Marianne Birkenhuber - Martin Ehrensberger - E-Book

Marianne Birkenhuber E-Book

Martin Ehrensberger

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Beschreibung

Ein ganzes Jahr ist vergangen, seit Ottilie Finkenmeier ihrer Nachbarin Marianne Birkenhuber ihre Lebensgeschichte erzählt hat. Nun ist die alte Dame verstorben und Marianne besucht wöchentlich ihr Grab um Ottilie dennoch nahe zu sein. Es sind schwierige Zeiten für Marianne. Die Corona Pandemie hat das bunte Leben auf den Straßen Regensburgs zum Erliegen gebracht und nach dem Tod der Mutter hält sie nur noch der Kontakt zu ihrem Vater Ferdinand über Wasser. Mariannes Leben scheint in trister Einsamkeit zu versinken, als sie eines Tages einen überraschenden Anruf erhält. Ottilies Sohn Alfred möchte mit ihr gemeinsam die Wohnung seiner Mutter entrümpeln. Zudem findet Marianne beim Sortieren alter Familienfotos ein rätselhaftes Bild, das tief mit ihrer Vergangenheit verwurzelt zu sein scheint. Als Marianne und Alfred sich näher kommen, kehrt nicht nur die Liebe in Mariannes Leben zurück, sondern auch ein gut behütetes Familiengeheimnis wird endlich gelüftet.

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Inhaltsverzeichnis

DONNERSTAG, 14. JANUAR 2021 

FREITAG, 15. JANUAR 2021 

SAMSTAG, 16. JANUAR 2021 

SONNTAG, 17. JANUAR 2021 

MONTAG, 18. JANUAR 2021 

SAMSTAG, 27. MÄRZ 2021 

Rückblick 

FREITAG, 1. Oktober 2021 

EPILOG 

 

 

 

 

Vollständige e-Book-Auflage 2024 

 

Originalausgabe: »Marianne Birkenhuber« 

© 2024 RICCARDI-Books 

ein Imprint der Spielberg Verlagsgruppe, Neumarkt 

Korrektorat: Kati Auerswald 

Umschlaggestaltung: © Ria Raven, www.riaraven.de 

Bildmaterial: © shutterstock.com 

Alle Rechte vorbehalten. 

 

Vervielfältigung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden. 

 

ISBN: 978-3-95452-127-2 

 

www.spielberg-verlag.de 

 

 

 

Martin Ehrensberger wurde in Regensburg geboren. Heute lebt der Realschullehrer mit seiner Frau und den zwei Töchtern in einem kleinen, beschaulichen Ort auf dem Lande und verwirklicht gerne kreative Projekte. Neben dem Musizieren, Wandern und Fotografieren veröffentlichte er drei Sachbücher. Nach seinem Debüt »Ottilie Finkenmeier« legt er mit »Marianne Birkenhuber« seinen zweiten Roman vor.

 

 

 

 

Gewidmet meiner Familie 

Geschichte und Personen sind frei erfunden. 

Ähnlichkeiten mit lebenden oder bereits verstorbenen Personen wären rein zufällig.

DONNERSTAG, 14. JANUAR 2021 

Am Grab 

›Was für eine verrückte Zeit!‹, dachte sich Marianne, als sie an einem grauen Herbsttag im Nieselregen an das Grab von Ottilie Finkenmeier am Oberen Katholischen Friedhof in Regensburg trat. Ihr Todestag hatte sich gestern genau zum ersten Mal gejährt. Marianne konnte sich noch genau an den Moment erinnern, als Frau Finkenmeiers Sohn, Hans-Wilhelm, vollkommen überraschend im Halbschatten des Treppenhauses auf sie gewartet hatte, um ihr die traurige Nachricht vom unerwarteten Ableben seiner Mutter zu überbringen. Die Stunden, die sie zusammen mit der 92-jährigen Ottilie am Vortag verbracht hatte, waren für sie unfassbar aufwühlend und zugleich emotional erfüllend gewesen, als die alte Dame ihr mit Hilfe einer Familienchronik ihr ereignisreiches Leben offenbart hatte. Im Nachhinein hatte Marianne immer öfter das Gefühl gehabt, dass Ottilie zumindest unbewusst schon geahnt hatte, dass es mit ihr bald zu Ende gehen würde. Es mochte unbewusst geschehen sein, aber möglicherweise hatte sie deshalb die Gelegenheit genutzt, um jemandem in Ruhe und Ausführlichkeit ihr bewegtes Leben mitzuteilen. So konnte sie ihre Geschichte nicht nur vor dem Vergessenwerden bewahren, sondern sich zudem von jeglichem angestauten gedanklichen Ballast befreien und ihren emotionalen Rucksack entleeren. Eines musste Marianne ihr lassen - dies war ihr bestens gelungen. Denn schließlich hatten nur wenige Stunden zwischen Mariannes Verlassen der Wohnung und dem Tod von Frau Finkenmeier gelegen. Zu der großen Leere und der Trauer, die sich dadurch in Mariannes Leben in den ersten Tagen und Wochen ausgebreitet hatten, legte sich im Laufe der Zeit zudem ein Schleier der Ohnmacht und Verständnislosigkeit über das gesellschaftliche und politische Weltgeschehen, was sich in einer zunehmenden Lustlosigkeit und Lethargie manifestierte.

Marianne besuchte wöchentlich Ottilie Finkenmeiers letzte Ruhestätte. Dieses Ritual gab ihrem von Natur aus geordneten Leben in zunehmend aufwühlenden Zeiten einen weiteren Fixpunkt vor, an dem sie sich orientieren konnte. Besonders in den letzten Wochen fühlte sie sich wie ein führungsloses Boot, welches sich im Sturm gerade noch über Wasser halten konnte und schon schwer Schlagseite hatte. Somit war sie der akuten Gefahr ausgesetzt, nicht nur jegliche Stabilität zu verlieren, sondern sang- und klanglos unterzugehen. Umso bemerkenswerter war es deshalb, dass sie sich trotz der unwirklichen Umstände in einer sich stetig wandelnden Welt, von ihrer Wohnung am Watmarkt im Stadtzentrum aus auf den Weg machte, um Ottilie möglichst nahe zu sein. Diese Minuten in vollkommener Stille an diesem besonderen Ort der persönlichen Einkehr, an dem sie immer nur mit sich selbst und den eigenen Gedanken alleine war, waren ihr heilig. Hier konnte sie ihre Gedanken treiben lassen und die Zeit um sich umher vergessen.

Sie glaubte noch immer, die einnehmende Präsenz der alten Dame zu spüren, was ihr ein Gefühl von Schutz und Stabilität vermittelte. Marianne hatte immer mehr den Eindruck, dass die Erde sich schneller drehte und sie es nur mit großer Mühe schaffte, mit ihr Schritt zu halten. Das Weltgeschehen veränderte sich in rasendem Tempo, so dass sie es, wie vermutlich viele Menschen in dieser Zeit, nicht richtig fassen, einordnen oder umfänglich begreifen konnte.

