Mann in Wut - Brad Taylor - E-Book

Mann in Wut E-Book

Brad Taylor

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Beschreibung

Die Taskforce wurde von der US-Regierung gegründet, um außerhalb des US-Rechts im Geheimen agieren zu können. Ihre Existenz ist ebenso wichtig wie illegal. Pike Logan ist einer der erfolgreichsten Teamchefs der Taskforce – bis eine persönliche Tragödie seinen Blick auf die Welt für immer verändert. Pike weiß, was die Regierung niemals zugeben würde: Die wahre Bedrohung kommt nicht aus einem fernen Land. Die wahre Bedrohung sind Männer, die in Amerika leben, Männer mit einer kranken Weltanschauung. Männer im Besitz furchtbarer Vernichtungswaffen, die sie auch einsetzen wollen. Es ist das Pech dieser Männer, dass sie Pike Logans Weg kreuzen – denn Pike hat absolut nichts mehr zu verlieren … Library Journal: 'Das tödliche Duell zwischen Pike und den Terroristen ist intelligent und brutal … Taylor schreibt sehr authentisch. Man glaubt, einen echten antiterroristischen Einsatz zu erleben.' FreshFiction.com: 'Ein verflucht gutes Buch. Ein Thriller von unerbittlichem Realismus.' Joseph Finder: 'Das kann nur jemand schreiben, der wirklich erfahren im Antiterrorkampf ist, so wie Brad Taylor.'

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Seitenzahl: 720

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Aus dem Amerikanischen von Alexander Amberg

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe One Rough Man erschien 2011 im Verlag Dutton, USA.

Copyright © 2011 by Brad Taylor

1. Auflage November 2015

Copyright © dieser Ausgabe 2015 by Festa Verlag, Leipzig

Veröffentlicht mit Erlaubnis von Dutton, ein Unternehmen der Penguin Publishing Group/Penguin Random House LLC.

Titelbild: Clinton Lofthouse

Lektorat: Alexander Rösch

Alle Rechte vorbehalten, auch die der vollständigen oder auszugsweisen Reproduktion, gleich welcher Form.

eISBN 978-3-86552-408-9

www.Festa-Verlag.de

Für meine Töchter, Darby und Savannah,weil eure Mutter so oft sagen musste: »Daddy wird heute nicht da sein …«

»Die Menschen schlafen nachts nur deshalb friedlich in ihren Betten, weil harte Männer bereitstehen, um für sie Gewalt auszuüben.«

– George Orwell

TEIL 1

1

Die Zielperson nahm eine Abkürzung. Ohne es zu wissen, verkürzte der Mann damit sein Leben um vier Minuten. Sein Auftauchen überraschte mich, weil ich extra in einer Seitengasse geparkt hatte, abseits der Route, die er eigentlich nehmen musste. Ich war davon ausgegangen, dass er sich für den längeren Weg rund um den Häuserblock entschied.

Gut 15 Meter hinter mir ging er ohne größere Eile die Straße entlang. Eine Minute später kam er an mir vorbei, ohne mich überhaupt wahrzunehmen, so dicht, dass ich einfach nur die Tür aufzureißen brauchte, damit er hinfiel. Es wäre ein Leichtes gewesen, ihm eins über den Schädel zu ziehen, ihn auf den Rücksitz zu verfrachten und wie der Teufel loszurasen. Aber selbst für meine Verhältnisse kam mir das ein bisschen extrem vor. Also ließ ich ihn laufen. Besser, man hielt sich an den Plan.

Ich drückte die Sprechtaste des Funkgeräts. »An alle Einsatzkräfte, hier spricht Pike. Zielperson hat gerade meinen Standort passiert, nähert sich der 22nd Street. Jetzt überquert er sie.«

Pike ist nicht mein richtiger Name, sondern mein Rufzeichen. Wir benutzen sie, weil keiner in meiner Einheit Wert auf militärische Bezeichnungen wie ›Victor-Bravo Drei-Sieben‹ legt. Gerne würde ich behaupten, mir meins bei einem krassen Einsatz verdient zu haben, aber niemand kann sich sein Rufzeichen aussuchen. Es findet einen, in der Regel unter nicht besonders schmeichelhaften Umständen.

In meinem Fall war es eine dumme Bemerkung während der Ausbildung gewesen. Ich wuchs in Oregon auf und verbrachte meine Zeit mit Fischen und Jagen. Beim Versuch zu beschreiben, wie man einen Hinterhalt legt, wählte ich eine unglückliche Beschreibung, indem ich sagte: »Wissen Sie, so wie ein Hecht angreift, wenn er andere Fische fängt.« Alle schauten mich für einen Moment schweigend an, bevor sie in Gelächter ausbrachen. Während der nächsten beiden Tage hieß es jedes Mal, wenn ich den Mund aufmachte: »Du meinst, so wie ein Hecht es machen würde?« Der Name blieb hängen: Hecht – Pike. Gar nicht so schlecht als Rufzeichen. Sie hätten mich genauso gut ›Flunder‹ nennen können. Alles in allem gefällt mir Pike wesentlich besser als mein eigentlicher Vorname, den hasse ich nämlich.

Vor mir lag die Foggy Bottom Street. Allmählich füllte sie sich mit den ganzen Angestellten, die zu Mittag essen wollten. Alle saßen im Freien, um die Sommersonne zu genießen. Das machte es dem Team zwar leichter, der Zielperson ohne Kompromisse zu folgen, allerdings verwandelte die Hitze meinen Wagen langsam in eine Sauna. Ich begriff nicht, weshalb der Kerl so ziellos draußen rumspazierte. Dieses Bewegungsmuster würde ihm früher oder später das Genick brechen. Der Mensch ist nun mal ein Gewohnheitstier. Was zunächst nach reinem Zufall aussieht, wird im Laufe der Zeit zu einem klaren Schema. Dieses Stadium von Vertrautheit hatten wir bei unserer Zielperson erreicht und standen nur wenige Minuten davon entfernt, ihn hochzunehmen.

Nachdem die Zielperson die Straße überquert hatte, betrat sie ein Café und setzte sich auf die Außenterrasse. Exakt im Zeitplan. Ich sah, wie das Team ihn wie eine unsichtbare Decke einhüllte. Die übrigen Passanten bekamen gar nicht mit, was hier gerade ablief. Bei solchen Missionen empfand ich stets ein perverses Vergnügen. Während die Leute sich abhetzten, um die nächste Bahn zu kriegen oder ein schnelles Mittagessen in den Bauch zu bekommen, rannten sie an einer der weltbesten Einsatztruppen vorbei und merkten es nicht mal.

Manchmal hätte ich am liebsten einen von ihnen festgehalten und ihn angebrüllt: »Weißt du überhaupt, was hier los ist? Bekommst du denn gar nicht mit, was gerade passiert? Du solltest deinem Schöpfer auf den Knien dafür danken, dass es Leute wie mich gibt, die deinen armseligen Arsch beschützen.« Klar, das ist unfair und arrogant. Ich schätze, die Operation durchzuführen, ohne dass jemand es mitbekommt, bringt Spaß genug. Bekam jemand davon Wind, konnten wir die Sache schließlich direkt abblasen. Unter dem Strich können sie sich jedenfalls weiterhin bei Starbucks ihren Kaffee holen oder über den Benzinpreis meckern, weil mein Team und ich wesentlich Schlimmeres verhindern – zum Beispiel, dass sich an der Schule, die ihre Kinder besuchen, ein Selbstmordattentäter in die Luft sprengt.

Meiner Meinung nach lässt sich die Welt fein säuberlich in zwei Gruppen unterteilen: in Fleischfresser und Pflanzenfresser. Weder an der einen noch an der anderen ist etwas auszusetzen. Beide sind notwendig. Die eine Gruppe trägt allerdings wesentlich mehr zum Erfolg der Gesellschaft bei als die andere. Die andere wird trotzdem benötigt, um ihren Beitrag zu schützen. Ich bin ein Fleischfresser. Meine Existenz gestattet es dem Pflanzenfresser, seinen Beitrag zu leisten. Manche Pflanzenfresser halten mich, da sie einer sogenannten zivilisierten Welt entstammen, für moralisch schlecht. Aber wenn der böse Mann kommt und der Pflanzenfresser um ein Wunder betet, ist er letzten Endes doch froh, dass es mich gibt.

Nachdem die Zielperson an mir vorbei war, stellte ich nach einem Blick über die Schulter überrascht fest, dass am Zugang zur Straße ein weiterer Mann stand – korpulent und kahlköpfig. Irgendwie wirkte er fehl am Platz. Er lungerte ein paar Sekunden herum, bevor er sich in meine Richtung in Bewegung setzte. Er folgt unserem Freund.

»An alle Einsatzkräfte, hier spricht Pike. Unsere Zielperson hat einen Schatten. Bleibt auf Empfang.«

»Sicher, dass es kein Phantom ist?« Bull sollte das Kommando für die Verhaftung geben. Seine Frage zielte darauf ab, ob ich mir die Verfolgung womöglich nur einbildete.

»Nein. Ich bin mir zwar nicht völlig sicher, aber er bog erst in die Straße ein, als die Zielperson schon vorbeigekommen war. Dann beschleunigte er rasch die Schritte, um sie einzuholen.«

Falls er tatsächlich unserem Mann folgte, hatte ich nicht die geringste Ahnung, aus welchem Grund. Uns lagen keinerlei Informationen vor, wonach unsere Zielperson einen Leibwächter oder Feinde hatte. Der Kerl konnte zur Polizei gehören, zu einer rivalisierenden Gruppe, vielleicht machte sich sogar jemand die Mühe, unsere Zielperson zu überwachen, um sie zu beschützen. Eventuell auch bloß ein Tourist, der sich verlaufen hatte, und ich sah wirklich Gespenster.

