Management der Rehabilitation - Nina Lichtenberg - E-Book

Management der Rehabilitation E-Book

Nina Lichtenberg

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Beschreibung

Mit dem Paradigmenwechsel im Verständnis von Rehabilitation, weg von der rein defizitorientierten, medizinischen Sichtweise hin zur selbstbestimmten Teilhabe am Leben in der Gesellschaft, der mit dem Inkrafttreten des SGB IX im Jahr 2001 in Deutschland, der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention im Jahr 2009, der Weiterentwicklung des Behindertengleichstellungsrechts und der Verabschiedung des Bundesteilhabegesetztes im Jahr 2016 endgültig vollzogen wurde, haben sich die Anforderungen an die Strukturen und Prozesse derjenigen Institutionen verändert, die mit der Organisation, Durchführung und Finanzierung von Rehabilitation befasst sind. Rehabilitation entwickelt sich damit von einer nachgelagerten (Teil-)Leistung zu einer der Schlüsselstrategien für die gesundheitliche Versorgung und soziale Sicherung. Diese neue Sichtweise bedarf auch neuer Vorgehensweisen bei der Planung und Durchführung rehabilitativer Maßnahmen. Um eine effektive und effiziente Rehabilitation planen zu können, müssen einerseits zunächst eine große Zahl an Einflussfaktoren erfasst und beurteilt und andererseits eine Vielzahl an Leistungsträgern und Leistungserbringern koordiniert werden. Eine Herausforderung, der mit dem Handlungskonzept Case Management begegnet werden kann. Wie und warum, das soll in diesem Lehrbuch erläutert werden.

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Seitenzahl: 227

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Management der Rehabilitation

Case Management im Handlungsfeld Rehabilitation

Nina Lichtenberg

Christian Rexrodt

Edwin Toepler

September 2017

Vorwort

Mit dem Paradigmenwechsel im Verständnis von Rehabilitation, weg von der rein defizitorientierten, medizinischen Sichtweise hin zur selbstbestimmten Teilhabe am Leben in der Gesellschaft, der mit dem Inkrafttreten des SGB IX im Jahr 2001 in Deutschland, der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention im Jahr 2009, der Weiterentwicklung des Behindertengleichstellungsrechts und der Verabschiedung des Bundesteilhabegesetztes im Jahr 2016 endgültig vollzogen wurde, haben sich die Anforderungen an die Strukturen und Prozesse derjenigen Institutionen verändert, die mit der Organisation, Durchführung und Finanzierung von Rehabilitation befasst sind.

Rehabilitation entwickelt sich damit von einer nachgelagerten (Teil-)Leistung zu einer der Schlüsselstrategien für die gesundheitliche Versorgung und soziale Sicherung.

Diese neue Sichtweise bedarf auch neuer Vorgehensweisen bei der Planung und Durchführung rehabilitativer Maßnahmen. Um eine effektive und effiziente Rehabilitation planen zu können, müssen einerseits zunächst eine große Zahl an Einflussfaktoren erfasst und beurteilt und andererseits eine Vielzahl an Leistungsträgern und Leistungserbringern koordiniert werden. Eine Herausforderung, der mit dem Handlungskonzept Case Management begegnet werden kann. Wie und warum, das soll in diesem Lehrbuch erläutert werden.

Das neue Verständnis von Rehabilitation erfordert auch verstärkte Anstrengungen in der Aus- und Fortbildung. Rehabilitation ist ein multidisziplinär geprägtes Arbeitsfeld. So wichtig dies angesichts der Breite der Aufgaben ist, so sehr ist die Rehabilitation auf ein gemeinsames Verständnis und übergreifende Verständigung angewiesen. Das Lehrbuch richtet sich daher trägerübergreifend an alle Institutionen, die mit dem Management der Rehabilitation (oft kurz „Reha-Management“ genannt) befasst sind. Es dient der grundlegenden Qualifizierung der SachbearbeiterInnen und zukünftigen Case ManagerInnen, FallmanagerInnen oder RehabilitationsmanagerInnen insbesondere der Sozialversicherungsträger und deren Netzwerkpartnern im Zuge der Erbringung von Leistungen zur Teilhabe.

Wir haben dieses Lehrbuch in vier Hauptteile gegliedert. Die ersten beiden Teile (Kapitel zwei und drei) bieten einen Überblick über die begrifflichen, theoretischen und gesetzlichen Grundlagen zu den Themen Gesundheit, Rehabilitation und zum Handlungsansatz Case Management. Der dritte Teil (Kapitel vier) stellt das Managementmodell der Rehabilitation vor. Zu den einzelnen Ebenen werden jeweils ausgewählte Instrumente und Methoden vorgestellt. Diese sind weder vollständig noch abschließend. Sie sollen einen Grundstock liefern, der im Lauf der beruflichen Erfahrungen ausgebaut und verfeinert wird. Der vierte Teil (Kapitel 5) widmet sich der Praxis des Reha-Managements bei unterschiedlichen Reha-Trägern. Auch wenn wir uns freuen würden, wenn das Buch tatsächlich von Anfang bis zum Ende gelesen wird, haben wir darauf geachtet, dass die einzelnen Kapitel für sich aussagefähig sind.