Dabei war heute, am 14. Januar, ihr 44. Geburtstag. Doch nach einer großen Feier war ihr in keiner Weise zu Mute. Zudem hatten die Restaurants dank des landesweiten Lockdowns seit Mitte Dezember ohnehin geschlossen. Wie lange sie nun schon an Ottilies Grab stand, konnte sie selbst nicht sagen und letztendlich war es ihr auch einerlei. Ihre Kleidung war von dem nass-grauen Wetter schon vollkommen klamm und schwer und die Wassertropfen liefen ihr vom Kopf hinab bis in ihre abgetragenen, mausgrauen Winterstiefel. Marianne hatte an diesem Tag nichts Besonderes geplant, denn schließlich war sie gerade nahezu illegal unterwegs. Es fühlte sich zumindest so an, denn die Bevölkerung in Bayern war aufgrund der anhaltenden und immer mehr um sich greifenden Covid-19-Pandemie, erneut seit einigen Wochen mehr oder weniger im häuslichen Arrest weggesperrt. Was für sie als alleinstehende Frau nun tatsächlich galt oder nicht, wusste sie nicht, denn irgendwann im letzten Jahr hatte sie damit aufgehört, sich mit den gesetzlichen Vorgaben bis ins kleinste Detail auseinanderzusetzen. Dies widersprach zwar ihrem peniblen, nach Struktur und Ordnung strebenden Naturell, aber nach den für sie äußerst deprimierenden Weihnachtstagen, war ihr so ziemlich alles egal. In jedem Fall genoss sie es sehr, am Grab auf die sonst obligatorische FFP-Maske zu verzichten und frei durchatmen zu können. Die Weihnachtsfeiertage hatten unter massiven Einschränkungen stattgefunden, denn in Bayern galt auch über Heiligabend eine nächtliche Ausgangssperre ab 21 Uhr. Feiern mit mehr als zwei Haushalten waren nur im engsten Familienkreis erlaubt gewesen.

Schicksalsschläge 

Leider bestand dieser engste Familienkreis beinahe nur noch aus ihr selbst, denn ihre Mutter war mit nur 72 Jahren tatsächlich Anfang Dezember einer Corona-Erkrankung erlegen. Marianne war ein Einzelkind, aber da sie in der Stadt wohnte und nicht mehr im 50 Kilometer entfernten, beschaulichen Marktflecken Lupburg, war es ihr sowohl räumlich als auch zeitlich nicht möglich, sich um ihren pflegebedürftigen Vater so umfassend zu kümmern, wie es sein Gesundheitszustand erforderte. Er kämpfte schon seit einigen Jahren mit einer Parkinson-Erkrankung. Bis zum Ableben seiner Gattin war er auch recht passabel medikamentös eingestellt gewesen, sodass je nach Tagesform ein halbwegs geregeltes und selbstbestimmtes Leben für ihn möglich war. Dann jedoch hatte ihn der Verlust seiner Frau vollends aus der Bahn geworfen, mit der Konsequenz, dass plötzlich nichts mehr funktionierte und er komplett neu eingestellt werden musste.

Zudem hatte sich im Laufe des letzten Jahres bei einer Routineuntersuchung herausgestellt, dass der PSA-Wert im Blutbild ungewöhnlich war. Als Ferdinand Birkenhuber dies seiner Frau und Tochter mitgeteilt hatte, waren die Sorgenfalten im Gesicht der beiden immer tiefer geworden. Sie hatten geahnt, dass die finale Diagnose keine erfreuliche sein würde. Mariannes Vater war von Natur aus eine optimistische Person, mit einer grundlegend positiven Einstellung. Sein Lebensmotto, welches er wie ein Tantra vorbetete und jedem auch unaufgefordert mitteilte, war: »Wenn du heute aufgibst, wirst du nie wissen, ob du es morgen geschafft hättest. Deshalb Kopf hoch, sonst kannst du die Sterne nicht mehr sehen.« Dennoch hatten seine beiden Damen mit ihrer Befürchtung recht behalten. Das Ende vom Lied war, dass sich kleine Metastasen in der Lunge gebildet hatten, die nicht mehr operativ entfernt werden konnten. Marianne wüsste nicht, dass ihr Vater jemals geraucht hätte, denn er machte ihr Zeit seines Lebens, selbst als sie bereits eine eigenständige, berufstätige Frau war, immer wieder klar, wie wenig er von Nikotin hielt. Sie hatte ihn niemals mit einem Glimmstängel in der Hand gesehen, sondern würde ihn eher als militanten Nichtraucher bezeichnen. Wo um Himmels Willen konnte er sich nun auch noch Lungenkrebs eingefangen haben. So schlummerten nun zwei nicht zu kontrollierende schwere Krankheiten in ihm, die jederzeit wie Vulkane, sogenannte schlafende Riesen, ausbrechen konnten. Er ließ sich äußerlich nichts anmerken, doch Marianne kannte ihren Vater nur zur gut und wusste, dass diese vermutlich fatalen Diagnosen ihm trotz seiner ungetrübten Lebensfreude körperlich und mental zu schaffen machten.

Vater und Tochter benötigten glücklicherweise nicht viele Worte, um zu wissen, dass ein professioneller Betreuungsplatz das Beste für den 75-jährigen Herren war, zumindest in seiner derzeitigen Verfassung. Hoffnung war bekanntlich eine gute Sache. Vielleicht würde sein Zustand irgendwann wieder ein eigenständigeres Leben zulassen. Ferdinand Birkenhuber war schon immer ein Mann der klaren Worte, eindeutigen Handlungen und unwiderruflichen, unverrückbaren Entscheidungen gewesen. Ein Zögern oder ein Zaudern gab es bei ihm nicht. Nachdem er für sich alles Für und Wider abgewogen hatte, kam er immer recht schnell zu dem für ihn schlüssigsten Ergebnis. Da war er sich selbst gegenüber immer rational und geradezu emotionslos gewesen. Das, was gemacht werden musste, weil es für ihn das einzig Richtige war, wurde ohne jeglichen Zweifel in die Tat umgesetzt. Da er, je nach Ansicht, glücklicher- oder tragischerweise noch absolut klar bei Verstand war und sich sowie seine Fähigkeiten und Bedürfnisse sehr gut einschätzen konnte, wusste er, dass er ohne externe Hilfe nur noch sehr schwer oder gar nicht überlebensfähig sein würde. Daher brauchte Marianne keine Überredungskünste anzuwenden, um ihn von dem einzig logischen Schritt zu überzeugen.

