Man vergisst nicht, wie man schwimmt - Christian Huber - E-Book
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Man vergisst nicht, wie man schwimmt E-Book

Christian Huber

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Beschreibung

»Die einzige Möglichkeit, etwas vom Leben zu haben, ist, sich hineinzuwerfen.« 31. August 1999. Sengende Hitze liegt über Bodenstein, dem Heimatkaff des 15-jährigen Pascal. Es sind die großen Ferien, und eigentlich könnte der Junge den Sommer genießen. Den Skatepark. Die Partys der Oberstufler. Das Freibad mit den besten Pommes des Planeten. Doch seit er nicht mehr schwimmen kann, mag Pascal den Sommer nicht mehr. Warum das so ist, das kann er nicht erzählen. Ebenso wenig, wieso ihn alle Krüger nennen. Und erst recht nicht, warum er sich unter keinen Umständen verlieben darf. Lieber träumt er vor sich hin und schreibt Geschichten. Dann kracht Jacky in seine Welt. Ein geheimnisvolles Mädchen aus dem Zirkus. Mit roten Haaren, wasserblauen Augen und keiner Angst vor nichts. Zusammen verbringen sie einen flirrenden, letzten Sommertag, der alles für immer verändert ...

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Über das Buch

31. August 1999. Sengende Hitze liegt über Bodenstein, dem Heimatkaff des 15-jährigen Pascal. Es sind die großen Ferien, und eigentlich könnte der Junge den Sommer genießen. Den Skatepark. Die Partys der Oberstufler. Das Freibad mit den besten Pommes des Planeten. Doch seit er nicht mehr schwimmen kann, mag Pascal den Sommer nicht mehr. Warum das so ist, das kann er nicht erzählen. Ebensowenig, wieso ihn alle Krüger nennen. Und erst recht nicht, warum er sich unter keinen Umständen verlieben darf. Lieber träumt er vor sich hin und schreibt Geschichten. Dann kracht Jacky in seine Welt. Ein geheimnisvolles Mädchen aus dem Zirkus. Mit roten Haaren, wasserblauen Augen und keiner Angst vor nichts. Zusammen verbringen sie einen flirrenden, letzten Sommertag, der alles für immer verändert und an dessen Ende unter einem weiten Sternenhimmel eine Freundschaft, eine Liebe und ein Tod stehen.

Für Isabella

TEIL 1

ICH ERINNERE MICH NOCH, dass mit einem Mal kein Prasseln mehr zu hören gewesen war. Das ist seltsamerweise das Erste, was mir einfällt, wenn ich an diesen Tag zurückdenke. Und wie eigenartig sich der Morgen anfühlte. Die Dämmerung. Verschobene Konturen, als blickte man durch Wasser.

Verzerrt von oben und erst dann klarer zu erkennen, wenn man schließlich untertaucht und unter Wasser die Augen öffnet.

Damals, an diesem 31. August 1999.

Da sind wir.

Jacky. Viktor. Ich.

Eine Freundschaft.

Eine Liebe.

Und ein Tod.

Und das ist die Geschichte.

Plötzlich war ich wach. Ich schaute auf vergilbte Raufasertapete. Dann im Halbdunkel durch den Raum. Ich wusste nicht, was mich geweckt hatte. Ich wusste nur, dass ich nicht wach sein wollte. Vor allem nicht um diese Uhrzeit. Ich hatte geträumt. Und ich wollte zurück in meinen Traum.

Es hatte geregnet. Doch jetzt, im Morgengrauen, schien der Regen endlich aufgehört zu haben, was bedeutete, dass ich mein Dachfenster endlich aufschieben konnte. Ohne meinen Traum loszulassen.

Ein Mädchen. Das Gesicht von Anna. Die Locken von Ayla. Und sie fand mich gut.

In meinem Traum sah ich aus wie ich. Fast. Ich war etwas über einsachtzig, blond und hatte die Haare kurz geschoren. Nur war ich in diesem Traum nicht erst fünfzehn. Und ich hatte ein kantiges, männliches Gesicht. Nicht so ein weiches, blasses mit Augenringen. In dieser Parallelwelt war ich durchtrainiert. Und nicht so dürr, dass es mir die Rippenbögen rausdrückte. Und mein Brustkorb war … normal. Ich dachte: Warum bin ich jetzt hier und nicht mehr dort?

Ein okayer Satz. Musste ich mir merken.

Ich schrieb Warum bin ich jetzt hier und nicht mehr dort? in mein zerfleddertes Notizbuch, das immer auf meinem Nachttisch lag, das ich hütete wie einen Schatz und das voll war mit Gedanken, Entwürfen und Geschichten. Und Träume lieferten die besten Geschichten. Mit dem, was andere so erlebten.

Dass ich Geschichten schrieb, das hatte ich noch nie jemandem erzählt. Es gab Dinge, über die ich mit niemandem sprach. Weil mich sonst alle nur für einen noch größeren Loser halten würden. Das mit dem Schreiben, dass ich Autor werden und Romane veröffentlichen wollte, das wusste nicht einmal mein bester Freund Viktor.

Ich kroch aus meinem Bett. Die nächtlichen Schauer waren tatsächlich vorüber, und es nieselte nicht einmal mehr. Träge öffnete ich mein Dachfenster. Die Strahlen der aufgehenden Sonne blitzten in den Tropfen, die in den Bäumen der Nachbarsgärten hingen.

Draußen war niemand.

Ich stützte mich am Fensterrahmen ab und atmete tief ein wie Apnoetaucher vor einem Rekordversuch. Es roch nach nassem Teer und gemähtem Rasen. Durch die frische Luft merkte ich erst, wie abgestanden die hier drinnen war. Wie warm. Davon bin ich aufgewacht, dachte ich. Das hatte mich aus meinem Traum gezogen.

Nochmals atmete ich ein. Bis die Lunge stach. Die hereinströmende Brise streifte meine Haut. Wenn ich alleine war, konnte ich immerhin ohne T-Shirt schlafen. Sonst hielt man es in meinem Zimmer im dritten Stock unter der Dachschräge eigentlich nicht aus.

Obwohl der Morgen kühl war, spürte man bereits, dass das Thermometer wieder zu steigen begonnen hatte. Der letzte Tag dieses Augusts 1999 würde noch einmal ein heißer Sommertag. Nochmals tropisch, hatte es im Wetterbericht geheißen. Scheiße! Die Hitze mochte ich einfach nicht. Ich mochte den Sommer nicht mehr, seit ich nicht mehr schwimmen konnte.

Mein Oberkörper spiegelte sich in der Glasscheibe des offen stehenden Fensters. Ich drehte mich schnell weg und zog den Vorhang zu. Staub wirbelte im Licht wie ein Krillschwarm, ich in der Mitte wie ein Wal. Wie in der Naturdoku gestern. Ozeane. Krasse Bilder. Wobei nach einem halben Joint, musste ich zugeben, alles auf meinem Röhrenfernseher krasse Bilder waren.

Ein Auge zugekniffen, das andere einen schmalen Spalt geöffnet, suchte ich den Weg zurück unter meine dünne Decke. Die Schatten des Vorhangstoffs bewegten sich an der Wand. Ein Poster von Oasis hing über meinem Schreibtisch. Auf einem Tischchen von IKEA lagen eine Casio-Uhr und ein Aschenbecher. Krümel von Tabak und Gras waren auf einem Katalog verstreut.

Die zerschlissene Kunstledercouch musste ich mal wieder abwischen, meine CDs, die gebrannten und die Originale, und die ganzen Tapes in den Ständer sortieren.

In meinem Regal lehnten die Bände von DerHerr der Ringe, ein Zinnsoldat mit abgesplittertem Lack stand neben einem Game Boy mit Tetris und einer gerahmten Urkunde: Zweiter Platz Schwimmmeisterschaft. Gott, da war ich zehn. Warum hebt man so einen Müll auf?