Wir wünschen allen LeserInnen viel Erfolg und Spaß beim Lesen und Lernen.

Nina LichtenbergChristian RexrodtEdwin Toepler

1 Gesundheit, Rehabilitation und Teilhabe

Bevor wir uns mit Begriffen wie Rehabilitation, Teilhabe oder Case Management befassen, müssen wir uns zunächst des Themas Gesundheit annehmen. Denn alles, was in diesem Lehrbuch dargestellt, erläutert oder diskutiert wird, dreht sich letztendlich um die unser Leben maßgeblich bestimmende Sache: Unsere Gesundheit.

Das Verständnis von Gesundheit und Krankheit

Worüber reden wir eigentlich, wenn wir über Gesundheit sprechen? Genau genommen hören oder sprechen wir viel häufiger von Krankheit als von Gesundheit. Mal abgesehen von einer Erkältung, die jede oder jeder von uns irgendwann hat, zwickt es doch hier und dort, der eine hat die eine, die nächste eine andere Krankheit. Und wenn wir selbst etwas haben, dann finden sich sehr schnell einige Verwandte und Bekannte, die ebenfalls davon berichten können. Ja, sind wir denn alle krank? Vielleicht sogar chronisch? Wenn wir genau hinsehen, wird das wohl mal mehr mal weniger so sein. Irgendetwas haben wir alle. Ist Gesundheit also ein Idealzustand, von dem wir nur träumen können? In ärztlichen Fachkreisen kursiert daher die Erkenntnis, dass nur derjenige gesund ist, der nicht ausreichend untersucht wurde. Wenn man nur gut genug diagnostiziert, dann wird man auch bei denen etwas finden, die sich selbst als kerngesund bezeichnen. Das ist statistisch bewiesen. Die Zahl der erkrankten Menschen korreliert mit der Zahl der Untersuchungen.

Gesundheit und Krankheit, Zusammenhänge und die Dynamik von Gesundheit und Krankheit beschäftigten die Menschen bereits in ganz früher Zeit. Die Definitionen sind untrennbar mit der jeweiligen Betrachtungsweise verbunden. So sind spirituelle Betrachtungsweisen ebenso zu finden, wie rein wissenschaftlich-medizinische. Weitergedacht bedeutet das aber auch, dass es sich weder bei dem empfundenen gesunden noch dem kranken Zustand um eine rein individuelle Wahrnehmung handelt, sondern dass hier zusätzlich die gesellschaftliche Komponente definierend wirkt. Es gibt Ansätze, die diese Thematik von Geschlecht, Alter, Ethnie angehen oder das jeweilige Umfeld in den Vordergrund stellen. Mitte des 19. Jahrhunderts gewannen die Erkenntnisse der Naturwissenschaften so großen Einfluss in weiten Teilen der Welt, dass der Mensch in der Medizin objektiviert wurde. Der Körper wird eine objektiv messbare Größe. Der Organismus wird als ein funktionierendes System reibungsloser Abläufe angenommen. Eine Analogie zu Maschinen kann nicht von der Hand gewiesen werden. Der Krankheitsbegriff verdrängt hier den Gesundheitsbegriff. Jede Störung des Systems wird als krankhaft angenommen.1

Eine Definition von Gesundheit liefert uns die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in der Ottawa-Charta (1986) mit der folgenden Formulierung:

Gesundheit ist der Zustand des vollständigen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlseins und nicht nur das Fehlen von Krankheit und Schwäche.

Zunächst fällt am Gesundheitsbegriff der Ottawa-Charta auf, dass Gesundheit nicht als das einfache Gegenteil von Krankheit beschrieben wird. „Gesundheit wird von Menschen in ihrer alltäglichen Umwelt geschaffen und gelebt: dort, wo sie spielen, lernen, arbeiten und lieben. Gesundheit entsteht dadurch, dass man sich um sich selber und um andere sorgt, dass man in die Lage versetzt ist, selbst Entscheidungen zu fällen und Kontrolle über die eigenen Lebensumstände auszuüben sowie dadurch, dass die Gesellschaft, in der man lebt, Bedingungen herstellt, die all ihren Bürgern Gesundheit … ermöglichen“.2 Daraus resultiert ein eigenständiger Gesundheitsbegriff, der „in gleicher Weise die Bedeutung sozialer und individueller Ressourcen für die Gesundheit betont wie die körperlichen Fähigkeiten“3 und sich auch darin äußert, dass der Begriff Krankheit in der Ottawa Charta nicht weiter vorkommt.

Gesundheit wird in der Ottawa Charta prozesshaft definiert: „Gesundheitsförderung zielt auf einen Prozess, allen Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen und sie damit zur Stärkung ihrer Gesundheit zu befähigen“.4 Gesundheit wird über das Ausbleiben von Krankheiten hinaus als „positive Gesundheit“ verstanden. In Abgrenzung zum krankheitsorientierten, pathogenetischen Verständnis von Gesundheit wird dieses eigenständige oder positive Gesundheitsverständnis salutogenetisch genannt.

