Mardi und eine Reise dorthin - Herman Melville - E-Book

Mardi und eine Reise dorthin E-Book

Herman Melville.

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Beschreibung

Wer «Moby-Dick» liebt, muss «Mardi» lesen

Jubiläumsausgabe zum 200. Geburtstag Melvilles: «Ein ebenso hinreißendes wie monströses Werk ... der helle Wahn.» (Klaus Modick, Deutschlandfunk) Südsee und Abenteuer, Liebe und Geheimnis, Zivilisations- und Gesellschaftskritik: All das findet sich in Herman Melvilles grandiosem Roman «Mardi». 1849 entstanden, gilt er als kühner Vorläufer von «Moby-Dick». Rainer G. Schmidts Übertragung erntete 1997 Begeisterungsstürme und wurde vielfach ausgezeichnet. Zum 200. Geburtstag Melvilles liegt sie, sorgfältig durchgesehen, nun in einer prachtvollen Ausgabe vor. Alles beginnt mit einer Flucht: Der Erzähler desertiert von einem Walfänger, auf dem er erfolglos den Pazifik durchstreift hat. Die Begegnung mit einem unwiderstehlich schönen Mädchen führt ihn zunächst nach Mardi, dann zu weiteren Südsee-Idyllen und in den weiten Ozean enthemmten Fabulierens...

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Seitenzahl: 1148

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«Ein ebenso hinreißendes wie monströses Werk … der helle Wahn.» (Klaus Modick, Deutschlandfunk)

Buch

«Mardi» ist ein unterhaltsames Wunderwerk, eine Fiktionsmaschine, ein Breitwandspektakel in Dur und Moll, ein Buch des rauschhaften Erzählens. Melville streift darin philosophische Themen wie Unterdrückung und Freiheit, Gut und Böse, das Verhältnis von Mensch, Gott und Universum. Er lässt sich im Strom der Fantasie treiben – und hingerissen folgt man seinen Kapriolen.

Der kühne Vorläufer von «Moby-Dick» wird heute als früher Vorstoß in die Moderne gefeiert. Rainer G. Schmidts mit dem Paul-Celan-Preis ausgezeichnete Übersetzung steuert Erzähler Taji ebenso sicher wie sprachgewaltig durch die Weiten des Wörtermeers.

Autor

Herman Melville, 1819 in New York geboren, übte nach dem frühen Tod des Vaters diverse Gelegenheitsjobs aus, bevor er 1841 auf einem Walfänger anheuerte. Als freier Schriftsteller unternahm er lange Auslands- und Vortragsreisen, arbeitete als Farmer und Zollinspektor. Heute vor allem für seinen «Moby-Dick» weltberühmt, starb der Romancier, Dichter und Essayist einsam und vergessen im Jahr 1891.

Rainer G. Schmidt wurde 1950 im Saarland geboren und studierte in Saarbücken und Marburg. Seit Ende der 70-Jahre lebt er in Berlin und ist als literarischer Übersetzer tätig. Er übertrug u. a. Werke von Victor Hugo, Arthur Rimbaud, Henri Michaux und David Henry Thoreau. Für die vorliegende Übersetzung wurde er mit dem Paul-Celan-Preis ausgezeichnet.

Übersetzt und kommentiert von Rainer G. Schmidt

Meinem Bruder Allan Melville gewidmet

Vorwort des Autors

Nachdem ich in jüngster Zeit zwei Reiseerzählungen aus dem Pazifik veröffentlicht hatte, die mancherorts ungläubig aufgenommen wurden, kam mir der Gedanke, tatsächlich ein Südseeabenteuer als Fantasieerzählung zu schreiben, um zu sehen, ob diese Fiktion nicht möglicherweise für wirklich genommen werden kann: in gewissem Grade die Umkehrung meiner vorigen Erfahrung.

Diesem Gedanken entsprossen andere, die «Mardi» zum Ergebnis hatten.

New York, Januar 1849

I.

Fuß im Steigbügel

Wir sind los! Die Untersegel und Toppsegel sind gesetzt, der korallenbehangene Anker baumelt vom Bug; und zusammen werden die drei Oberbramsegel der Brise übergeben, die uns auf die See hinaus folgt wie das Gebell eines Hundes. Das Segeltuch spreitet sich – nach unten, nach oben –, beidseitig von der Spiere1 gestreckt, mit zahlreichen Leesegeln2; bis wir wie der Habicht mit schwebenden Schwingen die See mit unseren Segeln überschatten und wirbelnd die salzige Flut durchpflügen.

Doch woher des Wegs – und wohin zieht ihr, Seeleute?

Wir segeln von Ravavai3 her, einer Insel im Meere, nicht weit nördlich vom Wendekreis des Steinbocks, nicht sehr weit westlich von Pitcairn’s Island, wo die Meuterer der «Bounty» siedelten. In Ravavai war ich einige Monate zuvor an Land gegangen; und nun war ich eingeschifft zu einer Kreuzfahrt nach dem Wal, dessen Hirn die Welt erhellt.4

Und von Ravavai aus segeln wir nach den Galapagos-Inseln, auch Encantadas, «Verhexte Inseln»,5 genannt, der vielen Strömungen und Strudel wegen, die dort anzutreffen sind.

Im Umkreis dieser Inseln, die einst Dampier6 betrat, wo die spanischen Bukanier einst ihre Gold-Moidore7 aufhäuften, ist nun zu manchen Zeiten der Kaschelott oder Pottwal in reicher Fülle vorhanden.

Doch dorthin kann dein Schiff von Ravavai aus nicht fliegen wie die Möwe, die geradewegs ihrem Nest zustrebt. Denn wegen der vorherrschenden Passate sind Schiffe, die aus der Gegend von Ravavai gen Nordosten fahren, zu einem beträchtlichen Umweg genötigt – ein paar Tausend Meilen in etwa. Zunächst halten sie mit voller Kraft auf Süd zu, um wechselnden Winden nachzujagen; und steuern dort, wenn sie eine vereinzelte Brise erhaschen, auf das offene Meer, dann schlagen sie nach Ost um, die Ruder nach Luv, und flugs die Küste entlang, auf den Äquator zu.

Diesen Umweg nahm auch die «Arcturion». Und wahrlich, er war beschwerlich und öde. Nie zuvor war uns der Ozean derart eintönig erschienen; dem Schicksal sei Dank: nie zuvor.

Doch bravo, im Verlauf von zwei Wochen ein Ereignis! Als wir dahinsegelten, tauchte aus dem Grau des Morgens, direkt vor uns, ein dunkler Gegenstand aus dem Meer auf, hielt sich undeutlich vor uns, oben von Nebelschleiern bekränzt und unten vom Schaum der Brecher umspült. Wir wandten uns seitwärts und passierten schließlich bei Dämmerung Massafuero.8 Mit einem Fernglas erspähten wir zwei oder drei einzeln lebende Ziegen, die sich durch eine Felsschlucht auf gewundenem Weg zum Meer hinabbewegten. Und jetzt ein Signal: eine zerlumpte Flagge auf einem Hügel dahinter. Doch obwohl wir wussten, dass außer zwei oder drei dem Strang entronnene Sträflinge aus Chile niemand auf der Insel war, hatte unser Kapitän keine Lust, ihrer Einladung zur Landung Folge zu leisten. Obwohl er vielleicht falsch damit lag, kein Boot mit seiner Visitenkarte loszuschicken.

Ein paar Tage später «nahmen wir den Passat». Wie so oft überkam er uns in einer heftigen Böe, wie eine unwirsch gewährte Gunstbezeigung. Dieser Windstoß riss eine unserer Spieren weg, hob unseren alten Koch von den Beinen und fegte ihn ohne Umschweife zu den leeseitigen Speigatten9.

Da wir schnell den gewünschten Längengrad am Äquator, ein paar Meilen westlich der Galapagos-Inseln, erreicht hatten, verbrachten wir mehrere Wochen damit, in nutzloser Suche nach unserer Beute kreuz und quer über den Äquator zu jagen. Manche dieser Jäger glauben wohl, dass der Ozean Wale führe wie die peruanische Erde Silbererzflöze. So querten wir, Tag um Tag und Woche um Woche, die immerselbe Schnittstelle des Längengrads mit dem immerselben Äquator, bis wir fast hätten schwören mögen, dass wir jedes Mal das Anstoßen des Schiffskiels verspürten, wenn wir diese imaginäre Stelle kreuzten.

Schließlich strichen wir, direkt vor einer äquatorialen Brise, schnurstracks am Äquator selbst entlang, steuerten westwärts, spähten nach rechts und spähten nach links, sahen aber nichts.

Während dieser öden Zeit erlebte ich die ersten Symptome dieses bitteren Unwillens unserem eintönigen Schiff gegenüber, die letzten Endes zu den hier berichteten Abenteuern führte.

Doch halt! Kein Wort gegen dieses hochbetagte Schiff und seine Mannen. Die Seeleute waren alle gute Kameraden, das knappe Dutzend Heiden eingeschlossen, die wir auf den Inseln an Bord genommen hatten. Dennoch waren sie nicht ganz nach meinem Geschmack. Zu keiner Seele gab es eine unwiderstehliche Anziehung, kein Band der Sympathie zu irgendwem; es sei denn, man bejammerte gemeinsam die Kalmen, die uns zuzeiten überkamen, oder pries die Brise, wenn sie uns traf. Unter anderen, anregenderen Vorzeichen hätten die Teerjacken vielleicht ansprechendere Eigenschaften entwickelt. Wären wir leckgeschlagen oder von einem Wal «gelocht» worden oder mit einem despotischen Kapitän gesegnet gewesen, gegen den man mit Feuer und Flamme aufbegehren konnte, hätten sich diese meine Schiffskameraden vielleicht als wendige Burschen mit Mumm in den Knochen erwiesen. Doch offenbar waren aus ihrer Stahlhärte keine Funken zu schlagen.

