Mando - Tabata Grim - E-Book

Mando E-Book

Tabata Grim

4,9

Beschreibung

Mando liebt seinen Job. Als Bondondo ist es seine Aufgabe, traurigen und im Stich gelassenen Kindern wieder neue Freude und Hoffnung zu schenken. In der Welt der Erwachsenen wird er als "imaginärer Freund" bezeichnet, da diese nicht mehr an ihn glauben und ihn deshalb nicht wahrnehmen können. Mando wird stets von einer einzigen Person gesehen - seinem Schützling, also dem Kind welches zum Happy End geführt werden soll, um es mit seinen Worten auszudrücken. Nach jedem erfüllten Auftrag zieht er weiter und lässt ein glücklich gewordenes Kind zurück, welches sich kurze Zeit später nicht mehr an ihn erinnern kann. Die kleine Hannah schwört Mando jedoch, dass sie ihn nie vergessen wird. Jahre später, als sich ihre und Mandos Wege auf wundersame Weise erneut kreuzen, muss Mando feststellen, dass die nun erwachsen gewordene Hannah ihr Versprechen gehalten hat, aber auch, dass das Happy End zu dem er ihr verholfen hat, keins gewesen ist...

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Seitenzahl: 209

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Verlerne nie, wie ein Kind zu lachen und zu träumen, denn wer mit reinem Herzen durchs Leben geht, wird immer wissen, was Glück bedeutet.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 1

Zarter Sprühregen fiel auf das raue Steinpflaster der Straße. Dieser Dienstagmorgen erschien mir irgendwie trister als die Morgen zuvor. Als ich meinen Hut festhielt, um die graue, verhangene Wolkendecke erblicken zu können, spürte ich ein Stechen tief in meiner Brust. In diesem Moment wusste ich: Es ist soweit. Endlich!

Es muss sich paradox anhören, dass ich mich über einen stechenden Schmerz gefreut habe, deshalb muss ich Dir einige Dinge vorab erklären, damit Du meine Geschichte auch richtig verstehen kannst: Also zunächst mal bin ich kein Masochist, so ein gestörter Typ, der auf Schmerzen steht. Um die Wahrheit zu sagen, bin ich gar kein Mensch. Bei den Erwachsenen habe ich verschiedene Bezeichnungen wie zum Beispiel »imaginärer Freund« oder auch »Fantasiefreund« – aber du musst wissen, dass es keinesfalls Einbildung der Kinder ist, dass ich bei ihnen bin, so wie es die Erwachsenen immer zu erklären versuchen, wenn sie eines ihrer Kinder dabei beobachten, wie dieses scheinbar mit der Wand spricht. Nur Kinder, die an mich glauben, können mich sehen. Oder um es genauer zu erläutern: nur Kinder, die in Not sind, die gerade eine schwere Zeit durchmachen und einen Freund brauchen. Dann komme ich ins Spiel. Ich bin für sie da, wenn sie meine Hilfe und Freundschaft dringend benötigen. Es ist meine Aufgabe ein solches Kind über Schmerz und Kummer hinwegzutrösten, es zum Lachen zu bringen, ihm Zuneigung und Freundlichkeit zu schenken. Es gibt sehr viele Wesen meiner Art. Wir nennen uns »Bondondos«. In meiner Welt heißt das übersetzt »Freund der Kinder«.

Vorsichtig tastete ich meine Brust ab. Das Pochen und Stechen wurden immer intensiver. Einer meiner Schützlinge schien ganz und gar verzweifelt zu sein. Ich schnürte die Schnalle meines Mantels enger um meine Hüften und machte mich auf die Suche. Forschend drehte ich mich in alle Richtungen. Um mich herum waren hupende Autos zu hören, die sich gehetzt durch den Verkehr bewegten. Eine Bäckerei in der Seitenstraße öffnete gerade ihr Geschäft. Eine der Verkäuferinnen stellte Stühle unter dem rot-weißen Pavillon herunter, der abseits etwas weiter rechts stand. Sie hatten zuvor kopfüber auf den Tischen geruht. Viel weiter hinten waren ein paar Kinder zu sehen. Drei Jungs alberten und flachsten miteinander und stießen und schubsten sich von links nach rechts. Nein, von ihnen brauchte keiner meine Hilfe. Normalerweise verspürte ich eine Verbindung, war einer meiner Schützlinge in meiner Nähe, aber in dem Moment konnte ich keine finden. Ich hielt noch kurz inne. Die Kirchturmuhr schlug. Ich zählte alle Glockenschläge. Es waren genau acht.