Der Lattenrost knarzte, als ich mich auf der Matratze einrollte, um weiterzuträumen. Es musste etwa sieben sein. Durch die Pressholztüren unserer Mietwohnung hörte ich, wie sich meine Mutter im Bad fertig machte. Doppelschicht. Im Kühlschrank würde ein Teller mit Broten für mich stehen, zehn Mark lagen auf dem Küchentisch, wie immer, das wusste ich. Dazu meistens ein Notizzettel. Wir unterhielten uns so gut wie nur noch über Notizzettel, seit sie in der Reinigungsfirma die Extraschichten übernommen hatte. Seit mein Vater weg war.

Denk bitte an den Müll, Pascal.

Ja.

Ich übernachte heute auswärts, Pascal!

Ja.

Ich hab dich lieb, Pascal.

Boah ey, Mama, ja … … … Ich dich auch.

Die Wohnungstür fiel ins Schloss. Schnelle Schritte hetzten durch das Treppenhaus. Drei Versuche brauchte der klapprige Fiat Panda, bis er ansprang und mit knallendem Auspuff Richtung Autobahn heizte, dann war es still. Irgendwo zwitscherten Vögel, die Glocken der Kirche läuteten vom entfernten Marktplatz, und ich merkte, wie ich wieder einschlummerte. Schnell einschlummern! Bevor es wieder zu warm wurde. Bevor der Traum weg war. Bevor mir der Kopf wieder zu schwirren begann.

Genieß den Tag, Pascal!, stand manchmal auf den Zetteln. Und mit einem Smiley: Carpe Diem! Carpe Diem. Witzig. In Latein war ich dieses Jahr um ein Haar durchgefallen. Und außerdem: Ich genoss jeden Tag. Ich carpte alles raus aus dem Diem. Schlafend. Bis Mittag. Wenn es mit der Hitze ging. Was hätte ich in den Sommerferien in meinem Heimatkaff auch anderes machen sollen, außer zu schlafen? Schlafen und träumen waren für mich das Beste. Am liebsten wäre ich gar nicht aufgestanden. Ich wäre gerne liegen geblieben, bis ich endlich erwachsen war.

Das war mein großer Wunsch: Dass die Zeit verging. Die Zeit konnte mir gar nicht schnell genug vergehen.

Schlaf, dachte ich.

Dieses Kaff, in dem ich seit meiner Geburt lebte, hieß Bodenstein und war exakt, wie man es sich vorstellt. Bayerische Provinz eine Stunde von der tschechischen Grenze. Keine neuntausend Einwohner. Aufgeplatzte Straßen, kein Einzugsgebiet von irgendwas und hohe Arbeitslosigkeit. Ein baufälliges Freibad, ein Skatepark mit zugetaggter Halfpipe. Das Sportheim gehörte den Nazis, der Stadtpark den Hunnen. Die erfolgreichste Vereinsmannschaft waren die Schützen. Einmal im Jahr gab es die Kirmes, einmal das Starkbierfest. Manchmal tingelte irgendein Zirkus vorbei. Das war’s. Das war Bodenstein. Die Stadt, in der nichts passierte. Hier war nicht einmal der Hund verreckt. Wenn hier ein Hund verreckt wäre, wäre das die Titelseite der Lokalzeitung gewesen. Extrablatt, Extrablatt!, verteilt von einem Jungen mit Knickerbocker, Schiebermütze und Fingerkuppen voll Druckerschwärze. Macht sieben Pennies, Sir.

In der Tat gab es nur eine Handvoll Geschichten, die sich je in Bodenstein zugetragen hatten. Mal hatte ein Waldarbeiter behauptet, ein Krokodil gesehen zu haben. Die Aufdeckung eines Autoschieberrings hatte es in die überregionalen Nachrichten geschafft. Und aus einer Geschichte hatte ich das gemacht:

DIE HUNNEN UND DIE WEED-PLANTAGE

Der Schnee knirscht unter Daves Air Max. Der Teich im Park ist eisbedeckt.

»Hier holst du immer was?«, fragt Horst und stellt den Kragen seines Parkas hoch. Horst ist der neue Freund von Daves Mutter. Der erste coole.

Gestern haben sie Pulp Fiction geschaut, und Horst hat erwähnt, dass er gerne mal einen durchzieht. Und ob er mitkann, wenn Dave das nächste Mal was holt.

Ja, komm, warum eigentlich nicht.

Jetzt stehen sie im Bodensteiner Stadtpark bei minus tausend Grad und warten auf die Hunnen. Denn wenn du in Bodenstein was zu rauchen willst, gehst du zu den Hunnen.

Die Hunnen, das sind Russen, Ungarn, Polen, Deutsche und einer aus dem Sudan. Nennen sich: Die Hunnen. Ist wie eine Gang. Anders als bei den Nazis. Die Nazis sind nur Nazis.

»Braucht ihr?« Einer der Hunnen steht vor ihnen. Er ist aus den Büschen gekommen, aus der Ecke mit den Parkbänken mit den eingeritzten Liebesschwüren.

»Für fünfzig«, sagt Dave.

Der Hunne verzieht den Mund. »Gerade schlecht«, sagt er. »Müssen zur Plantage.«

Die Hunnen haben eine versteckte Marihuanaplantage. Unten an der Naab, am Fluss. Das Problem ist, dass der Hunne gerade kein Auto hat. Und dass er gar nicht mehr fahren kann. Die Hunnen ballern gerne selber was, und da ist Gras das Harmloseste.

»Null Problemo«, sagt Horst. »Ich hab den VW. Sag mir, wo die Plantage ist.«

Ein zweiter Hunne tritt aus dem Gebüsch. Kurz beratschlagen sie, dann sind sie einverstanden.

Horst fährt. Dave daneben. Die zwei Hunnen dahinter.

Der eine von denen ist komplett verstrahlt. Kratzt sich wie ein Hund mit Ausschlag. Im Radio läuft Californication.

Nach einer Viertelstunde sagt Horst: »Ich muss telefonieren«, und hält an einer Tankstelle. Dave steigt mit aus. Dicke Schneeflocken zerfließen auf der warmen Motorhaube.

Als sie wieder am Auto zurück sind, spürt Dave, dass etwas nicht stimmt. Das gibt es ja, dass so eine Energie in der Luft liegt, die von sich aus Flocken zum Schmelzen bringen kann.

Sie fahren weiter.

Die Hunnen reden. Dave kennt die Sprache nicht. Ist auch nicht wichtig, weil »Offizer Zivilo« und »Polizia« sind international eindeutig.

Plötzlich richtet der Verstrahlte eine Pistole auf Horst.

»Mit wem hast telefoniert?«

»Was?!« Horst lässt beinahe das Auto in den Graben schlingern.

»Bist ein Scheißzivilbulle?«

»Horst ist kein Bulle!«, ruft Dave.

Horst ist wieder cool. »Bin ich nicht«, sagt er. Kann er beweisen.

Horst lenkt zurück zur Tankstelle und gibt dem weniger verstrahlten der Hunnen dreißig Pfennig. Die Leitung knackt, als er in der Telefonzelle auf Wahlwiederholung drückt.

»Hallo?« Daves Mutter.

»Falsch verbunden.« Alle lachen.

Dann zielt der Verstrahlte mit der Pistole auf Horst und drückt ab.

Klick! Klick! Klick!

Dave erstarrt.

Horst schreit.

Nichts passiert.

Keine Kugeln in der Trommel.

Gelächter von den Hunnen, und niemand ist tot und wird, zerteilt mit einer Knochensäge, in Säcken im Wald verscharrt.

Der Schnee knirscht unter Daves Air Max, als er mit zitternden Knien wieder in den Wagen steigt. Und ihm wird schlecht, als er daran denkt, dass die Hunnen wohl einfach keine Lust hatten, zwei Gräber im gefrorenen Waldboden auszuheben.

Ende

Solche Sachen schrieb ich in mein Notizbuch. Ich hatte keine Ahnung, ob das alles so passiert war. Eigentlich hatte mein bester Freund Viktor nur erzählt, dass Dave im Skatepark erzählt hätte, dass die Hunnen-Gang eine geheime Marihuanaplantage hatte. Aber so fand ich die Geschichte besser.

Schlaf jetzt!

Wieder knarzte der Lattenrost, als ich mich auf die andere Seite rollte. Ich schüttelte mein Kissen auf, drehte es um, die kältere Seite nach oben.