Auch vor der Pandemie war es kein leichtes Unterfangen gewesen, einen geeigneten Betreuungsplatz in einem Senioren- oder Pflegeheim in der Nähe sowie zu finanzierbaren Konditionen zu bekommen. Die durch das SARS-CoV-2-Virus hervorgerufenen Einschränkungen hatten die Suche noch erheblich erschwert. Als festgestanden hatte, dass die Parkinson’sche Erkrankung des Vaters irgendwann für ihre Mutter nicht mehr ohne fremde Hilfe zu bewältigen sein würde, hatte Marianne das Heft in die Hand genommen und sich die Finger wund telefoniert. Fluch und Segen, Glück und Trauer lagen wie immer sehr nah zusammen. Das neue Virus machte auch vor den Schwächsten unter den Schwachen nicht halt. An Impfstoffen wurde bereits geforscht, doch brauchbare und für die Allgemeinheit verwertbare Ergebnisse lagen noch in ferner Zukunft. Trotz Besuchsverboten für die Bewohner und einer strengen Test- und Maskenpflicht, verschaffte sich diese neue, oftmals tödliche Bedrohung auf der ganzen Welt Zutritt in die Zimmer der Senioren und pflegebedürftigen Personen, um viel zu oft unheilbaren Schaden anzurichten. Viele Menschen hatten keine Chance, dem Virus zu entkommen und verloren so viel zu früh ihr Leben. So auch Mariannes Mutter mit gerade 73 Jahren. Marianne war zwar nicht verheiratet oder gar liiert, Enkelkinder waren somit auch nicht in Sicht, aber Ingrid Birkenhuber hätte gerne noch weitergelebt, viele wunderschöne Momente erlebt und sich dabei rührend um ihren Ferdinand gekümmert. Wer weiß, möglicherweise hätte Marianne ihnen ja doch noch irgendwann einen Enkelsohn oder eine Enkeltochter geschenkt.

Die Birkenhubers hatten in einem freistehenden Einfamilienhaus gelebt, welches sie in den letzten Jahren nach und nach modernisiert hatten. Das Badezimmer, das Schlafzimmer, sowie die Wohnräume waren alle barrierefrei. Ebenso gab es einen großen Keller. Als sie Getränke aus dem selbigen hatte holen wollen, war sie Anfang Dezember gestürzt und hatte sich dabei das linke Wadenbein gebrochen. Eine Operation war unausweichlich gewesen. Diese war auch gut und erfolgsversprechend verlaufen, doch niemand hatte damit gerechnet, dass sie sich im Krankenhaus mit dem Corona-Virus anstecken würde. Da sie seit Jahren immer wieder mit Atemwegsproblemen zu kämpfen gehabt hatte und ihr Immunsystem von der Operation ohnehin noch recht geschwächt gewesen war, war es am Ende recht schnell gegangen. Als die finale Diagnose festgestanden hatte, hatten es Ferdinand und Marianne unter erschwerten Bedingungen zu ihr ins Krankenhaus geschafft, um sich zu verabschieden. Es war für beide ein unfassbarer Schock gewesen. Damit hatten sie in keiner Weise gerechnet. Bisher hatten sie derartige Tragödien nur aus den Medien gekannt. Diese vermittelten immer den Eindruck, dass sie weit weg stattfanden und nicht in unmittelbarer Nähe. Selbst wenn man mit den Betroffenen mitfühlte, war man zugleich erleichtert darüber, dass man selbst davon verschont geblieben war. Nun war es anders gekommen und plötzlich war COVID ganz nahe gewesen. Vater und Tochter hatten sich innerhalb kürzester Zeit selbst im Auge des Orkans befunden. Da war es wenig versöhnlich gewesen, dass derartige Schicksale in diesen verrückten Zeiten viele intakte Familien ereilt hatten. Jedoch waren in vielen Einrichtungen für Senioren und pflegebedürftige Personen unerwartet freie Kapazitäten entstanden. Aus diesem Grund hatten Anfragen zu einer Neuaufnahme plötzlich rasch befriedigt werden können.

So hatte sich für Mariannes Vater das Rad des Schicksals zumindest in diesem Aspekt in ein erfreuliches Licht gedreht. Ferdinand hatte schon vor längerer Zeit einen Wunsch geäußert. Sollte der Fall irgendwann eintreten, dass er auf fremde Hilfe angewiesen sein würde, dann wäre sein präferierter Wohnort in Neumarkt in der Oberpfalz, da in der Stadt vielleicht noch mehr Freizeitmöglichkeiten geboten waren als in einer Einrichtung auf dem Land. Solange sich Marianne entsinnen konnte, war es für Ferdinand nie in Frage gekommen, sich freiwillig in eine Pflegeeinrichtung oder ein Altenheim zu begeben. Er hatte immer zu sagen gepflegt: »Was will ich denn dort, dort sind ja nur alte Leute.« Für ihn war diese vorletzte Station vor dem Endbahnhof immer eine Sackgasse gewesen, denn dort befänden sich oftmals bemitleidenswerte Menschen, die von ihrer undankbaren Familie auf ein Abstellgleis oder in den trostlosen Wartesaal vor ihrer letzten Reise abgeschoben wurden. Ferdinand Birkenhuber war eine sehr bewusste Person und reflektierte immer über sein eigenes Leben und über die jeweils aktuelle Situation, in der er sich befand. Diese Fähigkeit hatte sich in den vergangenen Monaten als besonders wertvoll entpuppt. Denn mit fortschreitender Parkinson-Krankheit hatte er nach und nach seine Einstellung geändert, sodass er sich eine persönliche Zukunft in einer Seniorenresidenz immer mehr vorstellen konnte. Er war unglaublich pragmatisch und so hatte er noch zu Lebzeiten seiner Gattin bereits zwei Reisetaschen mit den notwendigsten Kleidungsstücken und den wichtigsten Utensilien vorsorglich gepackt und im Abstellraum neben der Garderobe geparkt.

Der Umzug 

Der Wunsch des Vaters sollte jedenfalls in Erfüllung gehen. Nach der Beisetzung der Mutter auf dem Friedhof in Haid bei Lupburg und dem mühseligen Klären der wichtigsten Formalitäten war am 3. Adventswochenende der Umzug vonstattengegangen. Noch am Tag der Beerdigung hatte Marianne in Neumarkt bei der Einrichtung am Schlossweiher angerufen. Ihre Hoffnung auf einen freien Betreuungsplatz war erfahrungsgemäß nicht besonders hoch gewesen, doch das Resultat nach dem Gespräch mit der Heimleitung Frau Kupsch war an diesem Tag der Trauer umso erfreulicher gewesen. Die schreckliche Pandemie hatte vor Kurzem auch in diesem Hause ihre grausame Fratze gezeigt und innerhalb von drei Wochen sieben Bewohner zwischen 70 und 92 Jahren dahingerafft. Ohne dieses Virus wäre es bestimmt für diese älteren Frauen und Herren noch nicht an der Zeit gewesen zu gehen. Im Leben kann es kein Oben ohne ein Unten geben und so auch keine Freude ohne das Leid eines anderen. So hatte es das Schicksal gewollt, dass für Mariannes Vater kurzfristig, genau zum passenden Zeitpunkt, ein Zimmer frei geworden war.

