Mangold - Binjamin Zwi - E-Book

Mangold E-Book

Binjamin Zwi

0,0
5,49 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Im pulsierenden Berlin, einem Ort der Anonymität und der unbegrenzten Möglichkeiten, kreuzen sich die Wege von zwei jungen Männern, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Da ist Aaron Mangold, ein talentierter Architekturstudent, der vor den Dämonen seiner Vergangenheit geflohen ist. Seine ultra-orthodoxe jüdische Heimatgemeinde in Freiburg hat ihn mit einem Trauma zurückgelassen, das ihn nachts aus dem Schlaf schreien und ihn die Nähe anderer Menschen fürchten lässt. Und da ist Stefan Kowski, ein charismatischer, lebenslustiger Barkeeper und baldiger Clubbesitzer, der hinter einer Fassade aus Selbstbewusstsein ebenfalls nach der einen, wahren Verbindung sucht. Eine schlichte Kontaktanzeige in einer Zeitung wird zum Katalysator für eine schicksalhafte Liebe. Ihre erste wirkliche Begegnung auf der Wiedereröffnungsfeier von Stefans Club "Doodels" ist wie ein Feuerwerk – eine sofortige, fast magische Anziehung, die beide überwältigt. Ihre Beziehung entwickelt sich mit rasender Geschwindigkeit, getragen von einer Intensität, die so heilend wie gefährlich ist. Schon bald ziehen sie zusammen und schmieden Zukunftspläne. Doch über ihrem jungen Glück liegt der dunkle Schatten aus Aarons Vergangenheit. Der Tod seiner geliebten Großmutter Hannah zwingt ihn zur Rückkehr an den Ort, den er nie wieder betreten wollte. Statt Trost findet er dort nur erneuten Hass und Ablehnung, die in einer schrecklichen Konfrontation gipfeln, als sein eigener Vater ihn mit einer Waffe bedroht. Währenddessen beginnt seine andere Großmutter, die resolute Esther Goldberg, die Fäden der Vergangenheit zu entwirren. Gemeinsam mit ihrem Schwager, dem Anwalt Chajm Goldberg, und dem unnachgiebigen Oberkommissar Lev Bernstein stößt sie auf einen Sumpf aus Lügen, Geldwäsche und sexuellem Missbrauch. Die schockierende Wahrheit: Nicht nur Aaron, auch sein Bruder Elias wurde jahrelang von zwei hochrangigen Rabbinern der Gemeinde missbraucht. Der Kampf gegen diese mächtigen Männer eskaliert in einem brutalen Anschlag auf die Familie. Doch aus der Asche des Hasses erwächst eine unerwartete Versöhnung: Aarons Vater Samuel, mit seiner eigenen Schuld konfrontiert, bricht mit seiner starren Haltung und kämpft um die Vergebung seines Sohnes. Obwohl die äußeren Feinde am Ende besiegt scheinen, ist der innere Kampf für Aaron noch lange nicht vorbei. Getrieben von den Ereignissen, steht er selbst am Rande des Abgrunds. Erst die bedingungslose Liebe Stefans und der Beistand seiner neuen Familie.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Binjamin Zwi

Mangold

Band 3 - Aaron - Die junge Generation - Teil 1

In den Schatten einer frommen Gemeinde schlummert ein Verbrechen. In den Lichtern Berlins sucht ein junger Mann nach Erlösung.Für Aaron Mangold ist die Flucht nach Berlin die einzige Chance, dem Trauma seiner Jugend zu entkommen.  

Inhaltsverzeichnis

Flucht - Rückblick

Hannah

Die Beisetzung

Therapiestunde

Erste Begegnung - Stefan

Die Visitenkarte

Doodels

Der Heimweg

Der Tag danach

Der Brief an Aaron

Das Geheimnis

Der neue Chef

Aarons Warten

Asche und Neubeginn

Der erste Tag als Boss

Offen für Neues

Kater und Kontakt

John, der Facility Manager

Esther Goldberg

Geschichten der Vergangenheit

Der Anruf bei Esther

Ein Morgen in Berlin

Mittagessen mit Bobe

Fallhöhe

Die letzten Vorbereitungen – Deckel und Topf

Ein Name wie ein Schlag

Der große Tag

Die große Wiedereröffnung

Die erste Nacht

Ein neues Leben

Der erste Abend

Zukunftsgespräche

Der Versuch des Alltagsleben

Das Geheimnis

Der Familienbesuch

Die Entscheidung

Die Konfrontation

Aarons Albtraum

Kein Willkommen

Am Abgrund

Besuch aus Brandenburg

Der Tod?

Die Charité

Der Tag danach

Schmutzige Geschäfte

Esthers Ankunft in Freiburg

Die Wahrheit für Rachel

Elias' Geständnis

Die Abrechnung

Der Fall von Ruben Weinstein

Die Reise nach Berlin

Die Versöhnung

Der Antrag

Ein gemeinsames Zuhause

Elias 1.0

Am seidenen Faden

Die Reise des Vaters

Die zweite Bedrohung

Hannahs Vermächtnis

Besuch am Krankenbett

Die Belagerung

Aus der Asche

Hannahs Truhe

Ein zerbrechliches Glück

Heimkehr – Der erste Tag

Freiburger Zwischenspiel

Heimkehr

Impressum

Mangold

Band 3: Aaron – Die junge Generation – Teil 1

Binjamin Zwi

Roman

Binjamin Zwi

MANGOLD

Band 3: Aaron – Die junge Generation - Teil I

Roman

Texte: © Copyright by Binjamin Zwi - aw

Umschlaggestaltung: © Copyright by Andreas Weissenberger – bz

Bildrechte: © Copyright by Andreas Weissenberger / Samuel Mangold

Herausgeber:

Andreas Weissenberger

Roggenbachstraße 12a

79650 Schopfheim

[email protected]

Aaron Mangold in seinen jungen Jahren

Flucht - Rückblick

Nachdem Aaron aus Freiburg geflohen war, fand er bei seiner Oma Esther in München Zuflucht. Er war am Ende seiner Kräfte, hatte drei Selbstmordversuche hinter sich und stand kurz davor, aufzugeben. Noch immer erwachte er nachts schreiend aus Albträumen. Ihm wurde wieder und wieder wehgetan; täglich trug er die Narben auf seinem Oberkörper – dunkle Kreise, die von Zigaretten stammten. Das Zischen des verbrennenden Fleisches und der nachfolgende Schmerz waren ihm noch immer schmerzhaft präsent.

Oma Esther sank auf den Küchenstuhl und vergrub das Gesicht in ihren zittrigen Händen. Seit Wochen hatte sie kaum geschlafen, jede Nacht lauschte sie auf Aarons Schreie. Sie wollte ihren Schwiegersohn Samuel anrufen und ihm alles erzählen. Doch Aaron sagte damals nichts – weder, was passiert war, noch, wer ihm das angetan hatte. Er musste das Geheimnis bewahren, durfte nichts sagen. Würde er sprechen, könnten sie seiner Familie Schaden zufügen. Oma Esther zeigte Verständnis und gab ihm Halt. Sie willigte schweren Herzens ein und ließ ihn bei sich wohnen. Dennoch wollte sie es Hannah erzählen – mit einer solchen Last wollte selbst sie nicht leben.

Hannah war nach diesem Gespräch ebenso erschüttert. Warum hatte Aaron nichts gesagt? Warum hatte er seiner Familie verschwiegen, was geschehen war? Sie suchte Rat bei Rabbi Weinstein, um herauszufinden, was vorgefallen war.

Rabbi Weinsteins Gesicht verfärbte sich dunkelrot. „Hinaus!“, brüllte er und schlug mit der Faust auf den Tisch, dass die Gläser auf dem Teewagen klirrten. „Schämen Sie sich!“

Momentan konnte sie nur wenig tun. Dennoch veranlasste sie bei ihrer Bank die Einrichtung eines Sonderkontos für Aaron. Mit diesem Geld konnte er sich so lange finanziell absichern, bis es ihm wieder besser ging.

Doch Aarons Zustand verbesserte sich nicht – im Gegenteil: Es wurde sogar schlimmer. Nach einem vierten Selbstmordversuch musste Oma Esther handeln. Sie rief eine Psychologin an, die plante, Aaron in eine Klinik einweisen zu lassen. Das erschien Esther zu schrecklich, weshalb sie gemeinsam mit Aaron beschloss, nach Berlin zu gehen.

Esther mietete zwei Zimmer in einem schönen Palais, in dem sie häufig abstieg. Gemeinsam mit Aaron suchte sie eine Psychologin auf; diese sollte ihm helfen, was ihr auch gelang. Frau Dr. Blanck verschrieb ihm geeignete Medikamente und arbeitete in zahlreichen Sitzungen mit ihm an seiner Angst. Sie war schockiert über das Gehörte, konnte aber nichts unternehmen, denn Aaron wollte es so und verbot ihr, etwas nach außen zu tragen.

Eines Tages meldete sich Aarons Vater Samuel bei Esther; er hatte erfahren, dass Aaron in Berlin war. Er bot ihm die Familienwohnung an: Er könne dort studieren und solange darin leben. Außerdem hatte er einen Job bei einem Freund für ihn organisiert. Aaron nahm das Angebot an.

Seine Oma Esther kehrte nach München zurück – schließlich hatte auch sie dort noch ihr Leben weiterzuführen. Als sich dann noch sein Vater zu einem Besuch ankündigte, bekam Aaron große Angst. Doch er meisterte die Situation und dachte voller Stolz: Jetzt kann ich alles schaffen.

Dennoch blieb die Liebe für ihn unerreichbar: Er fand nie jemanden, den er wirklich lieben konnte. Eine feste Beziehung gab es nie. Sein Vater nahm ihn stets mit zu Bekannten in Berlin, doch nichts fruchtete. Samuel wusste ja nicht einmal, dass sein Sohn kein Interesse an Frauen hatte. Irgendwann gab Aaron auf und konzentrierte sich ganz aufs Studium.