Ich befand mich in der wunderschönen Stadt Bad Homburg in Hessen. Warum ich mir ausgerechnet diesen Ort zum Verweilen und Suchen ausgewählt hatte? Nun, ich hatte bisher immer mal wieder das Bundesland gewechselt. Zuletzt war ich in Nordrhein-Westfalen, Sachsen-Anhalt und Baden-Württemberg tätig gewesen. Davor waren es jedoch andere Länder wie England oder Polen gewesen, in denen ich Freunde gesucht hatte. In all dieser langen Zeit, in der ich schon in diesem Job tätig war, hatte es mich mal hier- und mal dorthin verschlagen. Ich kann nämlich alle Sprachen sprechen. Ich habe sogar schon einmal mit einem Kind aus Spanien über die Gebärdensprache kommuniziert. Ihr Name war Maria und sie war wirklich ein sehr intelligentes Mädchen.

Aber ich schweife gerade vom Thema ab! Tut mir leid. Wo war ich noch gleich stehengeblieben? Ach ja, mein Land war jetzt Deutschland. Ein wenig ungeduldig lief ich eine Seitenstraße entlang. Hier war es noch deutlicher zu vernehmen: Dieses Pochen wurde stärker! Ich befand mich also auf dem richtigen Weg. Oh Mann, war ich neugierig und aufgeregt wegen meines zukünftigen Freundes!

Ich mache diesen Job schon, seit ich denken kann, aber die Nervosität vor jedem neuen Auftrag ist immer geblieben. Bei meinem letzten Freund Jakob bin ich ganze drei Monate geblieben. Jeden Tag haben wir zusammen gespielt. Dabei haben wir immer wieder etwas neues Verrücktes angestellt: Trampolin-Hüpfen, Kissenschlachten oder Fußballspielen im Garten. Oh, wie sehr ich Jakob vermisste! Aber nun war eine andere kleine Persönlichkeit auf meine Hilfe angewiesen.

Ich lief also eine ganze Weile immer weiter geradeaus und merkte, dass mich das Pochen aus dem Stadtzentrum Bad Homburgs hinausführte. Plötzlich hatte ich das Gefühl anhalten zu müssen. Genau hier musste es sein!

Ich biss mir auf die Unterlippe und kratzte mir den Kopf, als ich dieses große Gebäude erblickte: »Landgräfliche Stiftung« war darauf zu lesen. Ein Kinderheim! Mittlerweile wurde dieses stechende Pochen schier unerträglich für mich und ich konnte es kaum noch erwarten, meinen Schützling zu treffen, damit ich von diesen lästigen Begleiterscheinungen endlich erlöst werden würde. Rasch passierte ich den Rasen des Grundstückes und betrat schnurstracks das Gebäude. Neben dem Eingangsbereich erstreckte sich ein langer Flur, dessen gelbe Wände mit selbstgemalten Bildern von Häusern, Sonnen und Männchen verziert waren. Allesamt Kunstwerke von Kindern – unverkennbar und einzigartig…