So oder so, unser Glatzkopf – und wer immer ihn noch begleiten mochte – musste von der Zielperson getrennt werden. War es ein Tourist, erledigte sich die Sache von selbst. Andernfalls musste sich mein Team darum kümmern. Schlugen wir erst mal zu, galt es, verdammt schnell zu handeln. Sobald wir diesen Typ beseitigten, wussten seine Leute Bescheid, dass sich noch jemand vor Ort aufhielt und sich für ihn interessierte.

Ich gab die Beschreibung des Schattens durch und beobachtete, wie er sich in dem Café einen Platz suchte, was meinen Verdacht bestätigte.

»Okay, hört zu! Wir halten uns an den Plan. Wenn Glatzkopf kein Phantom ist, wird er unserer Zielperson in die geplante Abschusszone folgen. Wir lassen die Zielperson durch, dann schnappen wir ihn uns. Bitte um Bestätigung!«

»Pike, ich bin’s, Knuckles … Wir können diesen Zugriff nicht zweimal am selben Tag durchziehen. Dabei verlieren wir unsere Zielperson. Wir müssen in Ruhe einen Plan ausarbeiten und nicht einfach so mir nichts, dir nichts auf die Leute losgehen.«

»Wir werden unsere Zielperson schon nicht verlieren, du wirst ihm nämlich an seinem Tisch einen Sender unterjubeln. Damit können wir ihn später in der Tiefgarage seines Apartments hochnehmen. Das war ohnehin Plan B. Statt einer Verhaftung sind es dann eben zwei.«

»Pike, der verdammte Sender hat noch nie funktioniert. Der schlägt dauernd falschen Alarm. Wenn’s dumm läuft, ziehen wir ungewollt eine alte Lady aus dem Verkehr.«

Knuckles war mein Stellvertreter, mein 2IC – Second-in-Command. Er ist wie eine Krake und hat seine Finger überall drin, aber das mach ich ihm nicht zum Vorwurf, weil er eben ein SEAL ist. Im Grunde ist er mir ziemlich ähnlich, nur dass er sich für die falsche Truppe entschieden hat. Sein Rufzeichen ist Knuckles. ›Glucke‹ würde besser zu ihm passen, zumindest solange wir eine Operation vorbereiten. Sobald wir im Einsatz sind, sollte man ihn in ›Tödliches Schlachtermonster‹ umbenennen. Im Augenblick befand Knuckles sich aber definitiv im Glucken-Modus. Er war ein pingeliger Perfektionist. Einer, der auf Nummer sicher gehen wollte, dass jeder Ausrüstungsgegenstand, jede taktische Einzelheit, jedes Vorgehen absolut narrensicher vorbereitet war.

Versteht mich nicht falsch. Das hat nichts mit mangelnder Flexibilität zu tun. Wenn es darum geht, eine Operation trotz unklarer Ausgangssituation durchzuführen, gehört er zu den Besten. Außerdem hatte er ja nicht ganz unrecht. Wenn von Anfang an alles perfekt durchgeplant ist, fällt es einem wesentlich leichter, im Notfall richtig zu reagieren. Wir nennen das ›Flexen‹. Legt man direkt falsch los, muss man von der ersten Sekunde an flexen. Die Sache ist die: Jede Operation läuft an dem einen oder anderen Punkt aus dem Ruder – so wie jetzt. Es spielt keine Rolle, wie vorausschauend man plant. Entweder man kann mit Überraschungen umgehen oder man kann es nicht.

»Hör mal, ich weiß um das Risiko, aber uns bleibt nicht mehr viel Zeit. Wir haben nicht genug Leute, um beide zu verfolgen. Wenn du ihn nicht kriegst, kriegst du ihn eben nicht.«

»Was, wenn der Schatten nicht allein ist?«

Knuckles folgte demselben Gedankengang wie ich. »Verstanden! Wir werden die Situation weit genug entwickeln, um zu bestätigen oder zu widerlegen, dass er allein ist. Wenn er mit anderen zusammenarbeitet, lassen wir ihn einfach ziehen. Wenn nicht, schnappen wir ihn uns in der primären Todeszone. Das heißt für dich und Bull Plan B für die Zielperson.«

Für einen Moment herrschte bedeutungsschwangeres Schweigen. Dann: »Roger. Out.«

»Bull, behalt den Glatzkopf im Auge. Pass auf, ob er mit jemandem Kontakt aufnimmt.«

Ich beobachtete, wie sich ein Obdachloser unserer Zielperson näherte. Oh Gott, und was jetzt? Das entwickelte sich zum reinsten Affentheater. Ich wollte gerade Knuckles anfunken, um ihn zu warnen, als ich begriff, dass es sich bei dem Penner um ihn handelte. Verdammt gute Tarnung!

Er bettelte um Kleingeld und hielt der Zielperson einen Becher unter die Nase. Der Mann ignorierte ihn. Knuckles wurde aggressiv und rief damit den Besitzer des Ladens auf den Plan. Das wird uns noch lange anhängen! Knuckles verstieß gegen die Grundregel jeder erfolgreichen Beschattung, indem er aktiv Kontakt zur Zielperson aufnahm. Obendrein veranstaltete er auch noch eine Szene, an die sich nach dem Zugriff jeder erinnern musste. Er würde sauer sein, dass ich ihn in diese Situation gebracht hatte.

Der Ladenbesitzer kam ärgerlich nach draußen gestürmt. Knuckles fuchtelte wild mit den Armen in der Luft, dabei fielen ihm die Münzen aus dem Becher und verstreuten sich ringsum. Er bückte sich vor der Zielperson und krabbelte auf dem Boden herum, um seine kostbaren Piepen einzusammeln. Dabei ließ er blitzschnell etwas in den Hosenaufschlag der Zielperson rutschen.

Einen passiven Minisender, kaum größer als eine Micro-SD-Karte. Er funktionierte so ähnlich wie ein Transponder bei der Mautkontrolle und setzte jedes Mal ein Signal ab, wenn er einen Spezialempfänger passierte. Das Praktische daran war, dass die Karte weder auf GPS-Peilung angewiesen war, noch selbst sendefähig sein musste. Durch den Verzicht auf entsprechende Bauteile konnte man sie äußerst kompakt herstellen. Der Nachteil bestand darin, dass sich auf diese Weise keine Ortung durchführen ließ. Die Karte konnte lediglich unsere Vermutungen hinsichtlich des Bewegungsmusters bestätigen, wenn die Zielperson brav die Receiver passierte, die wir entlang seiner üblichen Route installiert hatten.

Der letzte Empfänger befand sich im Treppenschacht der Parkhausanlage unserer Zielperson. Dort lauerte ein bestens getarntes Team, um zuzuschlagen, sobald das Signal des Minisenders empfangen wurde. Dummerweise trübten frühere Erfahrungen die Erfolgsbilanz beträchtlich. Es reichte schon, dass der Wind in die falsche Richtung blies, um einen Fehlalarm auszulösen.

Nachdem ich zugesehen hatte, wie Knuckles verscheucht wurde, funkte ich Bull an. »Tut sich was?«

»Nein. Er glotzt unsere Zielperson an, aber dank Knuckles’ kleiner Schauspieleinlage macht das momentan jeder. Hat zu niemandem Kontakt aufgenommen.«

»Roger. Retro, seid ihr bereit?«

»Yeah. Wir wissen bloß nicht, wie der Schatten aussieht.«

»Keine Sorge. Ich geb euch rechtzeitig ein Zeichen. Falls es nichts bringt …«

»Break – Break. Bull hier. Zielperson läuft weiter.«

Shit! Das ging aber schnell. Bereit oder nicht, die Zielperson zwang uns zum Handeln.

2

Colonel Kurt Hale wurde von den Beratern, die sich aus dem Oval Office drängten, fast über den Haufen gerannt. Noch vor wenigen Jahren, als er den Westflügel noch nicht so gut kannte, hätte ihn das ein bisschen eingeschüchtert. Heute ärgerte er sich bloß darüber, dass keiner von ihnen es für nötig hielt, sich zu entschuldigen. Sie waren viel zu sehr mit ihrer eigenen kleinen Welt beschäftigt, um ihn überhaupt zu bemerken.

Die persönliche Sekretärin des Präsidenten merkte ihm seine Verärgerung an und grinste. »Hängen Sie den Militärdienst an den Nagel, dann könnten Sie genauso sein.«

Kurt lächelte. »Nein danke, Sally! Kann ich rein?«

»Natürlich! Sie und seine Frau sind die Einzigen, die er nie warten lässt.«

Kurt betrat den Raum. Präsident Payton Warren kehrte ihm den Rücken zu. Er sah aus dem Fenster, offensichtlich tief in Gedanken versunken.

»Sir, soll ich später wiederkommen?«

Der Präsident schrak leicht zusammen und drehte sich lächelnd um.

»Nein, nein. Kommen Sie rein. Ein Gespräch über etwas wirklich Wichtiges kommt mir gerade recht.«

Der Präsident schüttelte Kurt herzlich die Hand. »Gehen wir ins Arbeitszimmer, damit uns niemand stört.«

Während Kurt dem Präsidenten folgte, überkam ihn wieder einmal Erstaunen über die Position, in der er sich befand. Ursprünglich war er nur einer von zahllosen Männern gewesen, die sich bemühten, den Präsidenten beim Schutz der Nation zu unterstützen. Doch ihre Beziehung hatte sich zu einer echten Freundschaft entwickelt – ohne dass sie darüber ihre jeweilige Funktion vergaßen. Zwar hatte der Präsident nie gedient, Kurt aber bewiesen, dass er scharfsinnig erfasste, wie man militärische Macht anwenden musste. Wenn er sich dazu gezwungen sah, setzte er sie wie ein Skalpell ein, wie einen Schmiedehammer. Allerdings lotete er zuvor erst alle anderen verfügbaren Optionen aus. Anders als bei anderen Politikern, mit denen Kurt zu tun hatte, vertraute er dem Urteilsvermögen und Engagement des Präsidenten.