Das erste und zweite Semester meisterte er mit Bravour – gehörte sogar zu den Besten seines Jahrgangs. Da er ein gutes Polster auf seinem Konto hatte, wollte er sich ein neues Auto kaufen. Ein Jahr zuvor hatte er die Führerscheinprüfung bestanden; nun fühlte er sich bereit für sein erstes eigenes Fahrzeug.

Im Internet hatte er bereits einige Marken und Modelle angesehen; schließlich entschied er sich für ein schwarzes Audi Cabrio – elegant und sportlich zugleich – und liebte es sofort.

Nach diesem Glücksmoment sehnte sich Aaron nach dem nächsten Schritt: Er wollte endlich einen festen Partner finden – keinen für eine Nacht. Jemanden wie ihn: romantisch veranlagt und nicht nur auf schnelle Abenteuer ausgerichtet. Gab es so jemanden überhaupt?

Er durchstöberte die üblichen Portale, ging in Diskotheken und Bars – doch den Richtigen fand er nie. Für eine Nacht traf er zwar manchmal Männer; doch es fiel ihm nicht schwer, diese Männer wieder loszuwerden und den Kontakt abzubrechen. Schnell verlor Aaron die Lust an der Suche und beschloss stattdessen: Er wollte gefunden werden.

Hannah

Aaron hatte sich in Berlin ein gutes Leben aufgebaut. Er studierte erfolgreich und jobbte nebenbei bei einem angesehenen Architekten. Nur in der Liebe war er zurückgezogen; er wollte noch immer gefunden werden. Nach Freiburg wollte er nicht zurückkehren, da er diesen Ort meiden wollte, an dem man ihn so verletzt hatte. Körperlich waren die Schmerzen vergangen, doch die seelischen Wunden konnten nicht heilen. Sie würden nie ganz weggehen, das wusste er.

Er befand sich in Therapie und nahm seit langer Zeit Medikamente gegen seine Albträume. Den Kontakt zu seiner Familie hielt er nur spärlich aufrecht, bis das Telefon an einem frühen Morgen im Oktober klingelte.

Es war der 19.10.2017, 3:30 Uhr, als Aaron einen Anruf von seiner Mutter Rachel erhielt. Noch verschlafen nahm er das Gespräch entgegen. Leise sagte er: „Hallo?“ Zunächst hörte er nur ein Schnaufen, doch dann sprach seine Mutter mit verweinter Stimme: „Aaron, hier ist Mama. Hannah ist tot.“

Aaron konnte zunächst nichts sagen; er starrte wie versteinert vor sich hin. „Aaron? Sag doch etwas!“, drängte seine Mutter. Als Aaron sich etwas gefasst hatte, sagte er leise in den Telefonhörer: „Wie ist das passiert?“ Er begann zu weinen, und seine Mutter weinte mit ihm.

„Sie fühlte sich unwohl, dann fiel sie hin – und war einfach tot. Du musst kommen, sie hätte das so gewollt.“

„Ja, Mama, ich werde gleich nach einem Flug schauen. Ich muss jetzt Schluss machen. Ich liebe dich!“

„Ich dich auch. Bis später, mein Sohn.“

Rachel beendete das Gespräch, und Aaron stand sofort auf. Er musste eine Flugverbindung heraussuchen. Seine Tränen liefen ihm die Wangen herunter; ihm war übel. Noch nie hatte ihn eine Nachricht so zerstört.

Aaron war am Boden zerstört. Nachdem Oma Esther ihn damals in München aufgefangen hatte, war Oma Hannah sein letzter verbliebener Anker in Freiburg gewesen. Die Einzige dort, die einen Teil der Wahrheit kannte und trotzdem zu ihm hielt. Und nun war auch sie weg. Für sie würde er es wagen, an diesen schrecklichen Ort zurückzukehren.

Im Wohnzimmer saß Aaron vor seinem Laptop und suchte nach einer Flugverbindung. Glücklicherweise fand er einen Flug um 13:00 Uhr, den er sofort buchte.

Ins Bett wollte er jetzt nicht mehr – dort gab es niemanden, der ihn auffangen konnte. Stattdessen ging er in die Küche und kochte sich einen Kaffee. Nebenbei schaltete er das Radio ein und hörte die Nachrichten. Er trank seinen Kaffee; Hunger hatte er keinen – die Todesnachricht hatte ihm den Appetit genommen.

Auf dem Weg ins Bad dachte er noch daran, dass er seinen Chef anrufen musste. Er brauchte für ein paar Tage frei – das war in seiner Firma nie ein Problem: Sein Chef war ein Freund seines Vaters und zeigte stets großes Verständnis.

Im Bad machte Aaron sich frisch: Er duschte, putzte die Zähne und stylte sich für den Tag – alles dezent. Er war zwar schwul, aber sein Stil war unaufdringlich und männlich.

Als Aaron aus dem Bad kam, gab er Levi sein Futter. Levi war Aarons Hund und begleitete ihn eigentlich überall hin – nur einen Besuch in Freiburg wollte Aaron ihm ersparen; deshalb bat er Frau Braun, auf Levi aufzupassen.

Sie passte sonst immer auf ihn auf, wenn Aaron Termine hatte und Levi nicht mitkommen konnte. Jetzt war es aber noch zu früh; also nahm Aaron die Leine und ging mit Levi Gassi.

Der Herbst in diesem Jahr war besonders schön: laue Nächte und nicht zu warme Tage. Aaron liebte es, mit Levi in der Kleinen Jägerstraße spazieren zu gehen. Im Laufe der Jahre lernte er hier viele Menschen kennen – mit den meisten pflegte er ein gutes Verhältnis.

Lag es daran, dass sie nicht wussten, was ihm widerfahren war? Er lief fast bis zum Gendarmenmarkt mit Levi, kehrte aber kurz davor wieder um. Jetzt konnte er bei Frau Braun klingeln und fragen, ob Levi für ein paar Tage bei ihr bleiben könne.

Im Hausflur stieg Aaron in den Aufzug und fuhr in die dritte Etage, wo Frau Braun wohnte. Er läutete; Frau Braun öffnete.

„Guten Morgen, Frau Braun.“

„Guten Morgen, Aaron. Hallo, Levi!“, sagte sie noch etwas verschlafen.

„Ich wollte Sie fragen, ob Levi ein paar Tage bei Ihnen bleiben kann. Ich muss nach Freiburg; meine Oma ist gestorben.“

„Oh, das tut mir sehr leid. Mein herzliches Beileid. Natürlich kann der kleine Schatz bei mir bleiben.“

„Danke, Frau Braun, Sie sind ein Schatz.“

„Er kann gerne gleich hierbleiben, und gegen Abend hole ich dann seine Sachen aus deiner Wohnung.“

„Das ist nett von Ihnen. Dann kann ich packen gehen.“

Levi verstand sofort, ging ohne weitere Worte in ihre Wohnung und wartete auf sein Leckerli. Aaron verabschiedete sich und fuhr mit dem Aufzug in seine Wohnung. Er wollte packen, und später musste er noch seinen Chef anrufen.

Es war 11:00 Uhr.

Aaron rief sich ein Taxi und ging mit seiner Tasche nach unten. Er hätte auch mit dem Auto fahren können, doch dann stünde es schutzlos in einem anonymen Parkhaus. So stand sein Audi im Hinterhof, und niemand konnte etwas daran beschädigen. Das Taxi kam, Aaron stieg ein und ließ sich zum Flughafen fahren.

Stunden später, nach einer Fahrt durch den zähen Berliner Verkehr und einem turbulenten Flug, landete Aaron in einer Welt, die er nie wieder hatte betreten wollen. Ob Vater mich abholen wird?, dachte er kurz. Doch als er den Ankunftsbereich betrat, sah er seinen Bruder Elias stehen. Er winkte ihm erfreut zu und ging auf ihn zu.

„Hi, Bruderherz!“, rief Elias ihm zu – Aaron antwortete herzlich: „Hi Eli! Na, wie geht’s meinem großen Bruder?“

„Mir geht’s gut – und dir?“

„Geht so! Danke, dass du mich abholst.“

„Das mache ich doch gern. Mom wollte eigentlich mitkommen, aber Vater wollte nicht, dass sie aus dem Haus geht.“

„Ja klar! Ein Wunder, dass du überhaupt weg durftest… Da freut man sich doch richtig aufs Nachhausekommen.“

„Ach! So schlimm ist es nicht. In drei Tagen sind wir mit allem durch.“

Aaron sagte nichts; er schaute aus dem Fenster und sah die Bäume vorbeiziehen. Als Elias in die Einfahrt des Anwesens bog, bekam Aaron kalte Hände. Irgendwie hatte er nie ganz vergessen können, wie tief der Schmerz noch immer in ihm steckte.

Vor dem Haupteingang stand seine Mutter und freute sich sichtlich, ihren Sohn wiederzusehen. Als Aaron ausstieg, lief sie sofort auf ihn zu und nahm ihn in den Arm.

„Aaron! Endlich bist du da! Ich habe dich so vermisst – komm rein!“

Aaron schaute nur seine Mutter an; beim Gehen zum Haus folgte er ihr schweigend.

„Wo ist Vater?“, wollte er wissen.

„Im Arbeitszimmer – er hat Besuch.“

„Es ist wie immer: Seine Mutter stirbt – und er arbeitet? Kann er nicht einmal für dich da sein?“

„Doch, das kann er! Aber er muss auch an die Gemeinde denken.“

„Hallo, Sohn!“

„Vater!“, sagte Aaron erschrocken – dann verstummte er sofort.

Hinter seinem Vater stand Rabbi Weinstein und blickte Aaron scharf an. Aaron spürte heißes Kribbeln in den Händen; sie wurden feucht vor Nervosität. Am liebsten wäre er weggelaufen.

„Komm und begrüße Rabbi Weinstein“, forderte ihn sein Vater auf.