Die Salutogenese beschäftigt sich mit der Entstehung und Entwicklung von Gesundheit und ist verbunden mit dem Namen Aaron Antonovsky5, einem israelischen Medizinsoziologen und Stressforscher. Er hat untersucht, wie Menschen, u. a. Überlebende aus Konzentrationslagern im dritten Reich, negative und zerstörerische Erfahrungen verarbeitet und ihr weiteres Leben bewältigt haben (1997). In der Erforschung der vielfältigen persönlichen Widerstandsquellen gelangte Antonovsky zu einem Konzept generalisierter Widerstandsressourcen, das er hinter den einzelnen Widerstandskräften, z. B. Immunsystem, Wissen, Ich-Stärke, Bewältigungskompetenzen, sozialer Unterstützung, Eingliederung ins soziale Netzwerke, soziokulturelle Widerstandsquellen etc., vermutet.

Dieses Konzept nennt Antonovsky den Kohärenzsinn (Sense of Coherence). Der Kohärenzsinn hat die Qualität einer zuversichtlichen und vertrauensvollen Grundeinstellung zum Leben, dass die Dinge im Leben sich gut entwickeln werden und dass man auf die eigenen Fähigkeiten sowie auch auf die Unterstützung anderer Menschen vertrauen kann. Das Konzept des Kohärenzsinns umfasst die drei Komponenten Verstehbarkeit (comprehensibility), Handhabbarkeit (manageability) und Bedeutsamkeit (meaningfullness):

► Verstehbarkeit: Die Ereignisse im Leben sind geordnet, vorhersehbar, und in irgendeiner Weise auch verständlich und nachvollziehbar
► Handhabbarkeit: Das Vertrauen darauf, dass Lebensaufgaben aus eigener Kraft oder mit Hilfe sozialer Unterstützung gemeistert werden können
► Bedeutsamkeit: Die Freude am Leben und das grundlegende Gefühl, dass das Leben auf dieser Welt einen Sinn ergibt.

Hiernach ist ein Mensch gesund, der seine eigene Lebenswelt als verstehbar, sinnhaft und beeinflussbar begreift. Die Ausprägung des Kohärenzsinns ist entscheidend dafür, dass Ressourcen zur Erhaltung der Gesundheit und des Wohlbefindens eingesetzt werden können. Ist der Kohärenzsinn stabil ausgeprägt, entsteht ein positives Selbstbild mit Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Der Kohärenzsinn wird durch Lebenserfahrungen beeinflusst.

Gesundheit in der Definition der Gesundheitswissenschaften ist ein Balanceakt, ein Abstimmungsakt zwischen drei Anforderungsbereichen6:

► Der physische und psychische Bereich des Körpers (Leistungsfähigkeit, Veranlagung, Konstitution etc.) und des Selbst (Selbstbild, Selbstwirksamkeit, Erwartungen etc.)
► Der soziale Bereich der Lebenswelt (der Einflussbereich der Familie, Gruppen, FreundInnen7, KollegenInnen etc.)
► Der Bereich der gesellschaftlichen und natürlichen Umwelt (Wohnen, Freizeit-verhältnisse etc.).

Diese drei Bereiche stellen Anforderungen an die persönliche Gesundheit als der individuellen Balance dieser Anforderungen. Das Maß dieser Balance liegt in der persönlichen Handlungsfähigkeit und Lebensbewältigung.

Bei genauer Betrachtung lässt sich eine hierarchische Gliederung dieser Einflussbereiche erkennen. Wir haben als untere Ebene die individuelle Gesundheit, die beeinflusst wird durch die Arbeits- und Lebensbedingungen, zwar nicht direkt kausal beeinflusst, aber doch in einem hierarchischen Verhältnis. Und ganz oben steht die soziale und gesellschaftliche Umwelt, die wiederum die Lebens- und Arbeitsbedingungen beeinflusst und darüber die individuelle Gesundheit beeinflusst.

Der Gesundheitswissenschaftler Klaus Hurrelmann letztendlich definiert Gesundheit wie folgt (2000):

Gesundheit bezeichnet den Zustand des objektiven und subjektiven Befindens einer Person, der gegeben ist, wenn diese Person sich in den physischen, psychischen und sozialen Bereichen ihrer Entwicklung in Einklang mit den Möglichkeiten und Zielvorstellungen und den jeweils gegebenen äußeren Lebensbedingungen befindet. Gesundheit ist beeinträchtigt, wenn sich in einem oder mehreren dieser Bereiche Anforderungen ergeben, die von der Person in der jeweiligen Phase im Lebenslauf nicht erfüllt und bewältigt werden können. Die Beeinträchtigung kann sich, muss sich aber nicht, in Symptomen der sozialen, psychischen und physisch-physiologischen Auffälligkeit manifestieren.

Diese Definition behalten wir im Hinterkopf, wen wir uns im Folgenden der Rehabilitation, der UN-Behindertenrechtskonvention und der Frage zuwenden, was eigentlich der Begriff „Behinderung“ besagt.

