensiver und intimer dieser briefliche Austausch wird, umso mehr scheint Kafka vor einer realen Begegnung zurückzuschrecken, versteht eine solche immer wieder hinauszuzögern. Am 1. Juni 1914 kommt es schließlich zur offiziellen Verlobung, die allerdings wenige Wochen später wieder aufgelöst wird. Felice Bauers Freundin Grete Bloch, der eigentlich die Rolle der Vermittlerin zugedacht war, deren Verhältnis zu Kafka sich aber ihrerseits zu intensivieren begann, spielt dabei eine nicht unerhebliche Rolle. Das Drama sollte sich später wiederholen: Im Jahr 1917 kommt es zur zweiten Verlobung mit Felice, die ebenfalls nach wenigen Monaten aufgelöst wird. Diesmal ist die ausgebrochene Lungentuberkulose für Kafka ein willkommener Anlass für die Entlobung. Das Muster setzt sich fort: 1919 verlobt sich Kafka noch einmal, diesmal mit der Tochter eines Synagogendieners, Julie Wohryzek, die er in Schelesen kennenlernt – eine Verbindung, die 1920 wieder gelöst wird.

Das – zugegebenermaßen komplizierte – Verhältnis Kafkas zu den Frauen war Anlass zu manchen, zuweilen auch recht abenteuerlichen, Spekulationen. Abgesehen davon, dass in solchen intimen Angelegenheiten immer Vorsicht geboten und diskrete Zurückhaltung am Platz ist, sind die einzelnen Verhältnisse meines Erachtens doch zunächst für sich zu betrachten und lassen nicht unbedingt verallgemeinernde Schlussfolgerungen zu. Darüber hinaus ist bei allen Schwierigkeiten dieser Verhältnisse stets zu unterscheiden zwischen dem, was den Bedingungen der damaligen patriarchalischen Verhältnisse, und dem, was Kafkas eigener Persönlichkeit zuzurechnen ist. Die Sexualmoral der Gesellschaft dieser Zeit, die keiner so brillant satirisch entlarvt hat wie Karl Kraus (vgl. Kraus 2017), zwängt die Bürgertöchter in das Korsett von Moralvorstellungen, deren Kehrseite zwangsläufig der Bordellbesuch der Männer ist. Auch für Kafka ist hinlänglich bezeugt, dass er diese Etablissements eine Zeit lang regelmäßig aufsuchte und damit durchaus einem wohlmeinenden Anraten seines Vaters entsprach (vgl. BrV, 60–61). In seinem Brief an den Vater vermittelt Kafka den Eindruck, seine misslungenen Heiratsversuche seien der Anstrengung entsprungen, einer Konvention und letztlich den Erwartungen des Vaters gerecht zu werden, und er bringt sie sogar mit dem Ausbruch seiner Tuberkulose in Verbindung (BrV, 53). Das Gefühl der Unzulänglichkeit als Junggeselle mag auch der dem Talmud entstammenden Vorstellung geschuldet sein, dass lediglich ein verheirateter Mann sein Mannsein überhaupt verwirklicht. Dass Kafka, dessen Weltverhältnis insgesamt vom Gefühl der Heimatlosigkeit des Daseins und einer letzten Fremdheit voreinander geprägt ist, am Versuch der Erfüllung der sozialen Erwartungen seiner Umgebung scheitert, ist kaum verwunderlich. Eher schon erstaunt, dass er diese Versuche überhaupt unternommen hat. In einem Brief an Felice wählt Kafka eine Formulierung, die zwar unmittelbar seine Herkunftsfamilie meint, aber dennoch ein nachvollziehbares Motiv für sein Zurückschrecken vor der Ehe beinhaltet, das mit seinem Dasein als Schriftsteller zu tun hat: »Ich […] habe ein unendliches Verlangen nach Selbstständigkeit, Unabhängigkeit, Freiheit nach allen Seiten; lieber Scheuklappen anziehn und meinen Weg bis zum Äußersten gehn, als dass sich das heimatliche Rudel um mich dreht und mir den Blick zerstreut.« (BrF, 729)