Ich hatte leider keine Zeit mir diese genauer anzusehen, denn bei jedem Schritt zog sich nun meine Brust schmerzhaft zusammen. Mein Schützling befand sich ganz in meiner Nähe. So etwas Intensives hatte ich lange nicht mehr empfunden. Jakob, mein letzter bester Freund, hatte die Scheidung seiner Eltern verarbeiten müssen. Linda, das Mädchen, auf das ich davor aufgepasst hatte, wurde in der Schule gehänselt. Weißt Du, in meinem Job sind die Situationen und Probleme vielfältig. Ich weiß nie, was mich als nächstes erwartet. Es gibt natürlich auch viele Fälle von Krankheit, häuslicher Gewalt bis hin zu Missbrauch. Mir ist kein Thema fremd. Ich lief die große Wendeltreppe hinauf. Dort oben mussten sich die Zimmer der Kinder befinden, schlussfolgerte ich. Eilig nahm ich gleich mehrere Stufen auf einmal und durchschritt hastig den Flur. Die aneinandergereihten Türen aus Buchenholz sahen sehr neu aus und mussten wohl erst kürzlich erneuert worden sein. Sie wirkten geradezu abstrakt gegenüber den grauen Wänden und Böden, von denen der Putz bereits hinunterfiel. Ein wenig mulmig war mir zumute, als ich mit der Hand an jeder Tür entlangstrich. Lautes Gelächter und Stampfen waren ein paar Meter weiter vor mir zu hören. Einige Kinder spielten ausgelassen Fangen. Doch keines von ihnen schien mich wahrzunehmen. Sie rannten an mir vorbei, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Schließlich trampelten sie die Treppe hinunter.

In Bad Homburg waren Schulferien. So viel hatte ich mittlerweile auch schon mitbekommen. Also schön, dachte ich und lief weiter geradeaus, bis sich auf einmal alles in mir eigenartig verknotete und zusammenzog, als ich bei der vorletzten Tür auf dem Gang angelangt war. Hier drin war also mein nächster Auftrag. Höflich, wie ich nun einmal war, klopfte ich an die Tür. Niemand außer meinem Schützling konnte dieses Geräusch bemerken.

»Herein!«, sagte eine zarte Stimme zaghaft.

Ich tat, wie mir geheißen. Da saß sie auf ihrem Bett, ihr Gesicht war ausdruckslos, doch ebenso wunderschön und lieblich. Das kastanienbraune Haar fiel ihr bis auf die Schultern hinab.

»Hallo!«, sagte ich und kratzte mir verlegen den Hinterkopf. So unsicher war ich vor jedem Auftrag, da ich nie wusste, wie ein Kind auf mich reagieren würde. Bisher hatte ich zwar immer Glück gehabt und war herzlich von ihnen aufgenommen und akzeptiert worden, aber man wusste ja nie…

»Hallo«, sagte das Mädchen nun ebenfalls. Dabei verzog es nach wie vor keine Miene.

»Ähm, mein Name ist Mando. Mando Bondondo. Und wie heißt du?«, fragte ich lächelnd.

Die Kleine musterte mich ein wenig skeptisch von oben bis unten und meinte dann: »Ich heiße Hannah.«

Sogleich nahm ich meinen Filzhut für einen kurzen Moment vom Kopf, verbeugte mich ehrfürchtig, ehe ich ihn wieder aufsetzte, und trat näher heran. Mit großen Augen starrte Hannah mich an und wirkte dabei sehr verunsichert. So schien es mir jedenfalls. Ich entdeckte nun drei niedliche Sommersprossen auf ihrer Nase, die sie frecher wirken ließen, als sie wahrscheinlich war.

»Es freut mich sehr, Hannah«, erwiderte ich fröhlich mit einem Grinsen und setzte mich auf ihr Bett.

Wieder schwieg sie. Das war wahrlich keine einfache Situation für mich. Dieses Mädchen wirkte verschlossen und in sich gekehrt – so war es natürlich bei den meisten Heimkindern, die ich hatte. Zuerst musste ich ihr Vertrauen gewinnen. Als Profi beschloss ich einen meiner berühmten Tricks anzuwenden. Verheißungsvoll sah ich das Mädchen an, griff mit einer Hand in meinen Ärmel und zog einen bunten Blumenstrauß aus Pappmaché hervor. Dann beobachtete ich selbstzufrieden ihren erstaunten Gesichtsausdruck.

»Wow«, flüsterte die Kleine. Tatsächlich hob sie ihre Mundwinkel zu einem Lächeln an.