Abbildung 1: Das Gesundheits-Krankheits-Kontinuum in Anlehnung an Antonovsky

Ein weiterer im Kontext von Gesundheit oftmals verwendeter Begriff ist „Prävention“. Prävention zielt im Gegensatz zur Gesundheitsförderung nicht auf eine verbesserte Gesundheit, sondern hat die Aufgabe, eine Verschlechterung der Gesundheit zu verhindern. Präventive Maßnahmen können als „Schutzmauer“ vor Einflüssen dargestellt werden, die die Gesundheit bedrohen. In Abbildung 1 sind Gesundheit und Krankheit als Kontinuum im Zusammenhang mit Gesundheitsförderung und Prävention dargestellt.

Gesundheit und Krankheit sind demnach als die Endpunkte eines Kontinuums zu sehen. Jeder Mensch bewegt sich in seinem Leben innerhalb dieses Kontinuums. Er ist immer gesund und krank zugleich und mal überwiegt das Gefühl gesund zu sein, mal das Gefühl krank zu sein.

Die Gesundheitsstrategie „Rehabilitation“

Im Folgenden wenden wir uns der „Rehabilitation“ zu und gehen auf die Begriffe Beeinträchtigung, Behinderung, Teilhabe und Selbstbestimmung, Inklusion und Integration sowie Empowerment ein.

„Rehabilitation“ wird in Quellen seit 1493 mit dem spätlateinischen Wort rehabilitatio genannt8, übersetzt also Wiederherstellung. Gemeint ist die Gesamtheit aller Maßnahmen medizinischer, schulisch-pädagogischer, beruflicher und sozialer Art, die erforderlich sind, um chronisch kranken Menschen oder solchen mit Behinderungen die bestmöglichen körperlichen, seelischen und sozialen Bedingungen zu schaffen.

Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales stellt folgende Definition vor9:

„Menschen mit Behinderungen oder eingeschränkter Erwerbsfähigkeit haben Anspruch auf Unterstützung zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Diese umfasst Leistungen zur medizinischen Rehabilitation (z. B. ärztliche Behandlungen, Kuren, Therapien), Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben und am Leben in der Gesellschaft [sic!]. Alle Rehabilitationsträger (in Deutschland, beispielweise die Bundesagentur für Arbeit, Träger der gesetzlichen Krankenversicherung und Träger der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe) sind verpflichtet, Menschen mit Behinderungen umfassend über mögliche Maßnahmen zu informieren und zu beraten.

Der Begriff Rehabilitation kann als der gesamte Prozess verstanden werden, der zur Herstellung oder Wiederherstellung sowie auch zur Erhaltung vollumfänglicher Teilhabe erforderlich ist. In diesem Prozess der Rehabilitation werden, idealerweise exakt aufeinander abgestimmt, verschiedene Leistungen zur Teilhabe erbracht. Welche Leistungen genau unter „Leistungen zur Teilhabe“ zu verstehen sind, ist vor allem im neunten Buch (SGB IX) des deutschen Sozialgesetzbuchs festgehalten. Die einzelnen Leistungsgesetze der jeweiligen Sozialversicherungszweige konkretisieren bzw. ergänzen dies.

Das SGB IX definiert dabei als Zielgruppe für Leistungen zur Teilhabe „behinderte oder von Behinderung bedrohte Menschen“. Als von Behinderung bedroht gilt bereits jeder, bei dem eine Beeinträchtigung der Teilhabe zu erwarten ist. Wichtig ist, dass dies bereits nach einem gar nicht allzu schweren Unfall oder einer mittelschweren Erkrankung der Fall sein kann. Im Rahmen dieses Lehrbuchs spielt dies eine besondere Rolle, da beim „Management der Rehabilitation“ der Fokus immer auf den Menschen mit Behinderung und den von Behinderung bedrohten Menschen liegt.

Zu beachten ist weiterhin, dass Leistungen zur Teilhabe nur dann erbracht werden können, wenn prognostiziert wird, dass sich dadurch der aktuelle Gesundheitszustand und die Teilhabesituation verbessern lassen. In jedem Fall gilt das Prinzip „Reha vor Rente“. Wenn nach Ausschöpfung aller Möglichkeiten, die Rehabilitation bieten kann, doch noch eine Beeinträchtigung verbleibt, ist in Abhängigkeit von deren Ausprägung ggf. eine Rente zu zahlen.

Wichtig also ist zunächst festzuhalten, dass mit Rehabilitation der Prozess gemeint ist, der notwendig ist, um selbstbestimmte Teilhabe herzustellen und zu sichern, dass die damit verbundenen Leistungen zur Teilhabe allen behinderten und von Behinderung bedrohten Menschen zustehen.

Die UN-Behindertenrechtskonvention

Eine wichtige Rolle im Kontext der Rehabilitation stellt das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen der Vereinten Nationen (UN-BRK) dar.

Die UN-BRK fordert eine Gesellschaft, in der es selbstverständlich ist, dass Menschen mit Behinderung die gleichen unveräußerlichen Rechte wie alle anderen Menschen genießen. Allem voran gehört die gleichberechtigte Teilhabe und Selbstbestimmung in freier Entfaltung dazu.

