Manchmal ist es schön, dass du mich liebst - Marie Vareille - E-Book
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Manchmal ist es schön, dass du mich liebst E-Book

Marie Vareille

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Beschreibung

Zwei Freundinnen, ein kleines Dorf in Frankreich und ein halbes Jahr, das alles verändert.

Die Freundinnen Chloé und Constance sind so unterschiedlich, wie sie nur sein könnten. Doch in einem sind sie sich einig: Es muss sich endlich etwas ändern in ihrem Leben. Für die nächsten sechs Monate schließen sie einen Pakt – während die schüchterne Constance in Paris versucht, die Liebe zu finden, will Chloé in einem kleinen Dorf im Bordeaux einen Roman schreiben und sich um ihre kranke Großmutter kümmern. Und endlich ihren Exfreund vergessen! Aber die idyllischen Weinberge halten so manche Überraschung für Chloé bereit. Denn manchmal muss man nur aufhören zu suchen, um endlich das Glück zu finden ...

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Seitenzahl: 448

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MARIE VAREILLE wurde 1985 in Montbard, einer Kleinstadt im Burgund, geboren. Sie hat in New York und Paris Management studiert und arbeitet derzeit für ein kleines Start-up-Unternehmen. Neben dem Schreiben führt sie einen Blog über romantische Komödien. »Manchmal ist es schön, dass du mich liebst« ist ihr erster Roman, der auf Deutsch erscheint.

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Marie Vareille

Roman

Aus dem Französischen von Gabriele Lefèvre

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Die französische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »Je peux très bien me passer de toi« bei Éditions Charleston, Paris.
PENGUIN und das Penguin Logo sind Markenzeichenvon Penguin Books Limited und werdenhier unter Lizenz benutzt.
Copyright © 2015 by Marie VareilleCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017 by Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenCovergestaltung: bürosüdCovermotiv: Getty Images/Zack Blanton Redaktion: Hanna KlimeschSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-21069-4V002
www.penguin-verlag.de

Für meine Großmutter, Marie-Françoise Vareille, geborene Palangié

»Never love anyone who treats you like you’re ordinary.«

Oscar Wilde

Tagebuch von Constance Delahaye

13. Februar 2013 – 20:45 Uhr

Gregs Geburtstag habe ich in letzter Minute wegen einer Supermigräne abgesagt. In fünfzehn Minuten werde ich mit Stolz und Vorurteil und meinem neuen Super-Antikater-Tee aus Eisenkraut-Minze und Betainzitrat im Bett liegen.

Das alles ist die Schuld meiner Schwester Anne-Marie, die mir zu Weihnachten eine Smartbox »Önologie-Workshop für zwei« geschenkt hat, und ich hatte die ausgezeichnete Idee, sie gestern einzulösen. Ich bin allein hingegangen, klar, weil ich nicht zwei bin.

Positiv: Ich habe die doppelte Menge Wein getrunken, auch weil ich mich geweigert habe, ihn wieder auszuspucken – das wäre Verschwendung gewesen.

Negativ: In diesem Zustand (volltrunken nach zwei Gläsern) konnte ich meinen Traumprinzen natürlich nicht finden, was die gerissene Anne-Marie eigentlich mit diesem Geschenk bezweckt hatte. Und da an diesem »Workshop für zwei« ausschließlich Paare teilnahmen, die sich über ihre mit Sancerre-Wein gefüllten Gläser hinweg mit verliebten Kuhaugen anglotzten, war es dann immer noch besser, betrunken zu sein.

Fazit: Auch wenn ich nicht meinen Traumpartner gefunden habe, liebe ich jetzt Wein, obwohl ich den früher so gut wie nie getrunken habe. Ich kann mir sogar vorstellen, eine echte Leidenschaft für Önologie zu entwickeln, denn der Leiter des Workshops meinte, ich habe einen ausgezeichneten Gaumen. Und schon bin ich für drei weitere Kurse eingeschrieben.

Anmerkung: nicht vergessen, mich bei Anne-Marie zu bedanken.

Chloé

Ich klingele nun zum dritten Mal in der Hoffnung, den Lärm in der Wohnung zu übertönen, und endlich öffnet sich die Tür. Charlotte und ich tauschen Küsschen aus, ihr Bauch ist noch runder als letzte Woche.

»Chloé, ich dachte, du hättest heute keine Zeit.«

»Das Meeting ist vertagt worden«, sage ich und trete ein.

Das ist natürlich gelogen, aber ich wollte sichergehen, dass Guillaume da sein würde, denn zusammen werden wir nirgends mehr eingeladen.

Sie schließt die Tür hinter mir.

»Deine Freundin Constance hat gerade angerufen, sie kann doch nicht kommen.«

»Ja, das hat sie mir auch gesagt.«

Ich gehe durch den Flur ins Wohnzimmer, wo ich die mitgebrachte Flasche J&B Whisky auf dem Buffet abstelle. Einen Augenblick lang bin ich sprachlos vor Bewunderung. War ich bei meinem letzten Geburtstag stolz auf den mit achtundzwanzig Kerzen gespickten Industrie-Marmorkuchen, so war mein Werk im Vergleich zu dem von Charlotte geradezu lächerlich. Im achten Monat schwanger zu sein, hat sie nicht daran gehindert, Servietten in komplizierte Origamiformen zu falten und eine bunte Vielfalt von Rohkostspießchen und Quiches mit Tomaten und Feta für den dreißigsten Geburtstag ihres Ehemannes herzustellen.

Sie ist mir ins Wohnzimmer gefolgt, und noch bevor ich ihr zu dem tollen Buffet gratulieren kann, beglückwünscht sie mich zu meiner neuen Frisur und beginnt sogleich, von ihren Terminen in der Entbindungsklinik zu erzählen. Jetzt hält sie mir das Foto ihrer letzten Ultraschalluntersuchung vor die Nase. Ich persönlich fand die Manie aller werdenden Mütter, ständig ihren Uterus als Panoramaaufnahme herumzuzeigen, schon immer sonderbar, wenn nicht sogar abwegig. Um ihr eine Freude zu machen, untersuche ich die krumme Bohne auf dem Bild eingehend, bevor ich verlauten lasse:

»Man kann sogar schon ein Profil erkennen. Er hat eine hohe Stirn und wird sicher sehr intelligent.«

Ihre Miene hellt sich auf, und sie scheint sich ihr Baby bereits als Nobelpreisträger vorzustellen. Ich frage ganz nebenbei:

»Kommt Guillaume nicht?«

Sie hebt ihre rechte Augenbraue, sodass sie drei Zentimeter höher steht als die linke, und ihr Lächeln erstirbt.

»Doch, er kommt«, sagt sie widerwillig und fügt hinzu: »Du tust dir doch nur weh!«

Ich zucke die Achseln. Charlotte kennt mich durch und durch. Ich halte ihrem fragenden Blick stand, aber ich ahne, sie weiß ganz genau, dass alles für ihn ist – der gleich nach Büroschluss frisch vom Frisör geschnittene Pony, der bis zu den Augen reicht, die Stilettos, die so wehtun, dass ich mir am liebsten beide Füße abhacken würde, und die enge Slim-Jeans, die aussehen soll, als käme ich direkt von der Arbeit. Bin ich nicht eine supercoole Frau? Wir sind schon so lange Freundinnen, dass ich Charlotte mit derartigen Tricks nicht hinters Licht führen kann – weder mit einem vertagten Meeting noch mit einer Jeans. Vermutlich errät sie auch meine neue, extra für diese Gelegenheit gekaufte Aubade-Spitzenunterwäsche. So ist es nun einmal, der Zufall begünstigt vor allem diejenigen, die gut vorbereitet sind.

Sie weiß alles, aber sie sagt nichts und fällt auch kein Urteil. Sie ist nur in Sorge um mich.

»Und ich wollte dir jemanden vorstellen«, seufzt sie, »einen Anwalt, der mit Greg arbeitet. Er ist dreißig, richtig nett und witzig, und er …«

Ich höre nicht mehr zu: Gerade ist Guillaume mit seinem ruhigen Lächeln eingetroffen. Er zieht die Hand aus der Tasche seines dunkelgrauen Anzugs und reicht sie Greg, Charlottes Mann, der kurz aus der Küche schaut, um Guillaume zu begrüßen. Sie klopfen sich gegenseitig auf die Schultern, und ich lese auf ihren Lippen: »Na, mein Alter, wie geht’s?«

Mir ist es übrigens zu verdanken, dass Guillaume so geworden ist, wie er jetzt ist. Ich habe ihm die gerade Haltung beigebracht, habe ihm die Haare geschnitten, dafür gesorgt, dass er sich Anzüge in seiner Größe kauft und die Brille gegen Kontaktlinsen tauscht. Ich war der Grund für dieses ewige Lächeln auf seinen Lippen, das seine Praktikantinnen so verlegen macht. Ich habe ihm Selbstvertrauen gegeben. Und dabei habe ich ihn auch so geliebt, wie er vorher war, mit seinen schlecht sitzenden Anzügen, seiner Intellektuellenbrille, dem zu langen Haar und seiner schüchternen Art. Ich habe ihn geliebt, als er noch scheu durch das Büro geschlichen ist und ihn die anderen Mädels überhaupt nicht wahrgenommen haben.