Da gab es noch andere Dinge, die mir mein Los an Bord immer schwerer erträglich machten. Zugegeben, der Kapitän war ein Prachtkerl, legte auf dem Achterdeck10 keinen Wert auf Förmlichkeit und hatte auch ein Wort für einen Seemann übrig. Ihm soll fürderhin Gerechtigkeit widerfahren: Er hatte einen besonderen Narren an mir gefressen, war umgänglich, nein, geschwätzig, wenn es sich traf, dass ich am Steuerruder stand. Na, was tut’s? Konnte er Gefühle oder philosophische Gedanken zur Sprache bringen? Nicht die Bohne! Seine Bücherei maß acht auf vier Zoll: Bowditch und Hamilton Moore.11

Und was sagen mir, der ich mich so sehr nach jemandem sehnte, der mir präzise hätte angeben können, an welcher Stelle Burton über die Blauen Teufel der Melancholie12 sprach, was sagten mir seichte Wiederholungen von ewig ausgesponnenem Seemannsgarn und die von unserem Vorschiffchor intonierten, nicht enden wollenden Strophen von «Black-eyed Susan»13? Das war schaler als schales Ale.

Ach, ach, «Arcturion»! Ich sag es ohne Arg, doch du botest höchsten Stumpfsinn. Nicht nur beim Segeln, obwohl das für mich schon schwer genug zu ertragen war, sondern auch in jeder anderen Hinsicht. Die Tage verliefen gemächlich im Kreis, endlos und ohne Ereignis, drehten sich wie Umläufe im leeren Raum. Zeit und Stücke von Zeit! Wie viele Jahrhunderte zeigte meine Hängematte an, wenn sie wie ein Pendel zu des Schiffes dumpfem Schlingern hin und her schwang und die Stunden und Zeitalter tickte. Gesegnet auf immer sei der «Arcturion» Lukendecke – ach! Seegras überzieht sie nun – und rostig auf immer die Bolzen, die diese alte Meeresheimstatt zusammenhielten, auf der wir so oft die Zeit totgeschlagen hatten. Dennoch werde ich euch, ihr verlorenen und lastenden Stunden, mein Leben lang verfluchen.

Nun, es vergingen Wochen, gemäß der gemessenen Zeit. Bill Marvels Geschichten14 wurden wieder und wieder erzählt, bis Anfang und Ende nahtlos ineinandergriffen, auf ewig vereint. Ned Ballads Lieder wurden angestimmt, bis sich ihr Widerhall in die Toppen verstieg und in den Buks15 der Segel nistete. Meine arme Geduld war schier dahin.

Doch schließlich, nachdem wir eine Weile strikt westwärts gesegelt waren, wendeten wir uns höchst angewidert vom Äquator ab, da wir nicht die Spur eines Wals gesehen hatten.

Aber wohin jetzt? Zur brütend heißen Papuaküste? In diese Region der Sonnenstiche und Taifune, wo einen das Pullen nach unerreichbaren Walen sauer ankommt. Viel schlimmer. Wir waren anscheinend im Begriff, Whistons Theorie16 über den Transport der Verdammten mittels Kometen zu illustrieren – indem wir von äquinoktialer Hitze zu arktischen Frösten gejagt wurden. Kurz gesagt: Der Kapitän hatte, mit der zuverlässigen Unbeständigkeit seiner Zunft, jeden Gedanken an den Pottwal aufgegeben. In seiner Verzweiflung war er entschlossen, an der Nordwestküste und in der Bucht von Kamtschatka nach dem Blauwal zu schnappen.

Denen, die in das Geschäft des Walfangs nicht eingeweiht sind, mögen meine Gefühle an diesem kritischen Punkt vielleicht schwer verständlich sein. Doch sei nur dies gesagt: Diese Blauwaljagd an der Nordwestküste, in frostig-tristem Nebel, wo die griesgrämigen und trägen Monster über das Meer flößen wie auf dem Rhein die Baumstämme aus dem Harz17 und sich der Harpune fügen wie halb benommene Ochsen dem Messer, diese abstoßende und anstößige Blauwaljagd verhält sich zu einer kühnen Hatz auf den edlen Pottwal in südlichen und milderen Meeren wie das Abschlachten von Eisbären auf den Eisbergen des öden Grönland zur Zebrapirsch im Kaffernland, wo das muntere Wild vor einem auf laubreicher Wildbahn hüpft.

Nun, dieser höchst unvorhergesehene Beschluss seitens meines Kapitäns, den Polarkreis zu durchmessen, war nicht mehr oder weniger als ein stillschweigender Verstoß gegen unsere Abmachung, über die im Einzelnen gar nichts gesagt zu werden braucht. Und da ich mich nur für eine einzige Kreuzfahrt eingeschifft hatte, war ich an Bord seines Schiffs gegangen wie jemand, der vielleicht für einen Tag den Fuß in den Steigbügel setzt, um den Jagdhunden zu folgen. Und jetzt, Himmel hilf, war er im Begriff, mich zum Pol zu verschleppen! Und auch noch in solch üblem Auftrag! Denn diesem haftete etwas Herabwürdigendes an. Was so ein wahrer Waljäger ist, der rühmt sich, dass seine Harpune von keinem anderen Blut als dem des Kaschelotts befleckt wird. Bei allem, was mir heilig ist, dies kratzte an der Ritterlichkeit eines Seemanns. Bei Pottwal und Walrat, das war nicht zu ertragen!

«Käpten», sagte ich und tippte in seiner Richtung hin an meinen Sombrero, als ich eines Tages am Steuerruder stand, «das ist ein starker Tobak, mich auf diesem Wege ins Fegefeuer zu entführen, wo ich mich doch nach ganz anderem Ort eingeschifft habe.»

«Ja, und ich ebenfalls», war seine Antwort. «Doch da hilft nichts. Pottwale kriegen wir keine. Wir sind nun drei Jahre auf See, und es muss etwas anderes her, denn das Schiff giepert nach Öl, und sein Laderaum ist ein Abgrund, blickt man dort hinein. Doch Kopf hoch, mein Junge! Sind wir erst in der Bucht von Kamtschatka, werden wir gänzlich überschwemmt von dem Gewünschten, wenn es auch nicht gerade von der besten Sorte ist.»

Immer schlimmer! Die Aussicht auf Ölträchtigkeit steigerte sich in makassarische18 Dimensionen. «Sir», sagte ich, «dazu habe ich mich nicht anheuern lassen; setzen Sie mich bitte irgendwo ab.» Er machte große Augen, würdigte mich indes keiner Antwort, und für einen Moment glaubte ich, dass ich, zum Nachteil der freundlicheren Natur des Menschen, den dominierenden Geist des Kapitäns zur See in Unruhe versetzt hatte.

Doch dem war nicht so. Er machte drei Runden auf Deck, legte dann die Hand aufs Steuerruder und sprach: «Richtig und falsch, mein Alter, mitgegangen ist mitgehangen. Kommt gar nicht infrage, dich jetzt irgendwo abzusetzen. Ich fahre keinen Hafen an, bis das Schiff nicht voll ist bis zum Lukensüll19. Doch geh von Bord, wenn du kannst.» Und mit diesen Worten betrat er seine Kabine wie Julius Cäsar sein Zelt.

Er mag sich nicht viel dabei gedacht haben, doch hallte dieser letzte Satz wie eine Herausforderung in meinem Ohr nach. Das klang nach des Wärters Empfehlung, als er auf den Gefangenen in Newgate20 beim Reißausnehmen schoss.

«Geh von Bord, wenn du kannst!» Das Schiff verlassen, wenn kein Segel oder Land in Sicht war! Aye, mein feiner Käpten, Wundersameres ist schon vollbracht worden. Denn sogar an Bord dieses Schiffes, der alten «Arcturion», waren vier kecke Kerls, die unser Kapitän eigenhändig zwei Jahre zuvor aus einem offenen Boot aufgelesen hatte, fernab der entferntesten Sandbank. Gewiss spannen sie ein ellenlanges Garn, des Inhalts, sie seien die einzigen Überlebenden eines Ostindienfahrers, den man bis auf die Meeresfläche niedergebrannt hätte. Doch wer glaubte ihnen ihre Mär? Wie viele andere bewahrten sie ein Geheimnis: Zweifelsohne hatten sie sich aus Widerwillen von einem hässlichen Pott, der sich noch wacker über Wasser hielt, davongestohlen, als sie vor Anker lagen. Bei Seeleuten im Pazifik sind solche Begebenheiten nicht selten. Und sie werden nicht als große Wunder erzählt. Es sind keine Ereignisse, bloß Vorfälle im Leben der Brüder vom Orden der Südmeerfahrer. Denn was macht das schon, obwohl das Land Hunderte Meilen entfernt ist, wenn man ein tüchtiges Walfängerschiff unter den Füßen hat, den Passat im Rücken und sanfte, warme Meere voraus? Hierin unterscheiden sich auch Atlantik und Pazifik: Ist der kühne Seemann, der bei Kap Hoorn noch gute Lust hat, sein Schiff aufzugeben, erst in den Tropen, lauert er auf keinen Hafen mehr. Er betrachtet den Ozean als einen einzigen riesigen Hafen.

Dennoch war das angedeutete Unterfangen kein Kinderspiel, und ich beschloss, die Chancen wohl abzuwägen. Es ist bemerkenswert, dass jeder in dieser Weise für sich selbst die Unternehmung bedenken muss, die er bei anderen für eine Bagatelle hält.