Erfreulicherweise war Ferdinand Birkenhuber schon immer ein sehr bewusster Mensch gewesen. Deshalb hatte er die warmen Tage in den vergangenen Wochen und Monaten genutzt, um über seine persönliche Situation zu reflektieren. Irgendwann hatte sich schließlich Mariannes Vater mit seinem drohenden Schicksal einigermaßen abgefunden, da es die einzig sinnvolle Konsequenz für ihn war. Seine Einstellung hatte er in den Sommerwochen etwas revidiert und relativiert. Zudem schien es, als sei das Virus in den Sommermonaten selbst in den Urlaub gefahren, da es erfreulicherweise in dieser Jahreszeit kein großes Thema mehr dargestellt hatte. Es schlummerte irgendwo im Untergrund, wartete darauf, im Herbst als gefährliche Variante heftiger zurückzukommen. Die winterlichen Einschränkungen waren während der warmen und sommerlichen Tage ausgesetzt worden, so dass ein freies Leben halbwegs möglich gewesen war. Marianne hatte den Autoführerschein, sie verfügte aber über kein eigenes Vehikel, denn in der Stadt war dies bisher nicht notwendig gewesen. Die Bahnverbindung von Regensburg nach Parsberg war ohnehin sehr bequem und praktisch. So hatte sie einige ihrer Wochenendbesuche bei den Eltern in Lupburg dazu genutzt, mit ihnen diverse Senioreneinrichtungen zu besichtigen. Als der Vater festgestellt hatte, dass seine vorgefertigte Einstellung nicht vollends zutraf und ein Seniorenheim nicht zwangsläufig das Ende des fröhlichen Lebens zu bedeuten hatte, legte er nach und nach seine Vorurteile und Hemmungen ab.

Besonders von der Lage des Gebäudekomplexes am Schlossweiher in Neumarkt war er sehr angetan gewesen. Ausgerechnet dort durfte er glücklicherweise mit dem Gefühl gut umsorgt zu werden, seinen Lebensabend verbringen. Das Elternhaus in Lupburg sollte vorerst leer stehen und irgendwann, wenn sich die Lage beruhigt hatte, verkauft oder vermietet werden. Aber so weit dachte tatsächlich von beiden noch niemand. Für Marianne war es einerlei, ob sie mit der Bahn von Regensburg nach Parsberg reiste und dort die zwei Kilometer nach Lupburg ging, oder vier Stationen weiter bis zu dem Bahnhof in der Pfalzgrafenstadt Neumarkt fuhr. Von dort konnte sie zu Papa zu Fuß durch die Stadt spazieren. Diese Distanz würde sogar etwas kürzer sein als von Parsberg aus auf dem neu beleuchteten Radweg, vorbei am Campus der OTH nach Lupburg. Die Anschaffung eines modernen E-Scooters zog Marianne nicht in Betracht. Sie vertraute auf die Kraft ihrer Beine und genoss - auch dank der Corona-Einschränkungen - mittlerweile tatsächlich ausgedehnte Spaziergänge. Da gab es in der UNESCO-Weltkulturerbestadt Regensburg zum Glück genügend Möglichkeiten, um die kleinen und großen Schätze der Natur in der Stadt und im Umland fußläufig neu oder wieder für sich zu entdecken. Deshalb freute sie sich umso mehr für ihren Vater, ein Zimmer in seinem präferierten Ort zeitnah bekommen zu haben.

Marianne hatte die wenigen Habseligkeiten, die sich in den beiden Taschen ihres Vaters befanden, in den zweiten Stock des riesigen Gebäudes in der Seelstraße in Neumarkt getragen. Dort war an der Nordseite des Gebäudes der künftige Hauptwohnsitz ihres Vaters. Er war bereits in Begleitung einer jungen Altenpflegerin in seine neue ›Wohnresidenz‹ gebracht worden. Obligatorisch hatten sie sich erst negativ getestet und mussten diese angeblich sicheren FFP2-Masken tragen. Irgendwie hatte man sich aber mittlerweile an diese Auflagen und das Prozedere mit den Coronatests gewöhnt. Das Zimmer war grundsätzlich recht schlicht gehalten, aber es war hell und freundlich. Ihr Vater machte sich nichts aus Luxus und so war er mit der funktionalen Einrichtung absolut zufrieden. Erfreulicherweise hatte es frisch und überhaupt nicht muffig gerochen. Marianne und ihr Vater hatten größte Bedenken gehabt, dass es modrig riechen, oder der unangenehme Geruch eines Krankenhauses in der Luft liegen könnte, aber das war überhaupt nicht der Fall gewesen. Das ganze Ambiente wirkte sauber und einladend. Auch wenn er sich nichts daraus machte, aber es hatte sogar ein Bund frischer Blumen in einer Vase auf dem kleinen quadratischen Holztisch am Fenster gestanden.