Charlotte reißt mich aus meinen Gedanken, als sie mich fragt, was ich trinken will. Ich antworte, dass ich mir ein Bier aus dem Kühlschrank hole. Guillaumes Blick vermeide ich tunlichst. Allen schenke ich ein Lächeln, nur ihm nicht, alle schauen mich an, nur er nicht. Ich fühle mich selten dämlich. In der Küche treffe ich Greg an, der gerade eine hausgemachte Pizza aufschneidet.

»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Greg!«

Er hebt den Kopf, schwingt voller Enthusiasmus ein Messer und spritzt schwungvoll Tomatensauce auf sein himmelblaues Hemd.

»Chloé, freut mich, dich zu sehen. Charlotte hat gesagt, du hast keine Zeit.«

»Doch, ich konnte mich freimachen, und ich habe dir, nicht gerade originell, wie jedes Jahr eine Flasche J&B mitgebracht.«

Er gibt mir ein Küsschen auf die Wange.

»Das war doch nicht nötig.«

Ich mag Greg. Er und Charlotte sind ein Bilderbuchpärchen, wie es sie heute kaum noch gibt – bis dass der Tod sie scheide. Seit zehn Jahren kennen sie sich nun, und auch wenn sie ständig streiten, lieben sie sich wie am ersten Tag. Würde ich – bleiben wir sachlich, das dürfte ausgeschlossen sein – morgen den Mann meines Lebens treffen, so könnte ich eine Beziehung wie ihre frühestens zustande bringen, wenn ich in den Wechseljahren bin.

Greg sieht mich etwas verschämt an, sodass er Marshall von How I Met Your Mother ähnelt, und sagt nach einem Räuspern:

»Chloé, es tut mir ja so leid, aber ich dachte, du kommst nicht, und … da habe ich Guillaume eingeladen.«

Hinter mir steht Charlotte und antwortet an meiner Stelle. Auch wenn ich ihr den Rücken kehre, weiß sie genau, dass ich die Augen verdrehe.

»Mach dir nichts draus, Schatz! Das stört Chloé nicht. Ganz im Gegenteil.«

Sie stützt die Hände in die Hüften und fährt fort: »Auf jeden Fall haben mich schon zwei Freunde von Greg gefragt, wer du bist. Falls dich das interessiert …«

Ich stopfe mir die Hälfte eines Stücks Pizza in den Mund. »Das interessiert mich brennend.«

Sie betrachtet mich voll Erstaunen, und ein Funke Hoffnung schimmert in ihren Augen. »Tatsächlich?«

»Ja, wirklich«, sage ich und schlucke den letzten Bissen herunter.

»Wie machst du das nur, so viel zu essen und dabei eine solche Linie zu behalten?«, fragt Charlotte seufzend.

»Ich treibe viel Sport«, antworte ich mit vollem Mund, »jogge, habe Sex mit Unbekannten und ernähre mich extrem gesund, in erster Linie von hellem Bier.«

Sie zieht mich lachend aus der Küche. Er ist nicht übel, ihr Rechtsanwalt. Charlotte kennt meinen Geschmack. Seit zehn Jahren stellt sie mir alle Freunde, Kollegen, Vettern, Kollegen von Freunden und die Freunde der Vettern der Kollegen von Greg vor. Mag ich auch ein hoffnungsloser Fall sein, sie wird mich nie aufgeben – zumindest so lange nicht, bis ich verheiratet bin und Mutter von vier Kindern. Sie wacht über mich.

Ich unterhalte mich ein bisschen mit dem Anwalt und erkläre ihm meinen Job als Strategy-Consultant in einer großen Kanzlei. Er scheint beeindruckt. Ich hole eine Zigarette raus und hätte gern Feuer. Er lächelt, nähert sich, um sie anzuzünden, schaut mir tief in die Augen, und ich lege die Hand auf seine, um das Feuerzeug zu führen. Etwas ängstlich fragt er, ob man hier denn rauchen darf, und ich reiche ihm meine brennende Zigarette mit dem Lippenstift am Filter und lasse ihn einmal ziehen. Er ist sexy, wenn er raucht, aber das ist jetzt nebensächlich. Guillaume kommt gerade mit leicht verkrampftem Grinsen auf uns zu. Nur das Datum von Neujahr ist auf dieser Welt noch leichter vorherzusagen als die Reaktion eines Mannes.

»Chloé?«

»Hallo, Guillaume! Ich habe dich gar nicht gesehen.«

Er fingert an seinem Krawattenknoten herum, seine blauen Augen tief in meine versenkt.

»Wie geht’s? Kann ich mit dir sprechen?«

Der Anwalt hat begriffen, dass er stört, und geht, während ich vage Gewissensbisse hege, weil ich ihn angemacht habe.

»Neue Frisur?«

»Ja. Hat José gemacht, unter unserem Büro.«

Er entspannt sich, seine Augen funkeln und verengen sich ein wenig, wenn er lacht. Wir sprechen nicht lange miteinander. Zehn Minuten. Über das neue iPhone, das er sich geleistet hat. Es ist ausgesprochen schwer, mit jemandem über Banalitäten zu plauschen, wenn man jahrelang alles geteilt hat. Noch schlimmer, als überhaupt kein Wort mehr zu wechseln. Mein Körper hat die alten Reflexe bewahrt. Zum Beispiel den, zwei Finger in seinen Krawattenknoten zu schieben, um ihn zu lösen, meinen Kopf auf seine Schulter zu legen und mit seinen Locken im Nacken zu spielen. Das ist jetzt vorbei, ich darf es nicht mehr. Also halte ich mich zurück – meinen Kopf, meine Hände und mein Lächeln. Nach zehn weiteren Minuten sage ich seufzend:

»Komm, wir können hier nicht den ganzen Abend verplaudern, sonst denken die anderen noch, wir wären zusammen …«

Er lächelt mit seinen blauen Augen, doch ein trauriger Zug umspielt seine Lippen.

»Die Hälfte aller Männer hier wendet keinen Blick von dir, da dürftest du wohl ohne Schwierigkeiten einen Lover finden.«

Ich breche in Gelächter aus, ein wenig zu laut, und drehe mich um, ein wenig zu hastig. Ich könnte heulen.

Drei Stunden sind vergangen. Ich habe siebzehn Marlboro Lights geraucht, mit allen ein wenig geplaudert, habe zwei Typen meine Telefonnummer gegeben – einer davon war der Anwalt – und einem dritten eine falsche Nummer. Auf der Toilette kontrolliere ich die Wimperntusche, ziehe den Lidstrich schwarz nach und trinke Wasser aus der Leitung. In der Küche steckt Charlotte gerade die Kerzen in den Geburtstagskuchen und schimpft auf Freunde von Greg, die ihre Tochter Sophie geweckt haben. Sophie ist drei Jahre alt und steht gerade weinend und barfuß in der Küchentür, ihr Schmusetier schleift am Boden. Ich nehme sie in die Arme.

»Komm, meine Süße, wir gehen jetzt schlafen.«

»Du bist so hübsch wie eine Fee, Tante Chloé«, sagt sie schluchzend, und ihre Nase läuft. Ich bringe sie in ihr Zimmer, lege sie ins Bettchen. Sie riecht nach Vanille und ist wohlig warm wie alle kleinen Kinder. Sie verlangt eine Schmuseeinheit, und ich gebe ihrem Wunsch nach. Wäre es nicht wunderbar, könnte man mit der gleichen Selbstsicherheit Erwachsenen das Schmusen befehlen? Ich bedecke ihre runden, weichen Wangen mit Küssen, wickle sie in ihre Bettdecke ein und verkünde, dass ich jetzt aus ihr ein Sophie-Sushi rollen und dann essen werde, weil ich Sophie-Sushis so unendlich gern mag. Sie schreit, sie lacht, sie wehrt sich. Sie will nicht wie ein Sushi verspeist werden. Sie sabbert mir ins Gesicht. Meine Schminke muss wohl dran glauben, aber egal … Dann umschlingt sie meinen Hals mit ihren runden Ärmchen und möchte eine Geschichte hören.