Meine ersten Überlegungen richteten sich auf die Inbesitznahme des Bootes, erwogen das Für und Wider, das Wenn und Aber dieser Entwendung. Doch ohne Haarspalterei will ich hier sagen, dass ich, wäre ich wieder in der gleichen Lage, genau wieder so handelte, wie ich es dann getan habe. Der Kapitän wusste, dass er im Begriff war, mich widerrechtlich, entgegen der Abmachung, festzuhalten; und er selbst gab mir sogar den Wink, den ich mir lediglich zu eigen machte, mit bestem Dank an ihn.

Zu derlei Vorsätzen aufgelegt, begab ich mich eines Tages nach oben, um meine zugeteilten zwei Stunden auf dem Masttopp zu absolvieren. Der Tag, heiter und schön, neigte sich dem Ende zu. Da stand ich hoch oben auf dem Mast, und weit, weit, unendlich weit in die Ferne rollte der Ozean unten. Wir befanden uns an dem vielleicht am wenigsten befahrenen und unbekanntesten Teil dieser Meere. Westwärts jedoch scharten sich zahlreiche Inseln, lose verstreut auf den Karten, und mit dem ganzen Zauber eines Traumlandes ausgestattet. Doch bald wären diese Regionen passiert, die milde Äquatorbrise vertauscht gegen kalte, grimmige Böen und all die Schrecken einer Nordfahrt.

Ich warf einen Blick hinab auf die braunen Planken des träge dahinstampfenden Kahns, schweigsam von Bug bis Heck, schaute dann überallhin.

Welche Anblicke, ausgebreitet in der Ferne! Hoch aufgetürmt über den gesamten Westhorizont goldene und karminrote Wolken, Bögen, Gewölbe und Minarette der Luft, als ginge die maurische Sonne hinter einer riesigen Alhambra unter. Ausblicke schienen zu jenseitigen Welten zu führen. Vogelschwärme zogen hin und her, über die Türme dieses himmlischen Ninive hinweg. Ich beobachtete sie lang, und einer kreuzte mein Gesichtsfeld, durchflog einen niedrigen Bogen und war der Sicht entschwunden. Mein Geist muss in ihm mitgeflogen sein. Dann, unmittelbar, wie eine Verzückung, überkamen mich der Rhythmus sanften Wogens, das einen Muschelstrand überspült, das Sichwiegen von Zweigen und die Stimmen von Mädchen und die besänftigten Schläge meines eigenen, aufgelösten Herzens: Alles verschmolz miteinander.

Nun, all das war, offen gesagt, nur eine der vielen Visionen, die ich da oben hatte. Doch da sie mich gerade zu dieser Zeit überkam, setzte sie mir derart zu, dass hinfort mein Wunsch, die «Arcturion» zu verlassen, fast zur Besessenheit wurde.

II.

Eine Windstille

Am nächsten Morgen herrschte eine Windstille, die meinen Unwillen dem Schiff gegenüber nicht wenig vergrößerte. Und im Weiteren wurden in mir, durch gewisse obskure Assoziationen, alte Erinnerungen daran wach, wie ich als angehender Seemann zum ersten Mal Zeuge dieses Meeresphänomens wurde. Diese Eindrücke mögen eine Seite wert sein.

Für einen Landbewohner ist eine Windstille auf See kein Scherz. Sie stülpt nicht nur seinen Unterleib um, sondern bringt auch seinen Geist durcheinander, verleitet ihn dazu, seinen Glauben an die ewige Tauglichkeit von Dingen zu widerrufen, kurzum, macht bald einen Ungläubigen aus ihm.

Zunächst ist er überrascht, dass er nie von einem Seinszustand geträumt hat, bei dem das Sein selbst außer Kraft gesetzt scheint. Er schüttelt sich in seiner Jacke, um festzustellen, ob sie leer ist oder nicht. Er schließt seine Augen, um die Wirklichkeit des Glaskörpers zu überprüfen. Zum Zwecke des Versuchs und um die Wirkung zu bezeugen, nimmt er einen tiefen Atemzug. Ist er ein Bücherleser, kommt ihm Priestleys «Notwendigkeit» in den Sinn, und er glaubt diesem alten Sir Anthony Absolute21 sogar bis zum letzten Kapitel. Sein Glaube an Malte-Brun22 hingegen beginnt zu versiegen; denn die Geografie, der er von Jugend an blind vertraut hatte, garantierte ihm stets, dass das Meer, obschon über den gesamten Globus ausgebreitet, zu guter Letzt von Land begrenzt war. So war die Amerika gegenüberliegende Landmasse zum Beispiel Asien. Doch es herrscht Windstille, und er wird auf närrische Weise zum Zweifler.

In seiner aufgescheuchten Fantasie werden Breitenkreise und Meridiane nachdrücklich das, was sie bloß ihrer Bezeichnung nach sind: imaginäre Linien, rund um die Erdoberfläche gezogen.

Das Log versichert ihm, dass er an einer solchen Stelle ist; doch das Log lügt, denn in dieser Wasserwüste trifft man auf keinen Ort oder etwas, was irgendwie winklig wäre.

Schließlich überkommen ihn schreckliche Zweifel, zum Beispiel an der Fähigkeit des Kapitäns, sein Schiff zu steuern. Dieser Blindgänger ist gewiss vom Weg abgekommen und treibt in die Grenzgefilde der Schöpfung, die Region der immerwährenden Flaute, die zu einer positiven Leere hinleitet.

Ewigkeitsgedanken verdichten sich. Er beginnt um seine Seele zu bangen.

Die Stille der Kalme ist schrecklich. Seine Stimme beginnt ihm seltsam und ominös zu werden. Er verspürt sie in sich wie etwas Hinuntergeschlucktes, das für seine Speiseröhre zu groß ist. Sie hält in ihm etwas wie ein unfreiwilliges inneres Summen aufrecht, gleich einem lebenden Käfer. Sogar die Hohlräume seiner Knochen sind wie wispernde Gänge. Er hat Angst, laut zu sprechen, auf dass er nicht betäubt werde, wie der Mann in der Basstrommel.

Doch stärker als alles andere ist sein Bewusstsein der äußersten Hilflosigkeit. Da ist weder Beistand noch Mitgefühl. Es nutzt nichts, wenn man bereut, dass man an Bord gegangen ist. Die letzte Erfüllung der Verzweiflung mag für ihn keinen Reiz mehr haben. Eitel die Vorstellung, die Windstille zu vertrödeln. Er mag schlafen, wenn er kann, mag sich vorsätzlich dem schönen Wahn anheimgeben, er habe frei. All dies mag er aushecken, doch faulenzen kann er nicht, denn faulenzen heißt müßig sein, und müßig sein heißt, nichts zu tun zu haben, wohingegen hier eine Windstille auszuhalten ist: genug, worauf man achtgeben muss, weiß der Himmel.

Sein körperlicher Apparat, offenkundig auf Beweglichkeit ausgelegt, rastet ein, und er verharrt dort, wo ihn die Windstille zurücklässt. Selbst seine zweifelsohne verbrieften Rechte, inklusive seiner glorreichen Willensfreiheit, werden gleichsam null und nichtig. Was sollen sie denn auch? Er will los: loskommen von der Windstille – an Land könnte er dieser Plage ausweichen. Aber er kann nicht; und wie närrisch, Auswege zu erwägen! Das ist hoffnungsloser als eine Missheirat in einem Land, wo es kein Doctors’ Commons23 gibt. Er hat das Schiff zur Frau genommen, in Freud und Leid, in Windstille wie in Sturm, und man kann es sich nicht vom Halse schaffen. Die Rahen24 in die Seiten gestemmt, sagt diese Partnerin spöttisch zu ihm, als spräche die alte Muhme zu dem Zwerglein: «Hilf dir selbst.»

Und all dies, und mehr als dies, ist eine Windstille.

III.

Ein König als Kamerad

Wir mussten uns zu der Zeit, von der ich jetzt berichte, etwas mehr als sechzig Grad westlich der Galapagos-Inseln befunden haben. Und da wir den erwünschten Längengrad erreicht hatten, steuerten wir nordwärts auf unseren arktischen Bestimmungsort zu: rings um uns ein weites Meer.

Doch genau nach Westen, obschon tausend Meilen entfernt, erstreckte sich nördlich und südlich ein fast unendlicher Archipel, hie und da bewohnt, doch kaum benannt; und fast niemand findet dorthin, selbst Walfänger nicht, die sich sonst überall tummeln. Beginnen wir mit der Südgrenze dieser großen Inselkette: Dort liegen die unter dem vagen Namen Ellice-Gruppe bekannten Inseln, dann die Kingsmill-Inseln, dann die Radack- und Mulgrave-Gruppen.25 Diese Inseln waren mir im Wesentlichen als Korallenformationen geschildert worden, flach und fruchtbar und mit mannigfachen Früchten in Hülle und Fülle. Die Sprache der Bewohner, hieß es, sei derjenigen der Navigator-Inseln sehr ähnlich, von woher ihre Vorfahren vermutlich ausgewandert waren.26

Und aus den Erzählungen wusste ich damals nicht mehr über die fraglichen Inseln als gerade das eben Gesagte. Doch Hauptsache, sie existierten überhaupt und unser Weg dorthin führte über eine verträgliche See, von einem verlässlichen Passat befördert. Die gleichwohl große Strecke war doch nur eine ausgedehnte Wasserfläche, nichts weiter als eine große Leere, die zu durchsegeln war; zudem in einem Gefährt, das bekanntermaßen bei richtiger Handhabung größere Schiffe in einem Sturm überlebt. Denn dies trifft wahrlich auf ein Walfangboot zu: in seiner Art das Ausgefeilteste, was Menschenhand je hergestellt hat.

Dann beschloss ich, komme was da wolle, meinen Fuß auf eine der Kingsmill-Inseln zu setzen. Und gleichfalls stand mein Entschluss fest, dass mich eines der Beiboote dorthin bringen sollte. Doch konnte ich mir nicht vorstellen, ohne einen Gefährten zu sein. Was wäre das für ein verdrießliches Umschauhalten, wenn ich alles für mich behielte, und nichts als der Horizont in Sicht.