Marianne war noch bis in den Abend bei ihm geblieben und hatte ihm beim Einrichten geholfen. Gemeinsam hatten sie sich die Örtlichkeiten angesehen und bereits einige Pfleger kennengelernt. Besonders schön fanden sie den kleinen Balkon, welcher zum Zimmer gehörte, auf der dem See zugewandten Seite. Dort konnte ihr Vater zwischen den Blättern der Bäume Enten und Schwäne sehen. Im Sommer, bei ihrem ersten Besuch, hatten sie bereits einen kleinen Spaziergang um den Schlossweiher gemacht. An der Stirnseite konnte man über den Stadtpark, vorbei am ›Lothar-Fischer-Museum‹ in die Stadt gelangen und Konzerte im weltbekannten Konzertsaal des Historischen Reitstadels besuchen. Auf der dem Seniorenheim gegenüberliegenden Seite befand sich die Staatliche Realschule für Mädchen. In den Sommermonaten herrschte dort während der Mittagszeit ein reges Kommen und Gehen. Mädchen verließen die Schule oder wurden von den Buben der Knabenrealschule besucht, welche sich nur wenige Gehminuten ostwärts befand. Doch wegen des Lockdowns und der daraus resultierenden, staatlich angeordneten Heimbeschulung hatte dort in diesen Tagen nur winterliche Stille geherrscht, da weder Lehrkräfte noch Mädchen vor Ort gewesen waren. Das hatte Ferdinand sehr schade gefunden, da er diese Lebendigkeit der jungen Menschen gerne beobachtet hätte. Aber sicherlich würden bald wieder andere, bessere Zeiten kommen. Neben dem Wandern war eine Leidenschaft Ferdinands aus früheren, fröhlicheren Tagen das Schwimmen gewesen. Es gab Zeiten, da ging er regelmäßig im wöchentlichen Rhythmus ins Hallenbad oder ins Freibad nach Parsberg. Beide Hobbies konnte er seit seiner Parkinson’schen Erkrankung nicht oder im Vergleich zu vorher nur sehr eingeschränkt ausführen. Erst vor kurzem hatte gegenüber der Seniorenresidenz das Schlossbad eröffnet. Dessen Name bezog sich aber auf die Lage zum gleichnamigen Weiher und nicht etwa auf ein herrschaftliches, gar majestätisches äußerliches Erscheinungsbild des Gebäudes. Es war schlicht und modern. Zu dem bestehenden Freibad war ein riesiger funktioneller Komplex errichtet worden, in welchem sich ein modernes Freizeit- und Spaßbad mit Wellnessbereich befand. Er war hoffnungsvoll gewesen, dass sich vielleicht Gelegenheiten ergeben würden, trotz seines gesundheitlichen Zustands dort noch etwas Aquagymnastik zu machen oder ein paar Züge im Becken zu schwimmen.

Abends hatte sich Marianne mit einem guten Gefühl von ihrem Vater verabschiedet. Er war schon immer ein genügsamer Mensch gewesen, der nicht viel Luxus oder eine besonders zuvorkommende Behandlung von seinen Mitmenschen erwartete. Seine Habseligkeiten, welche er mitgebracht hatte, waren rasch und ordentlich in die bereits vorhandenen Möbel einsortiert worden und ansonsten legte er keinen großen Wert auf Dekorationsartikel oder Gegenstände, die das Zimmer wohnlicher machen würden. Er hatte genau vier gerahmte Bilder mitgenommen. Sie waren die einzigen persönlichen Gegenstände, welche für ihn einen besonders hohen emotionalen Wert darstellten. Es handelte sich um das Hochzeitsfoto von ihm und seiner Frau, sowie das letzte Foto von Mariannes Mutter, welches vor ungefähr drei Jahren aufgenommen worden war. Auf den anderen Ablichtungen befand sich einerseits Marianne bei ihrer Einschulung in der Grundschule in Lupburg vor langer Zeit. Zuletzt war da noch das letzte gemeinsame Familienfoto, auf welchem alle drei vereint und in bester Laune zu sehen waren. Es war durch Zufall bei einem ihrer Ausflüge im vergangenen Sommer entstanden, an einem Tag, an welchem die Welt noch eine andere, freundlichere gewesen war. Zwei Rahmen befanden sich auf dem Nachttisch, die anderen beiden auf dem Esstisch. Marianne hatte das Zimmer mit dem Versprechen verlassen, ihn täglich anzurufen und wöchentlich zu besuchen. Bis zum heutigen Tag hatte sie es halten können und seitdem waren mittlerweile etwa vier Wochen vergangen. Ferdinand freute sich täglich, wenn um Punkt 17 Uhr das Telefon klingelte und er die Stimme seiner Tochter hörte oder wenn sie am Sonntagmittag an seiner Zimmertür klopfte. Er wusste, dass ihr Zug um 10:57 Uhr in Regensburg am Hauptbahnhof losfahren und exakt um 11:51 Uhr in Neumarkt ankommen würde. Leider ließ die Pünktlichkeit der Regionalbahn oftmals zu wünschen übrig. Marianne pflegte einen flotten Schritt und so schaffte sie es in dreizehn Minuten die knapp anderthalb Kilometer über die Bahnhofsstraße, durch den Ludwigshain und vorbei an der evangelischen Christuskirche um pünktlich bei ihm in der Pflegeeinrichtung anzukommen.

Vater und Tochter schätzten diese Verlässlichkeit und Regelmäßigkeit sehr. Es gab beiden ein Gefühl von Sicherheit in unsicheren Zeiten. Es entsprach aber auch ihrem Naturell, welches leichtsinniges und verantwortungsloses Verhalten nur schwer ertragen konnte. Da sie die einzig verbliebene Angehörige war und jeder Bewohner in einer derartigen Einrichtung höchstens einen Besucher pro Tag empfangen durfte, brauchte sich Marianne um eine Absprache mit jemand anderem keine Gedanken zu machen, solange sie ein aktuelles negatives Testergebnis vorweisen konnte. Zudem hatte sie sich vorsorglich mit dem bis dahin verfügbaren Impfstoff gegen dieses Virus versorgt.

Am Abgrund 

An sich würde Marianne ihren Vater gerne viel öfter besuchen. Den zeitlichen und finanziellen Aufwand, der durch die Deutsche Bahn verursacht wurde, würde sie in Kauf nehmen. Marianne würde ihm gerne viel öfter in dieser schweren Zeit Gesellschaft leisten. Da es ihr aber persönlich nicht besonders gut ging, die Umstände derartige Vorhaben nicht gerade begünstigten und ihr der von Ottilie Finkenmeier wunderbar vorgelebte Optimismus irgendwo in den letzten Monaten abhandengekommen war, stellte sich die Lage so dar, wie sie nun war: traurig und trist, ja trostlos - wie das aktuelle Wetter. Vor etwa einem Jahr war das noch ganz anders gewesen. Sie hatte eine große Lebenslust verspürt und für ihre bescheidenen Verhältnisse regelmäßig am gesellschaftlichen und sozialen Leben teilgenommen. Sie war gerne mit dem Bus an die Universität hoch in die Arbeit gefahren und hatte den Umgang mit den Dozenten und Studenten genossen. Als Sekretärin war sie im Zentrum des Geschehens gewesen. Abends war sie regelmäßig mit ihrer Freundin Marie ins Kino oder in eine Kneipe gegangen. Da ihr das typische dunkle Bier aus Irland so schmeckte, hatten sie des Öfteren wunderbare Abende in einer irischen Kellerbar in der Spiegelgasse verbracht. Nicht nur die Getränkeauswahl war ganz nach Mariannes Geschmack gewesen, sondern zudem die Möglichkeit, bei guter Musik Pfeile auf eine Dartscheibe zu werfen. Diese Unternehmungen vermisste sie sehr.