Etwas zögerlich schließe ich die Zimmertür und knipse die kleine blaue Lampe an. Ich lese Sophie nie Geschichten vor, ich erfinde welche für sie. Davon habe ich so viele im Kopf, dass ich sie wohl aufschreiben sollte. Irgendwann tue ich’s – vielleicht. Drüben im Wohnzimmer höre ich die anderen »Happy Birthday to You« singen, pfeifen und klatschen, als Greg die Kerzen auspustet. Ich sitze auf dem Teppich und erzähle Sushi-Sophie die Geschichte von der Prinzessin, der alle Prinzen zu Füßen liegen, aber die sich in den Traumhändler verliebt hat, der in der Sternstraße wohnt. Alle möglichen Wege geht der Lauf der Geschichte, bis Sophies Augenlider schwer werden und man von ihr nichts mehr hört als ihr leises schmatzendes Daumenlutschen.

Trotz des gedämpften Gelächters und der Stimmen im Hintergrund herrscht im Kinderzimmer mit den Miniaturmöbeln eine erstaunlich friedvolle Stimmung. Stofftiere bewachen den Schlaf des kleinen Mädchens, und die sich drehende Nachttischlampe wirft blaue Schattenbilder an Decke und Wände. Es muss wundervoll sein, Sophie und drei Jahre alt zu sein und Charlotte als Maman zu haben. Wundervoll, nicht zu wissen, was ein Smartphone ist, ein Tampax, ein Präservativ, ein Schnapsglas oder ein Leben, das einem jeden Tag ein bisschen schneller davonläuft und das man sich gerade vermasselt. Wundervoll, ganz fest daran zu glauben, dass der Traumhändler aus der Sternstraße auf uns wartet, um uns auf seinem fliegenden Motorrad davonzutragen … Ich schrecke auf, als mein iPhone vibriert und meine philosophischen Gedankengänge unterbricht.

23:57 – GUILLAUMEFAVREAU

Ich gehe. Kommst du mit?

Ich bleibe auf dem rosafarbenen Teppichboden sitzen und warte zehn Minuten. Zehn Minuten, in denen ich zuschaue, wie Sophies Lampe blaue Einhörner auf die Wände zaubert. Zehn Minuten, um mir zu sagen, dass ich ablehnen und mit dem Unsinn aufhören sollte, weil ich meinen Traumhändler mit Sicherheit nicht finde, wenn ich wieder einmal mit Guillaume heimgehe. Zehn Minuten, in denen ich ihn warten lasse, während er mich sucht, sich sorgt und sich fragt, ob ich gegangen bin.

00:07 – CHLOELACOMBE

Ok

Was soll’s. Es ist einfach stärker als ich.

Als Antwort erhalte ich einen Smiley. Ich hasse Smileys, das ist Schleichwerbung, jeder Knallkopf wird damit liebenswert.

Als Charlotte sieht, dass ich gleich nach Guillaume meinen Mantel anziehe, stürzt sie sich mit gerunzelter Stirn auf mich und fragt, wo ich hinwill. Ich erkläre ihr, dass ich ein Taxi mit Guillaume teile, bis Pigalle, denn ich fahre nach Hause. Sie beäugt mich skeptisch. Ich küsse sie auf die Wange.

»Du bist eine wahre Mutter für mich«, sage ich.

Sie lacht nicht, seufzt nur.

»Ehrlich, Chloé, du baust Mist.«

Als die Haustür hinter uns ins Schloss fällt, nimmt Guillaume meine Hand. In diesem Augenblick fühle ich mich, als wäre ich fünfzehn. Im Taxi küsst er mich. Mit den Fingerspitzen streichle ich sein Handgelenk, dort wo die eintätowierten Buchstaben »C« und »G« ineinander verschlungen sind, eine Erinnerung an die Zeit, als ich noch dumm genug war zu glauben, dass wir unser ganzes Leben gemeinsam verbringen würden. Seine Hand gleitet unter meinen Pulli und schiebt die Aubade-Spitze beiseite. Wusste ich’s doch: Das war ein gutes Investment. Während er das Taxi bezahlt, suche ich verzweifelt meinen Schlüssel in der Handtasche. Er fällt zu Boden. Im Fahrstuhl küssen wir uns wild, wie Pennäler.

»Madame Gomez wird wieder mit dir schimpfen, wenn du zu viel Krach machst, Chloé«, flüstert er, den Mund an meinem Hals.

Trotz der Februarkälte hat er warme Hände, und er lächelt wieder. Mit zitternden Fingern öffne ich die Tür.

Als sie sich hinter uns schließt, herrscht Ruhe. Endlich. Ruhe und Guillaume, sein Duft nach Seife und auch nach Alkohol, ich zerzause seine Frisur mit meinen Händen. Meine Kleidung landet auf der Erde, und er trägt mich auf den Küchentisch, als sei ich nicht schwerer als eine Einkaufstüte. Er hält einen Augenblick inne, gerade so lange, wie ich sein Hemd aufknöpfe. Zärtlich schiebt er eine Strähne hinter mein Ohr und flüstert:

»Ich mag den Pony, sehr sexy.«

Er lässt mir keine Zeit zu antworten, und ich will es auch gar nicht. Er soll jetzt die Dinge in die Hand nehmen. Ich stehe nicht auf Gentlemen oder Romantiker, weder auf Ashley Wilkes noch auf Marc Darcy. Ich bin weit entfernt von den vornehmen Wohnhäusern des 16. Arrondissements aufgewachsen, Wüstlinge sind mir lieber.

Ich will, dass wir im Flur auf dem Boden weitermachen, oder auf dem Küchentisch, das Bett ist zu weit weg, ich will das Ungezügelte eines Heathcliff während des Gewitters in Sturmhöhe, ich will die Leidenschaft eines Rhett Butler inmitten der Feuersbrunst von Atlanta. Alles oder nichts, ich hasse die goldene Mitte. Was soll’s, ich habe zu viele Romane gelesen.

Hinterher drückt er mich an sich, ich lege meine Wange auf seinen schweißfeuchten Oberkörper. Die Fenster der Miniküche sind beschlagen und erinnern an die Kälte draußen. Er nimmt mich in die Arme und trägt mich zu meinem Bett. Doch als ich nach der Zigarettenschachtel auf dem Nachttisch greife, murmelt er:

»Das ist nicht gut für dich, Chloé, du solltest aufhören.«

Ich lege sie wieder zurück, und er geht in die Küche. Als er wiederkommt, ist er angezogen und hält ein Glas Milch in der Hand. Ich schließe die Augen, kann es nicht ertragen, ihn gehen zu sehen. Er stellt das Glas auf den Nachttisch und drückt mir einen Kuss auf die Stirn. Ich fühle, wie er sich entfernt, die Eingangstür fällt ins Schloss, alles ist still, er ist nicht mehr da.

Sie sind praktisch, diese Exfreunde, wir alle sollten von Zeit zu Zeit mit einem Ex schlafen. Ich sollte überhaupt nur mit ihm schlafen, ich will nur ihn. Meinen Ex.

Mein Ex, der seit zwei Jahren mit einer anderen zusammen ist.

Mein Blödmann von Ex, der in vier Monaten heiraten wird.

Tagebuch von Constance Delahaye

14. Februar 2013 – 23:37 Uhr

Ich liebe den Valentinstag. Ich liebe ihn nicht nur, ich vergöttere ihn. Auch wenn ich Single bin, abstinent und seit neunundzwanzig Monaten irgendwo im No-Sex-Land, schaue ich trotzdem gern den Männern nach, die mit ihrer Rose in der Hand durch die kalten Straßen streifen. Ich liebe es, die speziell für diesen Tag zusammengestellten Speisekarten in den Pariser Restaurants zu studieren, die Blumen und Kerzen, das gedämpfte Licht und überhaupt diesen ganzen Valentins-Zirkus. Gut, ich liebe das alles, aber ich stehe nicht dazu. Maman hatte recht, ich bin nicht mehr zu retten, offiziell und unwiderruflich töricht! Zum Glück kann ich meinen Ruf aufrechterhalten, indem ich wie alle anderen vorgebe, dieses kommerzielle Fest zu hassen. Wo immer sich die Gelegenheit bietet, verkünde ich laut und deutlich, dass nichts lächerlicher ist als dieses fette Englein mit Pfeil und Bogen, bereit, auf alles zu schießen, was sich bewegt. In Wirklichkeit träume ich bereits ab dem 1. Februar heimlich vor dem Computer von meinem perfekten Valentinstag.