Viktor war gestern Abend irgendwann weg gewesen. Wann genau, hatte ich nicht mitbekommen. Ich musste nach dem halben Joint bei der Ozean-Doku auf der Couch eingedöst sein, nachdem eine Orca-Familie ihr Junges gegen einen Hai verteidigt hatte. Heute wollte ich mit Vik das neue Tony Hawk auf der PlayStation im Müller-Markt ausprobieren. Wir hatten ja noch die zweite Jointhälfte, und vielleicht arbeitete jemand im Café Colorado, der es mit den Schülerausweisen nicht so genau nahm. Wir konnten ein Bier kippen und uns später oben auf die Klippe zur Janus-Statue setzen. Hauptsache Schatten. Vielleicht liefen Anna und Ayla da auch rum. Vor ihrer Party heute Abend. Wobei die beiden jetzt achtzehn waren und einfach zu Penny konnten, wenn sie was zu trinken kaufen wollten.

Eigenartig, dass ich noch nicht wieder eingeschlafen bin, dachte ich, drehte mich abermals und strampelte die Zehen frei.

Irgendwie fühlte sich dieser Morgen seltsam an. Das gab es ja, dass man spürt, dass eine Energie in der Luft liegt.

Eine Ahnung, dass man etwas verpasst, wenn man jetzt nicht aufsteht.

Jetzt schlaf!

Und so lag ich da. Mit schwirrendem Kopf. Wälzte mich von links nach rechts und wieder zurück und wunderte mich, dass ich noch nicht wieder träumte.

Bis …

… lauter als die Vögel draußen vor meinem Fenster, lauter als die Kirche am Marktplatz, lauter als das Knarzen meines Bettes, als zersägte jemand mit einer Flex eine rostige Blechdose …

… die Haustürglocke Sturm läutete.

ICH HATTE DEN HÖRER der Gegensprechanlage abgenommen. Dann hatte ich schnaubend den Summer betätigt und war unter die Dusche gesprungen.

Nun lief Wasser aus der Brause über meine Kopfhaut, wusch Schweiß und Shampoo von meinem Körper, weg in den gurgelnden Abfluss, und damit auch die letzten Fetzen des Traumes, den die Türglocke zu Konfetti zerrissen hatte.

Die Augen geöffnet, stand ich, die Hände nach vorne gestreckt, gegen die Fliesen gelehnt. Wie ein Held aus einem Actionfilm, bevor das große Abenteuer beginnt. Oder bevor die schöne Unbekannte, die er aus den Fängen des Bösen befreit hat, zu ihm unter den dampfenden Strahl steigt. Unwahrscheinlich, dass das hier passierte. Eine Freundin hatte ich noch nie gehabt. Natürlich nicht. Wie auch?

Ich achtete darauf, mich gar nicht erst zu verlieben. Als Mann war man mit zwanzig ausgewachsen. Dann, wenn ich erwachsen war, konnte ich mich verlieben.

Natürlich gab es Mädchen, die ich gut fand, auch wenn ich wusste, dass ich keine Chance hatte.

Ayla mit ihrem Meer aus braunen Wuschellocken, in die man hineingreifen und aus denen man Zopfpalmen formen wollte. Anna, A n n a, die von hinten wie von vorne die Frau aus dem Freundeskreis-Lied war.

Klar träumte ich da.

Aber verlieben … Ein Stromschlag über das Herz bis zu den Fußsohlen. Wenn man nicht weiß, was man redet, wie man überhaupt redet, und nicht, wo man zuerst hin- und von was man zuerst wieder weggucken soll. Verlieben … würde ich mich nicht. Verlieben durfte ich mich nicht. Verlieben wäre eine Katastrophe! Warum das so war, das war auch etwas, worüber ich mit niemandem sprechen konnte. Es gab Dinge, die für mich einfach nicht gingen. Das war einfach so.

Geknutscht hatte ich schon. Beim Flaschendrehen, wenn es keine andere Wahl gegeben hatte. Und einmal hatte mich Sandra aus der Parallelklasse beim Starkbierfest mit ihren Volleyballerinnenpranken gepackt und ihren Mund so fest auf meinen gedrückt, dass ich mir wochenlang eingebildet hatte, den Abdruck ihrer Zahnspange auf meiner Unterlippe zu spüren. Sie war kichernd weggerannt und im Pulk ihrer prustenden Mädels-Clique verschwunden. Sicher hatte sie eine Wette verloren. Wer verliert, muss Krüger knutschen. Also, geknutscht hatte ich schon. Geküsst noch nie. Und auch sonst … nichts.

Krüger. Das war mein Spitzname. Eigentlich hieß ich Pascal Friedrich. Aber seit dem Vorfall in der fünften Klasse, in der ersten Sportstunde, in der Umkleidekabine, nannten mich alle nur Krüger.

Und gegen einen Spitznamen konnte man nichts machen. Den gab man sich nicht selber, und den suchte man sich nicht aus.

Meiner war: Krüger.

Ich hoffte immer, dass mein Gegenüber nicht wusste oder wissen wollte, woher der Name kam, und dass die, die es gewusst hatten, sich nicht mehr genau erinnerten.

Ich hatte den Namen einfach angenommen. Passte ja auch.

Bist du heute Abend zu der Party eingeladen, Krüger?

Nein.

Machst du beim Schwimmunterricht mit, Krüger?

Nein.

Hast du rote Augen! Hast du ’ne Bindehautentzündung, Krüger?

… … … Ja.

Ich streckte mich nach dem Handtuch, das ich über die Duschvorhangstange geworfen hatte, wickelte mich ein und genoss meine Gänsehaut.

Bei der Zahnpasta hatten sie etwas an der Zusammensetzung geändert. Es schäumte nicht mehr so, egal, wie sehr ich schrubbte. Noch zwei Schuss Deo. Nicht in den Spiegel gucken.

Ich schlüpfte in meine Boxershorts und in meine kurze Hose, streifte zuerst ein weißes T-Shirt, das eng am Hals abschloss, über und zog darüber ein zweites, weites, das an mir hing wie ein Nachthemd an einem Skelett. Darüber einen XXL-Hoodie. Baggy-Skater-Style. Liebte ich.

Die Tür des fensterlosen Badezimmers ließ ich offen, damit die Feuchtigkeit abziehen konnte und die Tapete an den ungefliesten Stellen nicht noch aufgequollener wurde. Eine Falte, die sich unschön zu wölben begonnen hatte, drückte ich glatt.

Aus meinem Zimmer schallte Musik.

Es geht mir gut, ich mein,

Es könnte weiß Gott schlimmer sein.

Klar, es kommt vor, man schließt sich in sein Zimmer ein …

Die Stereoanlage lief. Danke, gut! vom neuen Eins-Zwo-Album wummerte aus den Boxen, der Bass ließ die Membranen vibrieren wie ein mittelschweres Erdbeben.

Auf meiner Couch hing Viktor und grinste mich an.

»Na, Krüger, was geht?« Mit der Fernbedienung regulierte er die Lautstärke runter, und wir schlugen ein. Schnipsinger. Unser Begrüßungshandschlag. Oder wenn jemand was Cooles gesagt oder gemacht hatte. Unsere Hände klatschten flach ein, beim Auseinanderziehen drückten wir Daumen, Zeige- und Mittelfinger gegeneinander, dass es schnippte. Was geht? Schnipsinger. Wie in dem Film KIDS. Übelst lässig.

»Nicht viel«, sagte ich und streckte Vik den Teller mit Broten entgegen.

»Alter, Krüger, siehst du verpicht aus. Was ist mit dir denn los?« Verpicht. War seit einiger Zeit Viktors Lieblingswort. Eine Mischung aus verpeilt und dicht. Wahlweise bedeutete es auch einfach: beschissen. Verpicht. Konnte man auch als Verb benutzen. Etwas verpichen. Ich zeigte ihm den Mittelfinger. Er gluckste.

Viktor selbst sah aus wie eine Streberversion von Leonardo DiCaprio aus Titanic. Blonde, fluffige Haare wie gerade geföhnt, weiße Zähne, ein Gesicht wie aus einer BRAVO-Fotolovestory. Und eine breitrandige Brille mit flaschenbodendicken Gläsern, ohne die Vik so kurzsichtig war wie ein Grottenolm.