Nun gab es in der Mannschaft einen trefflichen alten Seemann, einen gewissen Jarl. Keiner konnte sagen, wie alt er war, selbst er nicht. Die Zeitrechnung auf Vordeck ist immer unbestimmt und mangelhaft. «Ob ich nun Mann oder Junge war», sagte der gute Jarl, «ich habe immer gelebt, seit ich denken kann.» Und wirklich, wer kann sich daran erinnern, dass er nicht lebte? Uns selbst scheint es, als seien wir alle gleichzeitig mit der Schöpfung da. Daher kommt es, dass es so schwerfällt zu sterben, bevor die Welt dahingegangen ist.

Jarl stammte von der Insel Skye, eine aus der Schar der Hebriden. Daher wurde er oft der Skyeman genannt. Und obwohl er alles andere als eine Piratenseele besaß, war er doch als ein alter Norse27 anzusehen. Seine Hände waren kräftig wie Bärenpranken, seine Stimme war rau wie ein Sturm, der um die alten Gipfel von Mull28 tobt, und sein langes Flachshaar umwehte seinen Kopf wie eine untergehende Sonne. Bei meinem Leben, Jarl: Deine Vorfahren waren Wikinger, die viele Male über die salzige Nordsee und die Ostsee segelten, die ihre Brunhilden in Jütland heirateten und die nun in der Halle der Walhalla Met schlürfen und mit ihren Krügen den Takt zu den Gesängen der Skalden schlagen. Ach, wie mich die alten Sagas durchrieseln!

Doch Jarl, der Abkömmling von Helden und Königen, war ein einsamer, freundloser Seemann auf hoher See, seinen Ahnen nur getreu durch das Seefahrerleben, das er führte. Aber so ist es gewesen, und so wird es immer sein. Welcher königliche Leibgardist wird nicht schwören, dass er von König Alfred29 selbst abstammt? Welcher Wortklauber nicht, dass er ein Abkömmling des alten Homer sei? König Noah – Gott hab ihn selig – war unser aller Vater! Dann hoch den Kopf, o ihr Heloten, hochkarätiges Blut rollt durch unsere Adern. Wir alle sind mit Monarchen und Weisen versippt, nein, haben Engel und Erzengel zu Vettern, da sich ja in vorsintflutlichen Tagen die Gottessöhne fürwahr mit unseren Müttern vermählten, den unwiderstehlichen Töchtern Evas. Daher sind alle Generationen miteinander verquickt, sind Himmel und Erde von einem Geschlecht: die Hierarchien der Seraphim im allerhöchsten Himmel, die Throne und Fürstenränge im Zodiakus, die Schatten, die den Raum durchschweifen, die Nationen und Familien, Scharen und Gemeinden der Erde, jeder Einzelne und alle, im Innersten Brüder – ach, seien wir also wirklich Brüder! Alles bildet doch ein Ganzes; das Universum ein Judäa und Gott Jehova dessen Haupt. Drum wollen wir nicht mehr erschreckt zusammenzucken. Was ist unter einer Gottesherrschaft zu fürchten? Lasst uns gefasst dem Tod entgegengehen wie ermattete Reiter, die im Sattel schlafen. Lasst uns selbst Geister begrüßen, wenn sie auferstehen. Hinfort unser Gaffen und Grimassenschneiden! Des Neuseeländers Tätowierung ist keine Sonderlichkeit und des Chinesen Artung kein Rätsel. Kein Brauch ist befremdend, kein Glaube absurd, und kein Feind, der sich nicht doch zuletzt als Freund erwiese. Am Ende wird im Himmel unser gütiger, alter, weißhaariger Vater Adam alle ohne Unterschied begrüßen; und immer wird man der Gesellschaft pflegen. Christen werden Versöhnung stiften zwischen Juden und Nichtjuden, der grimmige Dante vergisst seine Infernos und schüttelt sich vor Lachen mit dem feisten Rabelais, und Mönch Luther plaudert, über einem Krug mit altem Nektar, von alten Zeiten mit Papst Leo. Dann werden wir bei den Weisen sitzen, die vordem den sonnenbeschienenen Medern und Persern Gesetze gaben;30 bei den Rittmeistern der Kavallerie im Perseus31, die «Zu Pferde!» riefen, als sie von den Posaunen des Jüngsten Gerichts geweckt wurden, die zum Sturm bliesen; bei den alten Waidmännern, die, vor Jahrhunderten, den Elch im Orion jagten; bei den Spielleuten32, die in der Milchstraße sangen, als Jesus, unser Heiland, geboren wurde. Dann werden wir keinem seichten Gerede über Magellane und Drakes lauschen, sondern den Reisenden unser Ohr leihen, die um die Sonnenbahn gefahren sind, die den Polarstern umrundeten, als sei er Kap Hoorn. Dann werden der Stagirit33 und Kant vergessen sein, und ein anderes Blatt als ihres wird man wenden, um Weisheit zu erlangen: jenes mit jetzt noch nicht entzifferten Horoskopen übersäte Blatt, den Himmel der Himmel in der Höh’.

Nun, im Kauderwelsch des alten Jarl gab es gar keinen Dialekt. Unser eingefleischter Seemann ist dafür zu sehr Kosmopolit. Lange Kameradschaft mit Seeleuten aller Völkerschaften – Filipinos, Angelsachsen, Cholos, Laskaren34 und Dänen – nutzt schnell alles muttersprachliche Gestammel ab. Man lässt seinen Clan fallen, bergab geht es mit der Nation, es wird eine Weltsprache gesprochen, joviales Geplapper in der Lingua franca des Vordecks.

Seinem Beruf getreu, war der Skyeman sehr ungebildet: unbeleckt von Salamanca, Heidelberg und Brasenose35. In Delhi hat er nie in den Büchern der Brahmanen geblättert. In Geografie, worin Seeleute bewandert sein sollen, da sie ewig und alle Tage den Globus aller Globen umrunden, wies Jarl bedauerliche Lücken auf. Seiner Ansicht nach war diese Land-Wasser-Welt wie eine Obsttorte geformt: Das Land war bloß eine Rinde am Rande, und darin wälzte sich die eigentliche Wasserwelt. Solches schien die kosmografische Theorie meines guten Wikingers zu sein. An andere Welten glaubte er nicht, doch dies so uneingeschränkt wie Chrysostomos36.

Ach Jarl, du redlicher, ernster Kerl, so wahr und schlicht, dass die geheimsten Betätigungen deiner Seele unergründlicher waren als die subtilsten Werke Spinozas.37

So viel sei von dem Skyeman gesagt, denn er war äußerst schweigsam und wird nur selten selbst sprechen.

Nun, von größeren Sympathien einmal abgesehen, fühlte ich mich Jarl wunderbar zugetan; denn er hatte mich lieb, hatte schon gleich zu Beginn an mir gehangen.

Manchmal kommt es vor, dass ein alter Seebär wie er eine sehr starke Zuneigung zu einem jungen Seemann fasst, eine so ergebene Zuneigung, dass sie gänzlich unerklärlich ist, außer man suchte ihren Ursprung in der Herzenseinsamkeit, von der die meisten Seeleute in zunehmendem Alter befallen werden und die sie veranlasst, sich an einen zufälligen Gegenstand der Wertschätzung zu heften. Doch was immer es war, deine freiwillige Zuneigung war die nobelste Huldigung, die mir je erbracht wurde. Und ehrlich gesagt bin ich eher geneigt, gut von mir zu denken, wenn ich in gewisser Hinsicht deiner Verehrung wert bin, als wenn ich von kultivierteren Geistern mit hochtönenden Komplimenten umgeben bin.

Auf See nun und in der Gemeinschaft der Seeleute erscheinen alle Männer so, wie sie sind. Keine bessere Schule als ein Schiff, will man die menschliche Natur studieren. Der Kontakt von Mann zu Mann ist zu nah und konstant, als dass er Täuschung beförderte. Salopp trägt man seinen Charakter wie die flatternden Hosen. Umsonst alle Mühe, andere Eigenschaften anzunehmen als die eigenen; oder die zu verhehlen, die man hat. Inkognitos, obwohl wünschenswert, kommen nicht infrage. Und daher war ich an Bord aller Schiffe, mit denen ich fuhr, gleichermaßen unter einer Art Salonname bekannt. Nicht – um das rasch zu sagen – dass ich mit sauertöpfischer Miene in den Teertopf gegriffen oder die Takelage mit Chesterfield’scher38 Ziererei erklommen hätte. Nein, nein, ich war nie besser als meine Tätigkeit; und ich hatte derer viele. Ich wirkte braun wie eine Kastanie, handfest, als die teerigste Teerjacke von allen; und nie schalt mich mein Schiffsmaat wegen einer vornehmen Abneigung gegenüber meiner Pflicht, obwohl diese mich in den wölfischsten Wind trieb, der je heulte, bis zum Flaggenknopf des Hauptmasts und zum Klüverbaumende.

Warum denn dann diese ärgerliche Benennung? (Denn ärgerlich war sie ganz gewiss.) Sie gründete auf etwas in mir, was nicht zu verbergen war, was sich in einer gelegentlichen Vielsilbigkeit bemerkbar machte, einer andererseits unverständlichen Bedächtigkeit beim Essen, in abseitigen, unbedachten Anspielungen auf Literarisches und in anderen, nicht erwähnenswerten Lappalien.