Wäre ich bei Verstand, täte ich allerdings besser daran, mich auf das zu konzentrieren, was eigentlich meine Prioritäten sein sollten.

Erstens: einen Marketingplan für das zweite Halbjahr 2014 und die neue Kollektion von Grable & Smith Damenbinden zu erstellen, damit ich eine brillante Managerin werde (wofür man mich – nebenbei bemerkt – bezahlt).

Zweitens: den Mann meines Lebens finden.

Valentinstag hin und her, ich bin wie jeden Donnerstag in meinen Leseclub gegangen. Ich hätte es vorgezogen, bei diesem Anlass einen Liebesroman zu lesen, aber ich war mit Vorschlägen nicht an der Reihe, sondern Chloé Lacombe. Ich versuchte ihr einen Text von Jane Austen einzuflüstern, ideal, um die Liebe zu feiern, aber sie hatte sich für American Psycho von Bret Easton Ellis entschieden. Das gefiel mir gar nicht. Als sie mich fragte, was ich darüber denke, schob ich meine Brille auf die Nasenspitze und antwortete hochtrabend:

»Zweifellos hat mir dieses Buch erhebliche Emotionen entlockt – insbesondere eine ungeheure Lust, mich umzubringen – und dazu unkontrollierbaren Ekel.«

Sie ist in Gelächter ausgebrochen. Ich habe Chloé vor etwas mehr als einem Jahr im Leseclub kennengelernt, aber ich glaube nicht, sie seither mehr als zwei- oder dreimal lachen gehört zu haben.

Nach unserer Sitzung sind wir einen trinken gegangen, um unsere Differenzen zu erörtern. Wie immer bestellte sie ein Bier, ich einen Mojito. Wir haben zehn Minuten über Bret Easton Ellis diskutiert – für sie die Gelegenheit, drei und eine halbe Zigarette zu rauchen –, und dann sind wir auf unser Stammthema zurückgekommen: das absolute Desaster unseres Liebeslebens. Sie kann sich beklagen, wie sie will, ich würde zehn Jahre meines Lebens und meinen rechten Busen hergeben, um Chloé Lacombe zu sein. Berichtigung: Ich würde zehn Jahre meines Lebens und meinen linken Busen hergeben (etwas größer als der rechte), um Chloé Lacombe zu sein. Chloé Lacombe, das ist Scarlett O’Hara. Übrigens hat sie in unserem Leseclub gar nichts zu suchen: Im Gegensatz zu meinem liegt ihr geistiges Alter unter neunzig, und sie scheint etwas Aufregendes zu besitzen – ein Leben. Und dennoch spricht sie von Bret Easton Ellis mit einer geradezu religiösen Bewunderung. Ich habe ihr von meinem neuesten Projekt erzählt: von dem Önologie-Workshop für zwei und von dem Kommentar des Leiters, was meinen feinen Gaumen betrifft, über den ich lange nachgedacht habe. Am liebsten würde ich eine Auszeit nehmen und ein Jahr in Marinzac leben, dort auf einem Weingut arbeiten, die Weinlese mitmachen und Önologie-Kurse belegen.

Chloé reagierte äußerst enthusiastisch. Dazu kennt sie auch noch Marinzac, das Dorf irgendwo im Sauternais, aus dem nicht nur meine, sondern auch ihre Großeltern stammen.

Es gibt fünfhundert Einwohner in Marinzac und neun Mitglieder in unserem Leseclub – statistisch waren die Chancen, uns ausgerechnet hier zu treffen, eher gering, und als wir herausfanden, dass wir beide regelmäßig nach Marinzac fahren, hat uns das einander sofort nähergebracht. Chloé findet mein Projekt großartig. Wirklich, ich sollte es machen, man darf seine Träume nie aufgeben, das ist wichtig, denn wie es ein großer zeitgenössischer Philosoph (Patrick Bruel) einst ausdrückte, lebt es sich leichter mit Reue als mit Bedauern.

Ich könnte ihr stundenlang zuschauen, wenn sie spricht. Chloé ist eine Romanheldin, schön, aber auch wehmütig, leidenschaftlich und überempfindlich, ihr Leben ist prickelnd und dramatisch. Chloé ist eine Künstlerin. Chloé schreibt Gedichte, seit sie acht Jahre alt ist. Ihr Leben fasziniert mich. Ich lebe es stellvertretend. Dazu muss ich gestehen, dass mein eigenes bei aller Objektivität erbärmlich ist. Chloé würde es nie in den Teufelskreis des No-Sex-Lands verschlagen, in dem ich seit neunundzwanzig Monaten gefangen bin. Wäre ich Chloé, könnte ich mit jedem ausgehen, den ich haben will. Sogar mit Tristan Grant. Würde Tristan ihr begegnen, wäre er sofort unsterblich in sie verliebt, in ihre großen blauen, melancholischen und zu stark geschminkten Augen, in ihre unglaublich helle Haut, obwohl sie brünett ist, und in ihre Stimme, so tief und warm wie ein Glas Sauternes. Sie hat ein besonderes Flair, allein, wie sie spricht, wie sie ihre Zigarette hält, den Rauch ausbläst und dabei an ihrem Daumennagel kaut, und wie sie einen anschaut mit ihrem träumerischen Kinderblick. Neben ihr fühle ich mich erst recht wie eine unbeholfene Gans, Ganswoman geht mit Catwoman ein Glas trinken.

Ich habe mit Chloé über mein Konzept des No-Sex-Land gesprochen. Ich spreche selten darüber, denn neunundzwanzig Monate ohne Sex ist heutzutage schlimmer als Cholera, nicht zu vergessen, dass Chloé reichlich One-Night-Stands hat und sicher nicht im Entferntesten ahnt, was es mit dem No-Sex-Land auf sich hat. Zunächst hatte sie mich angestarrt, als kündigte ich ihr meine bevorstehende Hochzeit mit Angela Merkel an, aber sie hat nicht laut losgelacht und schien auch nicht übermäßig erschrocken. Sie hat nur ein bisschen nachgedacht und dann gesagt, dass sie seit fünf Jahren nie länger als einen Monat ohne Sex war und dass ihr ein wenig Abstinenz vielleicht guttun würde. Schließlich lebe ich insgesamt gesünder als sie. Genau wegen solcher Bemerkungen mag ich Chloé richtig gern.

23:59 – Uhr

Anmerkung: Vorsatz für das nächste Jahr – mit dem Rauchen anfangen.

Chloé

Nach dem vorhersehbaren Fiasko von Mittwochabend mit Guillaume war gestern Abend der Lesedonnerstag angesagt. Verrückt, am Valentinstag im Leseclub zu enden, oder? Aber speziell diesen hätte ich um nichts in der Welt verpassen wollen. Wir haben American Psycho gelesen, eines meiner Lieblingsbücher. Wie zu erwarten, mochte Constance den Text überhaupt nicht.

Ich habe sie vor etwas mehr als einem Jahr kennengelernt, und je mehr ich mit ihr rede, desto witziger finde ich sie, auch wenn sie neben der Spur läuft. Sie hat die falsche Epoche erwischt, sie gehört ins England des achtzehnten Jahrhunderts und nicht in den Pariser Dschungel des einundzwanzigsten.

Ich verrenke mich, um mein vibrierendes Handy aus der Tasche zu fischen, und lächle mit falschem Bedauern die Alte an, der ich mit dem Ellenbogen fast das Auge ausgestochen hätte. Warum müssen Rentner ausgerechnet in den Stoßzeiten mit der Metro fahren? Das will mir nicht in den Kopf.

Meine Mutter ist am Telefon, schon zum zweiten Mal in zehn Tagen, und das ist nicht normal. Ich zögere und lasse die Mailbox laufen.

Erst als ich aus der Bahn steige, höre ich ihre Nachricht ab. »Aus den Augen, aus dem Sinn«, sagt sie. Das ist ihre Art, mir Vorwürfe zu machen. Mamie Rose hatte wieder einen Infarkt. Sie ist aus dem Krankenhaus zurück, aber die Ärzte sorgen sich. Es ärgert mich, dass das Altenheim meine Mutter anruft und nicht mich. Meine Eltern waren seit sechs Monaten nicht mehr in Marinzac, während ich alle drei Wochen hinfahre.

