Vielleicht ist es ja Liebe - Marie Vareille - E-Book

Vielleicht ist es ja Liebe E-Book

Marie Vareille

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Beschreibung

Isabelle ist frisch getrennt, ihre langersehnte Schauspielkarriere noch immer in weiter Ferne, und auf ihrem Konto herrscht gähnende Leere. Da kommt ihr ein ungewöhnliches Rollenangebot gerade recht: Eine junge Bloggerin beauftragt sie, ihren Vater zu verführen. Denn der will einige Jahre nach dem Tod der Mutter wieder heiraten, obwohl die Kinder mit ihrer Stiefmutter in spe alles andere als einverstanden sind. Und so reist Isabelle als angebliche Nanny mit in den Sommerurlaub am Comer See – doch in dem idyllischen Örtchen angekommen, werden nicht nur das Leben der Patchworkfamilie, sondern auch ihre eigenen Gefühle völlig auf den Kopf gestellt.

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Seitenzahl: 440

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MARIE VAREILLE wurde 1985 in Montbard, einer Kleinstadt im Burgund, geboren. Sie hat in New York und Paris Management studiert und arbeitet derzeit für ein kleines Start-up-Unternehmen. Neben dem Schreiben führt sie auch einen Blog über romantische Komödien. Nach Manchmal ist es schön, dass du mich liebst ist Vielleicht ist es ja Liebe ihr zweiter Roman, der auf Deutsch erscheint.

Vielleicht ist es ja Liebe in der Presse:

»Das perfekte Buch für ein Sommerwochenende im Liegestuhl.«Elle

Außerdem von Marie Vareille lieferbar:

Manchmal ist es schön, dass du mich liebst

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Marie Vareille

Vielleicht ist es ja Liebe

Roman

Aus dem Französischen von Gabriele Lefèvre

Die französische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »Là où tu iras j’irai« bei Éditions Mazarine, Paris.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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PENGUIN und das Penguin Logo sind Markenzeichen von Penguin Books Limited und werden hier unter Lizenz benutzt.

Copyright © Mazarine/Librairie Artème Fayard, 2017

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018 by Penguin Verlag,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlag: Covergestaltung bürosüd unter Verwendung von Motiven von bürosüd

Redaktion: Brigitte Lindecke

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-22221-5 V002

www.penguin-verlag.de

Für Olivier, der mir immer noch eine Stereoanlage schuldet Für Clement, dem ich viele Stunden Spielzeugautos schuldeFür Paul,der mir eine Nurofen 500 schuldet

Der Zufall dreht die Ameise auf den Rücken, damit sie den Himmel sehen kann.

Arabisches Sprichwort

Woody-Allen oder Weihnachten im Tierschutzverein

»Dieser hier kostet dreihundert Euro.«

Der Verkäufer legte Isabelle ein zauberhaftes Labradorbaby in den Arm. Sie lächelte, kraulte seinen Kopf und drückte ihm ein Küsschen zwischen die Ohren.

»Den finde ich süß«, sagte Quentin, »aber es ist dein Geburtstag. Also, wenn du lieber einen anderen hättest …«

Sie zögerte, warf einen Blick in die Runde und hielt wie vom Blitz getroffen inne.

»Den da!«

Ihre braunen Augen blitzten vor Entschlossenheit. Sie setzte den Labradorwelpen ab und ging auf einen schäbigen Käfig zu, der einfach auf der Erde stand und offensichtlich die Frucht einer unstandesgemäßen Liebe beinhaltete, nämlich eine Mischung aus einem furchterregenden Wasserspeier von Notre-Dame und einer verstrahlten Fledermaus. Das räudige Fell ließ hie und da ein wenig schlaffe Haut durchscheinen. Links und rechts von einem verknäulten weißen Haarbüschel, das über dem einzigen gelblichen und melancholischen Auge hing, ragten zwei spitze Ohren hoch.

»Die da ist nicht zu verkaufen«, sagte der Tierhändler, »die ist gestern aufgefunden worden. Die ist mindestens neun Jahre alt, und sie hinkt.«

»Och, die Arme, wie furchtbar …«

Isabelle hockte sich vor das Gitter und ließ einen Finger über den struppigen Kopf der Chihuahua-Mischung gleiten. Die knurrte auf der Stelle und zeigte zwei Reihen spitzer Zähne. Isabelle drehte sich strahlend zu Quentin um, der sie mit amüsiertem Funkeln in den Augen beobachtete.

»Sieht sie nicht aus wie ein Punkbaby? Sie ist zu niedlich.«

Sie öffnete den Käfig. Der Verkäufer setzte den Labrador eilig in den seinen zurück.

»Vorsicht! Ich fürchte, ihre Impfungen sind nicht auf dem letzten Stand.«

Doch Isabelle hatte das Viech bereits aus dem Käfig geholt und schmiegte ihr Gesicht in das scheußliche weiße Fellgestrüpp.

Die Hündin, von einer derart zärtlichen Geste überrascht, machte sich steif und grollte vorsichtshalber, bevor sie sich geradezu schnurrend in die gastlichen Arme der jungen Frau kuschelte.

»Quentin, darf ich dir Woody-Allen vorstellen?«

Quentin hob nicht sonderlich erstaunt eine Augenbraue.

»Bist du dir sicher? Selbst zu Weihnachten im Tierschutzverein haben wir nie einen so hässlichen Hund gesehen.«

Der verdatterte Verkäufer kratzte sich am Kopf.

»Ich schenke Ihnen die Hündin, wenn Sie wollen. Eigentlich sollte sie eingeschläfert werden … Sie können sie nächsten Samstag abholen. Ich muss sie noch impfen.«

»Wenn wir sie umsonst bekommen«, meinte Quentin, »müssen wir dir noch ein anderes Geburtstagsgeschenk besorgen.«

Die junge Frau griff nach dem nächstbesten Halsband auf der Gondel und reichte es ihm.

»Dann nimm doch einfach das hier dazu! Damit ist die Sache geritzt.«

»Das macht sechs Euro vierzig«, sagte der Verkäufer, als er den Artikel scannte.

Quentin reichte seine Kreditkarte über die Theke, während Isabelle die Hündin in ihren Käfig setzte.

»Bis Samstag, meine Süße!«, murmelte sie. »Ich kann es gar nicht erwarten, dir dein neues Zuhause zu zeigen.«

Dann küsste sie Quentin freudig erregt.

»Das ist mein schönstes Geburtstagsgeschenk seit zweiunddreißig Jahren. Findest du sie nicht auch zum Anbeißen?«

Quentin lächelte, legte den Arm um ihre Schultern und küsste sie auf die Wange.

»Zum Anbeißen finde ich leicht übertrieben, mein Schatz, aber die Hauptsache ist, dass die Hündin dir gefällt, auch wenn sie eher an eine Kanalratte erinnert.

Erotischer Gynäkologenabend

»Isabelle!«

Zum dritten Mal rüttelte Quentin Isabelle an der Schulter.

»Was ist denn los?!«

Sie hob panisch den Kopf von dem Kissen, das sie wie einen Rettungsring umklammert hielt. In ihrem Gesicht zeichneten sich die Knitterfalten des Bettzeugs ab, und ihre aufgerissenen braunen Augen trugen noch die Spuren der Schminke von gestern. Ihr blondes Haar stand kreuz und quer in alle Richtungen, und sie drehte Quentin das Gesicht eines entsetzten Vögleins zu, das gerade aus dem Nest gefallen ist.

»Es ist Mittag! Dein Casting!«

»Mein Casting? Was für ein Casting? … Ah, verdammter Mist, mein Casting!«

Isabelle warf einen Blick auf den CD-Player, der auch die Uhrzeit anzeigte.

»Das ist gelaufen. Das Casting war um neun.«

Sie zog die Bettdecke über ihren Kopf, fest entschlossen weiterzuschlafen. Quentins Stimme ließ sich wieder vernehmen, beherrscht, aber mit einem Tick Ungeduld.

»Konntest du dir nicht den Wecker stellen?«

»Die Batterie muss leer sein.«

Wie von Zauberhand flog die Bettdecke davon, Quentin hatte sie zum Fußende des Bettes zurückgeschlagen. Isabelle stützte sich auf einen Ellenbogen, rieb ihre Augen und verschmierte noch mehr Wimperntusche.

»Tut mir leid, aber ich bin erst um vier Uhr morgens vom erotischen Gynäkologenabend zurückgekommen.«

»Erotischer Gynäkologenabend?! Ich dachte, du wolltest mit Amina nur was trinken gehen.«

»Stimmt. Aber da war eine Art Party in ihrer Uni. Amina war so deprimiert, dass ich sie ein wenig auf andere Gedanken bringen wollte.«

»Amina hat ihren Doktor in Medizin vor vier Jahren gemacht!«

»Trotzdem, es war spitze: Es wurden sogar Gratis-Spekula verteilt.«

Quentin versuchte, die leichte Verspannung seines Kiefers zu verbergen. Er ließ sich auf die Bettkante fallen, und Isabelle strich ihm mit der Hand über den Rücken.