Über die gescheiterten Eheanbahnungsversuche hinaus scheinen Kafka durchaus erfüllende Begegnungen mit dem anderen Geschlecht gegönnt gewesen zu sein – angefangen von einer Prager Verkäuferin über seine Affäre mit einer älteren Frau in Zuckmantel und die junge »Schweizerin« in Riva bis hin zum offensichtlich recht harmonischen Zusammenleben mit der Gefährtin seines letzten Lebensjahres, Dora Diamant, in Berlin. Von der ganz besonderen Beziehung zu Milena Jesenská, von der wir letztlich nicht wissen, wie intim sie war, wird noch die Rede sein. Die in fast allen Biografien immer wieder zitierten Äußerungen Kafkas zur Ambivalenz sexueller Erfahrung (so zum Beispiel das viel zitierte Wort vom »Coitus als Bestrafung des Glücks des Beisammenseins«; TB 1910–1923, 315) spiegeln m. E. keine besondere Problematik Kafkas wider; jeder kann sie nachvollziehen, der Sexualität (in welcher Gestalt auch immer) je gelebt und darüber reflektiert hat. Ein besonderes Psychogramm Kafkas lässt sich daraus nicht gewinnen.

Bleibt die Frage nach den Frauengestalten in Kafkas Romanen und Erzählungen. Dass sie, wie Klaus Wagenbach meint, allesamt »gewissermaßen als Huren konzipiert« (Wagenbach 42005, 96) seien, kann ich nicht nachvollziehen. Dafür gibt es denn doch zu viele Gegenbeispiele, etwa das der Amalia im Roman Das Schloss. Die Rolle vieler Frauen bleibt nicht eindeutig festgelegt (etwa die des »Fräulein Bürstner« in Der Prozess), und selbst da, wo sie sich in irgendeiner Form prostituieren, lassen sie sich darauf nicht reduzieren.

»Deutschland hat Russland den Krieg erklärt. – Nachmittags Schwimmschule.« (TB 1910–1923, 418) So lautet der lapidare Tagebucheintrag Kafkas am Beginn des Krieges, den man später als die »Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts« bezeichnen wird. Die gesamte Haltung Kafkas zum Krieg ist höchst ambivalent: Eine merkwürdige innere Teilnahmslosigkeit paart sich hier mit Befremden und innerer Ablehnung. Die patriotischen Umzüge widern ihn an, während er gegenüber den Kämpfenden »Neid und Hass« zugleich zu empfinden vorgibt. Er erwägt sogar den Militärdienst als eine Art Ausweg aus seinen persönlichen Problemen. Dies steht in auffallendem Kontrast zur grundsätzlichen Ablehnung des Militärs als des Inbegriffs einer allumfassenden Gewalt, wie sie in folgendem nachgelassenen Erzählfragment zum Ausdruck kommt:

Es kamen zwei Soldaten und ergriffen mich: Ich wehrte mich, aber sie hielten fest. Sie führten mich vor ihren Herrn, einen Offizier. Wie bunt war seine Uniform! Ich sagte: »Was wollt ihr denn von mir, ich bin ein Zivilist.« Der Offizier lächelte und sagte: »Du bist ein Zivilist, doch hindert uns das nicht, dich zu fassen. Das Militär hat Gewalt über alles.« (NSF II, 21)

Auf der anderen Seite verfasst er im Jahr 1916 einen Aufruf zur Gründung einer »Volksnervenheilanstalt« für Kriegsgeschädigte (vgl. BrF, 764–766), dessen Diktion eine klare Verurteilung des Krieges erkennen lässt. Vor allem aber erfasst Kafka hier die neue Qualität dieses ersten Krieges unter dem Vorzeichen der Industrialisierung, in dem, wie Ernst Jünger es formulierte, »Produktion, Stand der Technik, Chemie, Schulwesen und Eisenbahnnetze« die Kräfte bilden, die sich in den furchtbaren Materialschlachten gegenüberstehen (Jünger 1978, 16 f). Kafka lässt durchaus den Hintergrund seiner beruflichen Tätigkeit erkennen und sieht im Kriegsgeschehen die Fortsetzung dessen, was er in der Arbeitswelt bereits im Frieden erleben musste:

So wie im Frieden der letzten Jahrzehnte der intensive Maschinenbetrieb die Nerven der in ihm Beschäftigten unvergleichlich mehr als jemals früher gefährdete, störte und erkranken ließ, hat auch der ungeheuerlich gesteigerte maschinelle Teil der heutigen Kriegshandlungen schwerste Gefahren und Leiden für die Nerven der Kämpfenden verursacht. (BrF, 764)

Dass die Umkehrung von Subjekt und Objekt in der sachlichen Gewalt der Maschine eine perfektere und perfidere Form der Herrschaft ist als jedes persönliche Abhängigkeitsverhältnis, bringt Kafka bereits in einem Brief an Felice Bauer aus dem Jahr 1913 (Anfang Januar) zum Ausdruck. Konkret geht es hierbei um den »Parlographen«, eine Art frühes Diktiergerät. Kafka schreibt:

Eine Maschine mit ihrer stillen, ernsten Anforderung scheint mir auf die Arbeitskraft einen viel stärkern, grausamen Zwang auszuüben als ein Mensch. Wie geringfügig, leicht zu beherrschen, wegzuschicken, niederzuschreien, auszuschimpfen, zu befragen, anzustaunen ist ein lebendiger Schreibmaschinist, der Diktierende ist der Herr, aber vor dem Parlographen ist er entwürdigt und ein Fabriksarbeiter, der mit seinem Gehirn eine schnurrende Maschine bedienen muss. (BrF, 241)

Die Beherrschung des Menschen durch die Maschine, seine Unterwerfung unter die anonyme Macht der Apparate, ist denn auch ein bestimmendes Motiv einer von Kafkas großen Erzählungen, die im ersten Kriegsjahr entstand: In der Strafkolonie (s. weiter unten, S. 113). Bereits im Roman Der Verschollene überlagert das Motiv des Ausgeliefertseins des Einzelnen an einen technischen Apparat, den er nicht zu durchschauen in der Lage ist, mehr und mehr autoritäre und hierarchische Verhältnisse, in denen bestimmte Personen als Ausübende von Macht und Herrschaft zu identifizieren waren. Eine der Pointen der Erzählung besteht ja gerade darin, dass der Offizier als Vertreter des »alten Systems«, der ein geradezu affektiv aufgeladenes Verhältnis zu jenem ausgetüftelten Hinrichtungsapparat hat, selbst dessen Opfer wird. Und: Gerade der ein aufgeklärtes Bewusstsein und humane Gesinnung repräsentierende Reisende beginnt sich während des grausamen Aktes der (Selbst-)Hinrichtung zunehmend nur um die in ihre Einzelteile zerfallende Maschine zu kümmern anstatt um das Opfer, das sich allerdings freiwillig dem Mechanismus seines eigenen Apparats unterworfen hat.

»Die Schuld ist immer zweifellos« (s. weiter unten, S. 119), heißt es apodiktisch in der Erklärung der Besonderheiten der Gerichtsbarkeit der Strafkolonie. Diese geradezu programmatische Aussage schlägt die Brücke zu jenem großen Roman Kafkas, der ebenfalls zu Beginn des Krieges entstand: Der Prozess. Im Gegensatz zu seinen anderen beiden Romanen genügt hier Kafka seinem eigenen Anspruch der formalen Geschlossenheit. Er schreibt den Roman offensichtlich vor dem Hintergrund einer ihm von Anfang an vorschwebenden Gesamtkonzeption. Anfang und Schluss des Romans entstehen fast gleichzeitig. Und von vornherein scheint der Roman auf die »Legende« (so Kafkas eigene Bezeichnung) oder Parabel Vor dem Gesetz (s. weiter unten, S. 173