Ich bin spät dran, bleibe aber vor dem Club Med Sportcenter an der Esplanade stehen, das Telefon immer noch in der Hand.

»Mademoiselle?«

Ein Junge mit einem Werbesweatshirt reicht mir einen lila Flyer, den ich mit abweisender Handbewegung ablehne, ich habe schlechte Laune. Er offenbar auch, denn er rempelt mich an und lässt die Tür vor mir zufallen.

»Arschloch!«

Es ist mir einfach so herausgerutscht. Ich beiße mir auf die Lippe. Wieder einmal habe ich meine Klappe nicht halten können. Er kommt mit bedrohlich vorgeschobenem Kinn auf mich zu.

»Hast du ein Problem?«

»Musst du mir die Tür vor der Nase zuknallen, nur weil ich deinen blöden Prospekt nicht haben will?«

Er zuckt die Achseln und wirft mir aus der Höhle seiner Sweatshirtkapuze einen verächtlichen Blick zu.

»Ihr wollt Gleichberechtigung und meckert, wenn man euch nicht mit einem Bückling die Tür aufhält. Blöde Kuh!«

Ich mache den Mund auf, um ihm gehörig die Meinung zu geigen. Er mustert mich mit verschränkten Armen von oben bis unten. Trotz meiner hohen Absätze ist er zwei Köpfe größer als ich. Eine Weile starren wir uns an. Auch er hat Probleme. Alle haben Probleme. Das Leben ist nichts als eine lange Reihe ungelöster Probleme. Es könnte schlimmer sein, ich könnte ja auch wie Constance seit neunundzwanzig Monaten im No-Sex-Land feststecken oder wie Mamie Rose ganz allein inmitten von mit Reif überzogenen Rebstöcken eingehen. Ich werde mich doch wohl nicht über einen Bengel im Sweatshirt aufregen, der sich seit sieben Uhr morgens die Hände abfriert, um am Metroausgang Werbeprospekte zu verteilen. Ich schlucke die giftigen Worte hinunter und gehe achselzuckend davon.

Ausgerechnet jetzt laufe ich Guillaume im Großraumbüro über den Weg. Er spricht gerade mit einem Partner, der ihm unbedingt ein Dossier überlassen soll. Er sieht mich zwar, sagt aber nichts. Der Partner hingegen schaut auf die Uhr und zieht eine Braue hoch. Ich setze eine beschämte Miene auf, flüstere »Metroverspätung« und verschwinde hinter meinem Schreibtisch. Ich werfe den Computer an und verbringe erst mal fünf Minuten auf Facebook, bis ich genügend Energie getankt habe, um meine Mailbox zu öffnen. Ich überfliege die letzten Eingänge, klicke »Neue Nachricht« an und schreibe:

Kündigungsgründe:

Ich schlafe mit meinem ExMein Ex ist mein BossIch schlafe mit meinem BossIch hasse meinen Job, meinen Ex und meinen Boss

Die Nachricht schicke ich Guillaume und beobachte ihn aus den Augenwinkeln. Das Blackberry vibriert in seiner Tasche. Ohne sein Gespräch zu unterbrechen, wirft er einen Blick auf das Display, und ich sehe den Schatten eines Lächelns in seinem zu ernsten Gesicht.

Die Unterhaltung ist beendet, und er nähert sich meinem Schreibtisch. Ich tue so, als konzentrierte ich mich auf eine Excel-Datei.

»Chloé, kannst du in mein Büro kommen, wenn du fünf Minuten Zeit hast?«

»Passt es dir in zehn Minuten?«

Er soll nicht glauben, dass ich ihm ständig zur Verfügung stehe.

»Okay.«

Ich lasse fünfzehn Minuten verstreichen.

Alle im Büro wissen, dass wir fast drei Jahre lang zusammen waren. Als wir uns vor zwei Jahren trennten, ging die Neuigkeit schneller herum als der Amtsantritt von François Hollande. Guillaume ließ sich für ein Jahr nach New York versetzen, und ich, depressiv, nahm drei Monate unbezahlten Urlaub und reiste durch Asien. Ich kam mit Durchfall nach Hause, er mit Manue. Ich dachte, schlimmer kann es nicht kommen. Da hatte ich mich schwer getäuscht. Kaum ein Jahr drauf hielt er um Manues Hand an, und ich musste ihm gemeinsam mit allen Kollegen auch noch gratulieren. Mein Leben ist absolut perfekt, oder?

Ich stoße die Glastür zu seinem Büro auf. Er hebt den Kopf, winkt mich herein und wartet, bis ich die Tür hinter mir geschlossen habe.

»Was ist los, Chloé?«

Sein Gesichtsausdruck ist unverändert ernst, die Stirn leicht gerunzelt, aber seine Stimme klingt besorgt und hüllt mich in sein warmes Mitgefühl. Ich lasse mich auf den Stuhl ihm gegenüber fallen.

»Mamie Rose hatte wieder einen Infarkt.«

Mamie Rose hatte wieder einen Infarkt, ich liebe dich, und du heiratest in vier Monaten eine andere. Aber das darf ich nicht sagen. Ich kenne die Spielregeln. Er hat mich nie angelogen, er hat auch nie gesagt, dass er seine Manue verlassen würde. Ich frage mich, ob er auch dann noch mit mir schlafen wird, wenn er erst mit ihr verheiratet ist.

Er beugt sich vor, will meine Hand nehmen, hält jedoch mitten in der Geste inne. Ihm fällt wohl wieder ein, dass wir im Büro sind. Ich bin Consultant in seinem Team, also eine Kollegin. Er hüstelt.

»Das tut mir leid.«

Er schlägt mir vor, einen Tag freizunehmen, damit ich zu Mamie Rose fahren kann. Seine Liebenswürdigkeit ist zum Verzweifeln. Alles wäre einfacher, wenn er ein Kotzbrocken wäre. Ich habe einen Frosch im Hals und schlucke.

»Willst du mit mir nach unten gehen, eine rauchen?«

Er schüttelt energisch den Kopf.

»Chloé, wirklich, du solltest endlich damit aufhören. Du tust dir nichts Gutes.«

Manue raucht bestimmt nicht, geht es mir durch den Kopf. Wie dumm von mir, ihn darum gebeten zu haben, dazu noch in diesem bettelnden Ton. Lächerlich, wusste ich doch, dass er ablehnen würde.

Wieder an meinem Schreibtisch, kann ich mich nicht auf die Arbeit konzentrieren. Ich schicke Charlotte eine SMS:

10:42 – CHLOÉLACOMBE

Scheißtag.

10:44 – CHARLOTTEPERRIN-LAURENT

ICH WEISS, WAS DU MITTWOCHABEND GEMACHT HAST.

Es ist wie in einem Horrorfilm: Ich weiß, was du letzten Sommer getan hast. Mein größter Fehler in dieser Geschichte war zweifellos, Guillaume und Greg miteinander bekanntzumachen und begeistert zu beobachten, wie sie die besten Freunde wurden. Damals hatten Cha und ich uns so über die gemeinsamen Wochenenden, Abendessen und Urlaube gefreut. Wenn ich die Folgen geahnt hätte … Jetzt geht Guillaume mit Manue zum Abendessen bei ihnen. Meine Cha, meine beste Freundin seit Ewigkeiten, bewirtet die neue Freundin der Liebe meines Lebens. Mein Leben ist einfach perfekt.

10:44 – CHLOÉLACOMBE

Ich auch. Alles blöd.

10:45 – CHARLOTTEPERRIN-LAURENT

OK … Mama Cha eilt zu deiner Rettung herbei :-).

Gehe mit dir Mittag essen.

10:45 – CHLOÉLACOMBE

12:15 Uhr Esplanade?

10:48 – CHARLOTTEPERRIN-LAURENT

Yes. Bringe aber den Nachwuchs mit.

Ist erkältet, kann nicht in den Kindergarten :-(.

10:48 – CHLOÉLACOMBE

Kein Problem. Danke.