Nachdem Kurt Platz genommen hatte, reichte Payton ihm etwas, das aussah wie eine Grußkarte.

»Was ist das?«

»Ich möchte, dass Sie das den Jungs als Zeichen meines Danks geben. Alles Gute zum Jahrestag!«

Kurt blickte auf die Datumsanzeige seiner Uhr. »Ja, ich schätze, Sie haben recht.«

»Heute vor drei Jahren. Ich sage Ihnen, ich ging davon aus, dass ich längst unter Anklage stehe oder im Gefängnis sitze, aber Projekt Prometheus lief so gut wie fehlerfrei ab. Im Wesentlichen dank Ihres Einsatzes und dem Ihrer Männer ist unser Land nach wie vor sicher.«

»Ich weiß das zu schätzen, Sir, aber es ist Ihr Job, der auf dem Spiel steht, nicht meiner. Und Sie hatten den Weitblick, um zu erkennen, dass das aus dem Kalten Krieg stammende System bei einer verdeckten Kriegsführung nicht funktioniert.«

Präsident Warren zuckte die Achseln. »Kommen Sie! Sie wollen sich den Erfolg nie als Verdienst anrechnen lassen. Heute ist der dritte Jahrestag! Nehmen Sie sich einen verdammten Augenblick, um sich über Ihre Leistung zu freuen. Überlegen Sie mal, was vor meiner Amtsübernahme los gewesen ist. Das hat mich ja überhaupt erst auf die Idee gebracht, Sie einzusetzen.«

Vor 9/11 hatte es keinen Bedarf an Projekt Prometheus gegeben. Alles war klar und deutlich umrissen gewesen. Das Verteidigungsministerium hatte sich ausschließlich auf militärische Aktivitäten konzentriert, während die CIA die sogenannte ›nationale Sicherheit‹ überwachte. Kurt und seine Leute betrachteten es insgeheim als gute alte Zeit. Sag mir, ob die Sowjets kommen, und ich sag dir, wie man sie in der Schlacht besiegt.

Nach den Anschlägen des 11. Septembers verschwammen die Grenzen zusehends. Statt das Hauptaugenmerk auf Allianzen zu richten, konzentrierte sich alles rein auf terroristische Bedrohungen. Sowohl die CIA als auch das Verteidigungsministerium betrachteten das Vereiteln von Anschlägen plötzlich als ihre ureigenste Aufgabe. Kurt konnte beide Seiten verstehen, doch die bestehenden Strukturen ließen keinen Spielraum. Das ganze System war auf den Kalten Krieg ausgerichtet und nicht dafür ausgelegt, Einzeltäter oder kleine Gruppen zu jagen. Kurt beobachtete das Machtgerangel zwischen beiden Organisationen und den eigenmächtigen Ausbau ihrer Ressourcen. Damals hatte er sich zunächst keine Gedanken darüber gemacht. Die USA wussten schon immer, wie man als Sieger aus einer Auseinandersetzung hervorging, und auch diesmal würden sie eine Lösung finden. Direkt nach dem 11. September trug er den Kampf zu den Feinden nach Afghanistan und rechnete damit, dass es bloß eine Frage der Zeit sei, bis die Vereinigten Staaten weltweit Ernst machten. Doch nach zwei Jahren Krieg wartete er immer noch darauf.

Zu seiner Empörung stellte er fest, dass die Zielstrebigkeit der Bemühungen zunehmend nachließ. Er wurde Zeuge, wie CIA und Verteidigungsministerium sich gegenseitig härter bekämpften als die Bedrohung durch den Terrorismus. Er war davon überzeugt, dass der Kalte Krieg sie so lange voneinander getrennt hatte, dass sie einander nicht mehr verstanden, geschweige denn einander vertrauten.

Kurt äußerte seine Ansichten und wartete darauf, dass jemand an höherer Stelle die Probleme in den Griff bekam, doch niemand schien willens oder dazu in der Lage zu sein. Als kaum ein Jahr nach 9/11 al-Qaida nahestehende Terroristen die Anschläge auf Bali verübten, bei denen mehr als 200 Menschen ums Leben kamen, begriff er, dass es so nicht mehr weitergehen konnte. Er tat sich mit Gleichgesinnten aus der Geheimdienstszene zusammen, um auf eigene Faust etwas zu verändern.

Ihr ursprüngliches Vorhaben beruhte auf einer simplen Idee: dem Schaffen einer gemeinsamen Organisation, die geheime Optionen von CIA und Verteidigungsministerium dauerhaft vereinte. So ließ sich das Übel an der Wurzel packen und zugleich der doppelte Aufwand und das gegenseitige Misstrauen eliminieren. Das Endergebnis hätte in  einer Verschmelzung von nachrichtendienstlichen Aktivitäten und direktem Handeln bestanden und das Land in die Lage versetzt, einer Spur zu folgen, bis diese im wahrsten Sinne des Wortes erlosch. Schließlich wurden ihre Überlegungen sogar von der National Command Authority – der Nationalen Kommandobehörde – wahrgenommen und sie erhielten grünes Licht für einen Testlauf.

Beim Gedanken daran musste Kurt lächeln. »Ja, bei diesem ersten Versuch habe ich die Bedeutung des Wortes ›vergeblich‹ neu gelernt. Ich kann nicht glauben, wie naiv ich damals gewesen bin. Abgesehen davon, dass wir uns Feinde machten, brachten wir rein gar nichts zustande. Wären Sie nicht auf den Plan getreten, hätte ich meinen Dienst quittiert und würde heute wahrscheinlich bei Walmart Regale einräumen.«

Anstatt sofort einsatzfähig zu sein, hatte die neue Einheit erst einmal mächtig Ärger bekommen. Eine neue Einheit, egal wie gut sie sein mochte, musste sich immer noch gegen die für den Kalten Krieg errichteten bürokratischen Hürden zur Wehr setzen.

Ein ganzes Jahr hatte Kurt mit Haareraufen verbracht, während er versuchte, seine Männer in den Einsatz schicken zu können, dabei aber mit einem Problem nach dem anderen konfrontiert wurde. Falls nicht gerade irgendein Holzkopf im Pentagon den Militärangehörigen den Marschbefehl verweigerte, durften seine CIA-Angehörigen nicht teilnehmen, weil kein Präsidentenerlass für eine verdeckte Operation vorlag. Er war sich vorgekommen, als wolle er in hüfthohem Wasser einen Marathon laufen.

Kaum hatte er den Papierkrieg mit dem Verteidigungsministerium hinter sich, bereitete schon wieder die CIA Schwierigkeiten. Hatte er endlich den Amtsschimmel in Washington ausgetrickst, machte ihm der Botschafter des Landes, in dem er aktiv werden wollte, einen Strich durch die Rechnung. Wieder und wieder entschieden die Botschafter, entweder politische Gesandte oder Karrierediplomaten, dass es wegen der zurzeit vor ihrer Haustür stattfindenden Wahlen oder der Kaffee-Ernte oder des jüngsten Artikels in der New York Times im Moment unpassend sei, Terroristen zu jagen. Kurt war vollkommen klar, dass es sich um Bullshit handelte – schwachsinnige politische Ausflüchte –, aber nachdem der Botschafter bei allem das letzte Wort hatte, was sich innerhalb seines Einflussbereichs mit der US-Regierung abspielte, konnte er nichts dagegen tun.

Irgendwann hatte Kurt die Nase voll. Die Spezialeinheit bestand gerade mal zwölf Monate, als er das Handtuch warf. Nicht eine einzige Operation war erfolgreich verlaufen. Mit großem Trara wurde die Einheit unter höhnischem Gejohle der konkurrierenden Dienste aufgelöst, während die bürokratischen Arschlöcher sich an ihrem Niedergang weideten, da nun nichts mehr ihre Zuständigkeiten infrage stellte.

»Ja, natürlich«, sagte Präsident Warren. »Sie sind nicht der Typ, den man in Rente schickt. Dieser erste Versuch war nicht vergeblich. Sie haben ziemlich Wind gemacht. Genug, um aufzufallen. Ihr Name wurde bis zu mir weitergetragen. Man hat Sie mir als Mann mit Ideen beschrieben. Den Rest kennen Sie.«

Nachdem sein erster Versuch sich als Fehlschlag erwiesen hatte, ließ Kurt sich zu den Vereinigten Generalstabschefs im Pentagon versetzen und blies eine Zeit lang Trübsal, während er gleichzeitig versuchte, seine neue Position zu genießen. Wahrscheinlich wäre er einfach aus dem Staatsdienst ausgeschieden, hätte es nicht 2004 die Zuganschläge von Madrid gegeben. In deren Folge leitete nämlich ein Präsidentschaftskandidat namens Payton eine ernsthafte Analyse grundlegender Strategien zur Landesverteidigung ein.

Kurt erinnerte sich noch sehr gut an ihre erste Begegnung. Einmal nach seiner ehrlichen Meinung gefragt, hatte er sich nicht länger zurückhalten können. Kurt war klar, dass sich etwas ändern musste. Al-Qaida würde ihnen kaum die Zeit geben, das angeschlagene System in Ruhe zu reparieren. Gefragt war eine schnelle Lösung, ein radikaler Kurswechsel. Eine Taskforce, die eigenständig Operationen durchführen konnte und weder in die Zuständigkeit des Verteidigungsministeriums oder des Direktors der nationalen Nachrichtendienste noch irgendeines Botschafters fiel. Der Gedanke war zwar verlockend, aber gefährlich. Er wusste, dass er damit drohte, ausgerechnet die Grundfesten seines Landes zu erschüttern – die Verfassung der Vereinigten Staaten.

Zu Kurts Überraschung hörte Warren ihm geduldig zu und verschaffte ihm schließlich die nötige Rückendeckung, um die Sache durchzuziehen. Projekt Prometheus sollte ohne offizielle Autorisierung der Regierung agieren, allerdings mit einem entsprechenden Sicherheitsnetz. Sollte etwas schrecklich schiefgehen, würde der Präsident in die Bresche springen und die Verantwortung übernehmen. Watergate wäre nichts im Vergleich zu dem Eklat, den das nach sich zog, aber angesichts der Bedrohung schien es das Risiko wert zu sein. Wenn sie versagten, kostete es den Präsidenten den Kopf und erschütterte die Grundfesten des Machtgefüges.

