Ottilie Finkenmeier - Martin Ehrensberger - E-Book + Hörbuch
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Ottilie Finkenmeier E-Book und Hörbuch

Martin Ehrensberger

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Beschreibung

Marianne findet ihre sonst so lustige und agile Vermieterin schwer atmend mit ihren Einkäufen im Hausflur. Ottilie Finkenmeier, ist mit ihren 92 Jahren das Herz und die Seele des Watmarkts in Regensburg. Marianne begleitet die alte Dame in die Wohnung und ahnt noch nicht zu welcher wundersamen Reise die beiden aufbrechen werden. Ottilie teilt an diesem Abend das Unausgesprochene, das Wunderbare, das Schreckliche und das Bezaubernde ihres bewegten Lebens mit Marianne. Marianne ist fasziniert und verzaubert von vergangenen Orten und Zeiten, von Höhen und Tiefen, von Liebe und Leid in einem Regensburg lange vor ihrer Zeit. Ein Abend, der Marianne für immer verändern wird.

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Seitenzahl: 194

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Zeit:6 Std. 8 min

Sprecher:Martin Ehrensberger

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Inahltsverzeichnis

HEUTE MORGEN:MARIANNE UND IHRE HERREN 

HEUTE MORGEN: MARIANNE UND IHRE MORGENROUTINE 

GESTERN VORMITTAG: EIN BESCHWERLICHER AUFSTIEG 

GESTERN VORMITTAG: DIE STADT IM WANDEL 

GESTERN VORMITTAG: EINE FRAGE DER PERSPEKTIVE 

GESTERN VORMITTAG: ZERBRECHLICHE FREUNDSCHAFT 

GESTERN KURZ VOR MITTAG: »OPERATION DOUBLE STRIKE« 

GESTERN KURZ VOR MITTAG: ENDLICH ZURÜCK 

GESTERN KURZ VOR MITTAG: DIE STANDPAUKE 

GESTERN ZUR MITTAGSZEIT: DER SCHMETTERLING 

GESTERN ZUR MITTAGSZEIT: EIN EIGENWILLIGER GEIST 

GESTERN ZUR MITTAGSZEIT: NOSTALGIE TRIFFT AUF MODERNE 

GESTERN ZUR MITTAGSZEIT: EINE FAMILIENTRADITION 

GESTERN NACH DEM MITTAGESSEN: DAS REFERAT 

GESTERN NACH DEM MITTAGESSEN: LESEN IST MACHT 

GESTERN NACH DEM MITTAGESSEN: DER WEG IST DAS ZIEL 

GESTERN NACH DEM MITTAGESSEN: CHANCE ODER HÜRDE 

GESTERN NACH DEM MITTAGESSEN: DIE ERSTEN GEHVERSUCHE 

GESTERN KURZ VOR DEM NACHMITTAGSTEE: WEGWEISENDE POST 

GESTERN KURZ VOR DEM NACHMITTAGSTEE: REISEPLANUNGEN 

GESTERN BEIM NACHMITTAGSTEE: ALFREDS ANKÜNDIGUNG 

GESTERN BEIM NACHMITTAGSTEE: HANS-WILHELMS ANKÜNDIGUNG 

GESTERN NACH DEM NACHMITTAGSTEE: SOMMERFERIEN 

GESTERN NACH DEM NACHMITTAGSTEE: NEUE ERKENNTNISSE 

GESTERN NACH DEM NACHMITTAGSTEE: PRODUKTIONSSTART 

GESTERN NACH DEM NACHMITTAGSTEE: AUS DER TAUFE GEHOBEN 

GESTERN GEGEN 15:00 UHR: ALFREDS BLITZABLEITER 

GESTERN GEGEN 15:15 UHR: PRODUKTIONS-VORBEREITUNGEN 

GESTERN GEGEN 15:40 UHR: »MÉRCI JEAN-LUC« 

GESTERN GEGEN 16:00 UHR: DIE EIGENE FIRMA 

GESTERN GEGEN 16:15 UHR: NEUE GESCHÄFTSRÄUME 

GESTERN GEGEN 16:25 UHR: SOWEIT DIE FÜSSE TRAGEN 

GESTERN GEGEN 16:45 UHR: UNGLÜCK 

GESTERN GEGEN 16:55 UHR: VERANTWORTUNG ÜBERNEHMEN 

GESTERN GEGEN 17:05 UHR: AM ENDE IST ALLES GUT 

GESTERN GEGEN 17:15 UHR: HARTE ZEITEN FÜR FRAUEN 

GESTERN GEGEN 17:45 UHR: DAMENBESUCH 

HEUTE GEGEN 5:50 UHR NICHTS UNGEWÖHNLICHES 

HEUTE GEGEN 16:15 UHR NEUIGKEITEN 

EPILOG 

 

 

 

Vollständige e-Book-Ausgabe 2023 

 

Originalausgabe: »Ottilie Finkenmeier« 

Copyright © 2023 RICCARDI-Books 

ein Imprint der Spielberg Verlagsgruppe, Neumarkt 

Korrektorat: Kati Auerswald 

Umschlaggestaltung: © Ria Raven, www.riaraven.de 

Bildmaterial: © shutterstock.com 

Alle Rechte vorbehalten 

Vervielfältigung, Speicherung oder Übertragung 

können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden. 

(e-Book) ISBN: 978-3-98756-684-4 

 

www.spielberg-verlag.de 

 

 

 

Martin Ehrensberger wurde in Regensburg geboren. Heute lebt der Realschullehrer mit seiner Frau und zwei Töchtern in einem kleinen, beschaulichen Ort auf dem Lande und verwirklicht gerne kreative Projekte. Neben dem Musizieren, Wandern und Fotografieren veröffentlichte er zwei Sachbücher. »Ottilie Finkenmeier« ist sein Debütroman.