Mittlerweile hatte sich ihre Situation vollkommen verändert. Bedauerlicherweise war die wertvolle gemeinsame Zeit - wie es tragischerweise oftmals bei vielen Familien in ähnlichen Situationen der Fall ist - viel zu wenig, um ihren eigenen Ansprüchen und vor allem den Wünschen des schwerkranken Vaters gerecht zu werden. Wie sehr sich sein Gesundheitszustand tatsächlich in den letzten Wochen verschlechtert hatte, erfuhr sie nur über Umwege. Ferdinand würde ihr niemals sagen, wenn es ihm schlecht ging oder ihr aus freien Stücken etwas über seinen Gemütszustand erzählen. Was sein seelisches Innenleben anbelangte, war er immer schon ein verschlossenes Buch gewesen, in das niemand von außen hineinblicken konnte. Marianne war sich nicht einmal sicher, ob es ihrer Mutter Ingrid jemals gelungen war, einen authentischen Zugang in das Innerste ihres Ehemanns zu bekommen. Er schien immer gut gelaunt zu sein und machte seine persönlichen Konflikte immer mit sich selbst aus, denn für ihn war es das Schlimmste, wenn er jemandem zur Last fallen würde. Man musste ihm sämtliche Informationen, die seine Gefühle oder eben seine Gedanken betrafen, aus der Nase ziehen. Oftmals blieb dies ein vergebliches Unterfangen. Deshalb war er ein Profi darin, gute Miene zum bösen Spiel zu machen.

Marianne erfuhr nur durch gelegentliche, persönliche Gespräche mit Pflegekräften zwischen Tür und Angel oder ein vereinzeltes Telefonat mit dem Hausarzt des Vaters, wie es ihrem alten Herrn tatsächlich erging. Und die Informationen, die sie erhielt, trugen nicht gerade zum Wohlbefinden ihres ohnehin angespannten Gemütszustandes bei. Ferdinand Birkenhuber hatte sich emotional tatsächlich in der Kürze der Zeit gut eingelebt, einige Routinen für sich entwickelt und bereits Anschluss bei zwei Bewohnern gefunden. Seine Blutwerte jedoch hatten sich in den vergangenen Wochen alles andere als stabilisiert und die richtige Medikation war noch nicht gefunden worden, sodass das Zittern immer schlimmer wurde und weitere zeitnahe Untersuchungen und Blutabnahmen erforderlich waren, um das Fortschreiten der Streuung der Lungenkrebs-Metastasen zu kontrollieren. Er hatte in den letzten Wochen genug Strapazen erdulden müssen, deshalb wäre eine schwierige Operation an der Lunge gerade das Letzte, was Marianne ihrem Vater wünschte. Von ihm selbst hätte sie diese unerfreulichen Dinge natürlich nicht erfahren. Ohne ihre eigenen Recherchen würde sie, was seine Verfassung betraf, sicherlich noch immer unwissend sein und mit falscher Hoffnung im Dunkeln tappen. Dies war das Stichwort, denn auch hier am Friedhof vor Ottilie Finkenmeiers letzter Ruhestätte war die Dämmerung mittlerweile schwer über die Gräber hereingebrochen.

Als sie ihren Vater das letzte Mal vor vier Tagen besucht hatte, konnte sie sich nicht dazu überwinden, ihn direkt mit seiner schwindenden Gesundheit zu konfrontieren. Ob sie am nächsten Wochenende, bei ihrem nächsten persönlichen Aufeinandertreffen, die Kraft und Energie aufbringen würde, vermochte sie in diesem Moment nicht zu sagen. Wenn sie an diesem grauen, nassen Abend ihr seelisches Wohlbefinden reflektierte, würde sie mit Sicherheit nicht darauf wetten. Wie sie die letzten Wochen überstanden hatte, ohne dass sie selbst in einen emotionalen Abgrund gerissen wurde, wusste sie selbst nicht. Sie funktionierte so gut es ging, mehr aber auch nicht. Sie befand sich in einem permanenten Dämmerzustand, so als ob sie sich lebendig in einem milchglasartigen Kokon befand: Gefangen und noch ohne Perspektive nach draußen in die Freiheit.

Ottilie Finkenmeier hatte ihr bei ihrem letzten Gespräch von einer tragischen Episode aus ihrem ereignisreichen Leben erzählt. Sie handelte davon, wie ihr Vater sie nach dem Zweiten Weltkrieg versucht hatte zu trösten, denn sie hatte ihre damalige beste Freundin im Streit für immer verloren. Er hatte ein sehr ergreifendes Bild auf seine eindringliche Art mit Worten gezeichnet, indem er den Tod eines Menschen mit der Metamorphose einer Raupe zu einem bunten Schmetterling verglich. Er hatte behauptet, dass ein Mensch, wenn er stirbt, nicht weg sei, sondern sich wie dieses flauschige Insekt in einen Kokon zurückzog. Dort wird aus ihm eine breiig-klebrige Masse, von welcher man nicht vermuten würde, dass noch ein Funken Leben in ihr stecken würde. Doch eigentlich war das Gegenteil der Fall, sonst würde sich aus diesem Ding nicht irgendwann ein wunderschöner Schmetterling entwickeln. Dieser bricht den harten Kokon auf, schlüpft, lässt seine feuchten Flügel in der Sonne trocknen, um dann beschwingt in ein neues, unbeschwertes Leben fortzufliegen. Als Mensch bekam man nicht permanent einen grazilen Schmetterling zu Gesicht, der sorgenlos seine eleganten Kreise durch die Lüfte zog, aber dennoch wusste man, dass sie da waren. Ähnlich verhielt es sich mit dem Verlust eines geliebten Menschen. Sie waren nie ganz weg, sondern würden uns auf eine andere Art und Weise begegnen. Nicht umsonst hatte man oftmals das Gefühl, dass sie eine schützende Hand über einen hielten, oder dass sie sich sogar direkt mit im selben Raum befanden.

Durch die tragischen Ereignisse in den letzten Wochen kam sich Marianne derzeit vor wie in einem metamorphischen Zustand. Ihre Lebensgeister waren ihr komplett abhandengekommen, aber die Sorge um ihren Vater ließ sie jeden Morgen aus ihrem Bett im zweiten Stock in der Wohnung am Watmarkt steigen und die Aufgaben erledigen, die getan werden mussten. Ein weiterer emotionaler Halt befand sich täglich an einer Kette um ihren Hals. Es war ein Anhänger, welcher einen Schmetterling darstellte. Neben dem Wohnrecht auf Lebenszeit hatte ihr Ottilie Finkenmeier auch dieses Schmuckstück vermacht. Marianne hätte selbst nie gedacht, dass es ein derart wichtiger Schatz, ein emotionaler Rettungsanker werden würde. Niemals würde sie diesen Silberanhänger - außer im Badezimmer - wieder ablegen. Gerade nach dem Ableben ihrer Mutter war der Anhänger für sie eine echte Kraftquelle geworden. Ob es nun Einbildung war und der Geist ihr einen Streich gespielt hatte oder nicht, Marianne hatte schon des Öfteren den Eindruck, wenn sie hier am Grab bei Ottilie Finkenmeier oder zuletzt auch an dem der Mutter stand, als ob diese lieben Personen ihr in diesem Moment ganz nah waren. Ebenso war es eine tröstliche Vorstellung für sie, dass Ottilie oder auch ihre Mama als Schmetterling in der Nähe um sie herumschwirrten und ein schönes Leben hatten, welches frei von Sorgen und Nöten war.