Noch im ausgehenden 20. Jahrhundert wurden Menschen mit Behinderung als, Behinderte, Schwer- oder Schwerstbehinderte bezeichnet und im Sinne einer umfassenden Fürsorge fremdbestimmt und entmündigt. Nicht selten wurden Menschen mit Behinderungen ungeachtet ihrer tatsächlichen Beeinträchtigungen und vor allem ihrer Fähigkeiten in Heimen und Anstalten separiert. Das Führen eines selbstbestimmten Lebens wurde ihnen viel weniger zugetraut, als es eigentlich bei geeigneter Förderung möglich gewesen wäre.

Mit der Jahrtausendwende wurde diesbezüglich in Deutschland ein klarer Paradigmenwechsel eingeleitet. Mit Inkrafttreten des neunten Sozialgesetzbuches (SGB IX) am 1. Juli 2001 ist der Begriff der selbstbestimmten Teilhabe in die Sozialgesetze eingezogen. Durch die Ratifizierung der UN-BRK am 26. März 2009, die damit in den Rang eines einfachen Bundesgesetztes gehoben wurde, ist ein weiterer großer Schritt in Richtung gleichberechtigter Teilhabe für Menschen mit Behinderung getan worden. Am 16. Dezember 2016 wurde vom Deutschen Bundestag das Bundesteilhabegesetz (BTHG) verabschiedet, das als Artikelgesetz eine Reihe der durch die UN-BRK aufgestellten Forderungen für die deutsche Sozialgesetzgebung konkretisiert.

Die UN-BRK definiert Behinderung in Artikel 1 Satz 2 wie folgt:

Zu den Menschen mit Behinderungen zählen Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können.

In der Präambel der UN-BRK ist allgemein festgelegt:

„…dass das Verständnis von Behinderung sich ständig weiterentwickelt und dass Behinderung aus der Wechselwirkung zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren entsteht”. 10

Behinderung ist also keine Eigenschaft, die an einen Menschen gebunden ist, wie sein Alter, seine Hautfarbe oder sein Fingerabdruck. Behinderung ist vielmehr das Ergebnis einer Wechselwirkung von bestimmten Eigenschaften eines Menschen mit seiner Umwelt.

Eine Gesellschaft gestaltet ihre Umwelt in der Regel orientiert an bestimmten Normwerten. Da aber keine Norm alle Besonderheiten einzelner Individuen berücksichtigen kann, wird es immer Personen geben, für die die auf diese Weise gestalten Rahmenbedingungen ungeeignet sind. So werden Menschen, die über eine außergewöhnliche große Körperhöhe verfügen zum Beispiel ständig mit zu niedrigen Türen konfrontiert und können in Bussen, Bahnen und Flugzeugen kaum aufrecht stehen und gehen oder ergonomisch sitzen. Sie treffen also in unserer Umwelt ständig auf sogenannte Barrieren, die ihnen Probleme bereiten. Dies lässt sich auf andere besondere Merkmale und Eigenschaften übertragen. Denken wir nur an die Barrieren, denen hör- oder sehbeeinträchtige wie auch gehbeeinträchtige Menschen ausgesetzt sind. Die Behinderung entsteht dabei erst durch die Wechselwirkung mit der Umwelt. Wären Türen und Betten grundsätzlich 2,20 hoch bzw. lang, würde ein 2,10 Meter „großer“ Mensch wesentlich weniger behindert.

Für die Rehabilitation in Deutschland ist der Behinderungsbegriff maßgebend, wie er im §2 Abs. 1 SGB IX verankert ist. Dieser hat zum 1.1.2018 durch das BTHG eine Neuformulierung erfahren. Bislang galt folgene Definition:

Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensjahr typischen Zustand abweicht und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist.

Mit dem BTHG wurde der Begriff der Behinderung dem Verständnis der UN-BRK entsprechend angepasst. Im Fokus steht nun nicht mehr ausschließlich die funktionelle Beeinträchtigung des Menschen und die dadurch verursachten Einschränkungen, sondern es werden die oben genannten Wechselwirkungen mit der Umwelt einbezogen. Menschen mit Behinderungen sind gemäß §2 Abs. 1 SGB IX (neu) demnach

Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Eine Beeinträchtigung liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht.

Inklusion und Integration

Eine wesentliche gesellschaftliche Aufgabe, die sich durch all die genannten Neuerungen in der Gesetzgebung betont und die durch eine Reihe nationaler Aktionspläne gefördert wird, ist die Schaffung einer inklusiven Gesellschaft, in der alle Menschen in allen Bereichen des Lebens gleichberechtigte Teilhabe genießen.

Wichtig ist daher auch einen Blick auf die Bedeutung der Begriffe Inklusion und Integration, deren Beziehung zueinander und den Umgang damit zu werfen. Nach Einführung des Begriffes Inklusion wurde in hektisch wirkender Betriebsamkeit in vielen Kontexten bis in die Gesetzgebung hinein der Begriff Integration einfach nur durch den Begriff Inklusion ersetzt. Bei einer genauen Betrachtung sollte jedoch die Erkenntnis wachsen, dass beide Begriffe nebeneinander stehen können, ja sogar müssen.