„Ach lass nur, Samuel… Wir werden uns noch beim Begräbnis sehen“, erwiderte Ruben Weinstein leise. „Sicher möchte er jetzt seine Familie für sich haben – nicht wahr?“

Verwirrt antwortete Aaron: „Ja… Rabbi.“

Der Rabbi reichte Samuel die Hand und winkte freundlich Rachel sowie Aaron und Elias zu. Dann verschwand er wieder aus dem Haus; Aaron fühlte sich dadurch etwas sicherer.

„Magst du Kaffee?“, fragte Rachel leise.

Aaron war gedanklich abwesend gewesen: „Ja… Mama.“

„Mira hat dein Zimmer vorbereitet – du schläfst doch hier?“

„Ja, Mama… Ich freue mich schon auf mein Zimmer.“

„Wo ist Leah?“

„Sie sollte gleich kommen… Vater wollte, dass sie zur Schule geht.“

„Vielleicht ist das besser so.“

„Was meinst du?“, fragte Rachel neugierig.

„Nichts… Schau mal!“ — Leah betrat gerade das Haus.

„Aaron! Endlich bist du zurück!“, rief seine kleine Schwester. Aaron nahm sie in den Arm und drückte sie fest an sich.

„Ich bleibe nur ein paar Tage.“

„Ich weiß!“, sagte sie traurig und fügte hinzu: „Mutter, bekomme ich eine heiße Schokolade?“

„Natürlich, mein Kind.“

Rachel ging in die Küche und machte die heiße Schokolade für ihre Tochter. Als Aaron mit Leah allein war, zog er sie an sich heran und flüsterte ihr ins Ohr:

„Halte dich fern von Rabbi Weinstein. Er ist schlecht!“

Leah nickte nur, schaute verwirrt, doch als ihre Mutter zurückkam, sagte sie zu Aaron:

„Meine Bat Mizwa wird Rabbinerin Korn durchführen. Das hat sie mir versprochen.“

Aaron klopfte mit der Hand auf die Schulter seiner Schwester und sagte:

„Das ist eine gute Rabbinerin. Halte dich an sie fest. Ich gehe auf mein Zimmer und packe aus.“

Keiner der beiden anderen sagte etwas, als Aaron den Raum verließ. In seinem Zimmer setzte er sich an den Schreibtisch und sah sich um. Was für eine schöne Kindheit er gehabt hatte: Oma Hannah war da, die Familie, Oma Esther – es gab Geborgenheit. Bis zu jenem einen Abend, an dem Aaron zu Rabbi Weinstein ging. Voller Euphorie war er hingegangen, nur um so schäbig enttäuscht zu werden. Tränen stiegen ihm in die Augen. Doch als es klopfte, wischte er sie schnell weg. Es war seine Mutter.

„Aaron, Vater fragt, ob du Hannah noch einmal sehen möchtest?“

„Geht das denn?“

„Ja! Er würde mit dir zum Krankenhaus gehen; dort liegt Hannah.“

„Gleich?“

„Ja! Er hätte jetzt Zeit.“

„Gut, ich komme sofort.“

Aaron nahm seine Jacke und lief seiner Mutter hinterher.

„Vater, wir können.“

„Gut, mein Sohn.“

Samuel hatte sein Auto vor dem Haupteingang abgestellt. Er dachte bereits daran, dass Aaron seine Oma noch einmal sehen wollte.

„Hast du dir das gut überlegt?“

„Was?“

„Dass du Oma noch einmal sehen willst? Sie sieht nicht so aus, als ob sie leben würde.“

„Ich weiß. Wir hatten das mal in der Schule.“

„Dann ist es gut.“

Als Samuel am Krankenhaus ankam, parkte er das Auto und ging gemeinsam mit seinem Sohn zur Pathologie, wo Hannahs Leichnam lag. Vor dem Raum blickte Aaron um sich; er glaubte, einen Schatten gesehen zu haben. Ob das seine Oma war? Das konnte er nicht genau sagen – aber für solche Scherze war sie immer zu haben.

Mit einem Lächeln ging er in den Raum und erblickte den Leichnam. Dieser war mit einem Tuch bedeckt; daneben stand ein Mitarbeiter des Instituts.

Aaron nahm die Hand seines Vaters, und gemeinsam gingen sie zur Bahre, um Hannah ein letztes Mal zu sehen. Samuel nickte dem Mitarbeiter zu, der das Tuch ein Stück zurückzog. Als Aaron Hannahs Gesicht erblickte, kamen ihm die Tränen. Gebannt starrte er auf Hannah und hoffte insgeheim, dass sie gleich wieder wach würde. Doch Hannah war tot – sein Leben musste weitergehen. Sie hatte ihre Geheimnisse mit in den Tod genommen.

„Magst du einen Moment allein mit ihr?“, fragte Samuel leise.

„Ja!“, antwortete Aaron.

Samuel und der Mitarbeiter verließen den Raum. Aaron setzte sich auf den Stuhl neben Hannah und nahm ihre Hand – sie war eiskalt.

„Oma, hier bin ich. Ich wollte nie wieder an diesen Ort zurückkehren, doch jetzt bist du tot, und ich möchte dir Lebewohl sagen. Ich vermisse dich so sehr – deine Stimme, deine Güte. Lebe wohl, geliebte Oma.“

Aaron stand auf, streichelte noch einmal über Hannahs Wange und verließ den Raum.

„Vater, wir können.“

Samuel nickte, bedankte sich bei dem Mitarbeiter und lief Aaron hinterher.

Im Auto fragte Aaron seinen Vater, wann die Beisetzung sei. Dieser erklärte, sie sei bereits für den nächsten Tag geplant. Aaron war erleichtert; er konnte sicherlich in drei Tagen wieder nach Berlin zurückkehren.

„Wenn du mit mir reden möchtest, weißt du ja, wo ich bin.“

„Wegen was?“

„Wegen Oma. Ich sehe, dass du über etwas grübelst.“

„Da ist nichts, Vater.“

„Oma hat mal gesagt: Wenn sie tot ist, soll ich an die guten Dinge denken. Bei Oma war alles gut – ich kann also nur lachen.“

„Stimmt! Oma hat nie etwas Unschönes getan. Sie war immer gütig und gab lieber, als sie nahm.“

Auf der restlichen Fahrt herrschte Schweigen zwischen ihnen. Als Samuel den Wagen auf das Anwesen lenkte, bemerkte er, wie Aaron unruhiger wurde. Er machte sich Sorgen – doch er wagte nicht zu fragen, was seinem Sohn durch den Kopf ging.

Samuel hielt am Haupteingang an; Aaron stieg aus. Ohne auf seinen Vater zu warten, ging er ins Haus. In der Küche sah er Katja, die Freundin von Elias.

„Hi Aaron!“, sagte sie erfreut.

„Hi Katja! Wie geht’s dir? Schön, dich zu sehen! Wartest du auf Eli?“

Aaron wich Katjas Blick aus und fuhr sich durch die Haare. „Ja, ich... muss nur kurz...“, murmelte er, ohne den Satz zu beenden.

„Ja, ich warte auf Eli. Mir geht’s gut – wie könnte es mir auch schlecht gehen mit Eli?“

„Na dann ist ja alles in Ordnung!“

„Bist du wieder zurück oder nur zu Besuch?“

„Keine Angst – nur zu Besuch. Ich könnte nicht mehr nach Freiburg zurück.“

„Na ja… Freiburg ist auch nicht so schlimm – und ich bin auch nicht schlecht!“

„Entschuldige, ich muss noch etwas erledigen.“

Ohne ein weiteres Wort verließ Aaron den Raum und ging in sein Zimmer. Er wollte sich umziehen; zuhause wurde noch Wert auf Etikette gelegt. Er zog eine schwarze Hose und ein weißes Hemd an – das sollte vorerst reichen. Für morgen plante er, seinen schwarzen Anzug anzuziehen; er hing noch im Schrank und würde perfekt passen.

Es klopfte an der Zimmertür. Aaron ging hin und öffnete – es war Leah.

„Kommst du? Wir essen gleich.“

„Natürlich!“

Als die beiden im Salon eintraten, hörten sie, wie sich Rachel und Samuel stritten.

„Was hast du nur immer mit deiner Mutter? Sie soll im Hotel übernachten, wenn es ihr bei uns nicht gut genug ist.“

„Das hat sie nicht gesagt. Gut! Ich werde ihr sagen, dass sie im Hotel übernachten soll.“

„Bist du fertig? Und wo sind die Kinder?“

„Wir sind hier, Vater. Eli und Katja kommen gleich.“

„Gut! Setzt euch, ich fange gleich mit dem Gebet an.“

Gerade als er das sagte, kamen Katja und Elias zur Tür herein.

„Ach, zu spät, aber setzt euch.“

Keiner der beiden sagte etwas, und Samuel begann mit dem Berachot:

„Baruch atta Adonai, Elohenu melech ha-olam, sche-ha-kol nihje bidwaro.“ (Gepriesen seist du, Ewiger, unser G-tt; du regierst die Welt: Alles entsteht durch dein Wort.)

Keiner der Anwesenden wagte etwas zu sagen; alle aßen schweigend ihre Mahlzeit. Nach dem Essen wollte Samuel die Stimmung auflockern. Er bat seine Familie in den kleinen Salon. Man könne sich dort etwas unterhalten – sicher würde es allen guttun. Elias und Katja wollten lieber in Elias’ Zimmer gehen. Auch Leah verabschiedete sich – sie wollte ins Bett gehen. Der folgende Tag würde schwer werden, und sie wollte Kraft tanken.

Am Ende saßen nur Rachel, Samuel und Aaron im kleinen Salon. Samuel versuchte, etwas von Aaron herauszubekommen; er wollte wissen, wie die liberale Gemeinde in Berlin war. Vor allem aber interessierte ihn, wie Aaron in der Universität und bei der Arbeit zurechtkam. Aaron gab brav auf jede Frage eine Antwort; bei zu persönlichen Themen wechselte er gekonnt das Thema.