In aller Stille wurde die Taskforce aufgestellt. Nichts von dem, was sie taten, wurde von der US-Regierung abgesegnet. Jede Aktion verlief unter dem Deckmantel eines unabhängigen Unternehmens, entweder in den USA oder in einem anderen Teil der Welt angesiedelt. Die Mitglieder der Einsatzgruppe wurden anderen, quer über die Staaten verteilten Einheiten zugewiesen. Der harte Kern aus Logistik, Fernmeldern und Führungsstab ›arbeitete‹ entweder in der CIA-Zentrale oder war der Abteilung J3 im Pentagon – Special Operations – unterstellt. Hätten die falschen Leute von der Existenz der Einheit Wind bekommen, sie wären erbarmungslos dagegen vorgegangen. Allerdings war das in den letzten drei Jahren nicht passiert.

»Ja«, sagte Kurt, »wir hatten ziemliches Glück. Sehen wir zu, dass die Geschichte weiterhin im Dunkeln bleibt. Hoffentlich kann ich Sie noch eine Weile länger vor dem Knast bewahren.«

»Klingt gut«, meinte Präsident Warren und kicherte. »Wo wir gerade von Gefängnis sprechen: Haben Sie im Moment etwas am Laufen, worüber ich Bescheid wissen sollte?«

Kurt war froh, dass Warren das Schwelgen in Erinnerungen aufgab und endlich zur Sache kam. »Ja, das haben wir allerdings. Entsinnen Sie sich noch an den Schleuser in Jordanien, den wir mittlerweile seit fast einem Jahr überwachen? Wir stehen kurz davor, ihn hochzunehmen.«

»Ja. Azzam Irgendwas?«

»Genau der. Wie Sie wissen, bezieht sich unsere Vollzugsermächtigung auf Jordanien. Aber die Zielperson ist nach Tiflis in Georgien gereist. Normalerweise wäre mein Vorschlag, das Team vor Ort zu lassen und einfach abzuwarten, bis er zurückkommt. Aber ich glaube, wir müssen uns in Georgien an seine Fersen heften.«

»Weshalb? Wozu die Eile?«

»Wir vermuten, dass er sich nukleares Material beschaffen will.«

3

Weshalb bricht die Zielperson so schnell wieder auf? Ich funkte Bull an. »Was ist passiert?«

»Keine Ahnung! Vielleicht hat Knuckles ihn aufgescheucht. Jedenfalls geht er.«

»Bleib an unserem Schatten dran und gib mir Bescheid, wenn er sich rührt. Retro, mach dich bereit. Wenn unser Schatten ein Gespenst ist, übernimm die Zielperson, sobald ich den Befehl dazu gebe.«

»Roger.«

Bull meldete sich erneut. »Der Schatten bezahlt gerade.«

Ich spürte, wie mir der Schweiß ausbrach. So langsam wurde es eng. Mir blieb ein Zeitfenster von ungefähr zehn Sekunden, um den Zugriff auf die Zielperson auszulösen – oder das Team abzuziehen und auf den Schatten zu warten.

»An alle: Roger. Es geht los!«

Ich stieg aus dem Wagen und ging in die Richtung, die unsere Zielperson gewohnheitsmäßig einschlug. Falls er sich heute für einen anderen Weg entschied, konnten wir die Sache sowieso abblasen. Knuckles meldete sich: »Zielperson ist gerade an mir vorbei. Keine Abweichung.«

»Der Schatten nimmt denselben Weg.« Bulls Stimme.

»Wie weit liegt er zurück?« Ich musste sichergehen, dass die Zielperson sich während des Zugriffs außer Sichtweite befand. Wenn er mitbekam, wie wir bei seinem Schatten zuschlugen, machte er sich aus dem Staub.

»Du bist gut. Etwa 100 Meter. Wenn unser Ziel sich an sein übliches Muster hält, bekommt er nichts davon mit, wenn der Schatten die Abschusszone erreicht.«

Ich bezog Posten an der Ecke der kleinen Gasse, die sich direkt gegenüber der Straße befand, die unsere Zielperson gewohnheitsmäßig benutzte. Von hier aus konnte ich ihn im Auge behalten, ohne dass er direkt an mir vorbeimusste. Wir hatten uns für diesen Ort entschieden, weil man hier am Straßenrand nicht parken durfte, mit Ausnahme eines Behindertenparkplatzes auf halber Strecke, auf dem im Moment ein Lieferwagen stand. Parkverbot bedeutete in der Regel auch wenig Fußgängerverkehr, und damit keine Zeugen. Befand er sich erst einmal in dieser Straße, konnten wir ihn ausschalten. Den Schatten konnte ich nirgends entdecken. Gut so. Die Zielperson bog um die Ecke und schlenderte die Straße entlang, weg von mir, mitten hinein in die Abschusszone. Mir blieben noch ungefähr fünf Sekunden, um mit Sicherheit zu wissen, ob Glatzkopf nun ein Gespenst war oder nicht.

»Bull, wo zum Teufel steckt der Schatten? Ich kann ihn nirgends sehen.«

»Auf deiner Straßenseite, noch rund 40 Meter entfernt.«

Shit! Natürlich spazierte er nicht direkt hinter dem Kerl lang. Er lief mir unweigerlich in die Arme. Ich machte Anstalten, zu verschwinden. Im Gehen alarmierte ich Retro.

»Retro, Retro, lass die Zielperson durch. Ich wiederhole: Lass die Zielperson durch. Knuckles, bleib an ihm dran.«

Beide bestätigten.

»Bull, ich kann mich nicht umdrehen. Gib mir Bescheid, wenn der Schatten kommt.«

Langsam lief ich weiter und fing schon an, mich zu fragen, ob die Zeit stehen geblieben war. Endlich bestätigte Bull, dass Glatzkopf mir den Rücken zukehrte. Gleich nach ihm meldete sich Knuckles.

»Die Zielperson läuft nicht weiter. Er hat die Abschusszone bereits im Blickfeld.«

Ich drehte mich und sah, dass der Schatten ebenfalls nicht weiterlief. Das bewies mir endgültig seine Absichten. »Kein Problem. Gib mir Bescheid, wenn er sich wieder in Bewegung setzt. Retro, halt dich bereit!«

»Okay. Er geht weiter. Abschusszone ist frei.«

»Roger! Retro, du hast die Freigabe zum Zuschlagen. Bull, Knuckles, die Tiefgarage gehört euch. Setzt eure Ärsche in Bewegung!«

Ich beobachtete den Schatten, wie er sich dem Lieferwagen näherte. Auf der Fahrerseite stieg ein Mann aus und trat um den Van herum zur Schiebetür auf der Seite des Bürgersteigs. Auf der Ladefläche saß ein weiterer Mann im Rollstuhl. Dieser und der Fahrer mühten sich gemeinsam ab, den Rollstuhl auf die Straße zu hieven, wobei der an den Rollstuhl Gefesselte tat, was er konnte, um zu helfen. Als unser Glatzkopf auf Höhe der Schiebetür anlangte, bat ihn der Fahrer um Hilfe. Er willigte ein und beugte sich in den Van, um die rechte Seite des Rollstuhls zu packen. Als sein Hals sich auf Höhe der Rollstuhloberkante befand, geschah ein Wunder. Der Mann im Rollstuhl schlang seiner Zielperson die Beine um die Hüfte, packte sie mit überkreuzten Händen links und rechts am Kragen und zog mit aller Gewalt zu.

Die Zielperson wehrte sich nach besten Kräften, als der Agent ihm mit dem Stoff des eigenen Hemdes den Hals zuschnürte, das Blut abschnürte und ihn bis zur Bewusstlosigkeit würgte. Während sie eng umschlungen miteinander rangen, schob der Fahrer den Rollstuhl in den Lieferwagen und schloss die Tür. Mann, was für eine Überrumplung!

Kurz darauf meldete sich Retro: »Wir haben ihn. Er ist außer Gefecht.«

»Roger. Knuckles, habt ihr’s mitbekommen?«

»Ja, sind schon unterwegs. Wir dürften ein paar Minuten vor der Zielperson in der Tiefgarage eintreffen.«

»Na, dann mal los!«

»Du solltest lieber hoffen, dass der verdammte Sender tatsächlich funktioniert.«

4

Präsident Warren brauchte einen Moment, um zu verarbeiten, was Kurt gesagt hatte, und stellte dann die naheliegende Frage: »Was meinen Sie mit ›nuklear‹? Dass er eine Bombe hat?«

»Nein, nichts dergleichen. Wir glauben, er versucht von einem Kontaktmann in Tschetschenien radioaktiven Abfall zu bekommen. Aber das wäre ja schon schlimm genug, wie Sie wissen. Wenn jemand eine schmutzige Bombe hochgehen lässt, löst das eine unbeschreibliche Panik aus.«

»Die Panik wäre dabei unsere geringste Sorge. Das könnte ganze Großstadtblocks in eine Todeszone verwandeln. Selbst wenn es uns gelänge, den Bereich zu säubern, nähme uns niemand ab, dass die Gegend sicher ist. Die wirtschaftlichen Auswirkungen wären enorm.«

Kurt lächelte. »Freut mich, dass Sie es auch so sehen, Sir. Da unsere Zielperson einen Ortswechsel vorgenommen hat, fehlt mir die nötige Vollzugsgewalt. Morgen muss ich das Aufsichtsgremium davon in Kenntnis setzen, dabei hoffte ich auf Ihre Unterstützung.«

Obwohl Kurt bei der Umsetzung von Projekt Prometheus völlig freie Hand hatte, ging er doch bedacht vor. Er wusste, dass die Operation allem widersprach, wofür die Vereinigten Staaten standen. Im Lauf der Geschichte hatten derartige Aktivitäten noch in jedem Land die Unterdrückung ausgerechnet des Volkes nach sich gezogen, zu dessen Schutz sie angeblich bestimmt waren. Er hatte Warren und sich selbst das Versprechen gegeben, dass es dazu nicht kam. Zu diesem Zweck arbeitete er mit der National Command Authority zusammen und rief den Oversight Council ins Leben – eine aus 13 Personen bestehende Kontrollinstanz, die auch den Präsidenten einschloss. Sie waren die Einzigen, die von der Existenz der Spezialeinheit wussten, und mussten jede Mission einstimmig befürworten.