Ich war glücklich. Sofort führte ich meine kleine Zaubershow fort, indem ich mit einem Fingerschnippen einen Luftballon in meiner Hand erscheinen ließ.

Hannahs Lächeln wurde breiter. »Wie hast du das gemacht?«, wollte sie mit offenem Mund von mir wissen.

»Ein guter Zauberer verrät nie seine Tricks«, antwortete ich lachend und hob eine Augenbraue.

»Woher kommst du, Mando?«

»Ich bin überall und nirgends zu Haus, weißt du. Ich komme zu den Kindern, die mich brauchen und jetzt bin ich bei dir.«

»Du bist nur wegen mir gekommen?«, wollte Hannah ungläubig von mir wissen, wackelte auf ihrem Bett hin und her und verursachte damit ein Knarren.

»Ja«, gab ich zurück und sah ihr lächelnd in die Augen. »Ich möchte von nun an dein Freund sein und werde so lange bei dir bleiben, wie du mich eben brauchst.«

Einen Moment trat wieder Stille zwischen uns ein, bis ein Klopfen an der Tür sie durchbrach.

»Hannah, Kleines! Es hat schon vor einer Viertelstunde Mittagessen gegeben. Möchtest du nicht herunterkommen?«, erklang die freundliche Stimme einer Erzieherin, die während ihres Satzes die Tür geöffnet hatte und eingetreten war. Ich sah mir die Frau ein wenig genauer an. Sie war ausgesprochen groß, gertenschlank, noch jung und ihr krauses Haar schimmerte golden im Tageslicht. »Ich habe dich gerade mit jemandem reden hören«, warf sie schnell hinterher und schaute sich im selben Moment im Zimmer um.

»Ja, mit Mando, meinem neuen Freund«, erklärte Hannah und deutete mit ihrem Kopf in meine Richtung.

»Sie kann mich nicht sehen, Hannah. Nur du kannst das!«, erklärte ich ruhig.

Die Frau trat näher an uns heran, ihre Gesichtszüge waren weich. »Ach so! Mando heißt er? Und wie sieht er aus?«, fragte die Erzieherin schmunzelnd.

»Er ist sehr groß, hat langes dunkles Haar bis zu den Schultern, trägt einen schwarzen Hut und hat ein kariertes Hemd an«, beschrieb Hannah mich äußerst treffend.

»Wie heißt sie denn überhaupt?«, wollte ich nun wissen. Wenn sie so viel über mich erfahren wollte, dann konnte sie mir ja zumindest ihren Namen sagen!

»Er möchte Ihren Namen wissen.«

Die Frau lachte auf. »So, so! Da hast du aber einen sehr neugierigen Freund.«

Einen neugierigen Freund?, dachte ich. Wer stellt denn unentwegt Fragen?

»Na gut, Mando. Mein Name ist Frau Elsbach. Silvia Elsbach«, entgegnete sie amüsiert und schaute durch mich hindurch. »Wenn du zum Essen runterkommst, kannst du deinen Freund gern mitbringen, okay?«

Hannah nickte. »In Ordnung, Frau Elsbach. Ich komme gleich nach unten.«

Silvia strich mit einem Finger über Hannahs Wange. »Schön! Dann bis gleich«, flüsterte sie und verließ einige Sekunden darauf das Zimmer.

Erst jetzt nahm ich mir die Freiheit meinen Blick durch den Raum schweifen zu lassen, wobei die Bezeichnung »Kämmerlein« treffender gewesen wäre. Die Einrichtung bestand aus einem Bett, einem Kleiderschrank sowie einem kleinen Tisch, einem Holzstuhl und einer Kommode, sonst nichts. Nicht ein einziges Spielzeug war zu entdecken. Das war wirklich mehr als trostlos. Die arme Kleine!

Ruckartig sprang Hannah vom Bett. »Komm, Mando! Wir gehen in den Speisesaal und essen eine Kleinigkeit«, sagte das Mädchen fröhlich und nahm meine Hand.