»Amina ging es wirklich nicht gut. Sie brauchte mich … Bist du böse?«

Da er nicht antwortete, schlang sie ihre nackten Beine um seine Hüften und begann seinen Hals mit Küssen zu bedecken.

»Weißt du was?«, flüsterte sie ihm ins Ohr, »manchmal denke ich, du bist viel zu sexy, zu lieb und zu perfekt, um wahr zu sein.«

Dieses Kompliment schien Quentin nur noch mehr zu nerven.

»Hör auf damit!«, sagte er. »Kannst du nicht mal dran denken, mir wenigstens eine SMS zu schicken, wenn du die halbe Nacht unterwegs bist?«

Isabelle legte ihre Arme um seinen Hals und drängte sich noch dichter an ihn.

»Ich denke immerzu an dich! Der Beweis: Ich bin gestern Nachmittag eine geschlagene Stunde Metro gefahren, nur um dir drei Stück von diesem Schoko-Pistazien-Kuchen aus der Bäckerei Martin-Laurent zu holen.«

Sie streichelte ihn weiter, und die Spannung in Quentins Schultern ließ nach. Er nahm den Kopf der jungen Frau zwischen beide Hände und seufzte. Wenn sie das Gesicht des kleinen verlorenen Mädchens aufsetzte, konnte er nicht lange widerstehen, und er küsste sie auf die Lippen.

»Okay, das mit dem Kuchen ist zwar ein mieser Trick, aber du hast gewonnen.«

Jetzt schien alles wieder in Ordnung, und Isabelle sprang aus dem Bett.

»Ich mache dir jetzt den Brunch des Jahrhunderts, und dann holen wir Woody-Allen aus der Tierhandlung.«

»Dafür haben wir keine Zeit: Wir müssen um vierzehn Uhr bei deinem Kumpel Alexandre sein. Vielleicht danach?«

Isabelle ließ sich mit betrübtem Gesicht auf die Bettdecke sinken.

»Zu dumm, das hatte ich ganz vergessen.«

Mit den Fingerspitzen streichelte sie die markanten Bauchmuskeln ihres Partners. Jedes Mal, wenn sie ihn betrachtete und er keinen Anzug trug, fand sie, dass sie in einem vorigen Leben irgendetwas ganz besonders Gutes getan haben musste, um einen Mann wie ihn zu verdienen. Quentin beugte sich über sie und wickelte eine ihrer blonden Locken um seinen Finger.

»Ich dachte, dein Vorsprechen sei wichtig, mein Schatz …«

Sie zwang sich zu lächeln.

»Ach, weißt du, ich habe hundertdreiundneunzig Mal vorgesprochen, seit ich siebzehn war, das von heute hätte auch nichts weiter gebracht.«

»Man weiß ja nie …«

»Ich hatte sowieso ein schlechtes Gefühl«, sagte sie gekünstelt fröhlich, »bestimmt war es wieder so ein Casting, bei dem sie dir erklären, dass du mit zweiunddreißig zu alt bist, um eine Dreißigjährige zu spielen. Oder auch noch den Schlüpfer ausziehen sollst, weil sie wissen wollen, wie deine Haut im Scheinwerferlicht wirkt.«

»Ich verstehe. Das ist hart. Aber wenn du deine Chance haben willst …«

Ohne ihn aussprechen zu lassen, zog sie ihn an sich und schlug die Bettdecke über beide. Sie wollte diese Unterhaltung nicht weiterführen. Das Leben hatte sie schon früh gelehrt, dass Glück nicht in jede Wiege gelegt wird. Während sie ihn liebkoste, zog sie an den Boxershorts, die er als Schlafanzug trug.

»Zieh das aus!«, flüsterte sie. »Nach dem Abend unter Medizinern habe ich Lust, Doktor zu spielen.«

Geneviève de Fontenay bei einem Konzert von Eminem

Eine Bombe hätte in Alexandre Lemaires Wohnzimmer kaum größeren Schaden anrichten können. Isabelle, die sich so wohlfühlte wie Geneviève de Fontenay bei einem Eminem-Konzert, wich gerade noch einem fliegenden Xylofon aus. Ein mit einem Laserschwert bewaffneter Junge trat ihr auf den Fuß, als er sich mit Gebrüll auf einen eingebildeten Gegner warf. Wo zum Teufel war Quentin, und warum hatte er sie in diesem feindlichen Umfeld allein gelassen? Vorsichtig bewegte sie sich durch den Raum auf die Terrassentür zu. Dabei fiel ihr Blick auf ein kleines Mädchen, das sich hinter dem Sofa versteckt hatte und Alexandres Katze am Schwanz zog. Einen freundlichen fettleibigen Kater namens »Jäger«.

»Man darf Tieren nicht wehtun«, sagte Isabelle schockiert.

Statt einer Antwort hob das Kind die Hand, in der es etwas hielt, das einem ausgerissenen Puppenbein ähnelte, und haute damit dem armen Jäger auf den Kopf. Der miaute empört und suchte das Weite.

Entrüstet über so viel sinnlose Gewalt, nahm Isabelle dem Kind die Tatwaffe ab.

»Was du da gemacht hast, ist sehr böse. Möchtest du vielleicht, dass man dich auch so schlägt, wenn du gerade ruhig schläfst?«

Die Augen der Kleinen weiteten sich voller Unschuld, während sich Isabelle in dem Hochgefühl wiegte, jemandem Respekt für Tiere beigebracht zu haben. Wehmütig dachte sie an Woody-Allen, der stolz auf sie wäre und den sie heute am späten Nachmittag aus der Tierhandlung holen würde.

Kaum hatte sie ihren hübschen Gedanken zu Ende gedacht, als sich der Mund des kleinen Mädchens auftat und ein ohrenbetäubendes Kreischen ertönen ließ, worauf sich achtzehn Augenpaare auf Isabelle richteten. Die Mutter erdolchte sie förmlich mit Blicken.

»Was ist denn jetzt passiert? Sie war doch so brav.«

»MAAMAAAA, DIEFRAUWILLMICHHAUEN!«

Schlagartig dachte niemand mehr daran, sich Häppchen in den Mund zu schieben, und entsetztes Murmeln erhob sich in dem halb verwüsteten Raum, in dem bereits eine Mutter zitternd ihr Handy zückte, wahrscheinlich um »SOS misshandelte Kinder« anzurufen.

»Was geht hier vor?«, fragte die Mutter der Kleinen.

»Deine Tochter hat die Katze geschlagen, und ich habe ihr gesagt, dass sie so etwas nicht wieder tun soll.«

Dieser Feigling von Jäger hatte den Tatort verlassen, und damit gab es für Isabelles Aussage keinen Zeugen mehr.

»Für wen hältst du dich? Du bist nicht hier, um Enola zu erziehen.«

»Stimmt, das solltest eigentlich du tun«, entgegnete Isabelle, verärgert über den aggressiven Ton. »Dann würde sie ihre psychopathischen Triebe nicht an wehrlosen Tieren und Puppen auslassen.«

»Psychopathische Triebe … Das ist doch die Höhe! … Kümmere dich lieber um dein eigenes Leben, bevor du dich in das Leben anderer mischst. Wenn man mit zweiunddreißig als Kassiererin bei McDonald’s arbeitet, ist man wohl nicht gerade eine Autorität in Erziehungsfragen!«

Alexandre – wie immer in der Rolle des tapferen und beschützenden Ritters – ging dazwischen.

»Audrey, Isabelle ist nicht Kassiererin, sondern Schauspielerin, und sie ist Kinder einfach nicht gewöhnt. Sie wollte nur Jäger beschützen.«

Ein tropfendes Babyfläschchen in der einen und einen weißen, mit Schokolade bemalten Kaschmirpullover in der anderen Hand, warf Alexandre Isabelle flehende Blicke zu, als wäre er soeben von der Titanic ins Meer geplumpst. Isabelle atmete tief durch. Sie durfte bei ihrem Jugendfreund keinen Skandal auslösen.

»Tut mir leid, Audrey, ich wollte deiner Tochter keine Angst machen«, sagte sie, »aber lass dir gesagt sein: Es ist keine Schande, als Kassiererin bei McDonald’s zu arbeiten.«

Audrey verschränkte die Arme und stieß mit einem verächtlichen Zucken im Gesicht hervor: »Ich spreche nur aus, was alle denken. Aber jetzt entschuldige dich gefälligst bei Enola!«

Isabelle musste sich mit aller Macht ihre Freundschaft mit Alexandre vor Augen führen, um ihrem Gegenüber nicht den Inhalt ihrer Kaffeetasse ins Gesicht zu kippen. Sie nahm sich zusammen und lächelte Enola zuckersüß an.