Irgendwann war es bereits spät, und die drei wollten schlafen gehen. Irgendwie hatte Aaron der Abend mit seiner Mutter und seinem Vater gut getan. Der Schlaf kam schnell, eine schwere, schwarze Decke, die ihn für einen Moment von allem erlöste. Aber die Dunkelheit hatte Zähne. Plötzlich stand er wieder in diesem Raum, der schwere Geruch von Zigarrenrauch und süßlichem Wein stieg ihm in die Nase. Weinsteins öliges Lachen kroch ihm ins Ohr, während seine Finger nach der warmen, faltigen Hand von Oma Hannah griffen, die aber immer wieder ins Leere fassten.

Ein Keuchen riss ihn aus dem Traum. Aaron schreckte hoch, die Laken klebten kalt und feucht an seinem Körper. Sein Herz hämmerte gegen die Rippen, ein gefangener Vogel. Er starrte in die Finsternis seines alten Kinderzimmers, aber der Geruch von Zigarrenrauch schien noch immer in der Luft zu hängen.

Die Beisetzung

Am nächsten Morgen wachte Aaron erst spät auf. Er erschrak – es war bereits halb zehn. Er sprang rasch aus dem Bett und machte sich frisch. Die Beisetzung seiner Oma würde erst am Mittag sein. Er entschloss sich, am Vormittag lediglich eine Jogginghose und ein T-Shirt zu tragen.

Auf der Treppe nach unten traf er seinen Vater. Dieser war bereits auf dem Weg außer Haus.

„Guten Morgen, Sohn! Du bist spät.“

„Guten Morgen, Vater! Ich weiß – ich habe tief geschlafen.“

„Mutter ist noch beim Frühstücken. Ich muss zu einem Termin – bis später.“

„Bis später!“

Samuel verließ das Haus, und Aaron ging zu seiner Mutter.

„Guten Morgen, Mom!“, sagte er freundlich und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

Sie schaute perplex und lächelte.

„Guten Morgen, Aaron. Wie lange hatte ich das nicht mehr.“

Sie lächelte ihren Sohn erneut an. Aaron war ihr Liebling, und sie hatte es nie ganz verkraftet, dass er weggezogen war.

„Was meinst du, Mom?“

„Einen Morgengruß von meinem Lieblingssohn.“

„Ach so! Mir war danach, und ich hab dich lieb.“

Rachel stand auf und ging zu dem kleinen Tisch, auf dem Kaffee, Tee sowie Orangensaft standen.

„Magst du Kaffee oder Tee? Vielleicht noch Orangensaft dazu?“

„Kaffee und Orangensaft. Du musst mich aber nicht bedienen.“

„Das mache ich gerne! Da stehen frische Brötchen und die anderen Sachen – sieh dich einfach um.“

„Ja, Mutter! Ich kann das schon alleine. Hast du etwas?“

„Verzeih! Ich bin nervös, ich mache mir Gedanken.“

„Wegen Vater?“

„Ja! Ich hoffe, er wird die Beisetzung verkraften.“

„Wenn nicht er, wer sonst!“, spottete Aaron.

„Dein Vater ist nicht immer so hart und stark, wie er vorgibt. Ich habe ihn letzte Woche weinen sehen.“

„Wirklich? Das kann ich mir kaum vorstellen!“

„Doch, du missverstehst deinen Vater. Er hat sogar geweint, als du weg warst.“

„Nein, Mutter! Ich missverstehe ihn sicher nicht. Vater wird das alles ohne Probleme überstehen.“

„Hoffentlich!“

Aaron und seine Mutter frühstückten noch gemeinsam und unterhielten sich ein wenig. Als Elias kam, setzte er sich zu den beiden und aß sein Frühstück.

„Vater hat vorhin angerufen. Er wird uns in der Aussegnungshalle treffen; er hat noch einen Termin.“

„Ist gut, Eli. Fahren wir später mit dir?“

„Können wir machen, Mutter. Wann wollen wir los?“

„Um zwölf Uhr – dann haben wir genug Zeit.“

„Mutter, denk daran, dass du alte Kleidung anziehst. Die werden sicher wieder die Kria durchleben!“

„Ja, das kann ich mir denken. Vater trägt ja einen alten Anzug. Ich werde ein altes Kleid anziehen und einen Hut aufsetzen. Ihr müsst euch keine Sorgen machen – ihr seid die Enkel und werdet in Ruhe gelassen.“

Die drei frühstückten noch fertig. Danach machten sie sich fertig; Elias wollte um halb zwölf losfahren. Leah würde um elf aus der Schule zurück sein. Aaron ging in sein Zimmer – er musste immer noch an Rabbi Weinstein denken: Wird er ihn in Ruhe lassen? Er musste nur vorsichtig sein; irgendwie würde es schon gehen.

Leah kam aus der Schule nach Hause; Rachel schickte sie gleich zum Umziehen. Nach einem kurzen Moment kam Leah zurück – sie trug ein schwarzes Kleid, schwarze Schuhe dazu und hielt einen schwarzen Hut in ihrer Hand.

„Du siehst so hübsch aus, Schwesterlein!“, sagte Aaron, als er die Treppe herunterkam.

„Du siehst aber auch nicht übel aus, Aaron.“

„Seid ihr fertig?“, wollte Elias wissen.

„Mutter kommt gleich; sie muss noch ihre Schuhe anziehen.“ Kaum hatte Leah das gesagt, stand Rachel oben am Treppenabsatz. Sie kam die Treppe herunter – ihre Kinder staunten: Selbst in einem alten Kleid sah ihre Mutter wunderschön aus.

„Gut, dann können wir ja los.“

Mit Elias’ Auto fuhren sie zum jüdischen Friedhof. Da noch etwas Zeit war, beschlossen die vier, ein wenig umherzugehen. Das kommende Jahr würde für Samuel und Rachel schwer werden. Sie mussten die zwölf Monate des Schnejm asar chodesch durchleben – eine Zeit der Trauer, die in der jüdischen Tradition festgelegt ist. Die Kinder mussten lediglich drei der vier Phasen durchlaufen; ihre Trauerzeit endete nach 30 Tagen.

Pünktlich um zwölf Uhr läutete die Glocke auf dem Friedhof. Samuel stand zusammen mit einem weiteren Rabbi am Eingang zur kleinen Halle, in der Hannah in ihrem Sarg aufgebahrt war. An diesem Ort fand die Verabschiedung statt; danach sollte es zum Grab gehen, wo Hannah ihre letzte Ruhe finden würde. Im jüdischen Glauben ist es den Trauergästen untersagt, miteinander zu sprechen. Lediglich ein Nicken ist erlaubt, und alle tragen eine Kopfbedeckung. Hannah hätte dies nicht gewollt, doch Samuel setzte sich darüber hinweg. Auch wird es keine offizielle Aussegnung im Sinne einer Zeremonie geben; die kleine Halle dient lediglich dazu, dass man in der Schlange um den Sarg geht und sich von Hannah verabschiedet. Danach wird der Sarg zum Grab gebracht und dort beigesetzt.

Familie Mangold machte den Anfang: Sie waren die ersten in der Reihe, und selbst Samuel stellte sich neben seine Frau. Rabbi Yorick stand am Eingang und nickte jedem Trauergast zu. Er wird später auch die Zeremonie durchführen und Hannah bestatten.

Samuel lief los, blieb am Sarg stehen und legte seine Hand darauf. Man konnte sehen, wie sich seine Lippen bewegten; Aaron konnte jedoch nicht entziffern, was er sagte. Aaron beobachtete seinen Vater – er wollte wissen, wie er sich verhielt und wie Rabbi Weinstein sich benahm.

Dann ging Rachel los: Sie lief am Sarg entlang und legte einen kleinen Stein am Kopfende ab. Auch Aaron hatte einen Stein für seine Großmutter dabei. Bevor er ihn hinlegte, küsste er ihn liebevoll. Kein vergänglicher Schmuck, dachte er, sondern etwas, das bleibt. Ein kleiner Fels für seinen Felsen in der Brandung. Er legte ihn sanft am Kopfende des Sarges ab, ein stummer Gruß, der die Zeit überdauern würde.

Steine auf Gräbern oder Särgen sind ein jüdischer Brauch. Dieser stammt aus der Zeit, als Juden während ihrer Flucht aus Ägypten durch die Wüste zogen: Dort gab es keine Blumen und keine schönen Grabsteine. Wenn jemand gestorben war, brachten die Angehörigen kleine Steine zur Bestattung mit und schichteten sie auf das Grab – damit schützten sie den Leichnam vor wilden Tieren. Gleichzeitig markierten sie das Grab, damit Besucher es später finden konnten.

Auf jüdischen Friedhöfen geht es zudem um die Gleichheit aller Menschen: Niemand soll durch übertriebenen Blumenschmuck über andere gestellt werden.

Dann liefen Elias und Leah hinterher. Elias streichelte mit der Hand über den Sarg, während Leah nur vor sich hin starrte – sie weinte still. Aaron nahm ihre Hand, drückte sie sanft und lächelte sie an; sie lächelte zurück.

Gemeinsam gingen sie weiter. Im Vorgarten der kleinen Halle warteten Rachel und Samuel bereits auf sie. Das Ganze wiederholte sich: Der letzte Trauergast lief um den Sarg herum und stand ebenfalls im kleinen Vorgarten. Jeder, der an Samuel und Rachel vorbeiging, riss als Zeichen der Trauer einen Riss in seine Jacke oder ihr Kleid – ein altes Ritual unter Juden namens Kria.