Inklusion bezeichnet weniger einen Prozess sondern vielmehr einen idealtypischen Soll-Zustand. In einer vollständig inklusiven Gesellschaft gibt es keinerlei Barrieren mehr. Alle Menschen können in dieser Idealgesellschaft ungehindert an allem teilhaben. Es darf demnach in einer inklusiven Gesellschaft zum Beispiel keine – wie oben beschrieben – zu niedrigen Türen mehr geben oder auch keine Treppen, die für Menschen mit Einschränkungen in der Mobilität unüberwindbare Hindernisse darstellen. Alles muss auch für seh- und hörbeeinträchtigte Menschen gestaltet und sämtliche Informationen müssen in einfacher Sprache verfügbar sein, damit auch Menschen mit geistiger Beeinträchtigung nicht benachteiligt werden. Bei der Vielzahl menschlicher Eigenschaften kann hier nur ein winziger Ausschnitt dessen aufgezählt werden, was alles notwendig wäre, um eine vollinklusive Gesellschaft zu schaffen. Es handelt sich realistisch betrachtet also um einen nicht erreichbaren Idealzustand.

Auch bei allen Anstrengungen Inklusion tatsächlich umfassend zu verwirklichen, wird es immer eine Zahl an Menschen geben, die aufgrund ihrer individuellen Beeinträchtigungen Barrieren erfahren und an ihrer Teilhabe gehindert werden. Hier ist die Gesellschaft gefordert, individuelle Maßnahmen bereit zu halten, mit deren Hilfe auch diesen Menschen mit Behinderungen die Teilhabe ermöglicht wird. Je weniger inklusiv eine Gesellschaft ist, umso mehr bedarf es individueller Spezialmaßnahmen. Diese Spezialmaßnahmen lassen sich nach wie vor mit dem Begriff „Integration“ oder als „integrative Maßnahmen“ am besten beschreiben. Integration dient Einzelnen dort den Weg in eine inklusiv orientierte Gesellschaft zu finden, wo der Wandel zu einer inklusiven Gesellschaft noch nicht vollzogen ist oder Inklusion an ihre Grenzen stößt. Und diese Grenzen wird es immer geben.

Abbildung 2: Die Bedeutung von Integration auf dem Weg zu einer inklusiven Gesellschaft (eigene Darstellung)

Inklusion und Integration ergänzen sich demnach. Der Begriff Inklusion verbietet Stigmatisierung und die Konzentration auf ein Individuum. Wird eine Gruppe von Menschen mit bestimmten Eigenschaften gebildet, ist dies bereits nicht mehr inklusiv gedacht.

An dieser Stelle sei noch auf die leider noch immer übliche aber grundfalsche Verwendung des Begriffs der „behindertengerechten“ Gestaltung eingegangen. Oftmals verbirgt sich dahinter einfach nur die Zugänglichkeit für Rollstuhlfahrer. Das greift viel zu kurz und von den „Behinderten“ zu sprechen verbietet sich ohnehin. Ebenso falsch und mit einem völlig falschen Tenor verbunden ist der Begriff „leidensgerechte“ Gestaltung oder „leidensgerechter“ Arbeitsplatz. Eine Beeinträchtigung oder Behinderung ist keineswegs mit einem Leid gleichzusetzten, das wohlmöglich auch noch Mitleid auslöst und das von den angesprochenen Personen auch nicht unentwegt als solches empfunden werden möchte. In öffentlichen Räumen sollte es „barrierefrei“ (meistens ein theoretischer Wunschzustand), korrekter „barrierearm“ bzw. speziell „rollstuhlgerecht“ heißen und bei der individuellen Gestaltung von Arbeitsplätzen und häuslichen Umgebungen „behinderungsbezogen“, „behinderungsgerecht“ oder noch besser „fähigkeitsgerecht“, da eine Behinderung eben immer auf die Wechselwirkung individueller Eigenschaften und Fähigkeiten mit den Umgebungsbedingungen zurückzuführen ist.

Empowerment

Die UN-BRK wurde vom Direktor des Deutschen Instituts für Menschenrechte Heiner Bielefeldt als „Empowerment-Konvention“ bezeichnet.11 Ziel einer Empowerment-Strategie ist, dass Menschen in der Lage sind ihren Lebensalltag autonom zu bewältigen und zu organisieren und dies aufgrund eigener Maßstäbe passiert. Dies führt zu einer Befreiung aus Bevormundung und Abhängigkeit aus eigener Kraft und eigenem Willen.

Empowerment hat ferner eine politische Dimension. Historisch betrachtet sind die internationalen Bürgerrechtsbewegungen das Resultat eines Empowerment-Prozesses. Betroffene und Unterstützende kämpften für eigene Hoheitsgewalt für das eigene Leben und Handeln, Selbstbestimmung und uneingeschränkte Teilhabemöglichkeit. Hinzu tritt die individuelle, psychologisch-soziologische Ebene. Das Individuum strebt als soziales Wesen nach Autonomie und persönlicher Aneignung von Ressourcen in der Gesell- oder Gemeinschaft.