Er trug ein T-Shirt und ein offenes Hawaiihemd, die Dickies-Cargo saß weit unter der Hüfte.

Ich nahm mir ebenfalls ein Brot und sagte kauend: »Erstens: Niemand außer dir benutzt verpicht. Absolut niemand. Und zweitens: Ich sehe aus, wie man aussieht, wenn man mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen wird, du Pfosten. Was willst du schon hier? Weißt du eigentlich, wie spät es ist?«

»Nein.« Viktor zuckte die Achseln. »Du?«

»Äh, nein.« Ich schaute auf die Casio, die neben dem Aschenbecher lag, und legte sie mir ums Handgelenk. »Acht. Es ist acht!«, stöhnte ich und ließ mich neben meinen Kumpel auf die Couch fallen. »Warum hast du nicht angerufen?«

Viktor guckte mich herausfordernd an. »Wärst du ins Wohnzimmer gelaufen und rangegangen?«

»Hm.«

»Oder hast du im Lotto gewonnen und dir ein Handy geholt?«

»Hm.« Ich winkte ab. Ein paar Sekunden schwiegen wir, mümmelten auf unseren Brotkrusten rum, während die Anzeige meiner Armbanduhr eine Ziffer weiter sprang. »Hat der Sergeant dich rausgescheucht?«, fragte ich dann.

Viktor nickte.

Sommerferien oder nicht, der Sergeant duldete kein, wie er es nannte, »Lotterleben«. Darunter fielen lange draußen bleiben, lange schlafen und falscher Umgang. Das bedeutete: kein Abhängen im Skatepark, sondern buckeln im Ferienjob. Kein PlayStation-Spielen, sondern Boxtraining. Wenn der Sergeant gewusst hätte, dass Viktor kiffte, Alkohol trank und sich nachts rausschlich, säße dieser im nächsten Flugzeug nach Alcatraz. Oder wäre zumindest auf direktem Weg ins Internat.

Der Sergeant war ein Kettenhund. Herr Dornmann. Mein Lateinlehrer und Viktors Vater.

»Zu was hat er dich denn verdonnert?«, fragte ich jetzt, griff nach einem Tetra Pak Eistee, der auf dem Boden stand, und nahm einen tiefen Schluck. Ich hielt Viktor den Karton hin, er lehnte ab.

»Ich muss das Wochenblatt austragen«, sagte er stattdessen, pustete sich eine Fluffsträhne aus der Stirn und betätigte den CD-Wechsler.

»Hast das mit dem Wochenblatt schon erledigt?«, grinste ich.

Viktor lachte. »Nein. Ich kann die Zeitungen nicht zu oft einfach nur in ’nen Papierkorb stopfen, statt sie zu verteilen. Jemand von der Stadtreinigung hat mich da letztens hingehängt. Heftig verpicht.«

»Shit«, sagte ich. »Ja, lieber nichts riskieren.«

Wir sprachen wieder ein paar Augenblicke nicht, hörten Jan Delay zu, wie er auf Füchse rappte. Er haute ab aus seinem Bau.

Viktor nickte mit dem Kopf zum Beat und wartete ab, bis der Refrain einsetzte. »Zusammen und halbe-halbe?«, schlug er dann vor.

Ja, komm, warum eigentlich nicht, dachte ich.

Schnipsinger.

ICH ZOG MEINEN weinroten Eastpak unter meinem Bett hervor und packte eine Schachtel Lucky Strike, in der noch drei Zigaretten und der halbe Joint von gestern waren, in das vordere Rucksackfach und mein Notizbuch, dessen zum Teil lose Seiten von einem Gummiband zusammengehalten wurden, mit einem Stift in das hintere.

Aus der Schublade meines Nachttischs griff ich mein Sturmfeuerzeug.

Langsam fuhr ich mit den Fingerspitzen über die glatte Oberfläche, bevor ich es in die Hosentasche steckte. Ich mochte dieses Feuerzeug. Ich wusste gar nicht mehr genau, woher ich es eigentlich hatte. Nachdem meine Mutter und ich letztlich alleine in dieser Wohnung gelebt hatten, war es irgendwann in meinem Besitz gewesen. Ich mochte den ebenen edlen Stahl, aus dem es gefertigt war. Und es beruhigte mich, über die Oberfläche zu streichen, immer wenn ich nervös wurde. Außerdem funktionierte es zuverlässig. Der Feuerstein entzündete das herausströmende Gas, selbst wenn er nass geworden war, und die Flamme erlosch nicht, ganz gleich, wie fest der Wind blies.

Ich schob mir noch den Schlüsselbund in die andere Hosentasche und die beiden Fünf-Mark-Stücke vom Küchentisch in den Geldbeutel, dann trug ich mein BMX die drei Stockwerke nach unten und lehnte es an die Hausmauer, wo Viktor mit seinem Rennrad wartete, an dessen Lenker die Stofftaschen mit den Exemplaren des Wochenblatts hingen, die wir in der Bodensteiner Innenstadt in die Briefkästen werfen und in den Läden auslegen mussten. Zwei der Beutel legte ich mir über die Schultern.

Die Sonne schien jetzt schon kräftiger, und die Regenpfützen der Nacht waren beinahe vertrocknet. Ich trat in die Pedale, rollte ein paar Meter in Schlangenlinien und fuhr durch eine Lache, die noch im Rinnstein stand. Auf dem Asphalt hinterließ das Profil meiner Reifen eine blasse Spur. Viktor war bereits ein Stück voraus, sein Hawaiihemd flatterte wie ein Cape.

Das Neubauviertel, in dem ich wohnte, war an den Rand von Bodenstein geklebt. Wir fuhren durch Straßen, die so angeordnet waren, dass es aus der Vogelperspektive aussehen musste wie ein karierter Schreibblock, die einzelnen Parzellen angemalt in mehr oder weniger identischen Tönen von Betongrau und Vorgartengrün.

Je näher wir der Altstadt und dem Stadtkern kamen, desto rußiger wurden die Fassaden, desto spärlicher die Grünflächen. Fachwerk stand hier neben Fünfzigerjahre-Betonklötzen, über Geschäften für Bekleidung, einer Metzgerei und einem Bäcker waren Einliegerwohnungen. Links hatte das kleine Kino die Blockbusterplakate in einem Schaukasten hängen, rechts schob eine Mitarbeiterin vom Schnäppchenparadies Auslegeware vor das Schaufenster. Der Schuhmacher hatte noch nicht geöffnet, ebenso wenig wie die Müller-Filiale mit der Drogerie- und der Medienabteilung oder der halb verfallene Steinmetzbetrieb der uralten Frau Berger.

Es waren kaum Autos unterwegs. Ich radelte gemächlich. Der Straßenbelag wechselte immer wieder zu Kopfsteinpflaster, was mich auf dem Sattel jede Fuge und jede Unebenheit spüren ließ. Als ein gellender Pfiff ertönte, der die Luft zerschnitt, blickte ich auf.

»Komm ran jetzt!«, rief Viktor, an einer Kreuzung an einer Litfaßsäule abgestützt, seinem Pfeifen hinterher und wischte sich die Finger an seiner Hose ab.

Viktor konnte pfeifen wie niemand sonst, den ich kannte. Er hatte sich verschiedene Pfiffarten für verschiedene Botschaften antrainiert. Je nachdem, was Vik wollte, änderte er Intensität und Tonlage. Das hatte er von seinem Vater. Der Sergeant hatte ihm das beigebracht, noch bevor Viktor sprechen konnte. Ein Mann weint nicht, ein Mann versagt nicht, ein Mann muss kämpfen können. Und pfeifen.

Dieser Piff hatte Komm her! geheißen, und ich wusste sofort, worauf Viktor abzielte. Wenn wir das Wochenblatt in der Innenstadt austrugen, gab es zwei Routen. Eine schlechtere und eine bessere. Die schlechtere: frei stehende, von Hunden bewachte Wohnhäuser, verstreute Wohnungen und Geschäfte. Eine Ewigkeit pro Wochenblatt-Exemplar und Briefkasten. Die bessere: ein paar Büros und ein Wohnblock. Dutzende Briefkästen auf einmal, an denen man die kostenlosen Zeitungen so schnell in die Schlitze verteilen konnte, dass man aufpassen musste, keine Sehnenscheidenentzündung zu bekommen.