»Tut mir leid, Ebola.«

Alexandre biss sich auf die Lippen, um nicht laut loszulachen. Audrey, die offenbar nicht genau hingehört hatte, nickte zufrieden. Die Kleine, wenig nachtragend, machte sich, die Tatwaffe bereits wieder in der Hand, brüllend auf Jäger-Jagd.

Isabelle und Alexandre waren seit der fünften Klasse die besten Freunde. Ihre Wege hatten sich in der elften Klasse kurz getrennt, als er in einem Anfall akuter Verliebtheit eine Schülerin der Abiturklasse des wissenschaftlichen Zweigs namens Johanna schwängerte. Alexandre, der seine Aufgabe offenbar schon damals darin sah, hilflose Mädchen zu retten, meinte, er müsse sich im zarten Alter von sechzehn, minderjährig und mit der Erlaubnis eines Richters, verheiraten. Siebzehn Jahre später hatte er, seit einem Jahr von besagter Johanna geschieden, das Sorgerecht für die drei Kinder erhalten, auch wenn das nicht gerade sein erklärtes Ziel gewesen war. Seine Exfrau war indessen nach Singapur ausgewandert, wo sie ein Start-up aufgezogen hatte und nun Biokosmetik aus Kürbiskernen aus der französischen Provence vertrieb. Da Alexandre in den sechzehn Jahren ihres gemeinsamen Lebens mehr oder weniger auf der faulen Haut gelegen hatte, war seine Lage zugegebenermaßen nicht wirklich ungerecht.

Also lernte er, seinen Kindern, der siebzehnjährigen Gwen, dem fünfjährigen Mathieu und der dreijährigen Leopoldine, ein guter Vater zu sein. Er jonglierte mit Elternpflichten und einem hochwichtigen Job, von dem Isabelle nie etwas begriffen hatte. Über die grässlichen Salzgebäckfiguren seiner Kinder zum Vatertag freute er sich ein Loch in den Bauch, und zwischen seinen Telekonferenzen mit London verbrachte er mindestens dreißig Minuten täglich – seine Paul-Smith-Brille auf der Nase – auf Blogs für Mütter, um herauszufinden, welches Dreirad für die lieben Kleinen das beste war. Für seine Partnersuche stellte er Fotos ins Netz, die ihn immerzu lächelnd und ziemlich gut aussehend von seinen Kindern umringt zeigten und die ihm bei Tinder einen Bombenerfolg bescherten. Die ganz große Liebe zu suchen, dazu fehlte ihm die Zeit. Und während seine Kinder älter wurden, musste sich der arme Alexandre mit sehr viel jüngeren Schönheiten abgeben, für die eine ernsthafte Bindung mit einem Vater dreier Kinder ungefähr so verlockend war wie die Beulenpest.

»Ebola? Also wirklich, wie alt bist du eigentlich?«, fragte er, als Enolas Mutter nicht mehr in Hörweite war.

Isabelle kicherte.

»Auf alle Fälle zu alt für Kindergeburtstage. Kommt Amina nicht?«

»Sie hat in letzter Minute dringenden Bereitschaftsdienst in ihrer Klinik vorgeschoben und uns einfach sitzen lassen. Typische Gynäkologenausrede!«

Alexandre stellte das tropfende Fläschchen ab und nahm Isabelles Hand.

»Komm, wir essen jetzt alle Twix auf, die ich in der Garage versteckt habe, das wird uns aufheitern …«

Das ist ein Joint, keine Nadel

Alexandre machte die Tür zur Garage auf und blieb wie angewurzelt stehen.

»Was macht ihr denn hier?«, fragte er scharf.

Eine rein rhetorische Frage, denn es war mehr als offensichtlich, dass die beiden halbwüchsigen Mädchen auf der Kühlerhaube des Autos einen Joint rauchten. Die eine, mit Nickelbrille, Pferdeschwanz und einem Gesicht, dass man ihr ohne Weiteres zutraute, dass sie komplizierte Differenzialgleichungen im Kopf lösen konnte, war Gwen, Alexandres älteste Tochter. Als Isabelle das zweite Mädchen musterte, hatte sie das Gefühl, sie von irgendwoher zu kennen.

Das junge Mädchen hatte langes california-blond gefärbtes Haar mit dunklen Ansätzen. Ihre hellgrünen Augen waren dunkel geschminkt und erinnerten an den glutäugigen Blick von Penélope Cruz. Trotz der kindlichen Gesichtszüge wirkte sie geradezu sinnlich. Es war äußerst schwierig auszumachen, ob ihre Kleidung aus dem Sortiment eines etwas zu futuristischen Designers oder direkt aus der Mülltonne stammte. Sie trug ein pinkfarbenes, bis zur Oberschenkelmitte geschlitztes Kleid, eine Vintage-Jeansjacke mit goldenen Ellbogenschonern und Boots mit Kreppsohlen. Verblüfft sah sie Isabelle an.

»Du siehst fast so aus wie …«, begann sie.

Dann stieß sie den Rauch durch die Nasenlöcher aus, schloss die Augen und schüttelte den Kopf, als erwache sie aus einem schlechten Traum.

»Gwen, lass diesen Quatsch auf der Stelle!«, befahl Alex. »Und du, Adriana, troll dich nach Hause! Du kannst von Glück sagen, wenn ich deinem Vater nichts erzähle.«

Als Isabelle ihren Namen hörte, fiel ihr wieder ein, wo sie das junge Mädchen schon einmal gesehen hatte: in einer Sendung über junge YouTube-Stars, die mit ihren Videos im Netz großen Erfolg hatten. Vor allem an das Interview mit Adriana Kozlowski-Valentini konnte sie sich gut erinnern, denn sie war die Tochter von Sofia Valentini und Jan Kozlowski, einem französisch-polnischen Regisseur, der in Cannes ausgezeichnet worden war. Sofia Valentini war Isabelles Lieblingsschauspielerin, nicht zuletzt aus dem Grund, weil man ihr schon oft gesagt hatte, sie sei der Valentini wie aus dem Gesicht geschnitten.

Gwen verdrehte die Augen.

»Ist ja schon gut, Papa, das ist ein Joint, keine Nadel. Kein Grund zur Aufregung!«

Adriana zuckte die Achseln, sprang elegant vom Auto und wandte sich an Alexandre: »Sie können meinen Vater gern anrufen, Monsieur Lemaire. Aber das wird ihm ziemlich egal sein.«

»Raus hier, Adriana!«, stieß Alex zwischen den Zähnen hervor.

Er drückte auf einen Knopf, und das Garagentor öffnete sich.

»Einen Moment! Ich bestell mir noch schnell einen Uber«, sagte das junge Mädchen.

Isabelle musste sich das Lächeln verkneifen, während Alexandres Augen vor Wut sprühten.

»Du wartest draußen!«

Adriana ließ sich Zeit und betrachtete Isabelle mit zusammengezogenen Augenbrauen eingehend, als fragte auch sie sich, woher sie sich kannten. Dann ging sie lässig mit dem Smartphone in der Hand zum Ausgang.

»Auf Wiedersehen, Monsieur Lemaire. Ciao Gwen, bis Montag!«, sagte sie und winkte, ohne sich umzudrehen.

Dann entschwand sie aus ihrem Sichtfeld. Wütend sprang Gwen von der Kühlerhaube.

»Ich fasse es nicht! Wie redest du mit meinen Freundinnen?!«

»Ich habe dir schon mal gesagt, dass ich deinen Umgang mit diesem Mädchen nicht gutheiße! Schließlich bezahle ich dir keine teure Privatschule, damit du hier in der Garage Joints rauchst!«

Ohne eine Antwort rannte Gwen aus der Garage. Bedröppelt sah Alexandre ihr nach.

»Meinst du, ich sollte mit ihr sprechen?«

Isabelle lehnte sich lässig ans Auto.

»Vergiss es. Sie ist in der Pubertät.«

Dann schnappte sie sich den Rest vom Joint und nahm einen tiefen Zug.

»Gut, das Zeug!«, meinte sie. »Solltest du auch mal probieren. Würde dich entspannen.«

Alexandre schloss die Garage und sah in etwa so entspannt aus, als würde das Wohl der Menschheit von seiner Fähigkeit abhängen, innerhalb von drei Minuten die Relativitätstheorie zu erläutern.