Menschen mit Behinderung müssen wie alle anderen auch mit all ihren Eigenschaften, Möglichkeiten Fertig- und Fähigkeiten gesehen werden. Die Geschichte zeigt, dass durch alle Epochen hindurch stets die Defizite in den Fokus gestellt worden sind. Werden jedoch im Sinne einer Empowerment-Strategie Ressourcen, Bedürfnisse und Möglichkeiten anstatt der Defizite gesehen, kann ein selbstbestimmter Prozess in Gang gebracht werden. Unterstützung ist bedarfsgerecht in geeigneter Weise zu leisten und nicht in Form überbordender Fürsorge. Diese Vorgehensweise fordert Empathie, Zeit, Geduld, Verständnis und ein Umdenken bezüglich des Umgangs mit Menschen mit Behinderung.

Die ICF und das Bio-psycho-soziale Modell der WHO

Dem genannten Paradigmenwechsel von der Orientierung an den Defiziten und Krankheiten sowie dem Fürsorgeprinzip hin zur Teilhabe und Selbstbestimmung liegt ein theoretisches Modell zugrunde, das seit seiner Einführung in Deutschland die Grundlage für unser Handeln in der Rehabilitation darstellt. Es handelt sich hierbei um die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF – „International Classifikation of Functioning, Diability and Health“). Die ICF ist zunächst einmal eine Klassifikation, die Krankheitsfolgen bezeichnet, gruppiert und nummeriert. Sie setzt auf der in der Medizin weltweit etablierten Internationalen (statistischen) Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD – International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) auf, die im Jahr 1989 eingeführt wurde und mit der heutzutage (aktuell ICD 10, in absehbarer Zeit ICD 11) sämtliche medizinische Diagnosen geschlüsselt werden. Wer sich im Gesundheitswesen ein wenig auskennt oder schon einmal eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vom Arzt überreicht bekommen hat, der müsste einen ICD-Schlüssel schon gesehen haben.

Die ICF nun befasst sich mit den Auswirklungen dieser mit der ICD geschlüsselten Erkrankungen auf unser Leben. Dies geschieht gestützt auf das „Bio-psycho-soziale Modell“, das die WHO gemeinsam mit der ICF im Jahr 2001 in seiner derzeit aktuellen Fassung veröffentlicht hat.

Das Bio-psycho-soziale Modell bietet für alle an der Rehabilitation beteiligten Disziplinen eine wissenschaftlich untermauerte Grundlage für ein gemeinsames Verständnis von Rehabilitation und Teilhabe.

Abbildung 3: Das Bio-psycho-soziale Modell der WHO

Nach diesem Modell gilt ein Mensch als funktional gesund12, wenn vor seinem gesamten Lebenshintergrund

► seine körperlichen Funktionen (einschließlich des geistigen und seelischen Bereichs) und Körperstrukturen allgemein anerkannten (statistischen) Normen entsprechen (Konzept der Körperfunktionen und -strukturen),
► er alles das tut oder tun kann, was von einem Menschen ohne Gesundheitsproblem (Gesundheitsproblem im Sinn der ICD) erwartet wird (Konzept der Aktivitäten), und
► er zu allen Lebensbereichen, die für ihn wichtig sind, Zugang hat und sich in diesen Lebensbereichen in der Weise und dem Umfang entfalten kann, wie es von einem Menschen ohne Beeinträchtigung der Körperfunktionen oder -strukturen oder der Aktivitäten erwartet wird (Konzept der Teilhabe an Lebensbereichen).

Eine wesentliche Bedeutung kommt dabei den sogenannten Kontextfaktoren zu, die im Modell als „Umweltfaktoren“ und „personbezogene Faktoren“ verankert sind. Das bedeutet, dass alle externen Gegebenheiten des Lebensumfeldes des Menschen, wie auch seine ganz persönlichen Eigenschaften, in die Betrachtung seiner Teilhabe einbezogen werden. Umweltfaktoren sind dabei z. B. technische Geräte oder sonstige Hilfsmittel sowie auch die Wohn- und Arbeitsumgebung des Menschen. Personbezogene Kontextfaktoren stellen sein Alter, sein Bildungsstand oder auch seine Coping-Strategien, das heißt, seine Fähigkeiten zur Bewältigung schwieriger Situationen, dar.

Schuntermann liefert in seinem Grundkurs zur ICF zur Erläuterung dieses Denkkonzepts das folgende sehr anschauliche Beispiel:

Eine aufgrund bestimmter Funktionsstörungen und Strukturschäden des Bewegungsapparates im Gehen stark eingeschränkte Person (erhebliche Aktivitätseinschränkung im Gehen) möchte selbst (Wille als Kontextfaktor) bei der Post ein Paket aufgeben (Wunsch nach Teilhabe am üblichen Alltagsleben, hier: ein Paket bei der Post aufgeben), wozu sie physisch und psychisch in der Lage ist (keine Einschränkung der Aktivität „ein Paket bei der Post aufgeben können“). Sie verfügt über einen Rollstuhl (Rollstuhl als Kontextfaktor) und kann damit allein zur Post fahren (keine Aktivitätseinschränkung in der Mobilität mit Hilfsmittel, Kontextfaktor „Rollstuhl“ wirkt sich positiv aus). Dort angekommen trifft sie auf eine für sie unüberwindbare Treppe, die zur Schalterhalle führt (Treppe als Kontextfaktor, der sich negativ auswirkt). Ein Aufzug für Rollstuhlfahrer ist nicht vorhanden (Aufzug als Kontextfaktor). Diese Gegebenheit ihrer Welt lässt nicht zu, dass sie selbst das Paket aufgibt (Aufzug als positiv wirkender Kontextfaktor nicht vorhanden). Wäre das Postamt barrierefrei, hätte sie keine Probleme mit der Aufgabe des Paketes.