In der realen Welt war seit etwas mehr als vier Wochen das Ausfüllen der nicht enden wollenden Formulare für die zahlreichen Behördengänge ein unfassbarer Zeit- und Energiefresser. So verging Tag um Tag und Marianne fiel jeden Abend todmüde in einen komatösen Schlaf, um dann am nächsten Morgen von ihrem antiquierten Radiowecker, welchen sie Herrn Gustav getauft hatte, wieder geweckt zu werden. Sobald sie in den Schlaf der Gerechten abgeglitten war, löschte sich ihre geistige Festplatte. Ihr Leben kam ihr vor wie ein vergilbter, verblasster Schwarzweißfilm, der sich in Endlosschleife wie eine Dauerwerbesendung so lange wiederholte, bis er letztendlich zerriss. Irgendwann vermischten sich die Ereignisse und alles wurde einerlei. Wie sie das alles bisher bewältigt hatte, glich für sie einem Wunder. Harte und besondere Zeiten erforderten harte und besondere Maßnahmen und so schien Marianne zwar nicht ganz Herrin ihrer Lage zu sein, aber sie managte ihres und das Leben ihres Vaters so gut es eben in Anbetracht der Umstände möglich war. Wie dringend hätte sie eine vergnügliche Auszeit mit Marie in einem Altstadtkino oder in einem Restaurant, oder wenigstens ein gemeinsames Essen mit ihren Kolleginnen und Kollegen nötig gehabt. Sie hatte Angst davor, zur Ruhe zu kommen und für einen Moment abzuschalten. Denn dann würde sie in ein tiefes Loch fallen, in einen emotionalen Dornröschenschlaf und vermutlich nie wieder aufwachen, bis sie von einem hübschen Prinzen wach geküsst wurde. Doch selbst dieses Szenario war jenseits ihrer Vorstellungskraft, denn nicht einmal ein hässlicher Hofnarr war in Aussicht.

Eine Sache, die ihr früher sehr gut getan hatte, um für einige Minuten abschalten zu können, hatte sie schon länger nicht mehr gemacht. Sie war nach der Arbeit manchmal noch in den Dom Sankt Peter gegangen und für fünfzehn Minuten, außerhalb der Gottesdienste, dort verweilt. Marianne hatte sich nie viel aus religiösen Praktiken gemacht. Im Gegenteil, je älter sie wurde, umso befremdlicher und realitätsfern fand sie die alten Herren in ihren glänzenden geistigen Gewändern. Die in den Medien bekannt gewordenen Missbrauchsskandale verstärkten in ihr den Eindruck, dass sie mit dieser Art von katholischer Kirche nichts mehr zu tun haben wollte. Was sie jedoch noch immer faszinierend fand, waren die majestätischen und pompösen Bauten und die Geschichte dahinter. Deshalb hatte sie aus der großen Auswahl an Gotteshäusern in der historischen Altstadt Regensburg den Dom ausgewählt. Solange sie denken konnte, hatte sie dieses große Gebäude noch nie komplett ohne Gerüst an einer Seite gesehen. Es war eine ewige Dauerbaustelle. Aus diesem Grund hatte man vermutlich eine der krisensichersten Arbeitsstellen in der ganzen Stadt inne, wenn man eine Anstellung bei der Dombauhütte sein Eigen nennen konnte. Da sie sich abgelegen im stillen Domgarten hinter dem Osttor der Bischofskirche befand, wäre sie als Arbeitsstätte für Marianne von der Lage her ein sehr reizvoller Ort gewesen, wenn diese nicht zwei linke Hände bei handwerklichen Tätigkeiten hätte. Im Laufe der Zeit hatte sie schon einiges über das Bauwerk erfahren, so war es der Stolz der Bürger einer freien Reichsstatt und hatte die zwei gotischen Türme hoch über die anderen Hausdächer der Altstadt thronen lassen. Deshalb waren sie selbst heute noch, beispielsweise von der Marienhöhe oberhalb von Mariaort aus, weithin deutlich als Wahrzeichen erkennbar. Da oben ging sie sehr gerne spazieren, denn dort konnte sie in den Sommermonaten sportbegeisterte und unbeholfene Menschen bei ihren Kletterversuchen im Hochseilgarten beobachten, oder eben unten an der Mündung der Naab in die Donau maritimes Flair genießen. Die Bauarbeiten des Doms hatten bereits im Jahr 1275 begonnen, als weltweiter Handel Reichtum in die Stadt an der Donau brachte. Angeblich fanden bis zu 7000 Gläubige bei Gottesdiensten darin Platz, weshalb es Kunsthistoriker noch immer als das bedeutendste gotische Bauwerk Süddeutschlands betitelten. Marianne hatte an keinem einzigen bisher teilgenommen und auch nicht vor, dies zu ändern. Doch sie nahm sich vor, ihr Ritual wieder aufleben zu lassen und den Arbeitsalltag in Stille ausklingen zu lassen.

Jedes Mal, wenn sie anfing, darüber nachzudenken, was in den letzten Wochen und Monaten alles geschehen war, fühlte sie sich blockiert, gefangen in ihrer Frustration und Trauer über das, was sie seit Ottilie Finkenmeiers Tod verloren hatte. Sie spürte, wie sich eine Decke der Niedergeschlagenheit über sie legte und ihr Geist in eine trübe Ecke glitt, sobald sie ihm auch nur den Hauch einer Gelegenheit dazu gab. Bisher hatte Marianne noch nie mit so etwas wie Depressionen zu kämpfen gehabt, aber ihr aktueller Gemütszustand, ihre mentale Verfassung in den letzten Wochen, fühlte sich wie eine ausgeprägte Form davon an. Es blieb ihr ohnehin nichts anderes übrig, als das Leben so wie es sich gerade darstellte, stoisch zu ertragen und den Funken Hoffnung zu pflegen, dass es irgendwann wieder besser werden würde. In diesem Sinn war beschäftigt zu sein eine Art Werkzeug. Es war für sie, als würde sie sich eine Rüstung zulegen, denn sie dachte sich, wenn das Leben oder das Schicksal Giftpfeile in ihre Richtung schoss, war es so unwahrscheinlicher, dass bei ihr ein Treffer landete. Sie hatte schlichtweg keine Zeit für einen Burnout oder eine Depression.