»Ich glaube, ich bin ein mieser Vater.«

Isabelle strich zärtlich über den Schopf ihres Freundes.

»Hör zu«, sagte sie sanft, »ich habe ja mit Kindern nichts am Hut und will um Himmels willen nicht Mutter werden, aber ich glaube, du bist ein super Papa.«

Aus dem Haus drangen gedämpft die Geräusche des Geburtstagsfests zu ihnen. Alexandre schaute Isabelle an, die mit dem Joint in der Hand an der Kühlerhaube lehnte. Obwohl sie kürzlich ihren zweiunddreißigsten Geburtstag gefeiert hatte, wirkte sie mit ihrer verwaschenen Jeans und den Converse-Turnschuhen kaum älter als Gwen.

»Natürlich wirst du Kinder bekommen. Du hast ja auch immer gesagt, du würdest nie mit einem Mann zusammenleben wollen, weil das mit deiner Karriere nicht vereinbar sei, und dann bist du doch zu Quentin gezogen.«

»Eben, und schon habe ich keine Karriere mehr …«

»Du hattest nie eine. Nebenbei bemerkt, denke ich, dass du mit der betroffenen Person bald mal darüber reden solltest, wenn du wirklich keine Kinder willst. Die scheint mit Kindern nämlich eine ganze Menge am Hut zu haben, wie du es ausdrücken würdest.«

Alex deutete mit dem Kinn auf das Garagenfenster. Quentin stand, von Kindern umringt, mit einem Ball in den Händen im Garten. Unter dem Dreitagebart glühte sein Gesicht vor Aufregung. Mit leuchtenden Augen und energischer Stimme sprach er zu der kleinen Bande, die ihm andächtig lauschte.

Als er den Ball hochwarf, rückte sie ihm wie eine Horde Zombies auf die Pelle, als gelte es, den letzten auf der Erde noch lebenden Menschen untereinander aufzuteilen. Er verteidigte sich und warf Enola lachend den Ball zu. Die rannte quietschvergnügt im Zickzack bis ans Ende des Gartens, wo jemand mit zwei Pulloverhaufen das Tor abgesteckt hatte.

Quentin? Kinder? Er hatte das Thema mehrmals angeschnitten, doch Isabelle hatte nie geglaubt, dass er es ernst meinte. Entmutigt saugte sie nochmals an dem Joint.

»So weit sind wir noch gar nicht.«

»Wie lange seid ihr schon zusammen? Fünf Jahre?«

»Ach was … Seit …« Sie zählte an den Fingern ab. »Tatsächlich, fünf Jahre«, stellte sie verwundert fest.

»Glaub mir, ihr solltet jetzt darüber sprechen, und nicht erst in drei Jahren.«

»Meinst du wirklich, er will Kinder? Wir haben uns gerade einen Hund angeschafft …«

Alexandre öffnete eine Twixpackung und musste über den verwirrten Gesichtsausdruck seiner Freundin lachen.

»Ich bitte dich, Isabelle, alle wünschen sich doch Kinder.«

Durch das Fenster beobachtete sie Quentin eine Weile, und ohne Vorwarnung, wie ein Schnupfen im August, überfiel sie das schlechte Gewissen.

»Ich nicht«, murmelte sie.

Willst du einen MacMorning?

Adriana Valentini stieß die Tür zum McDonald’s auf. Das Fast-Food-Restaurant war leer und es stank nach Fritten. Sie schaute von einer Kasse zur nächsten, fast alle waren unbesetzt. Dann ging sie auf die zu, hinter der Isabelle mit aufgestütztem Ellenbogen und einer so freudlosen Miene stand, als stecke sie mitten in einer Steuerprüfung.

Adriana hatte sich nicht geirrt. Die junge Frau, die sie bei Gwen getroffen hatte, mochte zwar blond sein, aber die Ähnlichkeit mit ihrer eigenen Mutter war verblüffend. Blondierte Strähnen schauten unter der McDonald’s-Kappe hervor, und wenn sie nicht lächelte, gaben ihr die Ringe unter den großen dunklen Augen einen tragisch-poetischen Ausdruck, der Adriana höchst vertraut war.

Adriana grinste entzückt. Ganz zufällig war sie in der Garage bei Gwen Lemaire auf die Lösung all ihrer Probleme gestoßen. Einen Joint zu rauchen, brachte einfach alles in Ordnung, sollte man meinen.

Eben noch in ihren Gedanken versunken, richtete sich Isabelle plötzlich auf.

»Hallo, wir kennen uns doch … Adriana? Richtig?«

Vor Adrianas Gesicht bildete sich eine riesige Kaugummiblase, die sie auf den bonbonrosa geschminkten Lippen geräuschvoll zerplatzen ließ.

»Richtig. Wir haben uns kürzlich bei Gwen gesehen. Sie sagt, du bist Schauspielerin.«

»Stimmt. Was möchtest du essen?«, fragte Isabelle geschmeichelt, weil Gwen mit ihren Freundinnen über sie sprach.

Adriana zog ein iPhone 7 aus ihrer Louis-Vuitton-Tasche und lehnte sich über den Tresen.

»Nichts. Darf ich?«

Bevor Isabelle antworten konnte, stand sie schon Wange an Wange mit der Teenagerin da, als seien sie die besten Freundinnen. Lächeln. Klick.

Mit Expertenblick studierte Adriana das Foto.

Auf dem Bild wirkte Isabelle überrascht und – das musste man zugeben – ein bisschen blöde.

»Für mein Instagram«, erklärte Adriana.

Isabelle wurde vor Freude rot.

»Ach, weißt du, so bekannt bin ich nun auch wieder nicht …«

Adriana sah sie verständnislos an und brach dann in Gelächter aus.

»Oh nein, ich weiß … Deshalb habe ich das Foto auch nicht gemacht! Es ist gut für mein Image, wenn ich ab und zu Selfies mit … normalen Menschen poste.«

Isabelle war nicht sicher, was das Wort »normal« in Adrianas Sprache bedeutete, aber ein Kompliment war es sicher nicht. Adriana postete das Foto, dann hob sie den Kopf.

»Du kannst dich freuen! Ich habe ein hochinteressantes Angebot für dich.«

Verärgert über so viel Herablassung, verschränkte Isabelle die Arme.

»Nein danke, das ist sicher nichts für so ›normale‹ Leute wie mich.«

»Sei doch nicht bescheuert, du weißt ja nicht mal, was ich dir vorschlagen will. Du bist Schauspielerin, und stell dir vor, ich habe eine Rolle für dich.«

Misstrauisch betrachtete Isabelle das Gesicht der Jugendlichen. Unter den mit Khol geschwärzten Lidern blickten die hellgrünen Augen äußerst ernsthaft drein. Immerhin war Adriana die Tochter eines Regisseurs und eines Filmstars, da war es gar nicht so abwegig, dass sie vielleicht wirklich einen Job für Isabelle hatte.

»Eine Rolle?«, fragte Isabelle vorsichtig.

Adriana blickte sich um und sagte leise: »Weißt du, dass du meiner Mutter total ähnlich siehst?«

Isabelle hatte sich immer darüber gefreut, mit Sofia Valentini verglichen zu werden, schließlich war die Schauspielerin schön und talentiert. Diesmal aber stimmte sie das Kompliment eher traurig, denn Adrianas Mutter hatte vor vier Jahren in einem italienischen Luxushotel Selbstmord begangen. Die Nachricht war damals durch die gesamte Presse gegangen. Isabelle hatte nicht die geringste Ahnung, wie sie einer Siebzehnjährigen, die soeben ziemlich abgebrüht bemerkt hatte, dass sie ihrer toten Mutter ähnlich sehe, ihr Mitgefühl ausdrücken konnte.

Also sagte Isabelle einfach das Nächstbeste: »Möchtest du einen MacMorning?«

Als hätte Adriana genau diese Antwort erwartet, erwiderte sie: »Nein, der ist eklig, aber ich nehme einen Big Mac und einen Cheeseburger, vorausgesetzt, du hörst mir zu.«

Isabelle schaute auf die Uhr. Es war Zeit für ihre Mittagspause. Adriana bestellte eine große zuckerfreie Cola zu ihrem Essen, und Isabelle setzte sich mit einem Becher Sprite zu ihr an den Tisch. Wegen einer üblen Gastritis nach dem Kindergeburtstag bei Alexandre hatte sie in den letzten drei Tagen so viel Cola trinken müssen, dass ihr allein das rot-weiße Logo Übelkeit bereitete.

Adriana leerte vier Beutel Mayo und Ketchup aufs Tablett und verrührte das Ganze mit dem Strohhalm zu einer zweifarbigen Pampe, wickelte dann geschickt ihren Cheeseburger aus, tunkte ihn in die Pampe und nahm einen Riesenbissen.