Doch es genügt zu sagen, dass es sich bei der Mannschaft der «Arcturion» herumgesprochen hatte, ich sei an einem bestimmten Punkt meines Lebenswegs ein «feiner Pinkel» gewesen. Doch Jarl schien noch weiter zu gehen. Er muss mich für ein verkleidetes Mitglied des Hauses Hannover gehalten haben oder vielleicht für den verkappten Charles Edward den Prätendenten39, der sich wie der Ewige Jude vielleicht noch auf Wanderschaft herumtreibt. Jarls Loyalität jedenfalls war extrem. Aus freien Stücken war er meine Wäscherin und mein Schneider, ein höchst kundiger dazu. Und wenn ich zur Essenszeit gerade Ausguck auf dem Mastkorb halten oder am Steuerruder stehen musste, versorgte er mich in unermüdlichem Fleiß mit den Essensschüsseln vom Vordeck. Zahlreiche tüchtige Portionen «duff»40 verdankte ich der guten Vorsorge meines guten Wikingers. Und wie Sesostris41 wurde ich von einem Monarchen bedient. Doch war die Verpflichtung ungefähr gegenseitig. Denn bekanntermaßen waren wir, laut Seefahrerjargon, «chummies»42.

Dieses Kumpelwesen zwischen Seeleuten ist wie die Brüderschaft zwischen zwei eingeschworenen Knastbrüdern, die Zellengenossen sind. Es ist ein Bund nach Art des Getreuen Achates43, ein Angriffs- und Verteidigungspakt, eine Teilhaberschaft an Wäschekiste und Waschraum, ein Band der Zuneigung und des Wohlgefühls, wobei sich jeder für den gerade Abwesenden einsetzt. Sicher fallen mir bei meinen Seefahrerreminiszenzen allerhand faule und abscheuliche Nichtsnutze von Kumpeln ein, Kumpel, die bei den Mahlzeiten erst dann zum Essenfassen kamen, wenn ihre unglücklichen Partner hoch oben in den Spieren hingen, Kumpel, die sich beim Nähen linkisch gaben und in schwere Gewissensnöte gerieten, sollten sie im Waschwasser planschen, sodass Kumpel Ehrlich gehalten war, alle Arbeit des Kräftigen zu tun, während Kumpel Schlau den schlafenden Partner in der Hängematte mimte. Pfui über solche Kumpel!

Doch sollte ich je Kumpel Schlau gewesen sein, so warst du, redlicher Jarl, mein Zeuge. Machte es dir etwas aus, mein Ölzeug zu verfertigen und wie der Gute Samariter die Risse zu verbinden und Nadel und Faden in die schrecklich klaffenden Wunden zu versenken, die mein Beinkleid marterten, das du «ducks»44 nanntest; und hast du nicht ausdrücklich erklärt, dass du all dies und mehr für mich tätest, trotz meines komischen Fingerhuts, aus dem Elfenbein eines Walstoßzahns gefertigt? Nein; konnte ich etwa deinen eigensinnigen Händen gar mein Hemd entwinden, wenn du es einmal dampfend in einer widerlichen Brühe hattest, in einem riesigen Bottich, einer oben abgesägten Tonne?

Sehr wohl weißt du, Jarl, dass dies wahr ist; und ich bin entschlossen, es zu sagen, um auf jeden verborgenen Wunsch zu verzichten und keinen Nutzen aus deiner großmütigen Natur zu ziehen.

Nun, als ich nach einem Gefährten suchte, kam für mich nur mein Wikinger infrage, und er allein.

IV.

Ein Schwatz in den Wolken

Der Skyeman schien ein so ernsthafter und aufrechter Seemann zu sein, dass ich, um die volle Wahrheit zu sagen, trotz seiner Zuneigung zu mir stark an seiner Bereitschaft zweifelte, sich zu einem Unternehmen zusammenzutun, das nach einer moralischen Verfehlung roch. Doch nachdem ich alles in Betracht gezogen hatte, hielt ich meinen Beschluss für völlig entschuldbar. Und da ich jemand anders dazu bringen wollte, sich mir anzuschließen, schien mir Vorsicht unerlässlicher als alle anderen Erwägungen.

Daher beschloss ich freimütig, ihm mein Herz zu öffnen und ihn zu diesem besonderen Behufe zu besuchen, wenn er sich gerade wie ein alter Albatros der Lüfte auf dem Vormasttopp niedergelassen hatte, ganz allein auf Ausguck nach nie gesichteten Walen.

Nun, stundenlang hundert Fuß hoch auf einem Stück Holz unentwegt zu stehen, in geschwinder Fahrt über das Meer, das ähnelt schon eher einer Kanalüberquerung im Ballon. Wie Manfred45 spricht man mit den Wolken, empfindet die Sonne als Gefährten. Und als Jarl und ich dort oben unser Gespräch führten und unsere winzigen «dudeens»46 rauchten, hätte uns eine vorbeifliegende Möwe für die Herren Blanchard und Jeffries halten können, die ihre After-Dinner-Bagdads schmauchten, von Dover nach Calais per Himmel.47 Guter Jarl, ich berichtete von allem: von meiner Unterhaltung mit dem Kapitän, von dem in seinen letzten Worten enthaltenen Wink, von meinem festen Entschluss, das Schiff in einem der Beiboote zu verlassen, und davon, wie einfach ich die Sache zu machen gedächte. Dann ließ ich vielerlei Verlockungen verlauten, in angenehme Vorwegnahmen gekleidet, etwa: geradewegs vor dem Wind zu fahren, in Richtung Sonneninseln auf der Leeseite.

Er lauschte aufmerksam, verharrte aber so lange in Schweigen, dass ich fast dachte, bei Jarl gäbe es etwas, dem ich und meine Beredsamkeit nicht gewachsen wären.

Schließlich erklärte er ganz unverblümt, der Plan sei verrückt. Von so etwas habe er nur dreimal zuvor gehört, und jedes Mal hätte man danach von den Ausreißern nichts mehr vernommen. Er flehte mich an, ich solle von meinem Entschluss lassen, kein grüner Junge sein, innehalten und nachdenken, zum Schiff stehen und wie ein Mann zu ihm zurückkehren. Wirklich, mein Wikinger redete mir gut zu wie mein Onkel.48

Doch für all das hatte ich ein taubes Ohr und bekräftigte, dass ich fest entschlossen sei und dass ich im Falle seiner Weigerung, mich zu begleiten, und da ich mir auch keinen anderen als Gefährten vorstellen könne, eher gänzlich allein davonzöge als gar nicht. Als er dann sah, dass mein Entschluss unumstößlich war, schwor er ohne Umschweife, er werde mir durch dick und dünn folgen.

Danke, Jarl! Du warst einer dieser ergebenen Gefährten, die zäh ringen, damit sie einen, den sie hoch schätzen, vom Irrtum überzeugen; doch misslingt dies, schlägt ihr Ringen unverzüglich um in eine Umarmung voll Sympathie.

Aber jetzt kam seine gereiftere Klugheit ins Spiel. Er ließ seinen Blick über die grenzenlose Weite da unten schweifen und fragte, wie weit besagte Inseln entfernt seien.

«Nicht weniger als tausend Meilen.»

«Mit einer hübschen Passatbrise und einem Bootssegel ist das eine Fahrt von gut zwölf Tagen, doch können Kalmen und Strömungen daraus einen Monat und mehr machen.» Und bei diesen Worten schüttelte er seinen alten Kopf, und sein Flachshaar flatterte im Wind.

Aber ich setzte alles daran, seine Bedenken zu zerstreuen, bis er sie schließlich fallen ließ.

Er versicherte, ich könne bis auf den letzten Span seines Kiels auf ihn rechnen.

Auf diese Beteuerung meines Wikingers hin fühlte ich mich erleichtert und war ganz in Gedanken darüber, wie das Unternehmen wohl am besten zu vollenden wäre.

Es war keine Zeit zu verlieren. Jede Stunde entfernte uns immer weiter von dem Breitengrad, dem wir am bequemsten auf unserem Weg nach Westen hätten folgen können. So ließ ich in höchstmöglicher Eile meine Pläne reifen und teilte sie Jarl mit. Dieser hatte künftige Wetterlagen im Blick und gab manchen alterfahrenen Rat, der nicht unter den Tisch fiel.

Einen Umstand, der auf den ersten Blick etwas Alarmierendes hatte, bedachte ich merkwürdigerweise erst, als mich mein Wikinger mit bekümmerter Miene daran erinnerte. Wir mussten ohne Seekarte oder Quadrant aufs Meer hinaus, obwohl ein Kompass, wie man bald sehen wird, durchaus im Bereich des Möglichen lag. Die Seekarte war mir gewiss keine solche Herzensangelegenheit, ein Quadrant hingegen mehr als wünschenswert. Dennoch war er keineswegs unentbehrlich. Weil bei unserer Abfahrt unser Breitengrad genau bekannt wäre. Und wir würden auf unserem Weg nach Westen entweder nördlich oder südlich abtreiben und könnten uns keinesfalls so weit von unserer Berechnung entfernen, als dass wir nicht auf eine der Inseln einer langen Kette träfen, die sich über viele Grade beiderseits des Äquators, direkt quer zu unserer Route, hinzieht.

Fast aus dem gleichen Grund machte es kaum etwas aus, ob wir auf unserer Fahrt täglich unsere geografische Lage kannten; denn zwischen uns und dem Ort, den wir zu erreichen wünschten, lag kein bekanntes Land. Gibt’s denn etwas Klareres, als dass wir nur geduldig westwärts zu steuern brauchten, um unser Ziel schließlich zu erreichen?

Wenn uns Untiefen und Riffe in die Quere kämen, wäre uns vor ihnen nicht bange. In einem Boot mit einem Tiefgang von ein paar Zoll würde schon ein nachlässiger Ausguck jeglicher Gefahr dieser Art vorbeugen. Jedenfalls schien die ganze Sache durchaus machbar zu sein, trotz des alten Jarls abergläubischer Ehrfurcht vor nautischen Instrumenten und den philosophischen Bedenken, auf denen ein pedantischer Schüler Mercators49 wohl bestanden haben mochte.