Kapitel 2

Auf dem heutigen Speiseplan der gräflichen Stiftung standen Spaghetti Bolognese und zum Nachtisch gab es Wackelpudding. Ich stellte mich schön brav in eine Ecke und sah Hannah und den anderen Kindern beim Essen zu, nachdem ich ihr erklärt hatte, dass Bondondos nicht essen und trinken mussten. Der Glaube der Kinder war unsere einzige Nahrung. Ich zählte genau acht Mädchen und sechs Jungs, die an einem großen, langen Tisch saßen. Wie ich es auch schon aus anderen Waisenhäusern kannte, waren verschiedene Altersgruppen und Nationalitäten vertreten. Das wilde Geplapper der Jungen und Mädchen war wie Musik in meinen Ohren. Sie alle wirkten in diesem Augenblick trotz der Umstände, in denen sie sich nun einmal befanden, relativ fröhlich. Jeder hatte jemanden zum Reden – außer meiner Hannah. Sie schien eindeutig die Außenseiterin dieser Gruppe zu sein. Aber dafür hatte sie ja jetzt mich.

Erzieherinnen entdeckte ich genau drei an der Zahl, die den Platz am Ende der Tafel eingenommen hatten. Direkt neben Silvia saß eine ältere Dame, die ihr graues Haar zu einem strengen Knoten zusammengebunden hatte. Auf ihrer Nase ruhte eine überdimensional große Brille. Dann war da noch eine stabilere, rothaarige Frau, die ein bisschen ernst dreinschaute. Ich war froh, als Hannah sich nach dem Essen bei Frau Elsbach zum Rausgehen abmeldete. Es hatte Gott sei Dank aufgehört zu regnen und so spielten wir vor der Einrichtung im Garten. Vergnügt sprang ich im Gras auf und ab und zeigte Hannah, dass der aufgeweichte, nasse Rasen aus den Seitenrillen meiner Schuhe Wasserspritzer abgab, sobald ich fest genug draufsprang. Es war in etwa das gleiche Prinzip wie bei einem vollgesogenen Schwamm.

Sie musste kichern. »Hey, was machst du denn da? Deine und auch meine Hose werden ganz nass.«

»Na und?!«, erwiderte ich. »Das macht riesigen Spaß. Versuch es mal!«, forderte ich Hannah auf, nahm ihre Hand und führte mit ihr einen meiner berühmten Matsch-Tänze auf. Immer höher und wilder sprangen wir durch das Gras und den Matsch. Die Sonne lugte zwischen den Wolken hervor und küsste unsere Köpfe mit ihren warmen Strahlen. Die Luft roch nach Frische und Frühling. Irgendwann, als wir nicht mehr konnten, steuerten wir einen dicken Baumstamm einige Schritte weiter vor uns an, auf den wir uns japsend plumpsen ließen.

»Frau Korriander wird mich umbringen, wenn sie meine schmutzige Wäsche sieht!«

»Wer ist Frau Korriander? Ist es die dicke Frau oder die ältere?«

»Die Dicke«, antwortete Hannah und rollte ihre Augen.

»Nun, die weiß eben nicht, was Spaß macht. Sie war auch mal ein Kind wie du. Sie hat es nur leider vergessen…«, gab ich wohl wissend zurück und klopfte leicht auf Hannahs Schulter.

»So wird es wohl sein«, kicherte das Mädchen und klopfte mir nun ebenfalls auf die Schulter. Nachdenklich blickte Hannah mich kurz darauf an. »Darf ich dich etwas fragen, Mando?«

»Natürlich. Alles, was du willst«, versicherte ich gelassen und mit einem schiefen Grinsen.

»Wie alt bist du? Ich meine, du bist keine acht Jahre alt, so wie ich. Du bist älter. So alt wie Frau Korriander bist du…«

Ich zog eine Grimasse. »Oh… Nein, ganz bestimmt nicht! Ich muss doch sehr bitten!« Ich war ein bisschen empört.