»Ich erkläre es dir«, sagte sie mit vollem Mund. »Mein Vater heiratet demnächst Colombe de la Fontardière.«

»Ach ja?«, antwortete Isabelle gerührt.

»Das hat Closer letzte Woche veröffentlicht. Die beiden sind seit sechs Monaten zusammen.«

»Herzlichen Glückwunsch, du bekommst eine neue Mutter.«

Adriana legte ihren Cheeseburger vorsichtig aufs Tablett zurück. Sie beugte sich vor, und der »Peace and Love«-Anhänger mit falschen Diamanten, den sie an einer Kette um den Hals trug, landete in der Ketchup-Mayo-Pansche.

»Lieber sterbe ich, als dass ich ihn diese blöde Kuh heiraten lasse.«

Weshalb Adriana ausgerechnet ihr, die von Tuten und Blasen keine Ahnung hatte, all das erzählte, entging Isabelle gänzlich. Aber nach drei Tagen im Bett und einem Vormittag, dessen Höhepunkt darin bestanden hatte, dass ein Kunde eine Schachtel mit neun Chicken McNuggets bestellte, nahm diese Unterhaltung eine Wende, die Isabelle neugierig machte. Ohne zu fragen, schnappte Adriana sich Isabelles Serviette, rieb damit ihren Anhänger sauber und fuhr fort: »Die hat ihn einer Gehirnwäsche unterzogen und ihn mit Tantrasex und veganen Smoothies gefügig gemacht. Sie interessiert sich nur für seine Kohle, könnte vom Alter her seine Tochter sein und hat die Ausstrahlung eines Badezimmermülleimers. Was hältst du von zehntausend Euro?«

»Für eine Cola und einen Big Mac? Ist das nicht ein bisschen viel?«

»Hör auf! Ich meine es ernst. Ich biete dir zehntausend Euro, wenn du ihnen die Hochzeit vermasselst.«

Isabelles Blick suchte nach einer versteckten Kamera, während Adriana sagte: »Das ist die Rolle, von der ich gesprochen habe: Du sollst meinen Vater verführen, damit er diese Tussi verlässt.«

Isabelle kaute auf ihrem Strohhalm. Ganz offensichtlich war das alles nur ein schlechter Witz, aber was war der Zweck? Gereizt stopfte sich Adriana eine Handvoll Fritten in den Mund.

»Ich hab es dir ja gesagt, du siehst meiner Mutter ähnlich. Natürlich kannst du ihr nicht das Wasser reichen, das ist klar, aber ich weiß, dass du meinem Vater gefallen würdest.«

»Du machst dich wohl über mich lustig.«

Das junge Mädchen seufzte verstimmt und schob sich den letzten Bissen Cheeseburger in den Mund.

»Sag mir, wenn ich falschliege, aber was deine Filmkarriere angeht, scheint mir, dass du an einem ziemlichen Tiefpunkt angelangt bist. Und wenn ich mir deine Klamotten so ansehe, glaube ich nicht, dass du es dir leisten kannst, zehntausend Euro auszuschlagen.«

Isabelle presste die Hände auf ihre Schläfen. Sicher delirierte sie. Sie hatte doch gleich gewusst, dass der Arzt sie noch länger hätte krankschreiben sollen. Sie entgegnete: »Du rauchst wohl zu viele Joints. Schluss mit dem Unsinn. Du bist verrückt.«

Adriana legte eine Visitenkarte neben den Pappbecher und lächelte. Ein paar Sekunden lang sah sie tatsächlich aus wie eine Siebzehnjährige.

»Denk gut drüber nach. Zehntausend Euro für zwei Wochen Arbeit.«

»Ich habe bereits drüber nachgedacht. Die Antwort ist Nein.«

Adriana hob ungläubig eine Augenbraue.

»Selbst für eine verkrachte Schauspielerin wie dich wäre das ein Kinderspiel. Warum lehnst du das Angebot ab?«

Isabelle knallte ihren leeren Sprite-Becher auf den Tisch und lehnte sich vor.

»Weil wir uns überhaupt nicht kennen. Ich mag eine verkrachte Schauspielerin sein, aber deswegen weiß ich trotzdem, dass deine Idee größenwahnsinniger Schwachsinn ist. Deshalb!«

Adriana musterte sie vom Scheitel bis zur Sohle. Dann zuckte sie sichtlich enttäuscht die Achseln und stand auf.

»Ruf mich an, wenn du es dir anders überlegst!« Damit verschwand sie hinter der Glastür, ohne ihr Tablett abgeräumt zu haben.

Sprechstunden nach Vereinbarung

Nicolas blickte auf das goldglänzende Schild am Eingang des Pariser Luxuswohnhauses, und wie jede Woche brauchte er eine ganze Weile, um die Inschrift zu entziffern:

DOKTOR RENOIR – KINDERPSYCHOLOGESprechstunden nach Vereinbarung

Er umklammerte Nanous Hand. Sie drückte die seine zärtlich, und gleich fühlte er sich etwas besser.

Beim Anblick des blauen Tischchens mit den unfertigen Ausmalbildern im Wartezimmer ging der Atem des kleinen Jungen schneller. Ein paar Kinder vergnügten sich mit Feuerwehrautos und halb kahlen Puppen, die wohl zu lange in Kisten gelegen hatten und nach Staub rochen. In der Schule spielten die anderen Kinder auch nie mit ihm, warum sollten sie es hier tun?

Er nahm seine Brille mit den runden Gläsern ab und schob sie in die Tasche seiner Jeans. Die dunkelblonden Locken bildeten einen willkommenen Schutzvorhang vor seinen Augen. Um ihn herum wurden die Konturen weicher, die Welt verschwamm auf beruhigende Weise.

»Wir sind dran«, sagte Nanou.

Etwas Anheimelndes ging von Nanous dunklem Haarknoten aus. Sie trug ihn immer, genau wie ihre dunkelblauen Kostüme und die riesige, etwas altersschwache Einkaufstasche, aus der sie jederzeit, je nach Bedarf, ein Taschentuch, einen Keks oder Orangensaft für ihn oder seine Schwestern hervorzauberte. Nicolas wusste, dass sie immer da sein würde, in der Nacht, am Wochenende, in den Ferien und auch an allen Feiertagen. Sie war das einzig Zuverlässige, das er in seinem Leben kennengelernt hatte.

Doktor Renoir trug im Gegensatz zu den Ärzten im Fernsehen keinen Kittel. Er maß auch nie Nicolas’ Temperatur und begann stets mit dem gleichen Satz: »Guten Tag, Nicolas. Du brauchst nicht zu sprechen, hier bist du in Sicherheit. Du kannst zur Antwort einfach nicken, okay? Wie geht es dir heute?«

Von allen Doktoren mochte er diesen am liebsten. Vor allem weil er niemals jene unschuldige Frage stellte, die ihn auf der Stelle lähmte. Fünf Worte, die auf ihn wirkten wie ein Fluch: »Hast du deine Zunge verschluckt?« Wenn er diese Worte hörte, zog sich seine Zunge – wie eine Schnecke in ihr Haus – sofort in die Mundhöhle zurück und klebte am Gaumen, als habe sie Angst, verschluckt zu werden.

»Nicolas, in diesem Sommer muss Nanou im Krankenhaus operiert werden, und sie kann nicht wie sonst mit euch in die Ferien fahren.«

»Hab keine Angst!«, flüsterte Nanou und hielt seine Hände fest in ihren.

Doch je öfter sie den Satz wiederholte, umso mehr fürchtete er sich. In Krankenhäusern starben Leute, jeden Tag! Und das nicht nur im Fernsehen.

»Wir finden bestimmt eine Ersatzkinderfrau, eine, die Kinder lieb hat wie Mary Poppins. Du erinnerst dich doch an Mary Poppins?«

Die war ihm völlig egal. Ohne Nanou konnte er nicht in die Ferien fahren. Er konzentrierte sich auf den offenen Schnürsenkel seines rechten Turnschuhs, bis die Stille in seinem Kopf alle Außengeräusche verschlungen hatte. Niemand hört jemandem zu, der nicht spricht, jetzt wollte er auch nicht mehr zuhören. Leider schafften die Geräusche es immer wieder, die Stille zu durchbrechen. Zunächst das Kratzen des Füllers auf einem Blatt Papier, dann die gedämpften Kinderstimmen, Absätze auf dem Parkett … Als würde jemand ein kaum hörbares Radio immer lauter drehen. Der Doktor hatte die Tür geöffnet. Nicolas sollte im Wartezimmer warten. Seitdem waren zwanzig Minuten vergangen. Er hatte keine Ahnung, was sich in dieser Zeitspanne zugetragen hatte.