Gemeinsam liefen sie zum Grab, wo Hannah beigesetzt wurde. Rabbi Yorick hielt die Rede: Er stellte sich neben den Sarg und begann mit einem Segen:

„Elohim natann, Elohim lakach — Gepriesen sei der Herr, der gegeben hat und genommen hat.“

„Jehi schem hemvorach“ — „Der Name des Herrn sei gelobt.“

Anschließend rezitierte er einen Spruch aus Pirqé Avót, Hillel, den Hannah besonders geliebt hatte:

„Im en ʾani li, mi li? Uchʾsche-aní leʿatzmí — Wenn ich nicht für mich bin, wer ist für mich? Und wenn ich nur für mich bin — was bin ich? Und wenn nicht jetzt — wann denn?“

Er segnete alle Anwesenden noch einmal und übergab das Wort an Samuel.

Samuel wollte noch einige Worte über seine Mutter sagen:

„Liebe Hannah, meine Mama,

wie sehr du uns fehlst, ist sicher jedem hier bekannt. Du warst immer das wichtige Bindeglied zwischen Vater und mir. Wir vermissen dich unendlich.

Ich als dein Sohn möchte dir heute besonders danken. Danke für all die Liebe, Fürsorge und Unterstützung, die du uns stets gegeben hast. Danke auch im Namen deiner Enkelkinder und Schwiegertochter: Danke dafür, dass es dich gab und du immer für uns da warst.

Wir lieben dich von ganzem Herzen. Ruhe in Frieden.“

Anschließend trat Samuel ans Fußende des Sarges heran und verharrte dort bis zum Versinken des Sargs in der Erde. Dann nahm er eine der drei kleinen Schaufeln und warf vorsichtig etwas Erde ins Grab.

Leise sagte er: „Ich liebe dich, Mutter.“

Danach übergab er die Schaufel dem nächsten Trauergast – so ging es weiter bis zum letzten Teilnehmer.

Der Rabbi beendete die Beisetzung mit dem El malej Rachamim:

„El malej Rachamim, schochen baMromim, hamze Menuchah nechonah, tachat Knafej haSch'chinah, beMaalot Keduschim weTehorim keSohar haRakia, mas'hirim et khal haNeschamot schel sheshet Millionej haYehudim.

Hal'lej haShoah beEuropa, sche-nehergu, sche-nisch'chetu, sche-nis'refu, wesche-nis'pu al Kidusch Hashem, b'Jadej haMeraz'chim haGermanim weOs'rejhem miSch'ar haAmim.

Ba'avur sche-khal haKahal mit'palel leIluj Nischmotehem, lachen Baal haRachamim yastiram beSeter Knafaw leOlamim wejizror biZror haChajim et Nischmotehem.

Adonaj hu Nachlatam; beGan-Eden tehe Menuchatam, wejanuchu beSchalom al Mischkewotehem.

Wejaamidu leGoralam leKejz haJamim.

Venomar: Amen.“

(G-tt voller Erbarmen, in den Himmelshöhen thronend: Es sollen die verdiente Ruhestätte unter den Flügeln Deiner Gegenwart finden — in den Höhen der Gerechten und Heiligen, strahlend wie der Glanz des Himmels. Alle Seelen werden von der Gemeinde im Gebet aufsteigen. Bedecke sie doch, Herr des Erbarmens, im Schutze Deiner Fittiche für alle Ewigkeit und schließe ihre Seelen in das Band des ewigen Lebens ein.

G-tt sei ihr Erbbesitz; im Garten Eden möge ihre Ruhestätte sein. Mögen sie ruhen an ihrer Lagerstätte in Frieden. Und mögen sie wieder auferstehen zu ihrer Bestimmung am Ende der Tage. Amen.)

Hannah hatte sich einen Leichenschmaus gewünscht, damit sie sich so bei allen bedanken konnte, die gekommen waren. Das war nicht so üblich wie bei christlichen Begräbnissen; vielmehr handelte es sich um ein kleines Essen im Gemeindezentrum neben dem Friedhof. Bei jüdischen Begräbnissen gibt es eigentlich keinen offiziellen Leichenschmaus. Normalerweise traf man sich nach dem Begräbnis und kochte für die Trauerfamilie.

Hannah war jedoch eigenwillig und wollte das nicht – sie wollte, dass jeder das Begräbnis genießen konnte. Daher gab es diesen kleinen Imbiss mit Kaffee und Kuchen.

Samuel war darüber natürlich nicht begeistert, nutzte aber die Gelegenheit, um seine Predigt loszuwerden. Rabbi Weinstein kreiste unentwegt um Samuel herum. Als Aaron zur Toilette ging, bemerkte der Rabbi dies und folgte ihm.

Aaron war gerade in einer der Toiletten und dachte nichts Schlechtes. Plötzlich polterte es von außen an die Tür – es war der Rabbi.

„Aaron? Ich weiß, dass du drinnen bist. Ich wollte dir nur noch einmal in Erinnerung rufen, was ich dir damals gesagt hatte: Deine Familie ist nach wie vor in Gefahr. Wenn du etwas zu jemandem sagst, werden die in Israel kurzen Prozess mit euch machen.“

Aaron konnte nichts sagen; er presste seine Faust auf den Mund und wartete ab. Er hörte eine Tür auf- und zuschlagen; dann wurde es still. Erst jetzt wagte er es, seine Hand von seinem Mund wegzunehmen.

Er zitterte am ganzen Leib und hatte Angst. Langsam stand er auf, horchte erneut, ob jemand im Raum war, und als er sicher war, dass niemand mehr da war, öffnete er die Tür. Der Raum war leer. Aaron ging, um sich die Hände zu waschen. Dann schaute er vorsichtig aus der Toilette hinaus. Draußen war niemand, er konnte weitergehen. Ohne lange zu zögern, setzte er sich zu seiner Oma Esther. Sie bemerkte, dass Aaron nervös war.

„Hast du etwas?“, fragte sie.

„Nein! Es ist alles in Ordnung.“ Dabei sah er sich um. Rabbi Weinstein war nicht zu sehen.

„Aaron! Rabbi Weinstein bittet dich, ihm kurz zur Hand zu gehen.“

„Nein, Vater, ich muss mit Rabbi Yorick sprechen. Er sucht bereits nach mir.“

„In Ordnung! Ich helfe ihm dann.“

„Danke, Vater!“ Aaron verließ den Raum und suchte nach Yorick. Er wollte so tun, als hätte er etwas Wichtiges mit ihm zu besprechen.

Yorick freute sich natürlich – selten sucht ein junger Mann wie Aaron freiwillig das Gespräch mit ihm. Als es Abend wurde, hatte Aaron genug; er wollte nach Hause. Er konnte auch den Gedanken an Weinstein nicht mehr ertragen. Jeder Gedanke an ihn und jede Sekunde, in der er ihn sehen könnte, löste in Aaron nur neue Sorgen aus.

Aaron stand auf und ging zur Tür hinaus. Er nahm sein Handy und rief ein Taxi. Als das Taxi kam, ließ er sich in die Mozartstraße bringen. Endlich von diesem unheimlichen und trostlosen Ort wegzukommen, machte ihn froh.

Beim Hochgehen der schmalen Lindenallee dachte er bereits an die Heimreise. Er hatte sich gerade fertig gemacht, als der Rest der Familie kam. Vater war sauer, weil Aaron vor allen anderen gegangen war. Mutter sagte nichts dazu, und den Geschwistern schien es ebenfalls egal zu sein.

„Hattest du es etwa wieder nötig, früher wegzugehen?“

„Nein, Vater! Mir schlug das Ganze auf den Magen, und Rabbi Yorick meinte, es würde niemandem schaden, wenn ich nach Hause ginge.“

„Yorick! Gut, wenn er meint… Wir blieben bis zum Schluss.“

„Ich weiß, Vater.“ Aaron drehte sich um und ging davon.

Das war ihm recht: So musste er sich wenigstens nicht mehr erklären.

Zurück im Haus wartete der Krug mit den zwei Henkeln bereits stumm am Eingang. Samuel nahm ihn auf und murmelte den Segensspruch: „Baruch ata Adonai, Elohenu Melech Ha’Olam, ascher kid'shanu bemitzwotaw weziwanu al netilat jadajim.“

(„Gelobt seist Du, Ewiger unser G-tt, König der Welt, der uns mit seinen Geboten geheiligt hat und uns befohlen hat, die Hände zu waschen.“) Dazu vollzog er das Ritual, goss das Wasser erst über Rachels Hände, dann über die seiner Kinder. Aaron spürte, wie das kalte Wasser die Klebrigkeit des Friedhofs von seinen Fingern wusch, aber die Kälte in seinem Inneren nicht vertreiben konnte.

Aaron ging in sein Zimmer, nahm seinen Laptop und suchte einen Flug für den nächsten Nachmittag heraus. Er druckte alle Unterlagen aus und ließ sich das Ticket auf sein Handy schicken.

Als alles erledigt war, ging er nach unten und suchte seine Mutter. Sie war in der Küche und kümmerte sich um das Essen sowie die anderen Köstlichkeiten, die vorbeigebracht worden waren.

„Mom, ich werde morgen abreisen. Die Uni und meine Arbeit warten.“

„Schon jetzt?“, sagte sie traurig.

„Es tut mir leid, aber ich verspreche dir: Bald bin ich wieder da.“

„Das freut mich sehr – auch Leah wird sich freuen; sie vermisst dich sehr.“

„Ich weiß! Ich werde später mit ihr sprechen. Vielleicht mag sie mich ja mal in Berlin besuchen.“

„Das würde sie sicher freuen. Hast du Hunger?“

„Nein! Ich gehe noch in mein Zimmer und schaue Netflix.“

„Vergiss aber Leah nicht!“

„Nein, Mom!“ Aaron ging in sein Zimmer. Dort schrieb er noch eine Nachricht an seine Oma Esther; auch sie war bereits abgereist – sie hatte genug von dieser Stadt.

Danach schaute er Netflix und schlief ein. Er schreckte auf, als er begann, schlecht zu träumen. Plötzlich dachte er an Leah, stand auf und ging zu ihr. Vor der Zimmertür blieb er stehen und klopfte an.