Doch grundsätzlich war eine optimistische Lebenseinstellung eher entgegen Mariannes Wesen. Sie war von Natur aus eher pessimistisch und zweifelnd. Für sie war das berühmte Glas grundsätzlich halb leer statt halb voll. Ihr Leben war geprägt von Vorsicht und Zurückhaltung. Eigentlich war ihr Leben noch langweiliger als das des typisch deutschen ›Durchschnittsnormalos‹. Dieser fährt maximal einmal im Jahr für eine Woche in den Urlaub an die Ostsee oder nach Rimini in Italien, gönnt sich einmal in der Woche - vorzugsweise samstags - ein ausgiebiges Vollbad und legt täglich um 20 Uhr die Füße hoch, um sich mit den Neuigkeiten des Tages in der Tagesschau zu versorgen. Nie im Leben würde sie ein unkalkulierbares Risiko eingehen und sich mit so etwas Waghalsigem wie einem Fonds oder Aktien auch nur ansatzweise tiefergehend beschäftigen. Marie, ihre Freundin, hatte ihr schon des Öfteren mit Nachdruck geraten: »Marianne, hör endlich damit auf, übervorsichtig durch das Leben zu tasten, nur damit du möglichst unversehrt und sicher beim Tod ankommst. Riskiere auch ab und zu etwas. Das ist die Würze für einen faden Alltag. Sie belebt ihn und bringt dich wieder in Schwung. Melde dich bei einem Verein an und lerne endlich jemanden kennen, der dir den Kopf verdreht. Liebe ist die beste Medizin«. Marianne verstand den Appell, doch umsetzen konnte sie ihn bisher nicht. Diese Zurückhaltung hatte in ihrer frühesten Kindheit begonnen. Schon in jungen Jahren hatte sie es vermieden, auf den Volksfesten in ihrer Umgebung, beispielsweise in Parsberg oder auf der Dult in Regensburg, ihr Glück an einem ›Glückshafen‹, der Losbude des Roten Kreuzes zu versuchen. Die Angst und die damit einhergehende Enttäuschung, nicht einen der begehrten Hauptgewinne oder wenigstens einen Trostpreis mit nach Hause nehmen zu können und dabei ihr eigenes Geld oder das ihr von ihren Eltern und Großeltern überlassene, zu verschwenden, war größer als die freudige Aussicht auf einen möglichen Gewinn. Mit ihren Eltern hatte sie früher oft ihren gemeinsamen Jahresurlaub am Kalterer See in Kärnten oder in Bibione an der Adria verbracht, aber seit sie nach Regensburg gezogen war, hatte sie aus freien Stücken die Landesgrenze von Bayern nicht mehr überschritten. Ohne männliche Begleitung wäre ihr das zu riskant gewesen. Auch wenn es mittlerweile preislich nicht mehr ganz erschwinglich war, so hatte der nahe gelegene Bayerische Wald doch seine reizvollen Seiten, die sie sehr zu schätzen gelernt hatte und ihr Bedürfnis nach Sicherheit befriedigten. Zudem genoss sie ausgedehnte Wanderungen auf Pfaden und Steigen nahe an der tschechischen Grenze.

Eben weil sie sich selbst sehr gut einschätzen konnte, war sie damals von der durchwegs positiven und optimistischen Einstellung Ottilie Finkenmeiers begeistert und fasziniert gewesen. Sie war trotz zahlreicher dramatischer Schicksalsschläge mit ihren stolzen 92 Jahren eine echte Frohnatur gewesen. Marianne hatte die Gabe, über sich selbst und ihre Situation zu reflektieren. Deshalb hatte sie sich viele Jahre immer zum Jahreswechsel einen guten Vorsatz für sich selbst überlegt. Es gab immer eine Sache, häufig ein Verhaltensmuster, welches sie ändern, abschaffen oder optimieren wollte. Oftmals war ihr dies dann im Laufe des Jahres tatsächlich gelungen. Dieses Jahr an Silvester hatte sie sich vorgenommen, in Zukunft zu versuchen, nicht zuerst alle möglichen Risiken und Nachteile an einer Sache zu erkennen, sondern die Chancen und Vorteile, die sich dadurch ergeben könnten. Dadurch könnte sie ihren eigenen Glaubenssatz langfristig vielleicht durchbrechen und ein positiverer Mensch werden. Die äußeren Umstände trugen jedoch derzeit überhaupt nicht unterstützend dazu bei. Die vermeintliche Leichtigkeit des vergangenen Sommers war nicht erst seit ihrem Geburtstag heute vollends aus Mariannes Leben gewichen. Passend dazu hatte heute das zuständige Robert-Koch-Institut den traurigen Rekord von 1244 Todesopfern vermeldet, die, wie es so schön heißt, an, oder mit Corona verstorben waren. Neben ihrer eigenen Mutter, hatte das Corona-Virus in den vergangenen Monaten seine hässliche Fratze auch zwei betagteren Weggefährtinnen von Ottilie Finkenmeier gezeigt. Marianne hatte beide Damen bei mancher Gelegenheit kennen lernen dürfen. Ohne COVID-19 hätte das Leben für diese beiden Seniorinnen sicherlich noch einige schöne Momente und Erlebnisse in ihrem kleinen, beschaulichen Regensburger Kosmos bereit gehalten. Einerseits war sie froh darüber, dass Ottilie Finkenmeier dieses Virus erspart geblieben war, denn vermutlich hätte sie eine Erkrankung daran, trotz ihrer beachtlichen körperlichen Fitness, mit ihren 92 Jahren nicht überlebt. Andererseits vermisste sie ihre besondere, freundschaftliche und herzliche Gesellschaft, ihre ergreifenden Gespräche, sowie ihre unerschütterliche positive Einstellung. Liebend gerne hätte sie mit ihr noch viel mehr gemeinsame Zeit verbracht. Nun war an dieser Stelle eine große Leere in ihrem Leben entstanden, von welcher sie nicht wusste, wie, beziehungsweise mit was sie wieder gefüllt werden konnte - sofern das überhaupt ansatzweise möglich war. Ursprünglich wollte Frau Finkenmeier Marianne die Gräber der nahestehenden Personen aus ihrer eigenen Vergangenheit zeigen, doch dazu war es nicht mehr gekommen.

Der Anhänger 

Nun stand sie seit mehr als einer Stunde nahezu regungslos, in ihren Gedanken tief versunken, an ihrem Grab. Immer wenn sie an dieser Stelle war, ließ sie den Irrungen und Wirrungen ihres Geistes freien Lauf. Die Gedanken kamen und gingen und waren nicht greifbar, wie die Regentropfen, die ihr übers Gesicht liefen. Würde man Marianne fragen, an was sie im Speziellen gedacht hatte, würde sie es nicht beantworten können.