Wer von uns welche Route bekam, entschieden wir immer in einem Wettbewerb, der von uns sogenannten Competition. Und Viktor, das war ihm anzusehen, wollte Competition.

Ich lenkte mein BMX neben meinen besten Freund an die Litfaßsäule, die von oben bis unten mit Plakaten beklebt war. Daumendick waren die Papierschichten übereinandertapeziert, an denen, löste man sie nach und nach ab, man die Veranstaltungshistorie von Bodenstein hätte ablesen können wie die Geschichte eines Gebirges am Sediment.

Ein Poster schien gerade frisch über die anderen gepappt worden zu sein. Kein Foto, sondern eine Zeichnung mit einem leuchtenden Motiv: ein gelb-rotes weitläufiges Zelt, dessen Eingang, die Plane aufgeschwungen, im Inneren eine Manege erahnen ließ.

CIRCUSMONDOINTERO stand in goldener Schrift unter der Zeichnung. Jetzt in Bodenstein am Festplatz. Kommen Sie vorbei. Hier werden Träume Wirklichkeit!

Viktor schnippte mit seinen Fingern vor meinem Gesicht. »Nicht dösen«, sagte er und knackte mit den Halswirbeln. »Ich bin dran mit Ansagen.«

»Bist du sicher?«, sagte ich und knackte ebenfalls.

Viktor nahm seine Brille ab und putzte die Gläser an seinem Hemd, wobei er affektiert mit den Schultern zuckte. »Sorry, Krüger. Du hast die Competition letztes Mal angesagt. Tetris. Und du hast verloren, du Loser. Heute darf ich bestimmen, was wir machen.«

Viktor hatte recht. Die Competition war jedes Mal ein anderer Wettbewerb. Die Disziplin entschieden wir abwechselnd.

Viktor lächelte mich überlegen an.

Ich ahnte, was er gleich vorschlagen würde, und schüttelte den Kopf.

Vik: »Gleichzeitig …«

Ich: »Du …«

Vik: »… freihändig …«

Ich: »… dämlicher …«

Vik: »… rollen.«

Ich: »… Pfosten!«

Viktor kicherte. »Ich nehme als Disziplin: gleichzeitig freihändig rollen. Blind.«

»Niemals.«

»Du musst, Krüger, du Sissi.«

»Fuck.«

»Tja, verpicht.«

Gleichzeitig freihändig rollen, der Wettbewerb, den Viktor gewählt hatte, bedeutete, wir beide mussten uns auf unsere Räder setzen, abstoßen, die Hände vom Lenker nehmen und nebeneinander den Bürgersteig entlangrollen. Ohne Festhalten und Treten. Wer weiter kam, gewann. Viktors Paradedisziplin. Ich hatte mir dabei vor ein paar Wochen den Ellbogen verstaucht. Und blind hatten wir das bisher überhaupt noch nicht gemacht.

»Blind mach ich nicht«, sagte ich.

»Du musst, du Feigling«, wiederholte Viktor. »Du darfst auch innen sein«, fügte er gönnerhaft an und brachte sich in Position, indem er sein Rennrad auf den Bürgersteig hob, nah an den Bordstein.

Ungeschickt stakste ich neben ihn.

»Mit offenen Augen reicht doch«, probierte ich es nochmals, aber Viktor presste bereits die Lider zu. Mir war klar, dass ich durch Widerspruch sein Ego nur noch mehr kitzeln würde, also tat ich es ihm gleich.

Sofort hatte ich das Gefühl, das Gleichgewicht zu verlieren. Körpergefühl und Geschicklichkeit waren einfach nicht mein Ding.

Viktor räusperte sich. »Bist du so weit?«

»Nein.«

»Drei … zwei … eins … los!«

Ich hörte, wie sich seine Sneaker vom Boden abstießen. Das musste ich jetzt auch machen. Jetzt! Doch statt mich abzudrücken, zögerte ich, glaubte umzukippen, verdrehte den Lenker und geriet mit dem Vorderrad in irgendwas. Viktors Speichen.

Scheiße!

Ein Schrei.

Ich riss die Augen auf. Zu spät.

Alles passierte in einzelnen grell aufblitzenden Bildern. Abgehackt, als hätte jemand Stücke aus einer Filmrolle geschnitten. Jedes Bild knallte mit einer Lichtexplosion, wie man sie von alten Fotoaufnahmen kennt, in meinen Tunnelblick.

Bitte alle recht freundlich.

Fump!

Mein Vorderrad in Viktors Speichen.

»Scheiße!«

Quietschender Autoreifengummi.

Stille. Standbild.

Viktor lag, in sein Fahrrad verkeilt, regungslos auf der Fahrbahn, die Stoßstange eines silbernen Mercedes knapp vor seinem Kopf.

Ich ließ das BMX fallen, stürzte zu meinem Freund und berührte ihn am Rücken.

»Vik, alles klar?«

Ein Augenblick, der mir eine Erdumdrehung zu dauern schien. Was sollte ich tun? Einen Krankenwagen rufen?

Endlich zuckte Viktor, richtete sich auf und schlug meine Hand weg.

Kurz funkelte er mich an, als unsere Blicke durch die Windschutzscheibe in das Innere des Mercedes fielen. Von dort fixierten uns zwei stechende Stahlaugen. Wie ein Raubvogel seine Beute, schoss es mir durch den Kopf. Der Fahrer machte keinerlei Anstalten auszusteigen. Es war einer der Hunnen. Und er schien kein bisschen erschrocken zu sein. Seelenruhig nahm der Mann die rechte Hand, an der er einen dicken Siegelring trug, vom Lenkrad und legte Zeige- und Mittelfinger ausgestreckt zusammen. Er formte eine Pistole. Er zielte erst auf mich und deutete einen Schuss an. Bamm! Anschließend wiederholte er dasselbe anvisiert auf Viktor. Bamm!

Dann setzte er mit Vollgas zurück und umkurvte uns haarscharf, ohne uns eines weiteren Blickes zu würdigen.

»Alter.« Viktor stand wieder, klopfte sich den Dreck von den Klamotten und schob seine Brille, die zum Glück unbeschädigt geblieben war, gerade. Am Schienbein hatte er eine Schürfwunde, sonst schien er unverletzt.

»Tut mir leid«, sagte ich kleinlaut und hob sein Rennrad von der Straße, sodass er es an der Stange zu greifen bekam.

Sekunden herrschte eine Grabesstille zwischen uns. Gott sei Dank war nichts passiert.

»Ich war weiter«, sagte Viktor schließlich und radelte, ein »Wir treffen uns beim Müller« murmelnd, davon.

Ich stellte mein BMX auf, setzte mich auf den Sat-tel und war einfach nur froh, dass niemand gestorben war.

SOBALD VIKTOR außer Sichtweite gewesen war, hatte ich mein Notizbuch aus meinem Rucksack gezogen und aufgeschlagen.

Aufblitzende Bilder, Lichtexplosionen, Stücke aus einer Filmrolle geschnitten, Tunnelblick, schrieb ich auf eine leere Seite, mit dem Gedanken, dies vielleicht irgendwann für eine Geschichte benutzen zu können.

An den zittrigen Linien, die der Stift hinterlassen hatte, merkte ich, wie sehr mir der Schock in den Knochen steckte. Zur Beruhigung hatte ich in meiner Hosentasche ein paar Augenblicke über die glatte Oberfläche meines Sturmfeuerzeugs gestrichen, bevor ich das Gummiband wieder um das Buch gelegt und dieses zurück in meinen EastPak geschoben hatte.

Meine Route abfahrend, hatte ich dann mechanisch Exemplar um Exemplar des Wochenblatts in die Briefkästen geworfen, war abgebogen in Seitenstraßen und Wege, die in den Ortskern hineinliefen wie ein Flussdelta und mich immer wieder zurück auf die Hauptstraße spülten.

Der Unfall mit Viktor hätte auch anders ausgehen können. Ich hätte nicht gewusst, was ich in diesem Fall gemacht hätte.