»Nein, du hast mich nicht ausreden lassen. Ich meinte, du könntest in etwa so alt wie Silvia sein, nicht wie Frau Korriander! Ich glaube Frau Elsbach ist um die zwanzig Jahre alt oder so… Du hast auch irgendwie Ähnlichkeit mit dem älteren Bruder meiner früheren Schulfreundin Mandy.«

»Ich habe kein Alter, Hannah. Ich bin immer schon so gewesen, wie ich jetzt bin. Mit Zahlen kann ich nichts anfangen.«

Interessiert nickte das Mädchen mir zu.

Ich werde niemals ihre großen, rehbraunen Augen vergessen. Immer wenn ich hineinsah, erkannte ich so viel Seele, Leben und auch Schmerz, was mir jedes Mal aufs Neue einen heftigen Schlag in die Magengrube versetzte. »Darf ich dich auch etwas fragen, Hannah?«, ergriff ich nach ungefähr einer Minute des Schweigens das Wort, streckte eine Hand nach ihrer Hand aus, um diese schützend zu umschließen.

Das Mädchen nickte bloß.

»Was genau ist passiert, dass du hier bist? Was ist mit deinen Eltern?« Ich wusste, dass diese zwei Fragen sehr direkt und dem Kind wahrscheinlich unangenehm waren, aber wenn ich voll und ganz zu ihr durchdringen wollte, um ihr zu helfen, musste ich einfach wissen, was geschehen war.

Hannah seufzte. »Also meinen Vater habe ich nie kennengelernt. Mama sagte, er hätte uns vor meiner Geburt verlassen.« Einen Moment hielt sie inne, als ob sie über ihre nächsten Worte nachdenken müsse.

Aufmerksam und geduldig wartete ich ab und umschloss ihre Hand noch fester.

»Meine Mutter trinkt viel Alkohol. Sie sagte immer zu mir, sie müsste das trinken, damit es ihr besser gehe, aber ich habe nicht einmal gemerkt, dass das stimmen würde und…« Hannah ließ ihren Satz abreißen und schaute betrübt zu Boden, ehe sie fortfuhr.

Ich merkte, wie sie versuchte, ihre Tränen einfach wegzuatmen.

»Es wurde irgendwie immer schlimmer mit ihr. Entweder sie trank oder sie schlief. Irgendwann, als das Jugendamt merkte, dass ich nicht mehr zur Schule ging, holten sie mich ab und brachten mich hierher. Das ist jetzt etwa zwei Monate her«, beendete sie ihren Satz.

Ich rückte näher an sie heran, hob ihren gesenkten Kopf und schaute in ihr kleines, nasses Gesicht. »Es wird alles wieder gut, Hannah. Ich bin jetzt bei dir, deshalb kann von nun an alles nur besser werden. Ich habe schon unendlich viele Kinder wieder glücklich gemacht«, sagte ich aufmunternd zu ihr und wischte mit meinem Finger ein paar Tränen aus ihrem Gesicht. »Ich bin nämlich der Garant für ein Happy End!«

»Der Garant… Was?«, wiederholte Hannah nun.

»Ein Garant ist eine Garantie, eine Sicherheit, dass sich alles zum Guten wenden wird. Das ist die einzigartige Kraft eines Bondondos!«, versicherte ich lächelnd und stupste meine Schulter gegen ihre Schulter. Schnaubend und ein wenig belustigt gab sie mir einen Stupser zurück.

»Weißt du, meine Mutter hat mich in den letzten Wochen im Heim nicht besuchen können, weil sie wohl in eine Klinik gegangen ist, zu Ärzten, die ihr helfen können. Jedenfalls hat sie mir das zuletzt versprochen.«

»Mh…«, machte ich und rieb mir das Kinn. »Hast du noch Onkel, Tanten oder Großeltern, die dich besuchen können?«, fragte ich mit zugeschnürter Kehle. Eigentlich konnte ich mir die Antwort ausmalen…

»Nein, meine Mutter hat leider keine Familie mehr.«

Ich schluckte nun still den dicken Kloß in meinem Hals hinunter. Sie hatte niemanden außer mir!

Aufgeregtes Flattern in den Bäumen über uns war nun zu hören. Dort oben stritten zwei Tauben um einen bestimmten Ast in der Baumkrone.