Alle Mitglieder des Councils gehörten entweder der Regierung an oder waren Privatpersonen. Aus der gesetzgebenden Instanz war niemand beteiligt. Kurt hatte hart daran gearbeitet, sicherzustellen, dass die richtigen Leute ausgewählt wurden. Es machte ihm nichts aus, wenn Angehörige der Kontrollinstanz der Einheit und ihrem Auftrag mit Misstrauen begegneten – ja, er begrüßte es sogar –, doch wollte er die Winkeladvokaten aus der Sache raushalten. Er brauchte ausschließlich ein Komitee, das sich über das Ausmaß der Bedrohung und die Folgen ihrer Handlungen im Klaren war. Fast hatte er sein Ziel erreicht.

»Nun, dort sind Sie auf sich gestellt«, erwiderte Präsident Warren. »Sie waren doch derjenige, der ausdrücklich verlangt hat, dass meine Stimme nicht mehr Gewicht haben darf als die der anderen. Ich kann nicht mein Gewicht für ein spezielles Ziel in die Waagschale werfen. Das könnte einen gefährlichen Präzedenzfall schaffen und den Zweck des Gremiums zunichtemachen.«

»Ich meinte keineswegs den Council als Ganzes. Ich spreche von Standish.«

Von den 13 Kommissionsangehörigen war Harold Standish der Einzige, der absolut keine Ahnung von dem hatte, was er da eigentlich beaufsichtigte. Er brachte weder Erfahrungen in der Außenpolitik noch im Bereich Nachrichtendienst oder Militär mit – nichts, was ihn dazu befähigt hätte, ein qualifiziertes Urteil über die Aktivitäten der Taskforce abzugeben. Dies hielt ihn jedoch nicht davon ab, sich einzubilden, er wisse alles besser als die anderen, Präsident Warren eingeschlossen. Aus politischen Gründen hatte der Präsident ihn in den National Security Council, den Nationalen Sicherheitsrat, berufen. Standish hatte sich auf den Job gestürzt und sich zu einer echten Bedrohung entwickelt.

Er hatte etwas ins Leben gerufen, das er ›Deputy Committee for Special Activities‹ nannte – einen Unterausschuss für Sondermaßnahmen. Ginge es nach Kurt, wäre ›Unterausschuss zum Vermasseln von allem, was ich möchte‹ die treffendere Bezeichnung gewesen. Standish leistete nämlich keinen nützlichen Dienst, sondern hatte seine Finger in jeder verdeckten Operation, die von den Vereinigten Staaten eingeleitet wurde: DEA, DIA, CIA, was auch immer. Und nun nutzte er seine Position im Nationalen Sicherheitsrat aus und funkte bei Prometheus dazwischen.

Kurt sah, wie sich dem Präsidenten die Nackenhaare sträubten, ließ aber nicht locker: »Kommen Sie, Sir, Sie halten seine Arbeit doch nicht etwa für eine Bereicherung. Ich verstehe sowieso nicht, warum Sie ihn überhaupt berufen haben.«

»Jetzt mal langsam! Nicht jedem ist es vergönnt, in der schwarz-weißen Welt der Militärs zu leben. Die Politik folgt ihren eigenen, ganz speziellen Gesetzen. Sie haben ja recht, Standish ist ein Schaumschläger, allerdings hat ebendieser Schaumschläger eine maßgebliche Rolle bei meiner Wahl gespielt. Ebenso gut könnte er eine wesentliche Rolle dabei spielen, meiner Administration zu schaden. Schließlich hab ich noch mehr als Prometheus am Laufen.«

»Mein Gott, Sir, Sie sollten sich selbst mal zuhören. Sie wollen diesen Wichtigtuer in die geheimsten Angelegenheiten des US-Arsenals einweihen? Ich sage Ihnen, Standish stellt eine Bedrohung dar. Er muss an die Kandare genommen werden.«

Kurt sah, wie sich das Gesicht des Präsidenten verfinsterte, und begriff, dass er den Bogen überspannt hatte.

»Kurt, ich habe diese Position nicht erreicht, weil ich blind bin. Mit Leuten wie Standish hatte ich schon unzählige Male zu tun. Er ist zwar machthungrig, aber er hat durchaus seinen Nutzen. Verhandeln Sie einfach mit ihm und vergessen Sie nicht – ohne sein Zutun gäbe es gar kein Prometheus-Projekt, weil ich nämlich gar nicht Präsident wäre.«

Kurt setzte zu einer Erwiderung an, doch der Präsident hob die Hand. »Das war’s! Ende der Diskussion. Ich werde dafür sorgen, dass Palmer ihn im Zaum hält, aber ich werde ihn nicht feuern.«

Kurt ruderte zurück. »Okay, Sir! Aber unser unmittelbares Problem ist der Kerl in Tiflis. Niemand kann absehen, wie Standish das einschätzen wird. Wahrscheinlich stimmt er einem Einsatz nur unter der Bedingung zu, dass wir jeden Araber im Umkreis von 20 Meilen in der Pfeife rauchen.«

Warren lachte. »Kommen Sie, so schlimm ist er auch wieder nicht. Außerdem ist er nur einer der Stimmberechtigten. Wer soll die Mission durchführen?«

»Pikes Team. Er weiß noch nichts davon, aber ich beordere ihn jetzt zurück.«

Jeder, der Prometheus angehörte, war von Kurt handverlesen und der Präsident betrachtete es als Pflicht, jeden Angehörigen der Einsatztruppe persönlich kennenzulernen. Er kannte Pike. Das hieß, er kannte seinen Ruf.

»Und da machen Sie sich Sorgen wegen Standish? Ich habe noch nie erlebt, dass Pikes Team einen Auftrag ohne Riesentheater durchgezogen hätte.«

»Ja«, lächelte Kurt. »Aber er ist der Einzige mit einer perfekten Erfolgsbilanz. Terroristen können zwar vor ihm davonlaufen, aber dann sterben sie vor Erschöpfung.«

»Na, da haben wir es ja. Ich kümmere mich um Standish und Sie um die Terroristen. Bisher hat es doch recht gut funktioniert. Seit beinahe zehn Jahren gab es keinen größeren Anschlag mehr.«

Kurt wurde ernst. »Machen Sie sich nichts vor, Sir. Wir hatten einfach Glück. Seit dem 11. September jagen wir Terroristen, die sich eher um ihren Platz in den Geschichtsbüchern sorgen als darum, einen durchdachten Anschlag auszuführen. Die geben sich damit zufrieden, sich ein bisschen Sprengstoff in die Unterhose zu stopfen. Dieser Kerl, der kurz davor steht, radioaktives Material in die Finger zu bekommen, jagt mir eine Heidenangst ein. Sollte irgendein Einzelgänger eine Massenvernichtungswaffe basteln, drückt er der Geschichte damit definitiv seinen Stempel auf.«

»Ich weiß. Das bereitet mir ebenfalls schlaflose Nächte, glauben Sie mir.«

»Was mich nachts nicht schlafen lässt, ist ein weiterer Chalid Scheich Mohammed. Jemand, der sich mit den sekundären und tertiären Auswirkungen eines Anschlags auskennt und über genügend Geduld und Fähigkeiten verfügt, ihn auch umzusetzen. Jemand, der sich nicht mit einem einzelnen Flugzeugabsturz zufriedengibt.«

Kurt trat an das Fenster, das auf die Terrasse des Oval Office hinauswies. »Dieser Mann befindet sich irgendwo dort draußen. Er sitzt an seinen Planungen und analysiert unsere Schwächen. Sollte er eine Massenvernichtungswaffe in die Finger bekommen, werden wir erfahren, was Terror wirklich bedeutet.«

5

Knuckles beschäftigte sich gerade mit der Koordinierung des Zugriffs in der Tiefgarage, als der Pager in meiner Tasche vibrierte. Ich zog ihn heraus und las ein Wort, mit dem ich niemals gerechnet hätte: ABBRUCH. Ha! Das ist noch nie passiert.

Wir befanden uns mitten im Abschlussmanöver, einer Sache, die jeder als heilig erachtete. Drei Monate lang hatten wir Taktiken ausgearbeitet, Verfahrensweisen und Abläufe eingeübt. Dies war die letzte Feldübung, der Höhepunkt sozusagen, bevor wir für einen Sondereinsatz nach Übersee verlegt wurden. Und nun wurden wir mitten in unserem letzten Trainingslauf zurückbeordert. Das war ungefähr so, als ob man ein Team, das am Superbowl teilnahm, während des Abschlusstrainings aufforderte, den Platz zu räumen.

»Break – Break – Break. An alle Einsatzkräfte, an alle Einsatzkräfte, hier spricht Pike. ABBRUCH, ABBRUCH, ABBRUCH. Wir haben einen Alarm. Kehrt sofort nach Hause zurück. Direkt in den Konferenzsaal. Bestätigen.«

Vier von ihnen antworteten mit ihrem Rufzeichen und einem schlichten »Roger«. Knuckles kam als Letzter und mir wurde klar, dass es bei ihm nicht mit einem Wort getan war.