Ich hatte bis zu diesem Tag im Sommer 1999 noch nie einen wichtigen Menschen in meinem Leben verloren. Auch aus dem einfachen Grund, dass es damals nicht viele wichtige Menschen in meinem Leben gab. Mein Vater war weg, ja. Aber das war – und das war mir absolut bewusst gewesen – etwas Gutes.

Um kurz nach zehn war mein Teil der Arbeit beinahe erledigt. Beim Kino klemmte ich ein paar Wochenblatt-Ausgaben unter die Türschwelle, im Schnäppchenparadies legte ich einen Schwung an die Kasse und beim Schuhmacher einen Stapel auf ein Bänkchen, das vor dem Laden stand. Es fehlten noch der Steinmetzbetrieb und der Müller-Markt, in dessen Medienabteilung, direkt an der PlayStation, ich mich wieder mit Viktor treffen würde, um den restlichen Vormittag das heute erschienene Tony Hawk’s Pro Skater »auszuprobieren«, bis uns der Filialleiter aus dem Geschäft werfen würde.

Die Steinmetzerei war in einem baufälligen Gebäude, dem der Putz von den Wänden platzte. Um hineinzugelangen, musste man über einen Kiesweg durch ein schmiedeeisernes Tor, das immer offen stand. STEINMETZBE-TRIEB – BILDHAUEREI – GRABMALKUNST – ILSEBERGER war in verwitterten Lettern in den Stahl geprägt.

Ich nahm den vorletzten Stapel der Zeitungen, um diesen, wie jedes Mal, wenn ich Viktor half, in der Werkstatt auszulegen. Frau Berger würde irgendwo auf ihrem parkähnlichen Ausstellungsgelände sein, das hinter dem Gebäude lag und das mit hohen Hecken einem Labyrinth gleich zugestellt war mit angefangenen und zum Verkauf fertigen Statuen und Grabsteinen.

Früher, am Lagerfeuer bei Zeltausflügen, hatten wir uns Gruselgeschichten von der kauzigen erblindenden Steinmetzin Berger erzählt und von ihrer berühmtesten Statue, dem Janus.

Und aus einer dieser Geschichten hatte ich diese gemacht.

DIE STEINMETZIN UND DER JANUS

Den Auftrag schickt der Himmel. Eine kolossale Statue. Ein Wahrzeichen und Wächter für Bodenstein. Oben, auf der Klippe, am höchsten Punkt über der Naab. Gehauen aus einem Felsblock, der bei Tagesanbruch in die Steinmetzerei geliefert worden ist. Bezahlt hat der anonyme Spender bereits. Und Ilse Berger kann ihre erdrückenden Schulden begleichen. Alles, was von der Steinmetzin gefordert wird, ist, den Wächter für die Stadt aus diesem Stein zu schlagen. Der Spender fordert ein Meisterwerk.

Nun sitzt die alte Frau, Hammer und Meißel in der Hand, auf einem Schemel in ihrer Werkstatt, starrt auf den riesigen Steinquader und weiß nicht, wo sie den ersten Hieb ansetzen soll.

Drei Tage und zwei Nächte bleibt sie dort, steht auf, streicht über den Stein, setzt sich wieder, vergisst zu essen, zu trinken, nickt ein, bis es sie schüttelt vor Schlafmangel, Durst und von einem schleichenden Fieber.

Wie beginnt man ein Meisterwerk? Der Gedanke bohrt sich immer weiter in ihren Verstand, droht, sie in den Wahnsinn zu treiben.

In der dritten Nacht, im stärker und stärker werdenden Flimmern, hört sie auf einmal eine Stimme.

»Ich bin der Anfang und das Ende«, dröhnt die Stimme. »Das Licht und der Schatten. Feuer und Wasser. Ich bin der Janus.«

Die Stimme kommt vom Stein. Von der ihr zugewandten Seite. Mit geschlossenen Augen, um die Eingebung nicht verfliegen zu lassen, lehnt sich Ilse Berger, selbst glühend, an den kühlen Fels.

Und fängt an zu schlagen.

Wie hypnotisiert bricht sie mit dem Meißel Stücke und Splitter aus dem Gestein, formt einen Torso, Arme, Beine, beginnt ein Gesicht, spürt die Wolken von Staub auf ihrer mit einem Schweißfilm überzogenen Haut, als die Stimme abermals ertönt:

»Ich bin das Ende und der Anfang«, donnert es. Diesmal von der Rückseite. Was der Janus von ihr will, ist eindeutig. Die Steinmetzin geht um den Stein herum und beginnt, ein zweites Gesicht zu formen.

Sofort schallt es von der Vorderseite: »Ich bin der Schatten und das Licht.« Wie befohlen arbeitet Ilse Berger an der Vorderseite weiter. »Wasser«, Rückseite, »und Feuer«, Vorderseite. Rückseite. Vorderseite. Rückseite. Hin und her bis zur völligen Erschöpfung. Stücke, Splitter …

»Ich bin der Janus.«

… und Splitter und Staub und Staub und Staub.

»Ich bin der alles sehende Wächter.«

Klirrend gleiten Hammer und Meißel zu Boden. Kein Ton ist mehr zu hören. Nur Ilse Bergers Keuchen.

Wie viele Stunden vergangen sind, weiß sie nicht.

Zitternd steht sie in ihrer Halle, fährt, die Augen immer noch zugepresst, mit den Fingern über ihr Meisterwerk und fängt an leise zu weinen. Eine imposante Gestalt hat sie geschaffen, jede Sehne und jeder Muskel sind tastbar. Mit scharfkantigen Zügen: ein Gesicht und da, wo der Hinterkopf sein sollte, ein zweites. Der alles sehende Wächter.

Nun will die Steinmetzin den Koloss betrachten. Doch als sie versucht, ihre Augen zu öffnen, stockt ihr das Blut in den Adern. Der Staub vom Stein, vermischt mit ihrem Schweiß und ihren Tränen, hat ihr die Lider verklebt wie Beton. Verzweifelt versucht sie, die Kruste abzukratzen. Vergebens. Der alles sehende Wächter hat ihr das Augenlicht geraubt.

Nun wacht der Janus über Bodenstein, oben, auf der Klippe, am höchsten Punkt über der Naab, den Fluss und die Stadt gleichermaßen überblickend, während seine Schöpferin in ewiger Dunkelheit wandelt.

Ende

Zugegebenermaßen war es unwahrscheinlich, dass das so passiert war. Ja, die alte Frau Berger war beinahe blind, und bei der Aussichtsplattform auf der Klippe über der Naab gab es eine riesige Statue mit zwei Gesichtern, die die Steinmetzin vor Jahrzehnten gemeißelt hatte. Die Skulptur eines römischen Gottes: der Janus. Der Gott des Gegensatzes. Für Anfang und Ende, Licht und Dunkelheit, Leben und Tod. Dieser Teil meiner Geschichte stimmte. Der Rest klang immerhin spannend.

Die Klippe mit dem Janus war mein Lieblingsort in Bodenstein und Umgebung. Das Plateau mit der Aussichtsplattform erhob sich als Anhöhe steil am Rand des Naabtaler-Forstes. Die kolossale Statue stand direkt am Abgrund, zehn Meter über der Naab. Im Schatten der Skulptur hatte man eine atemberaubende Sicht. Man blickte weit über die dichten Bäume, bis hinunter in die Stadt und über den Fluss, der irgendwann mit dem Dunst des Horizonts verschmolz.

Dort saß ich gerne. Hinter mir der kühle Wald, unter mir das glitzernde Wasser. Dort oben hing ich Träumen nach und schrieb Geschichten in mein Notizbuch, wenn ich alleine war. Mit Viktor zog ich beim Janus gerne einen durch, wir tranken was oder warfen Steine in den tiefen, ruhig fließenden Strom. Viktor warf immer so weit er konnte. Ich mochte das Geräusch, wenn ich meinen Stein einfach fallen ließ und er platschend durch die Wasseroberfläche schlug.

Ich zog mir die Kapuze meines Hoodies auf und schob die Wochenblatt-Exemplare auf Kante. Die noch auslegen und dann zum Müller, wo Viktor vermutlich schon die PlayStation in Beschlag genommen hatte.