Wie die alte Spruchweisheit sagt, sind die einfachsten Dinge sehr oft die erschreckendsten, und das auch gerade aufgrund ihrer Einfachheit. Daher ängstigt euch nicht, wenn wir uns solchermaßen an die untergehende Sonne wandten: «Sei du, alter Lotse, unser Leitgestirn!»

V.

Ruderbänke klar und Sack gepackt

Aber an Sextanten und Quadranten zu denken war unsere geringste Sorge.

Direkt unter den gespannten Augenbrauen von dreißig Mann – Kapitän, Maate und Mannschaft – war ein Boot wegzuschaffen. Sie würden von dem Geschehen nichts erfahren bis zu dem Punkt, wo alles Wissen sich als vergeblich erwiese. Hört her: Auf See sind die Boote eines Südseefahrers (in der Regel vier, die Ersatzboote ausgenommen) an Taljen50 gehängt, die oben an gebogenen Balken, sogenannten Davits51, festgemacht sind. Diese wiederum sind senkrecht an den Schiffsseiten fixiert.

Keiner goldgelockten Schönen wird eifriger aufgewartet oder widerfährt feinfühligere Behandlung durch ihre Zofen als dem schlanken Walfangboot von seinen Mannen. Aus seinem Element genommen, erscheint es so zart, dass höchste Sorge gerechtfertigt ist. In der Tat, wie eine elegante Dame ist dieses elegante Walfängerboot höchst empfindlich bei Untätigkeit, obgleich wenig spröde, wenn Not am Mann ist.

Neben den Davits sind folgende Haltevorrichtungen vorgesehen. Zwei kleine Kranwinden sind schwingend unter dem Kiel aufgehängt, worauf dieser ruht. Dadurch wird verhindert, dass sich die Bootsmitte absenkt, während Bug und Heck in ihrer schwebenden Verankerung ruhen. Auch ist ein breites Hanfband, gewöhnlich in einem geschmackvollen Muster geflochten, um beide Dollborde52 herumgeführt; und an des Schiffs Reling gesichert, verzurrt es das Boot fest an seinem Platz. Hebt man sie über die Reling, sind die Boote von allen Deckspartien her vollständig zu sehen.

Mit einem dieser Boote nun wollten wir uns fortmachen. Wahrlich, keine leichte Sache. Schwieriger, als wenn ein schneidiger Janitschar mit einer Haremsdame aus dem Serail des Sultans flieht. Dennoch war die Sache zu machen, denn sie war schon, fürwahr, gemacht worden.

Warum nicht alles klammheimlich bei Tage lockern; und in der Nacht das Band abwerfen und in die Kranwinde schleudern? Doch wie die Taljen herablassen, gar in der finstersten Nacht, ohne dass dies entsetzlicher knarrte als der rasselnde Atem des Todes? Das ist leicht getan. Fette die Taue ein, und flink werden sie durch die verzwickten Windungen der Blöcke53 gleiten.

Doch obwohl ich gehört hatte, dass schon andere diesen Plan verfolgt hatten, barg er dennoch ein gewisses Risiko in sich, das keineswegs der Einbildung entsprang. Wir verfielen auf einen anderen, noch kühneren Plan, der dennoch sicherer war. Worin er bestand, wird man an entsprechender Stelle sehen.

Bei der Auswahl meines Boots für diese gewaltige Reise hätte ich gern das Deck überquert und die Boote beäugt wie ein Kornett, der sein Ross aus gutem Stall auswählt. Doch dies war mir versagt. Und notgedrungen war das «Bugboot» das erwählte, da am weitesten entfernt vom Achterdeck, dieser Region durchdringender Blicke und unerbittlicher Entschlüsse.

Dann war an unsere Speisekammer zu denken; ebenso an einen reichlichen Wasservorrat, den ich unter meine Obhut nehmen wollte. Obwohl nur für zwei zu sorgen war, wollte ich dennoch einen Fleisch- und Getränkevorrat für vier anlegen; jedoch wäre das derart versorgte Zusatzpaar rein imaginär. Und wenn wir in äußerste Todesbedrängnis gerieten, die wir nicht fürchteten, wäre ich doch für niemand anders als Jarl Nahrung.

Beim Beschaffen unserer Verpflegung ging nicht viel Zeit verloren. Zwieback und Pökelfleisch waren unsere einzige Nahrungsquelle, und dank der Großzügigkeit der Schiffseigner hatte die Besatzung der «Arcturion» davon reichlich zur Verfügung; Fässer mit herausgeschlagenem Boden waren voll von beiderlei, allen zu Diensten. Eine ausreichende Menge Schiffszwieback wurde sogleich in eigens zu diesem Zweck gefertigten Säcken verstaut. Das Pökelfleisch war schwieriger zu bekommen. Doch es gelang uns, nach und nach eine für unsere Zwecke ausreichende Menge aus dem Fass herauszuschmuggeln.

Was das Wasser angeht, so waren zum Glück ein oder zwei Tage zuvor einige Breakers für den akuten Bedarf der Mannschaft von unten hochgehievt worden.

Diese Breakers sind längliche und schlanke, doch sehr robuste Fässer. Von verschiedener Dicke, erfüllen sie den Zweck, in den Lücken zwischen den Butts54 im Laderaum eines Schiffs verstaut zu werden.

Die Wahl fiel auf das größte der Wasserfässer, das wir entdecken konnten; es wurde zunächst sorgfältig auf etwaige Lecks untersucht. Unter irgendeinem Vorwand rollten wir alle Fässer auf jene Seite des Schiffs, wo unser Boot hing; mitten darin wurde der auserwählte Breaker platziert.

Eine geraffte Auswahl aus unserer Garderobe wurde säuberlich gebündelt und einstweilen beiseitegelegt. Und schließlich hatten wir, mit der gebotenen Vorsicht, alle Vorbereitungen für den endgültigen Start in die Wege geleitet. Obwohl ich doch noch zu Jarls Gunsten sagen möchte, dass er sich, immer wenn die äußerste Taktik vonnöten war, nicht wohl in seiner Haut fühlte und größtenteils mir die Sache überließ. Er tat recht daran; denn wie es aussah, hatte er durch seine unpassende Aufrichtigkeit ein- oder zweimal beinahe alles vereitelt. Tatsächlich war er einmal derart unangemessen barsch, dass ich ihn merkwürdigerweise fast im Verdacht hatte, er hege dieses sonderbare Interesse am Wohlergehen eines anderen nach Art eines Philanthropen, der einen für schlecht gehaltenen Plan dadurch zunichtemacht, dass er in plumper Weise so tut, als unterstütze er ihn. Doch keine Unterstellungen; Jarl war ein Wikinger, frank und frei wie seine Väter; obwohl er weniger von einem Freibeuter hatte.

VI.

Acht Glasen

Für nächtliche Abenteurer muss der Mond schon ungeheuer scheu sein; oder es treten andere günstige Umstände ein; oder man konsultiert Kalender. Zeigt Frau Luna aber eine volle runde Scheibe, werden wenige tollkühne Taten vollbracht. Obwohl es schon stimmen mag, dass man in Vollmondnächten gern in Juweliersschatzkästchen und Mädchenherzen einbricht – und sie raubt, soweit Kopernikus dies sagen kann.

Der sanfte Himmelskörper war in seinem letzten Viertel, und an sein schlankes Horn hängte ich meine Hoffnung, unentdeckt von Bord zu gelangen.

Da wir jetzt eine ruhige Fahrt über den Ozean hatten, hielten wir zu dieser Zeit die bei Walfängern sogenannte «Bootsmannschaftswache». Anstatt die Seeleute nachts in zwei Gruppen aufzuteilen, die sich alle vier Stunden auf Deck abwechseln, gab es vier Wachen, jede aus einer Bootsmannschaft bestehend, den «Vormann» (immer einer der Maate) ausgenommen. Den Offizieren verschafft dieser Plan ununterbrochene Ruhe – «all-night-in», wie sie es nennen, und erleichtert den Seeleuten natürlich ihre Pflichten.

Die Harpuniere stehen an der Spitze der Bootsmannschaften und sind während der Dauer ihrer Wache für das Schiff verantwortlich.

Mein Wikinger nun, als unerschütterlicher Seemann, bediente das Ruder mittschiffs in dem Boot, dessen Bugmann ich war. Deshalb waren wir in derselben Wache; zu der noch drei andere gehörten, darunter Mark, der Harpunier. Einer dieser Seeleute jedoch war ein Invalide, sodass wir nur zwei «schaffen» mussten.

Wenn man diese Meere befährt, kann man wochenlang dahingleiten, ohne Geitau oder Schot55 aufzufieren; und so mild und stetig ist der Passat, dass man das Steuerruder kaum eine Spake weit zu bewegen braucht. Nachts plagen sich die Wachen selten damit, ausgiebig Ausguck zu halten; insbesondere da ein fremdes Segel in diesen einsamen Gewässern an ein Wunder grenzt. Auf manchen Schiffen weiß man Woche für Woche nicht zu sagen, wann man nachts auf Deck wirklich an der Reihe ist; so wenig wird achtgegeben auf die Dauer der Wache, bei der fast jeder, mit dem Freibrief vermeintlicher Sicherheit, ohne Bange einnickt.

Doch so nachlässig man als sorgloser Walfänger in der Bootsmannschaftswache sein kann, so sehr ist der Vorsteher der Wache verpflichtet, seinen Posten auf dem Achterdeck zu halten, bis er turnusmäßig abgelöst wird. Doch da Schläfrigkeit bei allen Naturen vorkommt, selbst bei Napoleon, der neben seiner eigenen Wache im verschneiten Biwak einnickte, so döste auch Mark, unser Harpunier, oft im schneeigen Mondlicht oder in pechschwarzer Finsternis. Lethe56 sei sein Los in dieser gesegneten Nacht, dachte ich, als ich während des Morgens, der unserem Unternehmen voranging, diesen Mann beobachtete, der möglicherweise meine Pläne durchkreuzen konnte.