»ABBRUCH? Was zum Geier soll das? In einer echten Situation wird auch nichts abgebrochen!«

Ich musste lächeln, da ich wusste, dass er den ganzen Tag wie ein Obdachloser herumgelaufen war und nach dem ganzen abstoßenden Dreck stank, mit dem er sich eingerieben hatte. »Verstanden. Ich wurde gerade angepiepst. Keine Ahnung, was los ist. Ich komm vorbei und nehm dich mit. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sonst jemand mit dir fahren möchte.«

Noch bevor Knuckles antworten konnte, erscholl ein wahrer Chor von Funkrufen, die behaupteten, ihr Wagen sei bereits voll oder sie wären schon unterwegs. »Okay, schön«, fiel er ihnen schließlich ins Wort. »Was ist mit unserem Fang? Was wollt ihr mit ihm anstellen? Freilassen?«

»Nein! Nehmt ihn mit. Ich hab keine Ahnung, weshalb ich angetextet wurde, aber vielleicht können wir an dem Punkt weitermachen, wo wir aufgehört haben. Es bringt nichts, das Team zu verheizen, indem wir ihn gehen lassen.«

Knuckles bestätigte und gab mir eine Beschreibung, wo ich ihn finden konnte. Er befand sich nur wenige Straßenzüge entfernt. Ich trat aufs Gas und reihte mich in den fließenden Verkehr ein, bog um eine Ecke und sah ihn schon von Weitem an der nächsten Kreuzung stehen. Zwei Straßen weiter hielt er ein Pappschild in die Höhe, auf dem stand: »Obdachloser Veteran. Arbeite für jeden, der weiß, was wirklich wichtig ist.« Ich fuhr rechts ran und ließ ihn einsteigen.

»Komisches Schild. Scheißgestank. Vielleicht solltest du lieber die U-Bahn nehmen.«

»Ha ha.« Knuckles schwieg eine volle Minute. Das verriet mir, dass er ernsthaft sauer war. Allerdings wusste ich nicht so recht, ob das an unserer Übung oder meinem Pager lag. Er ließ mir keine Zeit, darüber nachzugrübeln.

»Was sollte das vorhin? Dein Funkspruch, der Zielperson einen Sender unterzujubeln? Etwas Dämlicheres ist mir noch nie untergekommen. Es gab keinen Anlass dafür. Das hier ist kein mieser Hollywoodfilm und ich bin auch nicht Agent Jack Bauer aus 24.«

»Ich weiß. Aber in unseren Übungen kam bisher auch nie ein Kerl mit einer Atomwaffe vor. Wir standen noch nie unter Druck, es um jeden Preis durchziehen zu müssen. Es war meine Entscheidung, es zu einem Jack-Bauer-Szenario zu machen – ich wollte sehen, wie das Team reagiert. Wer will schon, dass so etwas real passiert, ohne dass wir es vorher wenigstens einmal getestet haben?«

»Ja, natürlich. Es gibt schon einen guten Grund, weshalb Jack Bauer im Fernsehen auftritt. Im wirklichen Leben gibt es so was nämlich nicht. Zieh diese Scheiße bei einem echten Einsatz durch, dann verbringen wir den Rest unseres Lebens in einem Drecksloch von ausländischem Knast.«

»Hey, schalt mal ’nen Gang runter! Besser, wir sind vorbereitet.«

Knuckles wechselte das Thema und erklärte mir, er habe die Nase voll. »Was soll der Scheiß? Noch nie wurde ein Abschlussmanöver abgebrochen. In fünf Tagen sollen wir verlegt werden und wir haben noch nicht mal die Knoten in unserer neuen Ausrüstung entwirrt.«

»Ich hab nicht die geringste Ahnung. Wir werden es schon früh genug erfahren.«

Knuckles machte sich daran, sich den Schmutz mit einer Packung Erfrischungstücher abzuwischen.

»Dann sollte es besser ein guter Grund sein. Wir sind nämlich noch nicht einsatzbereit.«

Es war ein guter Grund.

Wir überquerten die Key Bridge. Damit ließen wir Washington, D. C., hinter uns und erreichten Virginia. Minuten später fuhren wir aufs Parkdeck eines unscheinbaren Bürogebäudes in der Nähe von Clarendon. Auf einer kleinen, an der Eingangstür montierten Tafel stand: ›Blaisdell Consulting‹. Das klang, als seien wir so eine Art Ideenschmiede oder Regierungsberater. Eine großartige Tarnung. In D. C. und Umgebung wimmelt es nämlich von Consultants und niemand weiß, was diese Typen genau machen.

Das Ganze war bloß Fassade. Am Empfang hockten kleine alte Damen, die einen baten, eine Nummer zu hinterlassen und später wiederzukommen. Außerhalb dieses Bereichs diente das Gebäude nur einem einzigen Zweck – Terroristen aufzuspüren und umzubringen. Es war einen Block lang, vier Stockwerke hoch und bot alles vom 25-Meter-Indoor-Schießstand bis hin zu einer Isolationseinrichtung, die 24 Männer aufnehmen konnte. Die hier einquartierte Einheit trug keine offizielle Bezeichnung, es bestand keine offizielle Verbindung zur US-Regierung – bis auf ein streng geheimes, verschlüsseltes Dokument, das nie ans Licht kommen durfte. Aber weil wir dem Kind ja irgendeinen Namen geben mussten, nannten wir es einfach ›die Taskforce‹.

Mithilfe unserer Ausweise gelangten wir von der Tiefgarage ins Innere und machten uns sofort auf den Weg zum großen Konferenzraum im ersten Stock. Mit dunklem Holz getäfelt wurde er von einem großen, ovalen Tisch mit Lautsprechern vor jedem Stuhl und einem riesigen Plasmabildschirm an der hinteren Wand beherrscht. Die Beleuchtung war gedämpft. Der Raum ähnelte dem Besprechungszimmer jeder x-beliebigen Anwaltskanzlei – bis auf einen Unterschied: Statt Bücherregalen voller Gesetzestexte zierten Andenken an vergangene Einsätze die Wände. Palästinensertücher, Flaggen, gerahmte Sprüche auf Arabisch und diverse Waffen hingen überall herum. Gut ein Drittel davon stammte von mir.

Warum man in diesen Saal so viel Geld investierte, hatte ich nie wirklich verstanden. Schließlich waren wir so geheim, dass wir wohl kaum Kongressabgeordnete oder sonst jemanden zu einer Besprechung einluden. Wäre es nach uns gegangen, hätte uns der blanke Putz an den Wänden genügt. Das hätte uns nicht das Geringste ausgemacht. Mir persönlich hätte es sogar besser gefallen. Ich habe mir sagen lassen, die ganze Staffage sollte uns dazu ermuntern, wie Firmenangestellte zu denken, damit wir unsere Tarnung verinnerlichten und unsere primitive Killerkommando-Vergangenheit hinter uns ließen.

Der Rest des Teams war bereits vor uns eingetroffen. Knuckles und ich wurden beim Eintreten angeglotzt, als hätten wir auf der Fahrt hierher irgendwelche geheimen Erkenntnisse gewonnen. Ehe jemand eine Frage stellen konnte, kam ich ihnen zuvor. »Nun, weiß einer von euch, was los ist? Hat jemand etwas von Johnnys Team erwähnt? Ist in Jordanien etwas passiert?«

»Keiner sagt uns was«, antwortete Bull. »Der Diensthabende meinte, wir sollen hier warten. Der Boss kommt in etwa fünf Minuten runter.«

Unser verantwortlicher Nachrichtenanalyst trat ein und ging, ohne ein Wort zu sagen, zur Computeranlage im rückwärtigen Teil des Saals. Ethan und ich waren ziemlich gute Freunde, also schätzte ich, ich brauchte nicht unbedingt auf den Commander zu warten.

»Ethan, was geht hier vor?«

»Planänderung. Ihr fliegt nach Tiflis.« Damit wandte er mir den Rücken zu und übertrug irgendwelche Dateien auf den PC, was mich ärgerte.

»Tiflis? Warum zum Teufel?«

»Pike«, meinte Ethan über die Schulter, »ich hab im Moment keine Zeit. Der Chef ist unterwegs. Alles, was ich dir sagen kann, ist, dass du heute nicht zu mir zum Abendessen kommen wirst.«

6

Bevor ich eine weitere Frage loswerden konnte, betrat der Leiter für Omega-Operationen, Lieutenant Colonel Blaine Alexander, den Raum. Bei seinem Erscheinen wurden auf einmal alle hellwach.

Er kam zu Knuckles und mir. »Schön, dass Sie es so schnell zurück geschafft haben.«

»Tja, hier sind wir. Was ist los? Ist dem Team in Jordanien etwas zugestoßen?«

»Nein, dem Team ist nichts passiert«, sagte Blaine, »aber Ihrem Einsatz. Ihre Zielperson fliegt nach Tiflis, Georgien.«

Knuckles legte die Stirn in Falten. »Was ist daran so besonders? Das dürfte jetzt sein … hm, dritter Ausflug dorthin sein? Das haben wir doch bereits analysiert und entschieden, uns auf Jordanien zu konzentrieren. Dort wohnt er schließlich.«

Mustafa Abu Azzam war der Anführer einer mit al-Qaida in Verbindung stehenden Terrorzelle. Diese Information galt als gesichert. Wohnhaft in Jordanien, aber im Oman geboren und aufgewachsen, war er versessen darauf, den USA irreparablen Schaden zuzufügen. Hätte er sich auf andere Ziele konzentriert, zum Beispiel auf Jordanien, hätte die Taskforce die Information stillschweigend an deren örtliche Dienste weitergegeben, damit die Jordanier sich selbst darum kümmern konnten. So aber lebte und arbeitete er als angesehener Bürger in Jordanien und führte ein Doppelleben, das es ihm gestattete, aus der relativen Sicherheit heraus Anschläge zu planen.