Da Nicolas nicht sprach, dachten die meisten Leute, er sei taub, und redeten in seiner Gegenwart ohne jede Scheu. Nicht so Doktor Renoir. Doch inzwischen hatte der kleine Junge es aufgegeben, an der Tür zu lauschen und mitzuhören, was nicht für ihn bestimmt war, denn alle Ärzte, zu denen man ihn gebracht hatte, verwendeten die gleichen Worte, wie »selektiver Mutismus«, zum Beispiel. Dann folgten andere komplizierte Worte, die für ihn wie Apfelmus klangen – Kognitivismus, Hypnomus, Verhaltensmus …

Champagner, ja bitte oder Champagner, nein danke?

Isabelle betrachtete das winzige Kästchen unter ihrer Serviette mit dem gleichen Entsetzen, als hätte sie dort eine Macarena tanzende Kakerlakenfamilie entdeckt. Rasch legte sie die Serviette zurück. Das war knapp. Bestimmt hatte man sie an den falschen Tisch gesetzt. Gut, dass niemand etwas gesehen hatte.

»Isabelle …«

Verstört sah sie zu Quentin hinüber. Er hatte es gesehen. Nein, schlimmer, er wusste Bescheid. Noch schlimmer: Quentin war dafür verantwortlich! Ein paar endlose Sekunden lang stand die Zeit still.

Tief durchatmen!

Isabelle legte die Hände auf ihre Wangen, die eine Hitzewelle mit hektischen Flecken überzogen hatte.

Quentin strich nervös über seinen jungen Bart.

Er wird mich verlassen. Nein, das wäre absurd! Man versteckt doch kein mit dunkelblauem Samt bezogenes Kästchen unter der Serviette der Person, die man verlassen will.

Als sie daran dachte, kicherte sie nervös und albern los.

»Madame, Monsieur, guten Abend.«

Himmel sei Dank, der Kellner!

»Mademoiselle«, berichtigte ihn Isabelle in einem aggressiven Ton, der sie selbst erstaunte.

Der Kellner fiel förmlich in sich zusammen, das runde Gesicht wurde feuerrot, und kleine Schweißperlen erschienen auf seiner Stirn.

»Oh, das tut mir leid, ich wusste ja nicht …«, stammelte er, »entschuldigen Sie bitte, Mada… Mademoiselle. Es ist mein erster Tag.«

Er legte die Speisekarten auf den Tisch und flüchtete in die Küche. Quentin nahm Isabelles Hand.

»Isabelle …«

Es war verrückt, aber Quentins ernster Ton erinnerte sie an den Tag, an dem ihr Exfreund Denis sie verlassen hatte. Sie war zweiundzwanzig gewesen, als sie ihn kennenlernte, er einundvierzig. Denis, der »Stecher«, wie ihn Amina nannte, war schon stoned, sobald er aufstand (gegen vierzehn Uhr), und der Zustand hielt an, bis er schlafen ging (einundzwanzig Uhr dreißig). Er war einer von den Leuten, bei denen man nie wusste, ob sie freigeistige Genies oder totale Knallköpfe waren. Jedenfalls fand Denis, dass Isabelles Kinobesuche zweimal die Woche eine gute Gelegenheit waren, seinerseits zweimal die Woche Sex mit seiner Assistentin einzuplanen. Das wirkliche Leben ist voller Klischees, im Endeffekt sogar mehr als das Kino. Ein unvorhergesehener Streik der Pariser Filmvorführer brachte alles an den Tag: Isabelle kam nach Hause und fand besagte Assistentin nackt bis auf die Pumps auf dem Küchentisch, und Denis sagte nur lakonisch: »Isabelle, mein armer Liebling! Du siehst ganz richtig. Es ist genau das, wonach es aussieht, so unglaublich es dir erscheinen mag.«

Aber Quentin war genau das Gegenteil von Denis. Selbst Amina hatte nichts an ihm auszusetzen. Quentin störte es nicht, an allen Abenden der Woche vor dem Fernseher zu sitzen, Game of Thrones zu gucken und ein Menü aus Würstchen und Ravioli aus der Dose zu verspeisen. Quentin hatte vier Jahre lang geduldig gewartet, bis sie endlich bereit gewesen war, mit ihm zusammenzuziehen. Ohne Murren verbrachte er Weihnachten im Tierschutzverein und hatte noch dazu Woody-Allen akzeptiert. Er ließ sie ihr Leben leben – so chaotisch es auch war. Quentin war perfekt.

Bitte verlass mich nicht!

»Isabelle, es ist jetzt etwa fünf Jahre her, dass …«

»Hast du gesehen? Hier gibt es Austern«, unterbrach sie ihn mit nervösem Gekicher. »Ich glaube, ich nehme Austern. Ich habe seit Ewigkeiten keine mehr gegessen.«

Nun halt doch mal die Klappe! Du hasst Austern.

»Ich dachte, du hasst Austern.«

Wie konnte sie nur so dumm gewesen sein, nicht sofort zu durchschauen, was sich hier anbahnte. Dieses Überraschungsdinner im Restaurant Michel Strogoff mit Blick auf den erleuchteten Eiffelturm und die Tatsache, dass Quentin die Schuhe trug, die sie ihm geschenkt hatte und von denen er fürchterliche Blasen bekam, dazu noch der zweideutige Gesichtsausdruck des Oberkellners, der neben dem Champagnerkübel wartete … Das alles war eine Falle. Und sie war blind hineingetappt.

»Mein Schatz …«

Quentin war entschlossen, aufs Ganze zu gehen – Austern hin oder her –, und nahm ihre Hände.

Lass mich ohnmächtig umfallen!, betete sie.

»Willst du mich heiraten?«

Der Kellner schlich um ihren Tisch herum, bereit, auf ein Zeichen des Oberkellners den Champagner zu kredenzen. Die Pärchen an den Nebentischen unterhielten sich ganz selbstverständlich weiter, als würde die Welt in diesem Moment nicht zusammenstürzen. Quentin wartete, hielt weiterhin Isabelles Hände, und der Blick aus seinen dunklen Augen hüllte sie mit seiner Herzenswärme ein. Isabelle bekam keine Luft mehr, und vor ihren Augen verschwamm alles. Sie öffnete den Mund, rang nach Atem und schloss ihn wieder. Quentin räusperte sich und wartete ab.

Sag was, egal was …

»Danke«, stotterte sie, »das ist wirklich lieb.«

Die Hand des Oberkellners, die gerade nach der Flasche im Kübel greifen wollte, stoppte auf halbem Weg. Das hatte es hier noch nicht gegeben: Champagner, ja bitte oder Champagner, nein danke? Quentin blieb gelassen, zog aber seine Hände zurück. Noch eine seiner guten Eigenschaften: Er regte sich nie auf und blieb immer ruhig und rational, egal was passierte. Verdammt. Es war die Hölle. Warum musste er so perfekt sein?

»Gib mir zwei Sekunden«, flehte Isabelle kaum hörbar.

Sie machte dem Kellner ein Zeichen. Er näherte sich und knetete nervös die Serviette, die eigentlich auf seinem Arm liegen sollte.

»Die Flasche!«, befahl Isabelle, die nun so weiß war wie die Tischdecke.

Mit steifem Nicken gab der Oberkellner sein Einverständnis, und der Kellner stürzte auf den Kübel zu und schnappte sich entschlossen die Flasche Moët & Chandon. Unter Quentins fassungslosem Blick öffnete er sie, nahm zwei Gläser, die in seinen bebenden Händen aneinanderklirrten, und servierte das erste Glas. Er schenkte gerade das zweite Glas ein, als Isabelle das erste bereits in einem Zug ausgetrunken hatte.

»Noch eins!«, sagte sie und hob ihr leeres Glas.

Der Kellner gehorchte und stellte anschließend die Flasche in den Eiskübel zurück. Dann verbeugte er sich steif und schlug die Hacken zusammen.

»Wohl bekomms! Ich komme wieder, wenn Sie Ihre Wahl getroffen haben.«

Isabelle kippte das zweite Glas ebenso schnell hinunter wie das erste und stellte es neben ihren Teller.

»Quentin, ich muss dir etwas sagen.«

Er hatte sich in seinem Sessel zurückgelehnt und sah sie nun mit verschränkten Armen abwartend an. Seinen Champagner rührte er nicht an. Isabelle atmete tief durch. Quentin war nicht berechnend, er war ehrlich, und sie musste es auch sein. Sie beugte sich vor und murmelte: »Ich kann dich nicht heiraten. Ich bin nicht sicher … Ich weiß nicht, ob ich dafür geschaffen bin … Und willst du eigentlich Kinder?«

Die Frage überraschte ihn, und er brauchte eine Weile, bis er antwortete: »Vielleicht nicht sofort, aber ja, ich habe immer davon geträumt, irgendwann Kinder zu haben.«

»Siehst du, genau das habe ich befürchtet. Stell dir vor, ich habe nämlich vor Kurzem festgestellt, dass ich Kinder HASSE!«

Sie hatte die Betonung ganz auf das Wort Hass gelegt, um ihr Argument zu untermauern. Quentin machte den Mund auf, als wollte er antworten, überlegte es sich dann anders und machte ihn wieder zu. Dann nahm einen großen Schluck Champagner.