Doch gehen wir auf diesen Teil meiner Geschichte näher ein. Während der sogenannten «Plattfüße»57 (von nachmittags vier bis acht Uhr abends) sind die Seeleute recht munter und aufgeräumt; ihr Schwung hält sogar bis weit in die erste der langen «Nachtwachen» an. Doch ist diese mit «acht Glasen» (Mitternacht) abgelaufen, macht sich Schweigen breit. Und hört man eine Stimme, ist es nicht die eines Engels: nur Flüche erschallen.

Mit acht Glasen kriechen die Seeleute, nun ihrer Achtsamkeit auf Deck entbunden, aus ihren Schlummerwinkeln in alten Monkijacken58 oder Tauwerksrollen und streben ihren Hängematten zu, fast ohne ihre Träume zu unterbrechen, während sich die Faulpelze unten träge die Leitern hochschleppen, um ihren Schlummer in der freien Luft wieder aufzunehmen.

Aus diesen Gründen also war die mondlose Meeresmitternacht genau die richtige Zeit für eine Flucht. Daher litten wir es, dass ein ganzer Tag verstrich; und warteten auf die Nacht, wenn die Steuerbordwache, zu der wir gehörten, mit dem bedeutsamen acht Glasen an Deck gerufen würde.

Doch vierundzwanzig Stunden vergehen schnell, und der Ruf «Steuerbordwache ahoi! Acht Glasen nach unten!» ließ mich schließlich aus einem quälenden Schlaf auffahren.

Ich sprang aus meiner Hängematte und hätte mir gern meine Pfeife angezündet. Doch die Vorschifflampe war ausgegangen. Ein alter Seebär erzählte im Schlaf von Haifischen. Jarl und unser einziger wachhabender Maat wurstelten sich in ihre Hosen. Und es war wenig zu hören, bis auf das Summen der reglosen Segel oben, das Spritzen der Wellen gegen den Bug und das tiefe Atmen der träumenden Seeleute ringsum.

VII.

Eine Pause

Gute alte «Arcturion»! Mütterliches Schiff, das du mich so oft in deinem Eichenholzschoß wiegtest, es grämt mich zu erzählen, wie ich dich auf der weiten, tiefen See zurückließ. So fern der Heimat, mit kunterbunter Mannschaft: Da müssen so manche Insulaner, deren heidnisches Gebrabbel durch deinen christlichen Rumpf schallte, mit ihren Misstönen an deinen Spanten gekratzt haben.

Altgedientes Schiff! Wo segelt dein einsamer Geist nun umher? Denn von der starken «Arcturion» ward nie mehr ein Wort gehört, und zwar von der Stunde an, als wir von ihren schicksalsgeweihten Planken abstießen. In welcher Sturmesstunde, bei welchem Möwengekreisch die todbringenden Strudel ihr Werk taten, weiß kein Sterblicher. Sank sie schweigend, hilflos, in die stillen Tiefen dieser sommerlichen See, abgestochen von der gnadenlosen Klinge des Schwertfischs? Wie schon geschehen. Oder ward ihr besseres Los zuteil; und sie wurde gefällt, indes sie tapfer mit der Windsbraut focht – die Sturmsegel gesetzt, der Mast bemannt und jeder auf seinem Posten –, und sank wie weiland die «Hornet»59, in einer steifen Brise fernab mit Mann und Maus?

Doch zwecklos jedes Mutmaßen. Als hochbetagtes Schiff mag sie gesunken sein, oder legte ihr Gerippe auf ein tückisches Riff. Doch ihr Schicksal ist, wie das so vieler in die Ferne Fahrender, ein Geheimnis.

Flehe den Himmel an, dass der Geist dieses verlorenen Schiffs, der weit umherstreift durch die aufgewühlten Schwaden eines mitternächtlichen Sturms – wie es alte Seeleute von vermissten Schiffen glauben –, mich niemals auf meinem künftigen Weg auf den Wellen heimsuchen wird. Friedlich möge sie auf dem Meeresgrund ruhen; und süß mögen meine Schiffsmaate in der tiefsten Wasserregion schlafen, wo weder Haie sich tummeln noch Wogen rollen.

Da wir die «Arcturion» zu diesem Zeitpunkt verließen, entgingen Jarl und ich, ohne dass wir es wussten, dem Seemannsgrab. Wir hören von vorsehungshaften Errettungen. War dies eine? Doch so süß das Leben allen ist, so hart kommt einen der Tod an. Und ich bin meinerseits fast versucht, den Kopf darüber hängen zu lassen, dass ich dem Geschick meiner Schiffsmaate entging; etwa vergleichbar dem, der sich schämen musste, dem grausamen Gemetzel bei den Thermopylen60 entgangen zu sein.

Obwohl ich einen Schauder nicht unterdrücken kann, wenn ich an das Ende dieses alten Schiffs denke, ist es mir unmöglich, mir auch nur vorzustellen, dass unser Verlassen des Schiffs in irgendeiner Weise zu seinem Abgang beitrug. Dennoch wollte ich beim Himmel, die «Arcturion» schwämme noch, und es wäre mir noch einmal vergönnt, ihre vertrauten Decks zu betreten.

VIII.

Sie stoßen ab, velis et remis61

Und nun wird erzählt, wie wir uns, von Teufel oder Engel versucht, auf diese Reise nach Westen machten.

Es war wohlgemerkt Mitternacht, als unsere Wache begann; und ich durfte natürlich auf keinen Fall beim Steuerruder an die Reihe kommen. Unter einem stichhaltigen Vorwand veranlasste ich unseren wachhabenden Maat, es zu übernehmen; so konnte ich mich selbst ungehindert entfernen und war ihn zugleich in befriedigender Weise losgeworden. Da er ein recht feister Geselle war, der riesige Mengen von Mehlpampe vertilgte und mit gutem Grund für einen Bauernsohn gehalten wurde, zweifelte ich nicht daran, dass er seiner alten Gewohnheit folgen und über dem Steuerruder in Schlaf fallen würde. Was den Vormann unserer Wache, den Harpunier, anging, so trat er das Erbe seines Vorgängers an, der an der Leeseite des Besanmasts alte Joppen behaglich warm hinterlassen hatte.

Die Nacht war sogar schwärzer, als wir angenommen hatten: Vom Mond keine Spur; und der tief purpurne Dunst, der manchmal in Äquatornähe anzutreffen ist, entzog die Sterne halbwegs den Blicken.

Nachdem ich etwa zwanzig Minuten gewartet hatte, bis der letzte Mann der vorigen Wache nach unten gegangen war, gab ich Jarl ein Zeichen, und wir streiften uns die Schuhe von den Füßen. Er stieg dann ins Vorschiff hinab, und ich schlenderte zum Achterdeck. Alles war ruhig. Dreimal schwenkte ich meine Hand direkt vor dem Antlitz des am Steuer dösenden Tollpatschs, genau zwischen ihm und dem Licht des Kompasshauses.

Mark, der Harpunier, war nicht so leicht auszuforschen. Ich hatte Angst, mich ihm zu nähern. Immerhin lag er ruhig da; doch ob schlafend oder wach – kein weiterer Aufschub mehr! Wenn die Zeit drängt, müssen Risiken eingegangen werden. Und unsere Ohren waren wie beim Vorstehhund gespitzt, um jedes Geräusch aufzufangen.

Ohne Hast, doch rasch und schweigend, gingen wir zu Werke. Unsere diversen Vorratslager wurden aus ihren Verstecken ins Boot geschleppt, das von der Leeseite des Schiffs hing, die Seite ins Wasser abgesenkt: eine unerlässliche Voraussetzung für einen Fluchtversuch. Und obwohl das Boot bei Sonnenuntergang auf der Windseite war, hatte das Schiff es doch, wie wir vorhergesehen hatten, leewärts gebracht, da es während der ersten Wache durch den Wind gewendet worden war.

Während wir uns abmühten, unseren unhandlichen Breaker in den Griff zu bekommen und ins Boot zu heben, bemerkten wir, dass dies wegen der dazwischenliegenden Wanten62 nicht ohne die Gefahr von Knarrgeräuschen möglich war. Außerdem könnte das Boot beim Herablassen überfrachtet sein. Doch obwohl es schon fünf vor zwölf war, verfielen wir auf einen Notbehelf. Wir befestigten ein langes, vollkommen straffes Tau an dem Breaker und schoben ihn vorsichtig über Bord; und wir steckten genug Tau aus, sodass er sicher nach achtern bugsiert wurde und nicht gegen den Kupferbeschlag des Schiffs schlug. Das andere Ende des Taus befestigten wir dann am Bootsheck.

Zum Glück blieb nichts mehr weiter zu tun; denn der Breaker, der wie ein Klotz in der Fahrrinne des Schiffs lag, beeinflusste dessen Fahrt und warf es wahrnehmbar in den Wind. Und da dies das Steuerruder in Gang setzte, wurde wohl auch der dort abgesetzte Tölpel wachgerüttelt; wenn er nicht schon wach war. Doch in dieser Hinsicht war uns der über Bord geschobene Breaker von Nutzen, da er die Fahrt des Schiffs verringerte, die aufgrund der leichten Brise die ganze Nacht über nicht sehr beträchtlich gewesen war. Andernfalls, wenn man die Geschwindigkeit des Schiffs zunächst nicht hätte verringern können, hätte alle Hoffnung auf ein Entkommen schon an Wahnsinn gegrenzt. Wie es aussah, war es die einzig kühne Tat, die in dieser Nacht vollbracht wurde, wegzufieren63, während das Schiff noch durch die Fluten zog, wenn auch nur gemächlich.