„Herein!“

Aaron öffnete die Tür und betrat das Zimmer.

„Hallo Leah, ich wollte mit dir sprechen.“

„Du gehst wieder? Stimmt es?“, fragte sie.

„Ja, morgen. Es tut mir leid, aber ich kann hier nicht bleiben.“

„Ich weiß! Ich hab dich lieb, Aaron, und ich bin dir nicht böse.“

Aaron lächelte und sagte dann zu seiner Schwester:

„Ich bin froh, so eine Schwester wie dich zu haben. Liebe dich auch, Leah. Oma sagt, sie nimmt dich in den Ferien mit nach Berlin.“

„Das wird toll! Bis morgen und schlaf gut.“

„Ja, du auch, Liebes.“

Aaron ging wieder in sein Zimmer und war erleichtert, dass seine Schwester ihm nichts übelnahm. Er legte sich ins Bett und schlief bald ein.

Ein neuer Morgen brach an. Die Familie saß gerade beim Frühstück und unterhielt sich. Als Aaron den Raum betrat, verstummten sie.

„Ist etwas?“, fragte er.

„Nein! Guten Morgen! Magst du Kaffee und Orangensaft?“

„Ja, Mom, beides bitte.“

„Wann wirst du abreisen?“

„Nach dem Frühstück. Elias, kannst du mich bringen?“

„Natürlich!“

„Nein! Ich werde ihn bringen.“

Samuel kam in den Raum und war froh, dass sein Sohn noch anwesend war.

„Vater! Gerne, aber hast du so viel Zeit?“

„Ja! Ich muss noch mit dir sprechen.“

„Gut!“

Nach dem Frühstück war es soweit: Aaron verließ die Familie ein zweites Mal – es tat genauso weh wie beim ersten Mal. Mutter gab ihm einen Kuss auf die Wange und drückte ihn fest. Elias schüttelte ihm die Hand und nahm ihn kumpelhaft in den Arm. Doch Leah hatte Tränen in den Augen und konnte kaum sprechen. Sie drückte sich fest an ihn und wollte ihn nicht loslassen.

Vater hatte den Wagen geholt und fuhr vor. Aaron packte das Gepäck in den Kofferraum und stieg ein. Samuel fuhr los; Aaron winkte noch allen zum Abschied.

Die Fahrt verlief still. Plötzlich begann Samuel zu sprechen:

„Ich habe gesehen, dass du mit Rabbi Weinstein zusammen auf dem WC warst. Hat er etwas von dir gewollt?“

„Nein! Ich hatte zwar gehört, dass jemand da war, aber er ging vor mir raus. Warum?“

„Nur so! Ich dachte nur: Wenn da etwas gewesen wäre, würdest du es mir doch sagen?“

„Ja, Vater!“

Aaron hoffte inständig, dass sein Vater nicht bemerken würde, dass er log.

„Wir sind da.“

„Ja, Vater!“

Aaron stieg aus; er dachte nicht, dass sein Vater ihm hinterherkam. Jetzt standen sie sich gegenüber – Samuel hatte ebenso Angst wie sein Sohn. Doch er wagte den ersten Schritt:

„Pass auf dich auf, mein Sohn.“

„Ja, Vater!“

Dann fasste Samuel seinen Mut zusammen – obwohl es eigentlich verboten war –, nahm seinen Sohn in den Arm und drückte ihn ganz fest an sich.

„Ich liebe dich, mein Sohn“, schoss es aus ihm heraus.

„Ich liebe dich auch, Vater. Bis bald!“

„Bis bald!“

Aaron nahm sein Gepäck und ging. Samuel stand mit Tränen in den Augen da und schaute seinem Sohn nach.

Der lief zur Abfertigungshalle und stellte sich in die Schlange. Nach dem Check-in ging er zu seinem Terminal und wartete bis zur Flugansage.

Wieder flog er mit easyFlot – besser als nichts; besser als in Freiburg bleiben zu müssen.

Der Flug wurde aufgerufen; Aaron bestieg das Flugzeug. Die 90 Minuten vergingen wie im Flug. Die Maschine landete planmäßig – endlich war er wieder zuhause.

Berlin bleibt eben Berlin!

Vor dem Flughafen standen Taxis; Aaron nahm eines und ließ sich in die Jägerstraße fahren. Dort angekommen holte er sein Gepäck ab und klingelte bei Frau Braun.

Er wollte endlich seinen Levi wiedersehen.

Sie öffnete erfreut die Tür: „Hallo, Frau Braun! Da bin ich wieder. Ich hoffe, Levi war brav?“

„Hallo Aaron! Schön, dass du wieder da bist. Ja – der kleine Schatz war lieb.“

Levi kam sofort angerannt und begrüßte seinen Herrn freudig.

„Danke nochmal fürs Aufpassen auf ihn.“

„Sehr gerne – immer wieder gern.“

Aaron lächelte sie an und öffnete die Tür zum Lift.

„Bis morgen zum Gassi gehen.“

„Bis morgen, Aaron.“

Der Aufzug fuhr in die obere Etage; Aaron und Levi stiegen aus.

Endlich wieder zu Hause, schmiedete Aaron bereits einen Plan für den nächsten Tag: Er würde einen Termin bei Frau Doktor Blanck vereinbaren – um von Freiburg zu berichten.

Therapiestunde

Die Therapiestunde in der Praxis von Frau Dr. Blanck musste abrupt unterbrochen werden. Die Sitzung war zu belastend für Aaron. Der kürzliche Tod seiner Oma Hannah machte ihm zusätzlich schwer zu schaffen.

Dr. Blanck saß in ihrem Sessel und schaute Aaron an. Dann sagte sie zu ihm:

„Aaron, ich zähle jetzt rückwärts von drei auf eins. Wenn ich bei eins bin, wachst du auf und kommst wieder ganz im Hier und Jetzt an.“

Sie begann, von drei auf eins zu zählen. Anschließend fragte sie ihn:

„Ist alles okay?“

Aaron war noch benommen, reagierte aber auf die Worte seiner Psychologin.

„Ja!“

„Du hast noch viel zu verarbeiten, Aaron. Da haben wir noch einige Therapiesitzungen vor uns. Diese gewaltige Angst und Wut in dir frisst dich sonst auf!“

Aaron blickte seine Therapeutin irritiert an.

„Ich weiß nicht, was ich gerade erlebt habe. Alles war so verschleiert!“

„Du warst mitten in diesem Szenario! Du dachtest, sie wollen dich wieder missbrauchen.“

Aaron zitterte und war noch immer benommen.

„Ich fühle mich müde!“

„Wir machen für heute Schluss, aber wir setzen die Behandlung bei unseren nächsten Sitzungen genau hier fort. Ich nehme alles auf, damit wir Beweise haben, falls du sie brauchst.“

„Danke, Frau Dr. Blanck!“ Aaron wirkte müde und irritiert.

„Du kannst hier sitzen bleiben. Ich habe nebenan einen anderen Patienten, den ich jetzt noch behandeln muss. Bis bald, Aaron.“

Aaron sank in den Sessel und sagte leise:

„Bis bald.“

Dr. Blanck verließ den Behandlungsraum; Aaron blieb noch einen Moment sitzen. Als er sich besser fühlte, stand er auf.

Er musste noch einkaufen gehen und brauchte einen Kaffee – er wollte einfach die Seele baumeln lassen. Er hasste sein momentanes Leben. Er fühlte sich einsam und verlassen. In seinem Inneren schlummerte die Sehnsucht nach jemandem, mit dem er glücklich sein konnte.

Stefan Kowski in seinen jungen Jahre

Erste Begegnung - Stefan

Ein paar Kilometer östlich von Aaron gab es einen jungen Mann, der genauso einsam war wie er. Er saß gerade auf der Eckbank in der Küche seiner Wohngemeinschaft und schrieb an einer Kontaktanzeige. Auch er wollte endlich jemanden in seinem Leben finden, den er tief in sich suchte – vielleicht einen Seelenverwandten?

„Ich bin Stefan, 21 Jahre jung, Barkeeper, und suche ihn zum Verlieben.“

Nein, das passt nicht zu mir, dachte Stefan.

„Wer liest denn so eine stümperhafte Kontaktanzeige? Ich muss das noch einmal machen!“

„Habe zwar schon eine Beziehung, aber mein Kater wird sicher nicht eifersüchtig. Bin 21, habe Arbeit – und ich suche dich! Ja, genau dich zum Verlieben!“

„Wow, das klingt geil!“, rief Stefan laut.

Petra kam gerade in die Küche. „Hast du etwas?“

„Nein, alles gut! Ich habe gerade meine Kontaktanzeige fertiggestellt. Magst du sie lesen?“

Petra überflog den Text und nickte zustimmend. „Liest sich super, Stefan. Hoffe, dass sich jetzt dein Traumprinz meldet – der dich liebt und den du anhimmeln kannst. Wir werden alle nicht jünger.“

Lachend antwortete Stefan: „Petra, wir sind doch noch jung! Apropos jung: Kommst du heute Abend ins Doodels?“

„Glaub schon, aber nicht so früh – Peter kommt noch.“

„Bring ihn einfach mit!“

„Ich frag ihn, aber du weißt ja: Er fühlt sich unwohl bei dem Gedanken an Homos.“ Petra zupfte an ihrer weißen Bluse, als wolle sie die Steifheit eines langen Tages im Amt abschütteln, und ging zurück in ihr Zimmer.

„Ist gut!“, rief Stefan ihr nach.

Stefan wollte gerade seinen Laptop herunterfahren, als Rick hereinkam.

„Hey Stef, hast du Lust auf einen Kaffee?“

„Nee, Rick, ich muss noch meine Anzeige wegbringen.“

„Anzeige? Wozu?“, fragte Rick verdutzt.