»Das sagst du jetzt wegen deiner tragischen Kindheit, aber ich glaube …«

»Fang bloß nicht mit dieser Geschichte an!«, unterbrach ihn Isabelle aufbrausend. »Das hat damit nichts zu tun. Es ist nur einfach so, dass ich mir nicht vorstellen kann, jemals Kinder zu haben, und es wäre nicht richtig, dich zu heiraten, wenn du dir welche wünschst. Das ist alles.«

Quentin nickte und schlug verzagt die Menükarte auf. Isabelle bedauerte bereits ihre harten Worte und spürte, wie Verzweiflung in ihr aufkeimte.

»Natürlich liebe ich dich, aber ich dachte, wir könnten einfach so zusammen sein, du, ich und Woody-Allen, bis … und ohne …«

Sie deutete auf ihre Serviette, unter der die Bombe im dunkelblauen Samtgewand tickte.

Quentin klappte die Karte zu.

»Bis wann? Ich bin sechsunddreißig, und wir sind jetzt seit über fünf Jahren zusammen. Meinst du nicht, du hättest mich früher darüber in Kenntnis setzen können, dass du nicht vorhast, dein Leben mit mir zu teilen?«

Er hatte sehr laut gesprochen, was gar nicht seine Art war, und Isabelle fühlte sich auf der Stelle schuldig. Das Letzte, was sie wollte, war, ihm wehzutun.

»Es tut mir ja so leid. Ich wusste nicht, dass wir schon an diesem Punkt angelangt sind. Wir haben doch gerade erst einen Hund adoptiert.«

»Schon? Nach ganzen fünf Jahren? Und in unserem Alter? Aber du …«

»Haben Sie Ihre Wahl getroffen?«, fragte der Kellner, der, Block und Stift in der Hand, wieder neben ihrem Tisch aufgetaucht war. Quentin griff nochmals zur Karte und bestellte dann das Erstbeste.

»Ein Menü Experience, bitte.«

»Fünf oder sechs Gänge?«

»Fünf!«

»Und was darf es für Madame, äh, Mademoiselle sein?«

»Das Gleiche«, gab Isabelle unbeteiligt von sich.

»Möchten Sie einen Wein dazu? Mit Verlaub, meine Empfehlung wäre da ein Château-La …«

»Für mich einen dreifachen Whisky pur!«, unterbrach ihn Quentin.

»Für mich auch«, schloss Isabelle sich an.

»Großartige Wahl zur Goldbrasse, wirklich. Das ist mal was Originelles. Vielen Dank.«

Der Kellner zog mit der Menükarte und seiner Serviette ab, die sich vom vielen Kneten in einen feuchten Lappen verwandelt hatte.

Das Kästchen lag immer noch auf Isabelles Teller.

»Du hast mir nie gesagt, dass du keine Kinder willst. Woher kommt diese Abneigung?«

Isabelles Handbewegung drückte Ratlosigkeit aus. Sie hatte einfach nie das Bedürfnis verspürt, Mutter zu werden. Aber wie sollte sie das erklären? Die eigentliche Frage war doch, warum sich bis heute die Ansicht gehalten hatte, es sei die Bestimmung der Frau, Kinder zu bekommen, obgleich für das Selbstbestimmungsrecht der Frauen Unmengen von Büstenhaltern verbrannt worden waren …

Während sie darauf warteten, dass der Kellner mit den beiden Whiskys zurückkam, hatte Isabelle Zeit nachzudenken. Sie wählte die Erklärung, die am wenigsten Zündstoff bot.

»Es ist mit meiner Karriere nicht vereinbar.«

Quentin biss sich auf die Lippen. Als er Isabelle kennengelernt hatte, hatte sie oft Stunden im Bad verbracht und Rollen auswendig gelernt, von denen sie glaubte, dass sie sie vielleicht eines Tages spielen würde. Ganze Stapel an Drehbüchern hatte sie sich zu Gemüte geführt. Darüber hinaus hatte sie gratis in Kurzfilmen von Studenten mitgespielt, um ihr Book zu füllen, und jeden Tag das Internet nach Castinganzeigen durchforstet … Doch in den letzten beiden Jahren hatte ihr Eifer erheblich nachgelassen. Ob es an den Fehlschlägen und Enttäuschungen lag? Jedenfalls waren ihre Castings rar geworden.

Damals hatte Isabelle sich mit ein paar Werbespots pro Jahr und kleinen Nebenrollen in mittelmäßigen Serien durchgeschlagen. Ab und zu bot ihr Agent ihr einen schlecht bezahlten Job an, gerade mal so viel, um sie bei der Stange zu halten, aber auch nicht zu viele, um seinem eigenen Ruf nicht zu schaden. Die beste Rolle, die Isabelle je gespielt hatte, war ihre allererste Rolle gewesen, in dem Film Sechzehneinhalb. Sie war damals fünfzehn und spielte eine verwahrloste Teenagerin, die bei Pflegeeltern untergebracht wird, anfängt, Drogen zu nehmen und ins Kleinkriminellenmilieu abrutscht, bis sie von einer Sozialarbeiterin auf den rechten Weg zurückgeführt wird. Der Film war nicht besonders gewesen, aber Isabelle hatte in der Rolle brilliert. Sie drückte eine Art Reinheit aus, die den Zuschauer zutiefst berührte, und sie spielte das junge Mädchen in dieser komplizierten Phase zwischen Kindheit und Erwachsenwerden einfach perfekt. Mal wirkte sie wie fünfzehn, mal wie fünfundzwanzig. Doch diese Rolle – das hatte Quentin bald verstanden – war im Grunde ein Fluch gewesen, denn sie hatte Isabelles Entscheidungen und ihren Lebensstil erheblich beeinflusst. Ohne diese erste Rolle hätte sie schon längst die fixe Idee, unbedingt Schauspielerin werden zu müssen, aufgegeben. Doch diese Zeit war in ihrer ansonsten eher finsteren Jugend die glücklichste gewesen. Und so hatte Isabelle sich, überzeugt, das Schicksal habe ihr den Weg gewiesen, in den Kopf gesetzt, Schauspielerin zu werden.

Er trank einen Schluck Whisky.

»Könntest du dir vielleicht vorstellen, einen ganz anderen Job im Filmbereich zu machen? Ich meine, statt Schauspielerin zu werden. Die Frau eines Kollegen arbeitet bei einem Filmverleih im Marketing, und sie sucht eine Assistentin, die …«

»Rede doch nicht mit mir wie mit einer deiner Kundinnen. Ich will Schauspielerin werden, seit ich fünfzehn war, ich habe für meinen Traum alles geopfert. Abgesehen davon habe ich kein Abitur.«

Quentin fuhr sich mit der Hand durch sein Haar, ein Zeichen, dass er langsam wütend wurde.

»Isabelle, ganz ehrlich, ich weiß, dass du das nicht hören willst, aber dieser Wahn ist reichlich … kindisch. Wenn das wirklich der Grund ist, weshalb du nicht heiraten und keine Kinder haben willst, dann …«

»Als Vorspeise hätten wir hier einmal die marinierte Goldbrasse mit Gemüse …«

In jeder Hand eine Schale balancierend, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, erinnerte der Kellner stark an eine ägyptische Reliefstatue. Er wollte eine der Schalen auf Isabelles Teller abstellen, doch dort stand immer noch das Kästchen. Also stellte er zunächst Quentins Schale ab und schob das Kästchen mit der nun freien Hand zwischen die beiden, um auch die zweite Schale abstellen zu können.

»Wohl bekomms …«

»Danke«, sagte Quentin und wandte sich wieder an Isabelle. »Mal ganz ehrlich! Wenn es dir wirklich mit deiner Karriere als Schauspielerin ernst gewesen wäre, würdest du mit deinen zweiunddreißig jetzt ganz anders dastehen. Aber wenn es nur eine faule Ausrede ist, nur um mich nicht zu heiraten, dann wäre es mir lieber, du würdest es ehrlich sagen, statt vorzuschieben, dass du keine Kinder willst.«

Verärgert hob Isabelle abwehrend eine Hand.