Fast ein Jahr lang hatten wir daran gearbeitet, dem Namen, dem die Taskforce nachspürte, ein Gesicht zu geben. Ein Jahr harter, schleppender, langweiliger und doch notwendiger Arbeit. Niemand wollte einen Unschuldigen töten. Wieder und wieder hatten meine Leute sich mit Johnnys Team ausgetauscht, um diesen Kerl in den Griff zu bekommen, und nun standen wir kurz davor. Bei unserem nächsten Auslandseinsatz hatten wir eine gute Chance, ihn zu erledigen.

Mit nicht mehr als einem Namen hatten wir angefangen. Handynummern waren hinzugekommen, dann E-Mail-Adressen und Internetaktivitäten, die schließlich konkrete Adressen außerhalb der virtuellen Welt zutage förderten. Am Ende gelang es uns, den Mann namens Azzam zu lokalisieren. Johnnys Team hatte die ersten Fotos aufgenommen und sich gleichzeitig damit beschäftigt, seine Gewohnheiten auszukundschaften, während wir uns parallel auf den finalen Einsatz zu seiner Verhaftung vorbereiteten.

Bevor ich weitere Fragen stellen konnte, betrat Colonel Kurt Hale den Saal, gefolgt von einer Schar von Analysten. Ein hochgewachsener Mann mit pechschwarzem Haar. Meine Frau hält ihn für gut aussehend, abgesehen von seiner schiefen Nase. Sie sehe aus, als habe sie ihm jemand gebrochen und als sei sie nach dem Richten nicht anständig zusammengewachsen. Ich muss jedes Mal lachen, wenn sie das sagt, weil ich nämlich derjenige gewesen bin, der sie ihm gebrochen hat. Versteht mich jetzt nicht falsch! Es ist während der Nahkampfausbildung passiert. Ich könnte euch die Narbe an meinem Ellbogen zeigen. Dort musste ich genäht werden wegen etwas, das er mit mir angestellt hat. Abgesehen davon würde ich nie ein böses Wort über den Mann verlieren, denn er ist der beste Commander, den dieses Land derzeit hat. Okay, ich bin zugegebenermaßen voreingenommen.

Kurt schüttelte mir die Hand und entschuldigte sich, dass er die Übung des Teams abgebrochen hatte. Ich tat es mit einem Schulterzucken ab. »Vielen Dank, dass wir noch einen Beschatter als Zugabe bekommen haben. Das machte das Ganze ein bisschen spannender.«

Kurt grinste. »Euch Jungs muss man hin und wieder mal etwas Neues liefern. Noch ein paar Tage und ihr wärt ihm auf die Schliche gekommen.«

»So lange haben wir nicht gewartet. Wir haben ihn direkt festgenommen. Wir hätten beide Zielpersonen gehabt, hätten Sie mich nicht angepiepst.«

»Sie haben ihn festgenommen? Er kam doch gerade erst in die Übung rein. Wo ist er?«

»In der Tiefgarage.«

Kurt fiel aus allen Wolken. »Herrgott, Pike! Sie haben ihn mitgebracht?«

Ich hob beschwichtigend die Hände. »Keine Sorge, Sir! Er befindet sich mit verbundenen Augen in einer Hundebox im Heck eines Lieferwagens. Er hat keine Ahnung, wo er ist.«

Kurt wandte sich an einen der Männer, die ihn begleiteten, und keifte ein paar barsche Befehle. Ich sah zu, wie der Mann sich von Bull die Wagenschlüssel holte und aus dem Saal eilte. So wie ich die Sache sah, hieß ›Sofort zurückkehren!‹ so viel wie ›Schaff deinen Arsch so schnell wie möglich her!‹, darum machte ich mir keine allzu großen Sorgen wegen der Übertretung der Vorschriften. Kurt kannte mich recht gut, deshalb sollte ihn mein Vorgehen eigentlich nicht überraschen. Eher typisch für mich.

Vor Jahren war Kurt mein erster Zugführer bei einer Sondereinheit in Fort Bragg gewesen und hatte sich dafür eingesetzt, dass ich wegen meiner arroganten Einstellung nicht augenblicklich rausflog. Er durchschaute meine Arroganz und erkannte das rohe Talent dahinter. Während alle anderen nur ein Problem in mir sahen und mich loswerden wollten, gelang es ihm, meine Energie in die richtigen Bahnen zu lenken, bis ich das Negative abgestreift hatte und nur die positiven Seiten übrig blieben. Nun ja, größtenteils jedenfalls.

Kurt schüttelte den Kopf. »Darüber unterhalten wir uns später. Nimm Platz!«

Nachdem Kurt die Aufmerksamkeit des Teams auf sich gelenkt hatte, sagte er: »Tut mir leid, dass ich Ihre Abschlussübung abkürzen musste, aber es gab eine bedeutsame Änderung im Einsatzprofil. Ihre Zielperson, Mustafa Abu Azzam, ist momentan unterwegs nach Tiflis, Georgien. Dies ist seine dritte Reise dorthin, und ja, bisher kehrte er stets nach Jordanien zurück. Aber wir glauben, wir sind endlich dahintergekommen, was er in Tiflis treibt. Unsere Informationen weisen darauf hin, dass er versucht, von Kontaktleuten in Tschetschenien radioaktiven Abfall zu kaufen. Allem Anschein nach hatte er bei seinen Bemühungen Erfolg und plant jetzt, die Transaktion innerhalb der nächsten Wochen durchzuführen.«

Er hielt inne, um seine Worte sacken zu lassen. »Nun, es liegt auf der Hand, dass wir nicht zulassen dürfen, dass Azzam sich Material für eine schmutzige Bombe beschafft. Darum überschlagen sich die Ereignisse momentan ein bisschen. Wir können nicht sicher sein, ob er mit dem Material nach Jordanien zurückkehrt. Deshalb müssen wir ihn aufhalten, bevor er es bekommt. Und da kommen Sie ins Spiel.«

Man brauchte mir nicht zu erklären, weshalb statt des Teams in Jordanien wir nach Tiflis fliegen sollten. Die Tarnung, die Johnnys Team benutzte, war eigens für diesen Teil der Welt entworfen, für einen speziellen Wirtschaftssektor in einer ganz bestimmten Stadt. Diese Tarnung ließ sich nicht einfach auf Tiflis übertragen. Das Risiko, dabei aufzufliegen, war entschieden zu hoch.

»Welchen Status genießen wir in Tiflis? Wir wurden alle auf Jordanien vorbereitet.«

»Unsere Alias-Werkstatt arbeitet gerade daran«, erwiderte Blaine. »Zum Glück haben wir bereits eine Planung für Tiflis. Wir müssen ihr nur noch ein bisschen Feinschliff verleihen. Bis Sie abfliegen, werden Ihre neuen Papiere fertig sein.«

»Mit welcher Art von Unterstützung können wir rechnen?«, meldete Knuckles sich zu Wort. »In Tiflis haben wir noch keine Infrastruktur aufgebaut. Wie es aussieht, balancieren wir diesmal an einem Abgrund entlang.«

»Ob Sie’s glauben oder nicht, wir sind ziemlich gut aufgestellt. Bei Azzams erstem Trip nach Tiflis haben wir vorsichtshalber damit begonnen, eine vorläufige Infrastruktur aufzubauen. Wir fangen also nicht bei null an. Das Support-Team, das heute Abend eigentlich nach Jordanien fliegen sollte, wird nach Tiflis umgelenkt. Damit steht Ihnen das gesamte Unterstützungspaket zur Verfügung.«

Ich drang zum Kern des Problems vor, indem ich die Frage stellte, die jeden im Raum bewegte: »Sind wir auf Stufe Omega?«

»Nein«, erwiderte Kurt. »Nicht offiziell. Da die Zielperson einen Ortswechsel vorgenommen hat, muss ich morgen den Council davon in Kenntnis setzen. Aber ich kann nicht auf dessen Zustimmung warten, um Ihr Team in Marsch zu setzen. Schlimmstenfalls erhalte ich das Okay erst kurz vor Ihrer Landung. Angesichts der drohenden Auswirkungen sehe ich da allerdings kein Problem.«

Die Taskforce kennzeichnete die einzelnen Phasen einer Operation mit unterschiedlichen griechischen Buchstaben, beginnend mit Alpha für die ersten Vorbereitungen. Omega-Status – der Abschluss des griechischen Alphabets, allgemein auch als Symbol für das Ende etabliert – bedeutete, wir waren bereit, die Mission durchzuführen. Die Einsätze selbst konnten von drei Monaten bis zu einem Jahr dauern. Das Omega-Stadium zu erreichen, bedeutete harte Arbeit, dahinter stand eine beträchtliche Infrastruktur. Auf jede Mission, die es bis Omega schaffte, kamen in der Regel drei oder vier, die vorzeitig abgeblasen wurden. Omega stellte die Krönung unseres Berufs dar – das Kronjuwel, das Gold am Ende des Regenbogens.

»Das reicht mir«, sagte ich. »Wann brechen wir auf?«

»Nun, Ihr Team fliegt heute Abend gemeinsam mit dem Unterstützungspaket und Blaine los. Der Flugplan ist bereits eingereicht, da stellen ein paar Leute mehr kein Problem dar. Sie allerdings werden erst am Montag in Marsch gesetzt, wie ursprünglich vorgesehen.« Kurt grinste. »Keine Sorge – Sie bekommen den Urlaub, den ich Ihnen zugesichert habe.«

Ich begriff. Dabei verriet mein Gesicht wohl meinen inneren Widerstreit. Kurt bemerkte mein Unbehagen, fragte aber nicht nach meiner Meinung. »Okay, bevor ich jetzt das Wort an Blaine weitergebe, vergessen Sie nicht, wir haben noch keine Ermächtigung zum Vollzug. Ich rechne damit, habe sie jedoch noch nicht vorliegen. Spielen Sie mir also bloß nicht den Rambo!«

7

Es wäre wesentlich einfacher gewesen, hätte Kurt mir einfach befohlen, mitzufliegen. Jetzt stand ich vor der Wahl, die Männer ausgerechnet an dem Abend, an dem sie verlegt werden sollten, alleinzulassen oder aber meine Familie vor den Kopf zu stoßen, nachdem ich versprochen hatte, am Geburtstag meiner Tochter zu Hause zu sein. Es gab für mich nichts Wichtigeres als Heather und Angie, aber als Teamchef hatte der Einsatz für mich Vorrang. Egal wie ich mich entschied, es fühlte sich falsch an.