»Wo genau kommst du eigentlich her? Ich meine, es muss doch auch für dich einen bestimmten Ort gegeben haben, an dem du geboren wurdest!«, wechselte Hannah jetzt das Thema und sah mich gespannt an.

»Ich wurde durch den Traum eines Kindes in diese Welt getragen. Unbegrenzte Fantasie war meine Geburtsstunde. Weißt du, ich stamme… Oder vielmehr wir Bondondos stammen aus einer rosafarbenen Dimension. Es gibt da Bäume, die aussehen wie Zuckerwatte und Wolken schweben dir mitten ins Gesicht. Du kannst einfach auf sie draufspringen und dich tragen lassen«, schwärmte ich und legte den Kopf in den Nacken, um die Regentropfen auf den Blättern der dicken Eiche über uns beobachten zu können, die im Licht der Sonne funkelten und glitzerten wie dutzende Edelsteine.

An diesem Nachmittag wurden Hannah und ich beste Freunde. Ich weiß noch, als wäre es gestern gewesen, wie wir uns erst in die Hände gespuckt und anschließend unsere Finger miteinander verschränkt haben, um dieses Versprechen mit einem feuchten Händedruck zu besiegeln.

Kapitel 3

Die restliche Osterferienwoche verbrachten Hannah und ich jeden Tag miteinander. Es war herrlich und das Mädchen taute zu meiner Freude mehr und mehr auf, war viel fröhlicher als am Anfang. Das ist immer der Beweis für mich, dass ich alles richtig mache. Die meiste Zeit verbrachten wir auf ihrem Zimmer, wo wir Fangen spielten oder uns mit Kissen bewarfen, bis Hannah sogar einmal Ärger von Frau Korriander bekam, weil zu viele Federn aus den Kissen gefallen waren. Also hörten wir damit auf.

Da Hannah erst acht Jahre alt war, durfte sie sich nicht ohne Aufsicht von der Heimanlage fortbewegen. Heimanlage! Was für ein blödes Wort! Das klang nach einer Strafanstalt… Deshalb spielten wir meist auf den Grasflächen des Grundstücks und unter unserer dicken Eiche, abseits von den anderen Kindern. Sie alle waren meistens mit ihren Bällen, Puppen und Seilchen beschäftigt und warfen Hannah nur ab und an neugierige Blicke zu.

Veronika, ein rothaariges Mädchen mit Zöpfen, hatte Hannah einmal sogar gefragt, ob sie mit ihr und den anderen Mädchen Twister spielen wolle, doch sie hatte abgelehnt, da sie lieber mit mir hatte spielen wollen. Ich traute mich nie Hannah zu fragen, warum sie bis auf einen Teddybären, den ich unter ihrer Bettdecke entdeckt hatte, keine Spielsachen besaß. Im Grunde war es ja nicht weiter schlimm, denn wir hatten auch so eine Menge Spaß. Verstecken und Ich sehe was, was du nicht siehst gehörten zu unseren Lieblingsspielen, wobei ich bei Ich sehe was, was du nicht siehst immer gewann, da ich immer Sachen sah, die ihr nicht aufgefallen waren, wie zum Beispiel winzig kleine Käfer im Gras. Oder auch einmal eine grüne Raupe, die an der Baumrinde hinaufgeklettert war. Ein paar Spiele von mir, die Hannah noch nicht kannte, wie das Grimassenschneiden, hatten sie immer zum Lachen bringen können. Auch hierbei habe ich mit meinem riesigen Fischmaul und meiner Schweinenase immer gewonnen. Ihr Lachen dabei war der schönste Klang in meinen Ohren gewesen, weil es immer tief aus dem Herzen kam…

Eines Abends vertrieben wir uns die Zeit bis zum Essen damit, unten im Flur eine Partie Verstecken zu spielen. Während Hannah schön brav bis dreißig zählte, suchte ich mir einen coolen Platz in der Nische eines Korridors, der zur Küche führte. Dort wurde ich ungewollt Zeuge eines Gesprächs zwischen Silvia und Frau Korriander, der dicken rothaarige Dame. Die beiden Erzieherinnen bereiteten gerade in der Küche das Abendessen für die Kinder zu.