»Du willst, dass ich ehrlich bin? Na gut. Ich finde eine Entbindung widerlich. Ein Ding im Bauch zu haben, das alles zerreißt, wenn es herauskommt, ekelt mich an. Du hast doch Alien gesehen, oder? Genau so stelle ich es mir vor. Man muss doch völlig verdreht sein, um so etwas schön zu finden.«

»Na und? Wir können ja auch ein Kind adoptieren.«

Wenn er so weitermacht, fange ich gleich an zu heulen.

»Kinder brüllen den ganzen Tag, und wenn sie gerade mal nicht brüllen, muss man so tun, als könnte man mit ihnen Gespräche führen. Und die haben weder Hand noch Fuß. Kinder nehmen zu viel Raum ein und sorgen für Beziehungskrisen. Ihretwegen bekommt man Stress, man wird alt und hat keine freie Minute mehr. Das versaut einem das ganze Leben.«

Dieser Ausbruch war durch und durch aufrichtig. Immer, wenn Isabelle keine gute Antwort einfiel, posaunte sie einfach die ganze Wahrheit heraus. Quentin wusste nicht, was er darauf noch antworten sollte.

Schweigend verzehrten sie ihre Vorspeise. Der Kellner kam wieder, um abzuräumen, stellte fest, dass das Kästchen den Platz immer noch nicht gewechselt hatte, und zog verwundert eine Braue hoch. Isabelle fröstelte. Sie wollte nicht mehr darüber sprechen. Lieber so weitermachen wie bisher: Woody-Allen, Quentin und sie, mit ihren Fernsehserien am Abend, ihren Kuschelwochenenden zu zweit und dem sonntäglichen Ausschlafen. Es war doch alles so gut gelaufen, und sie waren glücklich gewesen.

Plötzlich hob Quentin den Kopf, und Isabelle stellte unglücklich fest, dass sie ihn noch nie so verzweifelt gesehen hatte.

»Ich wollte dich heiraten und mit dir Kinder in die Welt setzen«, sagte er.

Isabelle hatte das Gefühl, in ihrem Innern scheppere etwas wie zerbrechendes Porzellan. In ihrem Hals bildete sich ein Kloß, und Tränen schossen ihr in die Augen.

Der Oskar für den zauberhaftesten Mann der Welt geht an Quentin Lefèvre in der Rolle des perfekten Partners, der von seiner bescheuerten Freundin zurückgestoßen wird. Begeisterte Fans reißen ihm bereits die Klamotten vom Leib, während die verblendete Idiotin für immer aus seinem Leben verschwindet, einsam unter einer Brücke endet und sich nur noch von Kartoffelchips Sorte Hühnchen-Barbecue ernährt.

Sie sah Quentin wieder im Garten in Vincennes vor sich, wie er mit lauter kreischenden Kindern auf dem Rasen spielte, seine neuen Schuhe ramponierte und dabei überglücklich wirkte. Sollten doch ruhig alle Isabelle für eine zurückgebliebene, unreife Möchtegernjugendliche halten, die einem Traum verfallen war, aber sie liebte Quentin zu sehr, um ihn zu belügen. Das konnte sie ihm nicht antun. Sie durfte sein Leben nicht ruinieren.

»Wenn wir nicht das Gleiche wollen«, sagte sie nach einer langen Pause und mit einer Selbstsicherheit, die sie längst nicht empfand, »dann sollten wir uns trennen.«

Mit den Fingerspitzen schob sie das Kästchen über den Tisch neben Quentins Whiskyglas.

»Na gut«, sagte er eisig.

»Es tut mir leid.«

Sie sprang auf, damit er nicht sehen konnte, dass sie gleich in Tränen ausbrechen würde, und rannte zur Garderobe. Sie hoffte, er würde sie festhalten und bitten zurückzukommen, ihr sagen, dass auch er im Grunde keine Kinder wollte und sie überhaupt nicht heiraten mussten, dass sie weiterleben konnten wie bisher, glücklich und ohne Fragen zu stellen, bis an ihr Lebensende. Doch das Einzige, was sie hörte, als sie sich tränenüberströmt entfernte, war die fröhliche Stimme des Kellners: »Gänsestopfleber mit gemischtem Gemüse …«

Die Eleganz einer Kuh, die einen ganzen Heuballen verschlingen wollte

In der großen Wohnung am Boulevard Saint-Germain saß Nicolas im Wohnzimmer auf dem Parkett und rückte die runde Brille zurecht, die ihm auf die Nasenspitze gerutscht war. Gleichzeitig zog er seinen Läufer ans andere Ende des Schachbretts. Der Läufer durfte das, diagonal über das Brett sausen. Den anderen Figuren mangelte es an Misstrauen ihm gegenüber, denn er schien nicht weiter gefährlich. Nicolas zog ausschließlich den Läufer, nie eine andere Figur.

Er war so in das Spiel vertieft, dass ihm vor Aufregung ein wenig Speichel auf den Spiderman-Pyjama tropfte. Seine Mutter, die ihm im Schneidersitz gegenübersaß, lächelte ihm zärtlich zu.

Plötzlich sauste Adriana wie ein Wirbelwind durch den Raum, und Nicolas erschrak. Überraschend nahm sie ihn in die Arme und küsste ihn auf die Wange, was sonst gar nicht ihre Art war.

»Ich habe die Lösung für all unsere Probleme gefunden«, jubelte sie.

Was mochte sie nur in eine derart gute Stimmung versetzt haben? Sie stürzte sich auf den Kühlschrank in der offenen Küche, stapelte eine Flasche Milch, Orangensaft, ein Glas Marmelade sowie ein Paket Toastbrot in ihre Arme und klemmte sich drei Tütchen Nescafé zwischen die Lippen.

»Tschüss! Schönen Tag noch«, flötete sie durch die Zähne.

Ein paar Sekunden später knallte die Eingangstür zu und es kehrte wieder Ruhe ein. Adriana hatte sich mit der Hälfte der gestrigen Einkäufe aus dem Staub gemacht. Nicolas’ älteste Schwester war längst noch nicht selbstständig genug, ihren eigenen Kühlschrank zu verwalten. Sie war gerade mal in die Wohnung einen Stock höher umgezogen.

Nicolas wandte sich wieder seiner Mutter zu, die sich soeben mit zusammengezogenen Brauen über das Schachbrett beugte. Sie besaß die kräftigen Augenbrauen einer Brünetten, gezupft und jeden Morgen mit einem Stift so präzise nachgezogen, wie ein Restaurator das Gemälde der Mona Lisa auffrischen würde. Sie versetzte ein Pferd: schachmatt.

Nicolas seufzte theatralisch. Seine Mutter lächelte selten, und ihre geradezu kindliche Freude, wenn sie gewann, war unbezahlbar. Deshalb ließ er sie immer gewinnen.

Nun schlurfte Zoé, die jüngere der beiden Schwestern, barfuß ins Wohnzimmer. Sie trug eine viel zu weite Jogginghose und ein Star-Wars-T-Shirt mit einem Foto von Meister Yoda und den Worten »Do or do not, there is no try«. Sie fuhr sich mit der Hand durch das wie bei einem Jungen kurz geschorene schwarze Haar, gähnte mit der Eleganz einer Kuh, die versucht, einen ganzen Heuballen zu verschlingen, und warf einen schläfrigen Blick auf das Schachspiel.

»Du hast verloren.«

Mit dieser Feststellung ging sie an den Kühlschrank. Nicolas drehte sich um. Auf der anderen Seite des Schachbretts war niemand mehr. Seine Mutter schien sich in Luft aufgelöst zu haben.

»Scheiße, es ist kein Orangensaft mehr da!«, fluchte Zoé. »Wo ist eigentlich Nanou?«

Nicolas wies mit dem Finger auf einen Zettel auf dem Küchentresen.

Meine Lieblinge,

wie ich gestern schon sagte, habe ich heute um acht Uhr einen Termin beim Arzt wegen meinem Fuß. Bis zum Mittagessen bin ich sicher zurück.

Kuss von Nanou

»Stimmt ja, hatte ich ganz vergessen«, sagte Zoé.

Es erschien ihr sonderbar, dass Nathalie Lambert alias Nanou außerhalb der Wohnung in diesem prächtigen klassizistischen Haus, in dem sie seit dem Tod von deren Mutter mit den Kindern lebte, ein eigenes Leben hatte. Der Vater bezahlte Nanou ein Gehalt, das eines Firmenchefs würdig gewesen wäre, damit sie Tag und Nacht für die drei da war. Er selbst lebte die meiste Zeit im Hotel. Seit dem letzten Weihnachtsfest hatte er den Familienwohnsitz nur zwei Mal betreten.

Die fünfzehnjährige Zoé hatte kürzlich in dem Klatschblatt Closer