„Für einen Freund – für meine große Liebe!“

„Da brauchst du doch keine Anzeige. So wie du aussiehst, bekommst du an jeder Ecke einen Typen.“

Stefan musste lachen; fast hätte er sich verschluckt.

„Ich will einen Seelenpartner, keinen One-Night-Stand!“

„Okay! Ich kann doch mitkommen – dann gehen wir hinterher Kaffee trinken.“

„Klingt gut!“ Stefan klappte seinen Laptop zu. „Du hast gut reden, hast ja anscheinend den ganzen Tag Zeit.“

Rick grinste nur. „Zeit ist das Einzige, was ich im Überfluss habe. Also, können wir los?“

Da sie keine Jacken brauchten – es war ein angenehm warmer Tag in Berlin –, machten sie sich auf den Weg.

„Nehmen wir das Auto oder die Bahn?“, wollte Rick wissen. Er mochte es nicht besonders, mit der S-Bahn oder gar der Tram zu fahren.

„Ich denke, die Bahn – heute ist ein schöner Tag. Ich muss zur Zweiten Hand! Die ist in Treptow, gegenüber vom Park Center. Wollen wir dort danach einen Kaffee trinken gehen?“

„Können wir, aber ich kann diese S-Bahn-Fahrerei nicht ausstehen!“

„Mensch, du und dein Auto – wir haben doch Zeit!“

„Okay, Stefan, ist ja schon gut. Du hast gewonnen! Lass uns mit der S-Bahn fahren.“

Die beiden liefen zum S-Bahnhof Warschauer Straße, um die Linie nach Treptow über Ostkreuz zu nehmen.

„Ist die Baustelle am Ostkreuz endlich fertig?“

„Nee, Rick! So eine riesige Baustelle braucht ewig.“

„In Berlin wird nichts fertig – ich sag nur Flughafen.“

„Iwo, Rick. Schau dir doch das neue Stadtschloss an. Es soll 2020 fertig werden und ist unter voller Kostenkontrolle.“

Laut lachend sagte Rick: „Ja, ja – nur das alte Stadtschloss war viel teurer!“

Die Bahn kam an der Station Treptower Park an.

„Komm, Rick, die Zweite Hand ist da vorne!“

„Stef, ich geh zum Café im Park Center und warte dort auf dich.“

„Okay, Rick. Ich ruf dich dann an, wenn ich fertig bin.“

Rick lief in Richtung Einkaufszentrum; Stefan wartete an der Ampel, um auf die andere Straßenseite zu gelangen. Dort befand sich die Zweite Hand. Die Schiebetür öffnete sich bereits, als er näher kam; Stefan trat ein.

Am Empfang saß eine junge, freundlich wirkende Dame.

„Guten Tag, was kann ich für Sie tun?“, fragte sie höflich.

Leicht nervös sagte Stefan: „Guten Tag. Ich würde gerne eine Kontaktanzeige aufgeben.“

Als er das sagte, bemerkte er, dass ihm der Kopf heiß wurde und er rot wurde.

„Das muss Ihnen jetzt nicht unangenehm sein. Sie ahnen nicht, wie viele Menschen so etwas täglich machen“, beruhigte ihn die Dame. „Dann geben Sie mal her!“

Stefan reichte ihr seine Anzeige; sie bemerkte sofort einen Fehler.

„Sie wollen bei ‚Er sucht Sie‘ inserieren?“

„Nein!“, rief er schnell dazwischen. „Das möchte ich nicht. Ich möchte bei ‚Er sucht Ihn‘ inserieren.“

„Gut, dann ändere ich das kurz ab – so sieht es aus, als würden Sie eine Frau suchen.“

„Verstanden. Dann ändere ich das entsprechend.“

Stefan diktierte der Dame hinter dem Tresen seinen neuen Text:

„Habe zwar eine Beziehung, aber mein Kater wird sicher nicht eifersüchtig auf dich! Bin 21 Jahre alt, habe Arbeit – und suche einen Ihn. Ja genau – einen Ihn zum Verlieben!“

„So klingt es viel besser!“, sagte die Dame höflich und nickte zufrieden.

„Ist die Anzeige dann am Donnerstag bereits online? Was muss ich bezahlen?“

„Ja, die Anzeige ist ab Donnerstag online. Es kostet 5 Euro Gebühr oder 6,50 Euro, wenn Sie sie mit Chiffre schalten möchten.“

„Gut, ich nehme die Chiffre-Option für 6,50 Euro.“

Stefan bezahlte und verließ die Zweite Hand, um Rick im Park Center zu treffen.

Er musste an der Ampel warten, bis diese auf Grün schaltete. Gerade als er nach links blickte und daran dachte, wie er seinen ersten Kuss unter den gigantischen Molekül-Figuren gegenüber dem Treptower Park bekam – hupte ihm ein junger Mann aus einem schwarzen Audi Cabrio zu.

Der zwinkerte ihm frech zu und grinste dabei schelmisch.

Stefan konnte kaum reagieren vor Überraschung; er sah nur noch das Cabrio weiterfahren.

Die Visitenkarte

Die Ampel sprang auf Grün, und Stefan konnte endlich über die Straße ins Park Center gehen.

Vor dem Eingang zog er sein Handy aus der Tasche und rief Rick an.

„Hey Rick, wo bist du?“, fragte er neugierig.

„Ich bin im ersten Obergeschoss, im Café bei der Rolltreppe.“

„Okay! Ich komme gleich hoch.“

„Gut, dann mal zack!“

Gerade als Stefan ins Center gehen wollte, sah er den Jungen von vorhin wieder. Dieser grinste ihn an, woraufhin Stefan die Hitze ins Gesicht schoss. Er starrte auf seine Schuhspitzen und lief schnellen Schrittes zur Rolltreppe. Zum Aufzug konnte er nicht, da stand der Junge.

Oben angekommen, schaute er sich verstohlen um, war aber erleichtert, dass der Junge ihm nicht gefolgt war.

Stefan entdeckte Rick, der ihm aus einem Café zuwinkte.

„Hey Rick!“, sagte Stefan und ließ sich auf den Stuhl fallen. „Du glaubst nicht, was gerade passiert ist!“

„Was war denn los?“, fragte Rick neugierig.

Stefan begann zu erzählen: „Als ich vorhin an der Ampel stand – da hat so ein süßer Junge in einem dunklen Audi Cabrio gehupt und mir zugezwinkert.“

„Echt? Was hast du gemacht?“

„Nichts – ich konnte gar nicht so schnell reagieren!“, gestand Stefan.

„Haha, du Armer! Und jetzt ist er weg?“

„Nee, ist er nicht! Ich habe ihn unten vor dem Haupteingang gesehen und er hat mir wieder zugezwinkert.“

„Und?“, bohrte Rick nach.

Stefan starrte auf den Kaffeering auf dem Tisch. „Ich hab... weggeschaut“, murmelte er. Sonst war er immer das Großmaul; hier versagte er jedoch.

„Oh nein, Stefan – so wird das nie etwas mit einer neuen Beziehung!“

„Ich weiß! Nur kenne ich ihn ja nicht“, erwiderte Stefan.

„Jeder ist ein Unbekannter – bis du ihn kennenlernst. Mit dieser Einstellung wirst du nie unter die Haube kommen. Oft sind das die coolsten Romanzen!“

Gerade als Rick das gesagt hatte, sah Stefan den Jungen die Rolltreppe hochkommen. Ein Kribbeln durchzog seinen ganzen Körper. Schnell drehte er den Kopf zur Seite.

Rick hatte es ebenfalls bemerkt. „Na, ist er das vielleicht?“, fragte er grinsend.

„Ja – aber nicht so laut!“, fauchte Stefan ihn an.

„Hey, der setzt sich da vorne hin! Soll ich ihn auf eine Tasse Kaffee einladen?“, neckte Rick ihn.

„Nein, Rick! Bist du doof?“, erwiderte Stefan genervt.

Verlegen spähte Stefan nach hinten, wo der Junge saß. Wie es der Zufall wollte, blickte auch Aaron im selben Moment zu Stefan herüber. Ihre Blicke trafen sich wie zwei Magnete; keiner von beiden konnte sich abwenden.

„Mist – er hat mich gesehen!“, zischte Stefan.

„Na ja, wenn du wie ein Irrer dahin starrst!“

Rick amüsierte sich köstlich. Stefan wandte den Blick ab und nutzte Rick als seinen Informanten.

„Was macht er jetzt?“, fragte er.

„Er kommt rüber!“, flüsterte Rick verschwörerisch.

„Ja, ja, du wieder. Dieses Mal falle ich nicht darauf rein!“, gab sich Stefan cool. Plötzlich hörte er eine ruhige Stimme neben sich: „Hey, wie geht’s!“

Stefan blieb wie versteinert sitzen. Er konnte sich weder rühren noch etwas sagen. Dafür übernahm Rick die Situation.

„Er ist ein Angsthase!“, sagte Rick zu Aaron.

„Interessant“, erwiderte Aaron mit einem leichten Lächeln und verschwand hinter der Tür zu den Toiletten.

Stefan konnte immer noch nichts sagen. Als er sich gefasst hatte, sagte er etwas zu selbstsicher: „Wow, hat der Typ eine geile Stimme – und was für einen Hintern!“

„Komm! Geh ihm nach und mach ihn an. Du bist doch sonst nicht so ein Schisser.“

„Nee, Rick, kommt nicht in die Tüte. Ich habe keine Ahnung, warum ich bei ihm so komisch bin.“

„Was sich liebt, das neckt sich, Stefan.“

„Ich muss mal an die Theke – der Kaffee braucht ewig!“

Gerade als Stefan aufstehen wollte, kam Aaron aus der Toilette zurück und spazierte direkt auf ihren Tisch zu. Er blieb vor Rick stehen.

„Hey, wo ist denn der Kleine?“, wollte Aaron von Rick wissen und ignorierte Stefan dabei scheinbar.