Ich mache mich an die Arbeit. Das ist das Einzige, womit ich den gleichgültigen Guillaume hinter seiner Glastür vergessen kann. Einer meiner Vorzüge. Ich bin ein Arbeitstier. In der Eliteschule HEC war ich eine der wenigen, deren Vater nicht Professor oder leitender Angestellter in einer großen Firma war. Immer noch ruft mich mein ehemaliges Gymnasium an, damit ich den Abiturienten meinen Werdegang erläutere. Zum Totlachen. Ich habe mir alles versaut und soll jungen Leuten erklären, wie man es im Leben zu etwas bringt. Es gibt keine Entschuldigung. Abgesehen davon habe ich nie davon geträumt, Sängerin, Prinzessin, Schauspielerin oder Lehrerin zu werden, auch nicht als ich fünf war. Seit ich klein war und Mamie Rose mir ein erstes Buch in die Hand gedrückt hat, weiß ich, dass ich Geschichten erzählen will, die Kinder zum Lachen bringen und gut ausgehen. Romane, die einlullen und einen die Wirklichkeit vergessen lassen. Ich wollte die Leser in Traumländer entführen, wenn alle anderen schon schlafen und wenn in der nächtlichen Stille nur noch das Umblättern von Seiten zu hören ist, noch ein Kapitel, nur noch eins, ein letztes. Und heute? Das Einzige, was ich schreibe, sind die Namen der börsennotierten Firmen auf PowerPoint-Folien und die Formeln von Wachstumsraten in Excel-Zellen. Wie gesagt, mein Leben ist einfach perfekt.

Der Vormittag dauert etwa vier Jahrhunderte, doch dann ist die Mittagspause endlich da. Cha kommt um 12:38 Uhr mit rotem Gesicht und aus der Puste, mit dickem Bauch und Sophie im Buggy an. Da ich wie immer pünktlich bin, habe ich mir bereits die zweite Zigarette angezündet.

»Tut mir leid, ich bin spät dran. Soph ist ein Malheur passiert, gerade als wir loswollten. Seit sechs Monaten hat sie nicht mehr in die Hose gemacht. Kannst du dir das vorstellen?«

Kann ich leider nicht. Ich fühle mich ohnehin fehl am Platz, wenn junge Mütter Themen wie die Konsistenz von Kacke anschneiden (und das ist bei allen Freundinnen zwischen neunundzwanzig und fünfunddreißig unvermeidlich der Fall, irgendwann kommt diese Angelegenheit immer zur Sprache), oder aber wenn sie über Beckenbodengymnastik, Dammriss und ständig Milch absondernde Brüste reden, und das stundenlang, möglichst bei Tisch. Übrigens schwöre ich mir jedes Mal: Sollte irgendjemand irgendwo so verrückt sein, mit mir eines Tages ein Kind zu machen, werde ich nie über so etwas sprechen (auch nicht über die Preise und Vorteile von Babywickeltischen, nur so nebenbei bemerkt).

Charlotte steuert gleich das nächste Bistro an. Wie sich unter Moses’ Hand die Wellen am Roten Meer teilten, so teilen sich die Reihen leitender Angestellter in Anzug und Krawatte, die bereits seit zwanzig Minuten auf einen Tisch warten, und weichen anstandslos vor Cha, dem hochmodernen Maclaren-Buggy sowie ihrem runden Bauch zurück. Die Bedienung springt herbei und setzt uns an einen winzigen Tisch zwischen Bar und Küchentür, die alle dreißig Sekunden auf- oder zuschlägt. Mit Herrschermiene lässt Cha zwei Banker aufstehen, damit sie den Buggy in eine Ecke schieben kann. Sie murmelt irgendetwas, zieht die Bremse des Maclaren an und setzt sich hin, eine Hand auf dem Bauch und zufrieden wie eine Katze, die gerade einen halben Liter Milch ausgetrunken hat. Genau in diesem Augenblick hält Sophie die Zeit für gekommen loszubrüllen, weil sie Pipi machen muss. Kühn biete ich mich an, mit ihr auf die Toilette zu gehen, aber die Märtyrermutter erhebt sich, löst den Sicherheitsgurt, holt Sophie aus dem Wagen, nimmt sie auf den Arm, lässt die Banker wieder Stühle schieben und geht in die entgegengesetzte Richtung durch den Saal. Auf dem Weg fegt sie mit ihrem Bauch Karaffen und Gläser von den Tischen, während Sophie losheult wie eine Feuerwehrsirene. Sechs Minuten später ist Charlotte wieder da, schnallt Sophie in ihrem Maclaren fest und stopft ihr einen Schnuller in den Mund.

»Ich habe meine Meinung über verprügelte Kinder gründlich geändert«, sagt sie nachdenklich. »Die wahren Opfer sind nicht die Kinder, sondern die Eltern.«

Der Mann zu ihrer Rechten blickt entsetzt auf und beehrt sie mit einem Lächeln, das eher an einen Stinkefinger denken lässt. Dann wendet er sich ab. Sie indessen versucht ihr wirres aschblondes Haar zu richten. Auf ihrer zerknitterten Bluse hat sie einen grünlichen Fleck, unter den braunen Augen dunkle Ringe. Trotz allem ist sie die Erste, die mir zu Hilfe geeilt ist. Ich habe gute Lust, sie in die Arme zu schließen.

Ich wähle Tatar mit Salat, sie eine Ile Flottante und einen Apfelcrumble ohne Sahne. Ungerührt nimmt die Bedienung unsere Bestellung auf.

Ich erzähle von meinem Vormittag, sie lauscht aufmerksam, lässt hin und wieder Sophie-die-Gummigiraffe vor Sophie-in-Tränen-aufgelöst quietschen und droht, ihren Schnuller in Zyankali zu tunken, wenn sie nicht endlich still ist.

»Du musst jetzt wirklich mit Guillaume Schluss machen, Chloé.«

Schweigend breite ich meine Papierserviette aus.

»Ich habe mit ihm gesprochen«, sagt sie.

Verblüfft blicke ich auf.

»Wie das, du hast mit ihm gesprochen?«

»Er ist gestern vorbeigekommen und hat mit Greg das Match angeschaut. Ich habe ihm gesagt, es reicht jetzt und …«

»Du hast nicht mit ihm darüber zu sprechen, Cha, das geht dich nichts an.«

»Er wird bald heiraten!«

Sie hat so laut gesprochen, dass sich alle Blicke auf uns richten. Ich senke den Kopf und drehe Kügelchen aus Brotteig. Cha fügt leiser hinzu:

»Er hat gesagt, dass er sie nicht verlassen wird. Er liebt sie.«

Mir wird das Herz gerade durch einen Fleischwolf gedreht, und ich zische:

»Es ist mein Leben, ich mache, was ich will.«

Charlotte seufzt, und Sophie in ihrem Buggy ist nun endlich still. Sie beobachtet uns und kaut auf dem Kopf ihrer Sophie-die-Giraffe – und ich habe große Lust, meine Nase in ihren Vanille-Babyhals zu stecken.

»Er wird sie heiraten, Chloé. Du musst diese Beziehung beenden – schon aus Selbstschutz.«

»Warum tust du mir das an? Beklage ich mich denn so oft?«

»Du brauchst dich nicht zu beklagen. Denkst du, ich bin blind? Du hast abgenommen und bist weiß wie ein Laken. Seit zwei Jahren interessiert dich kein anderer Mann, höchstens, um Guillaume eifersüchtig zu machen, und du bleibst in diesem verhassten Job, nur um ihn zu sehen. Das ist doch der reinste Schwachsinn!«

»Stimmt ja gar nicht. Er ist mir egal, ich kann aufhören, wann ich will.«

»Ach ja, wie mit dem Rauchen. Du hörst auf, wann du willst? Du hörst absolut nicht auf! Seit zwei Jahren pennst du mit irgendwelchen Typen, sagst, dass du dir einen neuen Job suchst und, oh Neuigkeit, endlich anfangen willst zu schreiben. Und …«

»Ich kann keine zweite Mutter gebrauchen, Charlotte, du musst mich nicht auch noch fertigmachen, okay?«

Die Bedienung bringt unsere Teller. Charlottes zwei Dessertteller haben kaum Platz auf dem Minitisch.

Ich würde gern ein Glas Wein bestellen.

Charlotte sieht richtig wild aus mit ihren Haarsträhnen, die in alle Richtungen abstehen, ihren roten Wangen und den vor Ärger blitzenden Augen.

»Weißt du was, Chloé, mir reicht’s. Ich bin es leid, mich immer um alle zu kümmern. Du darfst einfach nicht mehr mit ihm schlafen. Er ist verlobt. Und denkst du auch manchmal an Manue?«

Das Tatar bleibt mir im Hals stecken. Manue. Die Verlobte von Guillaume ist ein Tabuthema. Man sagt nicht Manue. Man spricht im besten Fall von »seiner Freundin«, eher von »der Tussi« oder »dieser Ziege«. Manue, das ist Voldemort, die, deren Name nicht genannt werden darf. Sie hat meinen Platz eingenommen. Sie ist illegitim, nicht ich. Und Charlotte spricht von Manue. Ich steche wütend meine Gabel ins Tatar.