Ich wollte gerade den Kieselweg zum Steinmetzbetrieb betreten, als ich auf der gegenüberliegenden Seite einen Jungen bemerkte. Er stand vor einem großen, im Charakter einer Stadtvilla modern wirkenden Haus, das aus dem tristen Straßenzug herausstach. Der Kleine war höchstens sechs Jahre alt und sah irgendwie verloren aus. Er trug eine zu lange Jeans, die am Bund umgeschlagen war, und einen geringelten Pullover. Auf seiner Stirn klebte ein Pflaster. Und er verhielt sich seltsam. Er drehte sich um die eigene Achse, wobei er mit seinen vibrierenden Lippen Geräusche machte wie ein Rennwagen.

Er schien alleine zu sein. Irgendwo und mit irgendwem hatte ich den Jungen schon mal gesehen. Aber mit wem? Ich kam nicht drauf.

»Ist mit dir alles okay?«, rief ich über die Straße, laut, um seine Motorengeräusche zu übertönen. Keine Antwort. Da der Junge sich unbeirrt weiter im Kreis drehte und ich Sorge hatte, er könnte auf die Fahrbahn stolpern, ging ich zu ihm. »Ist mit dir alles in Ordnung?«

Unvermittelt verstummte der Junge und gaffte mich an. »Was machst du?«, sagte er auf eine herzerwärmende Art langsam. Von den vielen Drehungen taumelte er wie ein Betrunkener, der sich von seinem Thekenplatz erhebt.

»Na, was machst du, ist hier doch eher die Frage«, sagte ich und ging vor ihm in die Hocke.

»Burnout.« Der Junge sah mich mit einem Das-sieht-man-doch-du-Vogel-Blick an. »Wie Schumi«, schob er als Erklärung hinterher. »Und du?«

»Zeitungen austragen«, sagte ich und wedelte mit dem Stapel in meiner Hand. »Und was hast du da gemacht?«, deutete ich auf das Pflaster.

»Zu schnell Burnout.«

»Oh.«

»Hat geblutet.«

»Ja, das glaube ich.« Ich musterte ihn. »Du musst vorsichtiger, ähm, fahren.«

»Oder mit Helm«, nickte der Junge nachdenklich.

»Oder mit Helm«, stimmte ich ihm zu.

In dem Bub schien es zu arbeiten. »Darf ich dir helfen?«, fragte er jetzt.

»Beim Austragen?«

»Ja! Kann ich?« Er streckte seine Arme nach vorne, in der Erwartung, dass ich ihm die Zeitungen übergab.

»Erst mal: Wie heißt du?«, fragte ich.

»Heiko. Aber alle sagen Schumi. Weil ich immer Rennen fahre. Und du?«

»Pascal. Aber alle sagen Krüger. Weil ich …« Ich zögerte, strich automatisch über meinen Brustkorb, atmete einmal ein und wieder aus. »Also, willst du mir jetzt helfen?«, fügte ich dann lächelnd hinzu.

»Ja!«

Ich legte dem wild nickenden Schumi die Zeitungen in die immer noch ausgestreckten Arme. »Die hier«, deutete ich auf die Exemplare, »musst du da drüben in der Werkstatt der Steinmetzin auf einen Tisch legen. Schaffst du das?«

Der Kleine nickte weiter.

»Bei Frau Berger ist es ein bisschen unheimlich. Falls du dich fürchtest, kannst du …« Ohne mich ausreden zu lassen, schaute der Junge, ob sich ein Auto näherte, und düste los. Mit Vollgas-Motorengeräusch rannte er über den Kiesweg, durch das Eisentor in das Gebäude, verschwand und kam ohne die Zeitungen zurückgefetzt. Völlig aus der Puste, die Hände auf die Oberschenkel gestützt, stand er schließlich wieder vor mir.

Ich war beeindruckt. »Nicht schlecht. Danke.«

»Keine Ursache.« Erneut sprach er langsam, als wären seine Worte Kaugummi.

»Hier, schlag ein. Schnipsinger«, sagte ich und hielt ihm meine flache Hand hin.

Ratloser Blick.

»Hau drauf, und beim Auseinanderziehen drücken wir Daumen, Zeige- und Mittelfinger gegeneinander, sodass es schnippt.«

Die Gesichtszüge des Kleinen erhellten sich. Er klatschte auf meine Hand, und beim Auseinanderziehen schnippte es sogar ein wenig. »Cool!« Freudig wiederholte Schumi das Ganze, als sich hinter uns die Haustür der Stadtvilla öffnete.

Der Bub hopste an mir vorbei und umklammerte die Beine einer jungen Frau. Anna, die mich argwöhnisch ansah. Dahinter Ayla, die sich die Locken zu einem Pferdeschwanz band.

Ich stand da wie eine Salzsäule. Deshalb war mir Schumi bekannt vorgekommen. Ich musste ihn schon einmal mit Anna und Ayla gesehen haben. Sag was Cooles, dachte ich. Oder was Lässiges. Oder was Witziges. Oder irgendwas. Sag irgendwas. Ich öffnete und schloss den Mund wie ein Fisch an Land, ohne einen Ton herauszubekommen, und Anna und Ayla wandten sich ab.

»Na, Großer, bringen wir dich zu Oma?«, sagte Anna zu Schumi.

»Ja!« Schumi griff die beiden an den Händen, sodass er in der Mitte gehen konnte.

»Und wir hatten doch abgemacht, dass du nicht mit fremden Männern reden sollst«, ermahnte ihn Ayla streng, während sie zusammen auf ein am Straßenrand parkendes Cabrio zumarschierten.

»Na ja, das war ja auch kein Mann«, feixte Anna und zog die Beifahrertür auf.

»Stimmt«, kicherte Ayla.

»Das war kein Fremder«, sagte Schumi, der dabei war, auf die Rückbank zu klettern. »Das war Krüger. Der ist cool.«

»Ja?«, hörte ich Ayla noch ungläubig, bevor sie davonfuhren, wobei aus dem voll aufgedrehten Kassettendeck ein Lied von Beck schallte. Und es schien, als sänge er Loser ganz für mich alleine.

»DU HAST AUF IHREN komischen Bruder aufgepasst? Vorsicht, nicht da runterspringen.«

»Lass mich, ich muss mich konzentrieren.« Ich hielt den PlayStation-Controller umklammert und schickte Tony Hawk, Trick um Trick meisternd, durch einen Skatepark über den Dächern New Yorks. Fakie frontsidenosegrind. Viel Risiko. Viele Punkte.

Da mir heiß wurde, drückte ich Pause, zog meinen Hoodie aus, darauf bedacht, dass meine Shirts nicht nach oben rutschten, und stopfte den Pullover in meinen EastPak, den ich hinten an der Wand der Elektroabteilung abgestellt hatte. Die Band Goldfinger schepperte als Soundtrack des Spiels aus den Fernsehlautsprechern:

So here I am

Doing everything I can

Holding on to what I am

Pretending I’m a superman.

Den aktuellen Highscore hatte Viktor, der mich noch immer fassungslos anglotzte.

»Du passt auf ihren Bruder auf und kommst nicht auf die Idee, ihre Party heute Abend zu erwähnen und zu fragen, ob du rumkommen kannst? Wie konntest du denn nur dastehen und gar nichts machen? Meinst du das gerade ernst, Krüger?«

Ja, meinte ich. Ich fand es wesentlich schlauer, nichts zu machen, bevor man etwas Dummes-Peinliches-Falsches machte. Wer nichts macht, dem passiert auch nichts.