Dass ich kurzfristig zu einem Einsatz ausrücken musste, war für meine Familie nichts Neues. Ich hatte Heather erst geheiratet, nachdem sie mich in Fort Bragg in die Special Mission Unit aufgenommen hatten. Deshalb kannte sie es bereits, dass ich häufig unterwegs war. Trotzdem fühlte ich mich beim Abschied jedes Mal so, als drehte mir jemand ein Messer im Leib um, besonders jetzt, wo Angie alt genug war, um zu kapieren, dass ich fort bin. Unser letzter gemeinsamer Abend vor dem Abschlussmanöver war nicht gerade harmonisch abgelaufen.

Ich war draußen beim Grillen gewesen, als ich im Haus einen dumpfen Schlag hörte, so als sei etwas auf den Boden gefallen. Ich ging rein und sah Heather, wie sie, deutlich erregt, den Temperaturregler an der Wand anstarrte. Ich fragte, was heruntergefallen sei.

»Das war ich. Ich habe gegen die verdammte Wand getreten. Die Klimaanlage ist schon wieder kaputt. Einfach großartig. Ausgerechnet bevor du wegfährst. Perfekt. Noch etwas, worum ich mich dann kümmern muss.«

Das war kein guter Start in unsere letzte gemeinsame Nacht für mindestens ein halbes Jahr. Ich versuchte sie zu besänftigen. »Paul kann das machen. Ich ruf ihn gleich an.«

Paul war unser Nachbar, er wohnte eine Tür weiter. Ein guter Kerl, aber eigentlich konnte ich ihn nicht leiden. Er hatte ständig gute Laune und zeigte sich hilfsbereit – so penetrant, dass es mich anwiderte. Wahrscheinlich bin ich bloß eifersüchtig, weil er mehr Zeit mit meiner Familie verbringt als ich. Er ist derjenige, an den Heather sich wendet, wenn sie mal Hilfe braucht, und das tut weh. Allerdings ist das nicht seine Schuld, sondern meine.

Heather winkte ab. »Paul kann nicht mal ’nen tropfenden Wasserhahn reparieren. Lass es! Ich werd Tim fragen, ob er mir hilft. Er hat keine zwei linken Hände, außerdem ist er jetzt zu Hause.«

Sie machte Anstalten, noch etwas hinzuzufügen, beließ es dann aber dabei.

Offensichtlich brannte ihr etwas auf der Zunge, aber sie war nicht sicher, ob ich es heute Abend hören wollte. Einen Streit wollte ich auf jeden Fall vermeiden. Zwar hatte ich persönlich keine Angst vor der Zukunft, allerdings konnte man nie wissen, was bei einem Einsatz passierte. Ich wollte nicht im Streit mit ihr auseinandergehen. Das sollte nicht ihre letzte Erinnerung an mich sein.

Wir wussten beide, dass mein Job gefährlich war. Wir sprachen nie darüber, aber die möglichen Konsequenzen waren uns stets bewusst. Heute Abend war es noch schlimmer, weil ich wegmusste. Auf allem im Zimmer schien eine bleierne Präsenz zu lasten. Ich ging das Risiko ein und hoffte, was immer sie mir zu sagen hatte, war nur eine Kleinigkeit, die ich vor meinem Aufbruch noch geradebiegen konnte.

»Was? Was willst du mir sagen?«

»Das kennst du doch alles schon.« Sie seufzte und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Dann brach es aus ihr heraus: »Warum musst du gehen? Warum immer du? Seit 9/11 bist du ständig auf Achse. Ist nicht mal jemand anders an der Reihe?«

Shit! Das hatte sich jetzt nicht gelohnt. »Das haben wir doch alles schon besprochen. Ich kann nicht so einfach aufhören. Ich leite das Team. Man kann nicht von heute auf morgen einen Ersatzmann ausbilden. Das ist mein letzter Einsatz. Versprochen!«

Einsätze der Taskforce verliefen allerdings ein wenig anders als alles, was ich bisher kannte. Sie dauerten sechs Monate, gefolgt von sechs Monaten Auszeit. Dann schloss sich eine dreimonatige Anlaufphase an, bis ein neuer Einsatz bevorstand. Während des letzten Monats dieser Phase wurden wir fest in D. C. stationiert und gaben jeden Kontakt zu unserer Vergangenheit auf, sodass es unseren Familien eher wie ein Sieben-Monats-Turnus vorkam. Der letzte Monat war zudem mit einer Ausgangssperre verbunden. Damit wurden wir vollkommen von unseren Familien isoliert und schlüpften bereits in die Identität, die unsere Mission von uns verlangte. Heute war der letzte Abend vor der Ausgangssperre in D. C., die letzte Nacht, bevor ich endgültig für sieben Monate wegging. Nach diesem Einsatz wollte ich aufhören, das hatte ich Heather versprochen.

Sie sah mich verbittert an. »Ja, genau wie bei deinem letzten Turnus bei der Unit. Und dann ziehst du los und meldest dich freiwillig für diese neue Sache hier. Was kommt als Nächstes, Pike? Bei der Unit gab es wenigstens noch andere Ehefrauen, mit denen ich reden konnte, Leute, die ich anrufen konnte und die verstanden, was ich durchmachte. Jetzt hab ich nicht mal mehr das. Ich muss rumlaufen und jedem erzählen, du seist im 18. Airborne Corps für IT zuständig. Weißt du, wie blöd ich jedem vorkommen muss, der diese Geschichte hört? Du bist nie da, und wenn doch, trägst du nie eine Uniform. Es ist lächerlich.«

»Liebling …«

Sie redete weiter, so schnell, dass sie sich beinahe verhaspelte. »Angie hat schwimmen gelernt, und du warst noch nie mit ihr im Pool. Der verdammte Nachbar bringt ihr das Fahrradfahren bei. In einem Monat wird sie sechs und kann sich nicht an einen einzigen Geburtstag erinnern, an dem du dabei gewesen bist.«

Sie hielt inne. Zweifellos wünschte sie sich, das alles nicht gesagt zu haben – nicht ausgerechnet an dem Abend, bevor ich wieder in den Einsatz musste. Sie begann zu weinen.

»Es ist nicht fair. Weshalb immer du? Tim hat die Einheit doch auch verlassen. Warum kannst du das nicht ebenfalls tun?«

Tim war ein Freund, der vor Kurzem den Dienst quittiert und seine eigene Sicherheitsfirma gegründet hatte – Security Consulting. Es hätte nichts gebracht, ihr zu sagen, dass Tim noch immer eine gefährliche Tätigkeit ausübte – vielleicht sogar noch gefährlicher, weil er nicht länger die Rückendeckung der US-Regierung genoss. Ich umarmte sie und flüsterte ihr ins Ohr: »Es bin nicht immer nur ich. Vielen von den Männern geht es wie mir. Ich sagte dir doch, dass ich genug habe. Das wird mein letzter Einsatz.«

Sie schluchzte. »Das hast du schon so oft gesagt … Ich mach mir ständig nur Sorgen … Ich hab schon Angst, wenn das Telefon klingelt. Es ist immer derselbe Mann, der mir mitteilt, dass es dir gut geht. Dann denk ich mir: Weshalb sollte ich glauben, dass es dir nicht gut geht?, bis mir klar wird, dass er anruft, weil jemand anders tot ist. Eines Tages wird er mir sagen, dass du derjenige bist. Ich halt das nicht länger aus …«

Da wusste ich, dass etwas in Heather unter der Belastung zerbrochen sein musste. Die Bedeutung meiner Arbeit war ihr immer klar gewesen. Darum hatte sie stets unerschütterlich zu mir gehalten, wenn ich an Weihnachten, Geburts- oder Jahrestagen durch Abwesenheit glänzte. Bei ihr hatte ich immer den größten Rückhalt genossen, doch nun konnte ich darauf nicht länger zählen. Zum ersten Mal ging mir auf, dass dies wirklich mein letzter Einsatz war. Ich liebte meine Aufgabe. Sie ist meine Berufung, weit mehr als ein Job. Mein ganzes Dasein definiert sich darüber. Aber denken Sie jetzt nichts Falsches. Die Liebe zu meiner Familie ist stärker.

Ich nahm sie in den Arm und strich ihr übers Haar. »Schhhhh. So weit wird es nicht kommen. Hör zu, ich red mit Kurt und seh zu, dass ich nach der Ausgangssperre ein Wochenende freibekomme, damit ich zu Angies Geburtstag hier sein kann. Das ist doch ein Anfang, oder?«

Heathers Gesichtszüge wurden weicher. An jenem Abend hatte ich mir eingeredet, es wäre der erste Schritt, Heather an unsere neue Zukunft glauben zu lassen, wenn ich ihr zusicherte, für Angies Geburtstag nach Hause zu kommen.

Bevor ich noch etwas Weiteres sagen konnte, kam Angie hereingehüpft: »Dad, das Essen brennt!«

Heather löste sich aus meiner Umarmung und sah mir tief in die Augen. »Tut mir leid, ich hätte das alles besser nicht gesagt.« Schniefend wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht und lächelte mich halbherzig an. »Geh und rette die Steaks. Die Welt kannst du morgen retten. Wir sehen uns dann in einem Monat.«

Ich erwiderte ihr Lächeln, küsste sie und trottete hinaus an den Grill.

Nach dem Essen ging Heather in die Küche, um sauber zu machen, und ich trug Angie huckepack in ihr Zimmer, löschte das Licht und legte mich zu ihr.

»Dad, weißt du schon, dass Mr. Paul mir das Fahrradfahren beibringen will?«