»Cool«, brumme ich, »erst klaut sie mir den Mann, jetzt meine Freundin.«

Charlotte verdreht die Augen und schiebt sich die Menge von drei Schöpflöffeln Crumble auf einmal in den Mund, bevor sie kauend wiederholt:

»Antworte! Denkst du auch mal an sie?«

»Es ist leicht, andere zu verurteilen, wenn man selbst ein schönes Leben führt.«

»Was würdest du denken, wenn sich eine andere Frau heimlich mit Greg vergnügen würde? Wäre das deiner Ansicht nach richtig?«

»Greg würde nie mit einer anderen schlafen«, sage ich entsetzt über einen solchen Vergleich.

Ich lege die Gabel hin, der Appetit ist mir vergangen.

»Weißt du was, Chloé? Die Hormone sind daran schuld, dass ich oft genug ungenießbar bin. Ich habe nicht mal die Zeit, mir die Haare zu waschen, und ich sehe aus wie eine Milchkuh. Greg könnte sich durchaus für eine niedliche Kollegin interessieren. Verständlich, oder?«

»Hör auf, Cha, das ist doch nicht dasselbe.«

Natürlich würde ich einer Frau, die sich an Greg ranmacht, die Augen auskratzen. Cha wirft ihren Löffel auf die Ile Flottante, und ein Tropfen Vanillesauce spritzt auf ihre Stillbluse. Nicht dass sie zurzeit stillen würde, doch für ihren Busen, augenblicklich Größe 95E, gibt es kein passenderes Kleidungsstück.

»Doch, das ist sehr wohl vergleichbar. Glaub mir, Chloé, es ist wirklich bedauerlich, dass es mit euch beiden nicht geklappt hat, aber du musst jetzt endlich Schluss machen! Das ist besser, als mit einem Mann zu schlafen, der einer anderen gehört.«

»Jetzt hör aber auf, das ist es ja gar nicht, es …«

»Aber natürlich ist es das, du Ahnungslose, genau das! Mach endlich die Augen auf! Nur du bist blind!«

Mir kommen die Tränen. Mit einem Mal ist Charlotte ganz ruhig.

So unglaublich es inmitten des Bistrokrachs auch erscheinen mag, Sophie ist in ihrem Buggy eingeschlafen, das Däumchen im Mund, die vollgesabberte Gummigiraffe an sich gedrückt. Chas Augen sind schwarz vor Ärger.

»Zu deiner Information, ich habe Greg gestern gesagt, dass Guillaume keinen Fuß mehr in unsere Wohnung setzen darf, solange er mit dir schläft. Ich will es nicht. Ich habe dich immer verteidigt, Chloé, jedes Mal!«

Mit der Gabel drücke ich das Tatar platt. Mir ist übel. Wie dumm von mir, rohes Fleisch bestellt zu haben.

»Ich habe dich nicht gebeten, dich einzumischen. So oder so, ich sehe ihn täglich im Büro.«

»Ich weiß, aber wenn du ihn bei uns triffst, habe ich wochenlang ein schlechtes Gewissen.«

»Ich bin erwachsen und trage die Konsequenzen meiner Entscheidungen allein. Ich brauche dich nicht, um meine Probleme zu lösen.«

»Ist das dein Ernst?«

»Ach, hör auf, Charlotte, ich will mich seinetwegen nicht mit dir streiten.«

Heute ist wirklich ein Scheißtag, alle machen mir Vorwürfe. Alle bis auf Guillaume, letztendlich.

»Du machst dir etwas vor. Wenn du tatsächlich zu deinen Entscheidungen stehen würdest, hättest du schon lange ein neues Leben begonnen. Wenn ich dich daran erinnern darf, ihr seid kein Paar mehr, und du kannst niemanden dafür verantwortlich machen. Du bist selbst schuld, und es …«

Mitten im Satz stockt sie, und ich beende ihn an ihrer Stelle:

»… geschieht dir recht. Ist es das, was du sagen wolltest? Das, was ihr alle heimlich denkt?«

»Soll ich aufrichtig sein? Willst du eine ganz ehrliche Antwort, Chloé?«

Das Essen ist mir jetzt ganz verleidet. Ich starre sie fassungslos an. Sie kann so nicht denken, jeder andere, aber nicht sie. Ich werfe zwanzig Euro auf den Tisch, stehe auf und ziehe meine Jacke an. Sie sagt, ich soll warten, sie entschuldigt sich, so habe sie es nicht gemeint. Aber sie hat es gesagt. Ich hätte Sophie gern noch einen Kuss gegeben, mache aber auf dem Absatz kehrt und gehe. Soll Charlotte sehen, wie sie klarkommt mit ihrem Kinderwagen, ihrem Bauch und ihrem Kind. Dass ich nicht lache! Diese seit zehn Jahren verheirateten Frauen mit ihren perfekten Partnern, perfekten Kindern und einem perfekten Leben. Seit Jahren teilen sie sich die Wohnungsmiete, haben seit Ewigkeiten keine Nacht allein zugebracht und keine Ahnung, was Einsamkeit, Leere, Sehnsucht und Enttäuschung bedeuten. Sie flennen wie kleine Mädchen am Telefon, wenn ihr Mann eine dreitägige Geschäftsreise unternimmt und sie seit einer vollen Stunde keine SMS von ihm erhalten haben. Und dann erlauben sie sich, Urteile zu fällen und die Empörten zu spielen. Manchmal überkommt es mich, und ich wünsche mir, dass zwei von drei geschlossenen Ehen wieder geschieden werden, natürlich nicht Chas Ehe, aber die der anderen. Ich würde gern mit ansehen, wie sie mit der Einsamkeit fertigwerden und ob sie ihren netten Prinzipien treu bleiben, wenn der Mann ihres Lebens mit einer zehn Jahre Jüngeren durchbrennt und wenn sie drei, sechs Monate, ein Jahr oder neunundzwanzig Monate mit niemandem mehr schlafen? Ich denke an Constance. Sie würde mich verstehen. Sie würde mich nicht verurteilen.

Rasch überquere ich die Esplanade, und schon tut mir alles leid. Mit Cha wollte ich mich nicht überwerfen. Das ist doch idiotisch. Mein Telefon vibriert, noch bevor ich das Bürogebäude erreiche. Ich gehe nicht ran. Cha versucht es noch zweimal, dann schickt sie eine SMS.

13:32 – CHARLOTTEPERRIN-LAURENT

Entschuldige, Chloé! Es sind die Hormone. Nie im Leben habe ich gedacht, dass es dir recht geschieht.

13:32 – CHARLOTTEPERRIN-LAURENT

Du weißt doch, dass ich es nicht so meine.

13:33 – CHARLOTTEPERRIN-LAURENT

Das schlechte Gewissen quält mich. Bitte melde dich.

Ich drücke auf den Knopf am Fahrstuhl. Sie soll mich in Ruhe lassen. Das alles hat mir gerade noch gefehlt.

13:36 – CHLOÉLACOMBE

Im Zweifelsfall verstehe ich, was du denkst. Alle denken so, und es mag auch stimmen. Aber ich ertrage nicht, dass ausgerechnet du mir das heute an den Kopf wirfst.

13:36 – CHARLOTTEPERRIN-LAURENT

Tut mir ja so leid, leid, leid, meine Chloé! Ich bin eine grässliche Freundin. Sag mir, dass du mir verzeihst, sonst lege ich auf der Stelle eine Fehlgeburt hin. Und zwar mitten in dein Tatar.

13:37 – CHARLOTTEPERRIN-LAURENT

Du hast schon wieder nichts gegessen …

Fast hätte ich gelächelt und beginne, auf meinem Handy zu tippen, dass ich ihr nicht mehr böse bin, sie im Grunde die Lage richtig beurteilt und dass ich mich, wäre sie nicht da, direkt beim Tierschutzverein melden könnte. Gerade als ich meine SMS schreibe und sich die Fahrstuhltür hinter mir schließt, hält eine manikürte Hand sie im letzten Moment auf. Mir stockt der Atem. Da ist sie, weizenblond, mit dunkelblauen Augen, im tadellosen Kleid von Maje, mit gelben Pumps, deren Absätze farblich zu ihrer Tasche passen, und am Finger, so hell blitzend, dass mir die Augen wehtun, der in Weißgold gefasste Mauboussin-Diamant, den Guillaume ihr zur Verlobung ausgesucht hat.

»Guten Tag«, sagt Manue, ohne mich anzuschauen.

Es ist so weit. Jetzt ist mir wirklich speiübel.