Alles war nun bereit: Die Kranwinden eingeschwenkt, die Zurringe64 drifteten im Wasser, und das Boot hing günstig in der Schwebe; wir bestiegen es schweigend, jeder an einem Ende, und ergriffen dabei die Taljenläufer. Das volle Gewicht des Breakers achtern zog das Boot horizontal durch die Luft, sodass sich seine Taljenläufer straff spannten. Es zuckte wie ein Delfin. Dennoch, hätten wir keine Angst vor seinem lauten Aufklatschen auf die wogende See gehabt, würden wir das Schiff fast so lautlos verlassen haben wie der Atem den Körper. Doch das war ausgeschlossen, und unsere Pläne waren dementsprechend.

«Alles klar, Jarl?»

«Alles klar.»

«Mann über Bord!», schrie ich aus vollstem Halse; und wie der Blitz glitten die Seile durch unsere sich mit Blasen bedeckenden Hände, und mit ungeheurem Anprall sprang das Boot auf den Rücken des Meeres. Ein einziges wahnsinniges Abgieren und Stürzen, und die Taljen bis zum Zerreißen gespannt, als wir in das Wellental sanken, heftig gezogen von dem Breaker im Schlepptau; und unsere Messer durchtrennten die Taljenläufer – wir riskierten es nicht, die Blöcke loszuhaken –, unsere Ruder waren draußen, und das gute Boot drehte sich, den Bug nach Lee.

«Mann über Bord!», wurde jetzt von Heck bis Bug gebrüllt. Und wir hörten unmittelbar das verworrene Getrampel und Geschrei der Seeleute, die aus ihren Träumen in die fast unergründliche Finsternis losstürzten.

«Mann über Bord! Mann über Bord!» Mein Herz schmerzte mich, als der menschliche Entsetzensschrei aus dem schwarzen Gewölbe der Nacht drang.

«Ruder in Lee!», war bald vom Obermaat zu hören. «Die Großrahe backholen!65 Schnell zu den Booten! Was ist das? Schon jemand unten? Gut gemacht! Dann alle anderen Boote stoppen!»

Inzwischen brüllten mehrere Seeleute los, als sie sich an den Brassen66 abmühten.

«Brassen los, alle Brassen los! Wegfieren! Wegfieren!», schrien diejenigen ungeduldig, die schon in die Boote gesprungen waren.

«Das Schiff beidrehen! Alles festmachen!», rief der Kapitän, der offenbar gerade an Deck stürzte. «Ein Boot ist genug. Steward! Setz ein Licht auf Kreuzmars. Boot ahoi! – Habt ihr den Mann erwischt?»

Keine Antwort. Die Stimme kam aus einer Wolke; das Schiff erschien geisterhaft verschwommen. Wir hatten aufgehört zu rudern, und Zug um Zug holten wir das am Breaker befestigte Tau an, den wir bald ins Boot hoben; und unverzüglich machten wir uns wieder ans Rudern.

«Pullt, pullt, Männer! Rettet ihn!», schrie wiederum der Kapitän.

«Aye, aye, Sir», antwortete Jarl instinktiv, «wir pullen, was das Zeug hält, Sir.»

Und wahrlich pullten wir, bis von dem Schiff nichts mehr zu hören war als ein verworrener Tumult; und ab und an der heisere Schrei des Kapitäns, zu weit entfernt, als dass man ihn hätte verstehen können.

Wir setzten bei leichtem Wind unser Segel; und ruderten und segelten mitten in die Dunkelheit, direkt nach Lee – bis der Morgen dämmerte.

IX.

Und vor ihnen nur die Wasserwüste

Auf See in einem offenen Boot. Und tausend Meilen fern von Land!

Kurz nach Tagesanbruch, im grauen, durchsichtigen Licht, unterbrach ein Fleck luvwärts die gerade Horizontlinie. Es war das Schiff, das Nordostkurs nahm.

Hätte ich nicht die definitive Gleichgültigkeit von Seeleuten gegenüber einem solchen Unglück wie diesem gekannt, das, wie die Mannschaft der «Arcturion» wohl annahm, letzte Nacht geschehen sein musste (hatte der Kapitän doch keinen Zweifel an der Echtheit des Ereignisses), hätte ich dieses Tüpfelchen mit größeren Gewissensbissen betrachtet. Und angesichts der Dinge fühlte ich mich nicht in sehr heiterer Stimmung. Denn das Bewusstsein, für tot gehalten zu werden, ist nicht so fern von der mutmaßlichen Unannehmlichkeit, wirklich tot zu sein. Man fühlt sich wie sein eigener Geist, der widerrechtlich das Gerippe eines schon Dahingeschiedenen bewohnt.

Selbst Jarl schien einen so eigenartigen Blick zu haben, dass ich ihn bat, irgendwo anders hinzuschauen.

Wir waren nun sicher vor allen Bemühungen des Kapitäns, jene wiederzufinden, die er höchstwahrscheinlich für verloren hielt; und ebenso von aller Hoffnung abgeschnitten, zu dem Schiff zurückzukehren, zu dem wir uns gerade so hingezogen gefühlt hatten. Die Entscheidung, die mich bis jetzt gestärkt hatte, wurde allmählich von der schrecklichen Einsamkeit des Schauplatzes gewissermaßen überwältigt. Vorher hatte ich den Ozean als einen Sklaven betrachtet, das Ross, das mich dorthin trug, wohin es mich gelüstete, und dessen tückische Neigungen, obschon sie mächtig waren, sich als harmlos erwiesen. Doch wie anders jetzt! In unserem zerbrechlichen Boot hätte ich gern Neptun einen Altar errichtet.

Den Wellen waren wir doch bloß ein Spielzeug; huckepack trugen sie uns von Kamm zu Kamm, als wären wir verlorene Seelen, die auf dem Weg zum Tartarus von Geisterhand zu Geisterhand gestoßen werden.

Doch ob ertrinken und schwimmen, hier wird achtsam über Bord gegangen! Sei guten Mutes, Jarl! Wie entzückt, wie verrückt fahren wir dahin. Die Woge hoch, langsam hoch, die lange, ruhige Woge mühsam hoch; dann eine Weile oben auf ihrer Krone balanciert wie eine Planke auf der Reling; und hinab tauchen wir kopfüber in den brodelnden Abgrund, bis wir, zum Stillstand gebracht, wieder aufwärtsgleiten. Und so glitten wir dahin. Mal in Wassergruben begraben – unser Segel flattert müßig; mal ist es angehoben – die Leinwand stolz geschwellt; und wir schauen den fernsten Horizont.

Hätte unsere Vertrautheit mit der Walfängerei den wilden Bewegungen unseres Schiffs nicht die Anfangsschrecknisse genommen, wären wir nur ein trauriges Paar gewesen. Doch während wir tagelang Walen hinterhergerudert waren, blieb das Schiff meilenweit zurück; und ganz dunkle Nächte über lagen wir vertäut mit den Monstern, die zu spät getötet worden waren, als dass wir sie noch zu dem viel zu weit leewärts liegenden Schiff hätten bugsieren können: All dies und noch viel mehr macht einen mit den seltsamsten Dingen vertraut. Der Tod hat gewiss einen so finsteren Rachen wie der eines Wolfs; und in seinen Schlund geworfen zu werden ist eine ernst zu nehmende Sache. Doch höchst gewisslich ist es wahr – und ich spreche nicht vom Hörensagen –, dass den Seeleuten insgesamt der grimmige Herrscher nicht halb so widerwärtig vorkommt wie denen, die ihn nur vom Strand her geschaut haben, und in achtungsvollem Abstand. Wie bei manchen hässlichen Menschen werden seine Züge bei näherer Bekanntschaft weniger erschreckend; und hat man oft Umgang mit ihm, trifft das alte Sprichwort zu, dass allzu große Vertraulichkeit Verachtung erzeugt. Dies ist auch bei Soldaten so. Aus dem zitternden Rekruten machen drei offene Feldschlachten einen grimmigen Grenadier; und derjenige, der vor einer Kanonenmündung zurückschreckte, ist nun bereit, sie mit seinem Schnurrbart auszuwedeln.

Und da der Tod gewiss der Feind ist, der allen bis zuletzt bleibt, werden tapfere Seelen seiner spotten, solange sie können. Doch sollten die klugen ihn eher als unbeugsamen Freund betrachten, der uns, selbst gegen unseren Willen, von des Lebens Übel siegreich befreit.

Und wie gestorben wird, das unterscheidet sich nur wenig. Es ist und bleibt Sterben. Und auch diejenigen traten dem Tod tapfer entgegen, die nie Blut in seiner Röte gesehen hatten, sondern nur in hellem Azur durch die Adern schimmernd. Und den Geist stolz aufzugeben und, mit allen Kriegsehren versehen, aus unserer Festung zu schreiten ist keine Frage von körperlicher Stärke. Obwohl der Zwerg Jeffrey Hudson67 im Gefängnis war, starb er wackerer als der Riese Goliath; und das Ende eines Schmetterlings beschämt uns alle. Manche Frauen lebten und starben edler als Männer. Mit dem Scheiterhaufen bedroht, widerrief Bischof Cranmer68; doch durch ihre Unerschütterlichkeit widerstand die einsame Witwe von Edessa der Flut von Verfolgungen durch Valens69. Es ist keine große Kühnheit, mit dem Schwert in der Hand und herausfordernden Worten zugrunde zu gehen, umpanzert von seiner Rüstung. Denn auch der Alligator stirbt in seinem Panzer, und der Schwertfisch ergibt sich nie. Mit mildem Blick in eigenem Bett den Geist aufzugeben, das übersteigt den Tod des Epaminondas70.

X.

Um es sich bequem zu machen, richten sie sich Sonnendächer und Liegen

UnserkleinesGefährt