»Ich weiß nicht, was in letzter Zeit mit Hannah los ist. Sie zieht sich immer mehr zurück. Ich habe sie schon ein paarmal dabei beobachtet, wie sie mit sich allein Fangen gespielt und geredet hat. Ich meine, die Kleine wird in ein paar Tagen neun Jahre alt und sollte keinen Fantasiefreund mehr haben. Sie kapselt sich von den anderen Kindern ab und das ist nicht gut!«, hörte ich Frau Korriander sagen.

»Die Kleine ist einsam und bekommt als einziges Kind nie Besuch. Es ist nur allzu verständlich, dass sie einen Freund braucht. Wir sollten sie noch ein bisschen in ihrer Fantasiewelt leben lassen, finde ich«, entgegnete Silvia in einem mitfühlenden Tonfall. »Wenn wir nicht gnadenlos unterbesetzt wären, hätte ich mehr Zeit für das arme Mädchen«, fügte sie noch hinzu.

Ich biss mir auf die Unterlippe und kehrte dann zu Hannah zurück – nach fünf verstrichenen Minuten hatte sie mich nämlich immer noch nicht gefunden. Dann bekam ich plötzlich mit, wie Peter, ein Junge aus der Heim-Gruppe, anfing meine Hannah zu schubsen. Was war da wohl passiert?

»Du bist eine blöde Spinnerin!«, rief er Hannah höhnisch zu und lachte dann.

»Nein, bin ich nicht!«, gab sie wütend zurück und verpasste diesem frechen Burschen nun ihrerseits einen Schubser. Binnen weniger Sekunden bildeten alle Kinder einen Kreis um Hannah und Peter, da sie sich dieses Schauspiel nicht entgehen lassen wollten.

»Spinnerin, Spinnerin!«, geiferte Peter.

Das machte Hannah noch wütender. Ich erkannte, wie sich ihre Augen immer mehr verengten.

»Hannah, lass dich nicht von diesem Dummbeutel ärgern!«, rief ich ihr zu. Ich wollte sie von dort weg, zu mir locken.

Hannah sah mich an und entgegnete mir: »Nein, er hat dich und mich beleidigt!«

»Oh, redest du wieder mit deinem Gespenst, du blöde Ziege?«, spottete der Junge.

»Er ist kein Gespenst!«

Mann, hatte ich vielleicht eine Wut im Bauch! Das Blöde war nur, dass ich Hannah nicht helfen konnte. Es tat weh, so tatenlos mit ansehen zu müssen, wie immer mehr Kinder lachten und mit dem Finger auf sie zeigten.

»Hannah ist 'ne Spinnerin! Hannah ist 'ne Spinnerin!«, johlten sie alle im Chor.

Nun reichte es mir. Ich ging zu Hannah, baute mich hinter ihr auf und legte schützend meine Arme um ihre Schultern. Dabei merkte ich, wie ihr Körper vor Traurigkeit und Wut zu zittern begann und sie anfing zu weinen.

»Was ist denn hier los?«, erklang Silvias Stimme.

Endlich!

»Alle Mann, Abmarsch zum Speisesaal!«, tadelte sie aufgebracht.

Die höhnischen Rufe verstummten. Ohne ein Wort kam die Meute Silvias Aufforderung nach. Mit schüttelndem Kopf, so als könne sie das, was hier gerade geschehen war, nicht fassen, wandte sich die Erzieherin nun Hannah zu. Vorsichtig ging Silvia vor ihr in die Hocke und strich dem Mädchen über das Haar.

»Lass dich von Peter nicht ärgern, Kleines! Ich bin mir nämlich ziemlich sicher, dass er diesen Aufruf angezettelt hat. Es wäre zumindest nicht das erste Mal gewesen, dass Peter für etwas derart Lautstarkes verantwortlich gewesen wäre.«

Sofort griff Hannah nach dem Taschentuch, das Silvia aus ihrer Hosentasche zog, und schniefte angestrengt hinein.