Genervt schnalzte ich mit der Zunge. »Wie hast du dir das denn vorgestellt, Vik? Hätte ich sagen sollen: ›Hey, ich bin jetzt mit einem Sechsjährigen, mit dem ihr zufällig verwandt seid, befreundet. Er und ich wollen später oben beim Janus noch einen kiffen. Oder er zeigt mir seinen Playmobil-Zoo. Findet mich bitte cool!‹ Merkst du selber, dass das Quatsch ist, oder Vik? Anna und Ayla … Die Münch-Zwillinge … das sind Göttinnen. Niemals würden die mich einladen.«

»Du hättest es wenigstens probieren können.«

»Und was hätte ich deiner Meinung nach machen sollen?«

»Na, irgendwas. So eine Gelegenheit kriegen wir nicht wieder.«

»Ja genau. Wir.«

»Ich will auf diese Party. Unbedingt! Und du willst einfach nur wieder gar nichts machen, Krüger. Rumliegen. Dösen. Den Tag verstreichen lassen. Das ist so öde. Du bist so ein verpichter Langweiler und Schisser, Alter.«

»Ein Schisser, der gerade deinen Rekord knackt, du Pfosten«, sagte ich und stand den letzten Sprung souverän, was Viktor einen erstaunten Pfiff entlockte. »Hier!« Aggressiver, als ich gewollt hatte, drückte ich ihm den Controller in die Hand, und wir betrachteten den Ladebalken, der stockend zunahm, bis sich das nächste Level aufgebaut hatte.

Wir spielten jetzt seit einer halben Stunde. Die ersten zehn Minuten hatten wir so gut wie kein Wort gewechselt, und der Vorfall mit dem Hunnen in dem Mercedes war nicht noch einmal erwähnt worden. Ich hätte Viktor gerne gefragt, wie es ihm ging und ob er Angst gehabt hatte. Aber über so etwas sprachen Jungs nicht. Stattdessen hatte ich ihm zur Begrüßung gegen seine Schürfwunde getreten, er hatte »Fick dich, du Spaten« gesagt, und wir hatten zu zocken begonnen.

Dann hatte ich erzählt, was vor der Steinmetzerei mit den Münch-Schwestern passiert war.

»Tja, komplett verpicht«, sagte Viktor jetzt. »Und alles wie immer, Krüger. Alles wie immer.«

»Was soll das denn heißen?«

Ein schleimiges Räuspern in unseren Rücken ließ uns zusammenfahren. »Kauft ihr beiden Asis auch mal was?« Der fette Filialleiter, der von morgens bis abends wie ein überfressener Wachhund durch die Gänge streifte, hatte uns auf dem Kieker. Mit einem Taschentuch tupfte er sich den kahlen Schädel, wobei der Kragen seines Hemdes verrutschte und am Hals eine tätowierte 18 zu sehen war. »Ob ihr mal was kauft, habe ich gefragt«, raunzte er erneut.

»Deine Mutter kaufen wir«, murmelte Viktor.

»Aber die ist im Erdgeschoss bei den Billigangeboten«, fügte ich an, lachte, und Viktor fiel in mein Lachen ein. Wir wieder. Schnipsinger. Der Filialleiter grunzte irgendwas von »kleine Wichser« und »standrechtlich erschießen«, trollte sich aber zum Warenlager, wo er ausgerufen wurde, um eine Lieferung entgegenzuneh-men.

Viktor versank zurück ins Spiel, während die Gebäudelüftung tapfer surrend versuchte, die Temperatur in der Abteilung erträglich zu halten.

»Ich schau mich mal ein bisschen um«, sagte ich, legte mir einen Gurt meines Rucksacks über die Schulter und begann, das Stockwerk abzuwandern.

Außer uns waren kaum Leute im Müller. Ein Herr ließ sich bei den Videokassetten beraten, eine Angestellte mit Dauerwelle ordnete CDs auf dem Ständer für die Neuerscheinungen 1999.

Rage against the Machine The Battle of Los Angeles, Dr. Dre 2001, Slipknot Slipknot, Silverchair Neon Ballroom, Foo Fighters There is nothing left to lose, Nine Inch Nails The Fragile, Britney Spears Baby One More Time, Blink-182 Enema of the State, The Red Hot Chilli Peppers Californication, Freundeskreis Esperanto, Absolute Beginner Bambule …

Ein Pappaufsteller warb für die neue Millenniums-Watch mit Jahrtausend-Countdown. Totaler Schrott. Aber alle drehten durch wegen dieser Scheißjahrtausendwende. Dem Millennium. Die einen waren sicher, dass mit Silvester über Nacht die Zukunft beginnen würde. Als gäbe es mit dem Feuerwerk fliegende Autos und Roboter, die uns in der Lobby von himmelhohen Wolkenkratzern mit spiegelnden Fassaden empfingen – unsere Ausweise, unsere Portemonnaies und unsere Telefone als Chip in unsere Handgelenke eingepflanzt.

Die anderen erwarteten das Ende der Welt. Dass uns der Himmel auf den Kopf fallen und Menschen, Autos, Wolkenkratzer unter sich begraben würde in einer Lawine aus Feuer und Chaos. Alle apokalyptischen Prophezeiungen vom Maya-Kalender bis Nostradamus auf einmal. Wie ein verheerender Kometeneinschlag. Wegen des Millennium-Bugs. 1999 springt auf 2000. Nur war den Programmierern aufgefallen, dass sie in den Datumsanzeigen ihrer Software nur zwei Ziffern vorgesehen hatten. 99 springt auf 00. Wir würden zurück in die Steinzeit katapultiert. Flugzeuge, die um Punkt Mitternacht einfach abstürzten, Kernreaktoren, die in astronomischen Atompilzen explodierten, die Kurven der Börsen würden zu toten Linien. Dritter Weltkrieg! Herzstillstand für die Menschheit und den Planeten.

Aber ob Zukunft oder das Ende der Welt, Hauptsache, irgendetwas passierte.

Der Glatzen-Filialleiter war jetzt dabei, Kartons mit dem neuen Nokia 3210 in einen Schaukasten zu stellen. Das Handy, auf das Viktor seit Monaten sparte, wohingegen ich der Überzeugung war, dass ich nie ein Mobiltelefon brauchen würde.

Gedankenverloren schlenderte ich durch die Reihen, nahm eine Super Soaker aus einem Regal, stupste eine Furby-Puppe, streichelte einen Stoff-Orca und inspizierte die Süßigkeiten an der Kasse. Ich hatte mich bisher noch nie getraut, hier etwas mitgehen zu lassen.

Viktor machte das ständig. Fünf-Finger-Discount, wie er es nannte. Ein Verbrechen ohne Opfer. Wenn niemand guckte, ließ er die CDs aus den Hüllen in seine Tasche gleiten, stibitzte Schokoriegel und hatte einmal sogar ein Tamagotchi eingesteckt, das in seiner Sporttasche elendig verhungert war.

Das wollte ich auch schaffen. Aber gerade war ich zu lange stehen geblieben. Misstrauisch äugte die Dauerwellen-Mitarbeiterin zu mir herüber. Hüstelnd griff ich nach dem Gurt meines Rucksacks.

Und in diesem Augenblick geschah es.

Jemand wetzte über das Linoleum.

Der Filialleiter brüllte.

Ich wollte mich umdrehen.

Dann, wie alle apokalyptischen Prophezeiungen vom Maya-Kalender bis Nostradamus auf einmal, wurde meine Welt … wurde ich … mit einem Knall durch die Atmosphäre und mit rotem Feuerschweif … von einem Kometen getroffen.

NIE WERDE ICH diesen Moment vergessen. Dieses Aufeinanderprallen, das meine Welt aus der Umlaufbahn schmiss. Es hatte lediglich den Bruchteil einer Sekunde gebraucht. Hätte ich eine Armlänge versetzt gestanden, wäre dies ein Tag wie jeder andere geworden.

Doch: Sie war mit Wucht in mich hineingekracht. Ein Mädchen. Auf der Flucht vor dem Filialleiter, der, die Visage zu einer grotesken Fratze verzerrt, auf uns zuschwabbelte. Neben ihr lag ein Nokia 3210, das sie aus der Vitrine genommen haben musste, daneben mein Rucksack. Ich hielt mir, auf dem Boden hockend, die Rippen.

Das Mädchen war etwa so alt wie ich, fünfzehn, vielleicht schon sechzehn. Feuerrote, schulterlange Haare umrahmten ein zartes Gesicht. Rosa Lippen, eine ebene Stirn, hohe Wangenknochen, die Haut fein und glatt, über und über besprenkelt mit Sommersprossen. Unter den zusammengezogenen Brauen glitzerten wasserblaue wütende Augen.