Das Bio-psycho-soziale Modell liegt fortan allen Überlegungen und Betrachtungen zugrunde, die im Case Management in der Rehabilitation vorgenommen werden.

Zum vertiefenden Selbststudium sei hier der bereits erwähnte Grundkurs „Einführung in die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der Weltgesundheitsorganisation (WHO)“ von M. F. Schuntermann wärmstens empfohlen.

Die Theorie der Krankheitsverarbeitung

Auf Grundlage des Bio-psycho-sozialen Modells haben Gerdes und Weis das Theoriemodell der Rehabilitation entwickelt, in dem der Bewältigungsprozess eine zentrale Rolle spielt.

Alle externen Kräfte, die Einfluss auf den Rehabilitationsprozess nehmen können, stellen nach dem Bio-psycho-sozialen Modell Umweltfaktoren dar. Dazu gehören alle beteiligten Leistungsträger und Leistungserbringer, Arbeitgeber, Freunde und Familie etc.

Diese wirken durch entsprechende Unterstützung sowie durch medizinische, berufliche und soziale Rehabilitationsmaßnahmen direkt auf den Bewältigungsprozess sowie auf die Aktivitäten und Teilhabe ein. Unter besonderer Berücksichtigung der personbezogenen Faktoren, hier verbergen sich auch die persönlichen Ressourcen der RehabilitandInnen, wird ebenfalls das Gesundheitsverhalten beeinflusst was letztendlich auch zur Intervention am Gesundheitsschaden führt.

Abbildung 4: Das Theoriemodell der Rehabilitation (Quelle: Gerdes und Weis 2000)

Wichtig ist, dass die richtigen Maßnahmen zum jeweils richtigen Zeitpunkt den Bewältigungsprozess anregen. Wird z. B. zu früh im Bewältigungsprozess die Akzeptanz einer dauerhaften Veränderung im Leben und damit verbunden die Anpassung wesentlicher Lebensziele gefordert, wird dies möglichweise zu Blockadehaltungen und schwerwiegenden Rückschlägen führen.

Um dies zu verdeutlichen werden im Folgenden die Phasen der Krankheitsverarbeitung genauer betrachtet.

Phase 1: Schock und Verleugnung

Die Konfrontation mit der Diagnose einer schweren Erkrankung oder auch einem schweren Unfall, welcher mit bleibenden Beeinträchtigungen einhergeht, führt bei den allermeisten Menschen zu einem Schockzustand. Das Passierte kann nicht in Einklang mit der bis zuvor bestandenen Realität gebracht werden. Lebensziele verschwinden in der Unerreichbarkeit, die einst stabilen Säulen, auf denen die Lebensqualität beruht, schwanken oder sind bereits eingestürzt. Die Reaktionen sind meist bis zur Panik gesteigerte Angst und eine anhaltende innere Unruhe. Die ablehnende Haltung gegenüber dem Geschehenen ist eine sinnvolle Reaktion des menschlichen Geistes, um den nun vorherrschenden Zustand langsam und Schritt für Schritt annehmen zu können. In Krankheitsfällen besteht zudem die Gefahr, dass aufgrund des „Nichtwahrhabenwollens“ eine Fehldiagnose oder auch ein vertauschtes Laborergebnis angenommen wird. Dies kann dazu führen, dass eine Behandlung seitens der PatientInnen abgelehnt wird. So kann wertvolle Zeit verstreichen.

Abbildung 5: Die Phasen der Krankheitsverarbeitung (in Anlehnung an Kübler-Ross)

Phase 2: Aggression, Wut und Zorn

Das einsetzende Hadern mit dem Schicksal („Warum gerade ich?“) und den Mächten, die dem Menschen verborgen bleiben, tritt bei durch einen Unfall verletzten Menschen ebenso ein, wie bei einer Krankheitsdiagnose. Betroffene Menschen reagieren mit Wut und Aggression. Diese gelten der Krankheit bzw. dem Unfallgeschehen, entladen sich jedoch bei Angehörigen, Ärzten, Pflegepersonal, Therapeuten und nicht zuletzt oftmals bei sich selbst.

Phase 3: Die Depression

Ein verändertes Selbstbild übernimmt die Führung. Beispielsweise muss ein Familienversorger sich nun anders definieren. Ein Gefangensein in der aussichtslos scheinenden Aufgabe, umgehend einen Ausweg finden zu müssen, stellt eine belastende Situation dar. Der Verlust der bislang bestehenden Rolle ist ein äußerst schmerzhafter Prozess. Das Selbstwertgefühl ist auf einem äußerst niedrigen Niveau. Neue Perspektiven und Hilfen können nur sehr schwer, vielleicht auch noch gar nicht angenommen werden.

Phase 4: Verhandlungen mit dem Schicksal