Tagebuch von Constance Delahaye

15. Februar 2013 – 13:17 Uhr

Heute ist mir das Arbeiten besonders schwergefallen. Immerhin habe ich ich ein paar konstruktive Schritte (für mich, aber nicht wirklich für Grable & Smith, genannt G&B) unternommen. So habe ich im Internet beim Casting von Christian Grey für die Kinoversion von Fifty Shades of Grey mit abgestimmt. Wie gern hätte ich Ryan Gosling in der Rolle gesehen, doch das wird wohl nichts. Trotzdem wäre es einfach wunderbar, wenn er doch gewählt würde. Ich sollte vielleicht mal wieder eine Kerze in der Kathedrale von Notre-Dame anzünden, damit es klappt, auch wenn die letzten Kerzen für Johnny Depp und Vanessa nicht gerade zum erhofften Erfolg geführt haben.

Anschließend habe ich die Wunschliste zur Hochzeit meines Cousins Jonathan genauestens studiert. Er heiratet im Juni, und ich suche nach einem Geschenk zu einem vernünftigen Preis. Ein vernünftiger Preis wäre ein Betrag, der mich nicht als Geizhals erscheinen lässt, aber auch nicht meine Kreditkarte überstrapaziert. Nachdem ich meine Konten online geprüft und den Saldo in der ersten Zeile gute zehn Sekunden lang angestarrt hatte, befand sich mein Gehirn irgendwo zwischen Panikattacke und Aneurysma-Ruptur, und ich musste wohl oder übel begreifen, dass es einen vernünftigen Betrag nicht gibt. Es waren gerade noch siebenundachtzig Euro für den restlichen Monat übrig. Ich verdächtige meinen Berater bei der Bank, sich auf meine Kosten zu bereichern. Was kann ich denn nur ausgegeben haben? Immer noch mit den Gedanken bei meiner dramatischen Finanzlage, hob ich den Kopf und stellte fest, dass mein Chef, Hans Schmidt, vermutlich bereits seit einiger Zeit neben meinem Schreibtisch stand. »Ja?«, stotterte ich, und er fragte mit tiefer und autoritärer Stimme, wie weit mein Marketingplan 2014 für G&B, Abteilung Damenbinden, sei.

Ich stammelte einen für Otto Normalverbraucher absolut unverständlichen Satz, ließ rasch die Webseite meines Bankkontos verschwinden, und auf dem Bildschirm erschien der nackte und herrliche Oberkörper von Ryan Gosling. Rot wie eine Tomate und in Katastrophenstimmung schloss ich alle aufgerufenen Seiten, bis endlich meine Grafik erschien, die das Verhältnis zwischen menstruierenden Frauen und der Verkaufsentwicklung von Damenbinden darstellte, mit meiner Anmerkung – den steigenden Verkauf von Tampons 2012 berücksichtigen! – als Beweis für meine unzweifelhaft professionelle Glaubwürdigkeit. Zu meiner allergrößten Überraschung begnügte sich Hans Schmidt damit, die Augen zu verdrehen und kommentarlos sein Büro aufzusuchen. Vielleicht ist er doch im Grunde seines Herzens dem Charme von Ryan Gosling erlegen, oder aber er war milde gestimmt, weil er um die Hand der unterkühlten Tussi angehalten hat, die seit vier Jahren als seine Freundin gilt: Bertha Kreidenberg, eine 1,78 Meter lange Bohnenstange, siebzehn Kilo leicht, Mannequin, sechsundzwanzig Jahre alt und wahrscheinlich ein hochgiftiges Miststück.

Mit Hochgenuss verpasse ich allen Pärchen in meiner Umgebung die Namen berühmter Paare. Zum Beispiel nenne ich meine Kollegin Julie und ihren Christophe aus der Buchhaltung – sie schlafen seit letztem Januar miteinander – Edward und Bella aus Twilight: Sie sehen aus, als seien sie gerade einem Sarg entstiegen oder als hätten sie zwei Wochen Urlaub in einer Salzgrotte verbracht, denn ihre Gesichtsfarbe verändert sich nie, egal welche Jahreszeit herrscht. Wären Tristan Grant und ich zusammen, so wären wir Elizabeth Bennet und Mister Darcy aus Stolz und Vorurteil. Meine Freundin Héloïse und ihren Schürzenjäger von Freund, der sie bei jeder Gelegenheit betrügt und in Tränen aufgelöst heimkehrt, wenn sie es erfährt, nenne ich Valmont und Madame de Tourvel aus Gefährliche Liebschaften und so weiter. Na, ich will keine schlechten Witze machen, aber Hans Schmidt und Bertha Kreidenberg sind für mich Adolf und Eva, Version schwedische Mannequins.

Chloé

Ich schwöre, dass während der fünf Jahre, die ich nun schon in der Firma arbeite, der Fahrstuhl noch nie so lange gebraucht hat, die zweiundzwanzig Stockwerke bis zu unserem Büro hinaufzufahren. Manue sagt kein Wort. Sie sortiert Papiere in ihrer Handtasche, zieht ein paar gebrauchte Metrotickets hervor, einen lilafarbenen Prospekt und eine leere Packung Kaugummi mit Chlorophyll.

Zu allem Überfluss riecht sie ungemein gut. Ich hasse sie. Wir begegnen uns praktisch nie, denn wenn sie hin und wieder herkommt, um mit Guillaume mittagessen zu gehen, wartet sie unten auf ihn. Ich beobachte sie heimlich. Gleichzeitig fallen mir Charlottes Worte wieder ein, und ich fühle vage Schuldgefühle, weil ich mit ihrem Verlobten schlafe. Ich vermute, sie weiß, dass wir zusammen waren. Nur noch drei Etagen. Ich fingere am Reißverschluss meiner Tasche. Der Lift hält, und ein Mann, das Telefon am Ohr, steigt ein. Eigentlich sieht sie nicht boshaft aus. Eher erinnert ihr Gesicht an einen blonden Engel, Stil Heilige Jungfrau. Guillaume hat sie in einer Bar in New York kennengelernt. Sie ist Tanzlehrerin, soweit ich weiß, was die hoheitsvolle Kopfhaltung erklärt. Doch abgesehen davon, habe ich keine Ahnung, wer sie ist. Guillaume spricht nie über sie.

Wortlos verlässt sie den Fahrstuhl und strebt hüftschwingend auf ihren Stilettos direkt auf Guillaumes Büro zu. Mit nonchalanter Geste wirft sie ihren aussortierten Abfall in meinen Papierkorb, und diese Geste macht mich vollends krank. Von allen Schreibtischen und allen Papierkörben unserer Etage wirft sie ihren Müll ausgerechnet in meinen Papierkorb neben meinem Schreibtisch. Sie betritt Guillaumes Büro. Ich setze mich und werfe den Computer an. Nur nicht in seine Richtung sehen! Ich öffne Excel, meine Hände zittern. Nur nicht den Kopf heben, nur nicht hinüberschauen!

Natürlich hebe ich den Kopf und werfe einen Blick auf die beiden. Guillaume betrachtet sie voller Bewunderung, so wie er früher mich betrachtet hat, wie jemand, der zum ersten Mal das Meer sieht. Er legt seine Hand auf ihre Wange. Zum ersten Mal sehe ich sie zusammen und wie sie vor Glück alles um sich herum vergessen. Endlich verstehe ich. Er wird sie heiraten. Cha hat recht. Er wird sie heiraten und mich hängen lassen, mutterseelenallein zurücklassen, oder aber ich werde die Mätresse eines verheirateten Mannes. In beiden Fällen würde ich bis an mein Lebensende unglücklich bleiben und selbst daran schuld sein.

13:42 – CHLOÉLACOMBE

Bin soeben Manue im Fahrstuhl begegnet. Horror! Du hast auf der ganzen Linie recht.

13:42 – CHARLOTTEPERRIN-LAURENT

BRICH JETZT NICHT IN PANIK AUS! Habe dein Tatar gegessen, noch ein Schokoladeneis bestellt und Sophie an eine Roma verkauft, um die Rechnung zu bezahlen. Tu einfach so, als würdest du Manue gar nicht sehen!

13:43 – CHARLOTTEPERRIN-LAURENT

Siehst du, ich habe immer recht :-)

13:44 – CHLOÉLACOMBE

Das alles bringt mich noch um.

13.46 – CHARLOTTEPERRIN-LAURENT

Du bist viel zu gut für ihn. Sei nicht traurig, du wirst bald Prinz Harry finden oder Barack Obama, sobald er sich von Michelle getrennt hat.