„Der will gerade an die Theke gehen, aber das kann dauern. Wenn er dich hier sieht, kommt er gar nicht.“

„OK, kannst du ihm das bitte von mir geben?“

Aaron streckte Rick eine kleine, weiße Karte hin.

„Ja klar, mach ich gerne.“ Rick nahm die Visitenkarte. „Guter Schachzug.“

„Danke. Ich verschwinde dann auch schon wieder – sonst traut er sich nicht mehr her.“ Aaron zwinkerte Rick zu, drehte sich um und ging.

Als Aaron weg war, kam Stefan langsam wieder zu sich.

„Was wollte der denn von dir?“

„Na, anbaggern – was denkst du denn?“, grinste Rick schelmisch.

Stefans Schultern sackten ein wenig in sich zusammen. „Ach so“, sagte er tonlos. „Sind halt alle gleich.“

„Nee Quatsch! Er hat mir diese Karte für dich gegeben!“

Rick reichte Stefan die Visitenkarte von Aaron und lächelte ihn dabei an.

Stefan nahm die Karte, als wäre sie aus glühendem Eisen. Darauf stand in schlichter, eleganter Schrift ein Name und eine Telefonnummer. Handschriftlich war darunter gekritzelt: Ruf mich mal an.

„Der heißt Aaron“, sagte Stefan leise, mehr zu sich selbst.

„Hey, du bist ja verliebt!“, stellte Rick fest.

„Fühlt sich schön an, wenn ich an ihn denke… aber…“

„Na, rufst du ihn an?“

„Vielleicht – vielleicht auch nicht!“, sagte Stefan und versuchte, cool zu klingen.

Rick lachte. „Jaja, du und dein großes Maul.“

Stefan blickte auf die Karte in seiner Hand. „Hey, er wohnt in Mitte – wow.“

Doodels

Stefan steckte die Visitenkarte vorsichtig in die Tasche seiner Jeans, als wäre sie ein Schatz.

„Mein Kaffee ist leer – wie sieht’s bei dir aus?“, fragte Rick und wollte wieder losgehen.

„Ich gehe mal zahlen; du bist eingeladen – weil du diesen Aaron abgewehrt hast.“

„Oh danke, Stefan!“, scherzte Rick.

Die beiden verließen das Café und machten sich auf den Weg zur S-Bahn-Station. Nachdem sie eine Bahn verpasst hatten und über Gott und die Welt gequatscht hatten, stiegen sie schließlich ein. Am Alexanderplatz trennten sich ihre Wege vorerst, nachdem Rick einen Anruf von seiner Ex-Freundin Mary erhalten hatte.

„Kein Problem, Rick. Ich gehe dann alleine nach Hause.“

„Okay, Stefan. Mach’s gut. Vielleicht komme ich später noch ins Doodels.“

„Okay!“, verabschiedete sich Stefan und ging in Richtung U-Bahn, um zur Frankfurter Allee zu fahren.

Während er zum Bahnsteig schlenderte, fiel ihm die Visitenkarte von Aaron wieder ein. Er holte sie aus der Tasche und las den Text darauf: „Aaron Mangold, Jägerstraße in Berlin.“ Ein Kribbeln durchfuhr ihn bei dem Gedanken an den Mann im Cabrio.

„Ah, die Bahn steht schon – jetzt aber schnell!“, murmelte Stefan und rannte zur Bahn. Gerade noch rechtzeitig bekam er Einlass – ein netter junger Mann hielt ihm die Tür offen.

„Danke!“, sagte Stefan höflich zu dem Fremden.

Ein freundliches „Bitte!“ kam zurück – gefolgt von einem süßen Lächeln und den Worten: „Ich bin Roman!“

„Hi Roman!“, erwiderte Stefan und nahm den freien Platz neben ihm ein. Sie kamen ins Gespräch, Roman war charmant und direkt. Er erfuhr, dass Stefan als Barkeeper im Doodels arbeitete, einem bekannten Gay-Club.

„Wirklich? Das Doodels? Da wollte ich immer schon mal hin“, sagte Roman.

„Aber pass auf: So süße Typen werden dort oft angebaggert!“, seufzte Stefan.

„Na ja… klingt aber nicht so cool. Wirst du oft angemacht?“, fragte Roman neugierig.

„Geht so… Aber ich finde es schade, wenn man an jemanden interessiert ist und dieser nur auf Baggern oder Sex aus ist.“

Als Roman aussteigen musste, reichte er Stefan die Hand zum Abschied und steckte ihm dabei unbemerkt einen kleinen Zettel zu. Auf dem Bahnsteig drehte er sich nochmal um. Stefan rief ihm hinterher: „Danke für deine Nummer!“ Auf dem Zettel stand: „RUF MAL AN! ROMAN.“

Hey, zwei interessante Typen an einem Tag, dachte Stefan. Er war geschmeichelt, aber seine Gedanken kreisten immer noch um die schlichte, elegante Visitenkarte in seiner anderen Tasche.

Der Rest der Heimfahrt verging schnell. Zu Hause traf er Petra, die Spaghetti gekocht hatte. Beim Essen erzählte er ihr von den beiden Begegnungen.

„Heute haben gleich zwei süße Typen mich angebaggert – und beide haben mir ihre Nummer gegeben.“

„Hey, das ist ja cool! Siehst du, Stefan! Du bist doch nicht so uncool, wie du immer sagst!“, lachte Petra. „Kommen die heute Abend auch ins Doodels?“

„Denke nicht. Der eine weiß zwar, dass ich im Doodels arbeite, aber der andere nicht“, sagte Stefan und dachte bei dem "anderen" an Aaron.

„Na, nicht, dass beide kommen! Das könnte peinlich für dich werden.“

„Wird schon nicht“, grinste Stefan und zog sich in sein Zimmer zurück, um an einer neuen Cocktail-Idee zu feilen.

Als der Abend näher rückte, legte er seine Notizen beiseite. Es war Zeit für die Arbeit.

Frisch geduscht und dezent gestylt, traf er im Wohnzimmer auf Peter und Petra, die es sich inzwischen gemütlich gemacht hatten.

„Hey, Stefan, siehst du sexy aus!“, sagte Peter zwinkernd.

„Hey Petra, seit wann steht dein Peter auf Männer?“, konterte Stefan.

Alle lachten. Nach etwas Geplänkel verabschiedete sich Stefan, um zur Arbeit zu fahren.

Im „Doodels“ wurde er von Sascha und seinem Kollegen Martin begrüßt. Nachdem Martin Feierabend gemacht hatte, legte Stefan Musik auf und der Club füllte sich langsam. Er mixte seinen neuen Cocktail – eine Kreation aus Chili, Kokosnussmilch und Rum – und brachte Sascha den ersten zum Probieren.

„Du, der schmeckt so was von gut!“, säuselte Sascha ihm ins Ohr. „Zuerst süß, dann kommt die leichte Schärfe. LECKER!“

Gerade als Stefan sich über das Lob freute, stürmte Rick an die Bar, sichtlich aufgewühlt.

„Hey Rick! Langsam – ich versteh nichts!“

„Ach, Stefan, es ist alles Mist… Nee, im Ernst: Ich werde Vater!“

„Was?“, entfuhr es Stefan. „Mit deiner Ex? Mit Mary?“

„Ja, sie hat es mir vorhin gesagt. Und jetzt fliegt sie erstmal für drei Monate nach Peru.“

„Herzlichen Glückwunsch… glaube ich“, sagte Stefan und reichte seinem Freund einen Whisky aufs Haus. „Das ist ja mal eine Nachricht.“

Während Stefan Rick tröstete und andere Gäste bediente, bemerkte er aus dem Augenwinkel eine bekannte Gestalt am Eingang: Roman. Sein Herz machte einen kleinen Hüpfer. Mist, was mach ich jetzt?, dachte er.

Stefan tat so, als würde er Roman nicht bemerken. Doch wenige Minuten später stand dieser direkt vor ihm an der Bar.

„Hey Stefan! Ich habe dich vermisst – jetzt bin ich hier.“

„Hey Roman! Was machst du denn hier?“, fragte Stefan und versuchte, seine Nervosität zu verbergen.

„Wollte mal sehen, wo du arbeitest. Und das Beste probieren, was du kannst.“

„Gut“, sagte Stefan und lächelte. „Ich mache dir meine neueste Kreation.“

Er mixte den Kokos-Chili-Cocktail und reichte ihn Roman.

„Der schmeckt wirklich hervorragend“, sagte Roman, nachdem er probiert hatte. „Leicht süß und im Abgang etwas scharf. Wie du vielleicht.“ Er zwinkerte.

Stefan lachte und ging um die Theke herum, um ein paar leere Gläser abzuräumen. Er stand nun direkt neben Roman.

„Und nun?“, fragte Roman leise. „Was würdest du am liebsten machen?“

Stefan blickte ihm in die Augen. Der Wunsch, ihn zu küssen, war da. Aber da war auch das Bild des Mannes im Cabrio, das sich in seinen Kopf eingebrannt hatte.

„Ich würde dich gerne auf dieses Bier einladen“, sagte Stefan schließlich mit einem charmanten Lächeln und wich der Frage elegant aus. „Aber nur, wenn du mir ehrlich sagst, was du von dem Laden hier hältst.“

Sie unterhielten sich, lachten viel, und die Chemie stimmte. Später am Abend, kurz vor Mitternacht, rief ihn sein Chef Heinz ins Büro. Dort eröffnete er ihm die überwältigende Nachricht: Ab Montag würde Stefan der neue Geschäftsführer des Doodels sein.

Völlig euphorisch rannte Stefan aus dem Büro, rief „Sekt für alle!“ und verkündete die Neuigkeit. Alle jubelten, gratulierten ihm, umarmten ihn. Es war ein perfekter Moment. Er schaute sich um, suchte nach Roman, um die Freude zu teilen. Rick, Petra und Peter waren schon gegangen, denn sie mussten den betrunkenen werdenden Vater nach Hause bringen. Und Roman?