 

 

 

Geschichte und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder bereits verstorbenen Personen wären rein zufällig. 

HEUTE MORGEN:MARIANNE UND IHRE HERREN 

»Schade! Dieses Mal verging die Zeit aber wie im Flug!«, dachte Marianne, als sie wie jeden Morgen pünktlich auf die Minute um 5:50 Uhr das kaum wahrnehmbare, mechanische Knacken von Herrn Gustav vernehmen konnte. Herr Gustav hatte bereits etwa 36 Jahre auf dem Buckel, aber so genau konnte man das bei ihm nicht sagen. Grundsätzlich war er mittlerweile zu einem sehr stillen Zeitgenossen geworden.

Wie ein unverrückbarer, unerschütterlicher Fels stand Herr Gustav seiner Marianne des Nachts zur Seite und wachte über sie. Marianne hatte die Marotte, vielen Gegenständen in ihrem Leben einen männlichen Namen zu geben. Bei Herrn Gustav, seines Zeichens ein sehr betagter Radiowecker, begann jeder Tag mit demselben akustischen Ritual, welches unmittelbar an einen älteren, etwas gebrechlichen Mann erinnerte, dem beim Aufstehen sämtliche Knochen und der Rücken schmerzte. Dieses metallische Krächzen war eigentlich nur der Vorbote eines tiefen, monotonen und dennoch bisweilen nervtötenden Brummens. Irgendwie schaffte Marianne es jedoch nicht, sich ein neueres, moderneres Gerät zuzulegen, schließlich war es doch ein Geschenk zu ihrer Firmung von Tante Margarete gewesen. Die ältere Schwester ihrer Großmutter war nur wenige Monate nach dem freudigen kirchlichen Ereignis im gesegneten Alter von 87 Jahren verstorben. Der mausgraue Radiowecker hielt jedoch seitdem immer noch beständig wie ein Schweizer Uhrwerk die Stellung auf ihrem Nachttisch. Wie man aus der Presse entnehmen konnte, war die Firma, die dieses elektronische Gerät damals erschaffen hatte, nun schon mehrmals Konkurs gegangen und Teile davon lebten in Form chinesischer Wertarbeit unter anderem Namen weiter.

Ursprünglich machte dieses Gerät genau das, was es sollte: zu einer bestimmten, vorher eingestellten Uhrzeit schaltete es sich ohne klägliche und beinahe Mitleid erregende Störgeräusche ein und beendete Mariannes nächtliche Ruhe mit dem erfrischenden Klang ihres Lieblingsradiosenders. Oftmals ärgerte sie sich über die künstliche, aufgesetzt gute Laune des Moderatorenteams. Ein weiteres Ärgernis war jeden Morgen die Playlist des Senders mit den besten Hits der 80er, den größten Stars der 90er und den Chartbreakern von heute. Sie wiederholte sich täglich, sodass man nicht gerade von einem Feuerwerk der Abwechslung sprechen konnte. Aber irgendwie machte Marianne das nichts aus. Sie hatte sich oft gefragt, wieviel Drogen man als Radiomoderator wohl in Form von Kaffee zu sich nehmen musste, um diese ständig wiederkehrende Songauswahl des Musikredakteurs psychisch und physisch ertragen zu können. War der durchschnittliche Radiohörer tatsächlich so in seiner Auffassung und Wahrnehmung begrenzt, dass ihm dieser tägliche musikalische Einheitsbrei wirklich einerlei war? Marianne gab sich mit ihrer eigenen Erklärung zufrieden. Sie war überzeugt, dass dieser überschwängliche Humor und diese Fülle an flachen Späßen vermutlich eine Art Schutzmechanismus dieser wortgewandten Überlebenskünstler im Radio waren, um ihre aufgestauten, geheimen Aggressionen zu unterdrücken. Dennoch war Marianne nie dazu im Stande, sich zu überwinden und aus freien Stücken auf einen anderen Sender zu wechseln. Offensichtlich war sie ebenso wie der Großteil der Radiokundschaft gefangen in ihrer eigenen Trägheit und Hörgewohnheit. Die Beziehung zu ihrem Sender war genauso wie zu Herrn Gustav eine besondere Art von Hassliebe. Irgendwie konnte man nicht ohne den anderen.

Monotonie und Routine waren so etwas wie der Soundtrack ihres Lebens geworden. Die Zeit, beziehungsweise ihr technischer Fortschritt, waren leider jedoch auch an Herrn Gustav nicht spurlos vorüber gegangen. Trotz aller Bemühungen, seine dünne, etwa 50 cm lange Wurfantenne in einer günstigen Lage nahe des schrägen Dachfensters zu positionieren, war es Herrn Gustav seit etlichen Monaten nicht mehr möglich, Marianne mit den Stimmen ihres Vertrauens um zehn vor sechs zu begrüßen. Die Welt war digital geworden, doch Marianne und viele Aspekte in ihrem Leben, wie eben Herr Gustav, waren etwas aus der Zeit gefallen und analog geblieben.

Aber selbst diesem merkwürdigen Umstand, dass Herr Gustav sie nur noch mit seltsamen Lauten begrüßen konnte, gelang Marianne etwas Positives abzugewinnen. Er war ihr ein genauso treuer und langjähriger Weggefährte wie Herr Eder, ihre 15-jährige Perserkatze. Marianne hatte Spaß an dem Gedanken an sich, dass ihre Beziehung zu den beiden Herren auf Gegenseitigkeit beruhen würde. Schließlich hingen sie auf ihre jeweilige Art an ihr und gaben beständig Lebenszeichen von sich. Solange dies der Fall war, zog Marianne eine Trennung überhaupt nicht in Betracht. Wen sie einmal in ihr Herz geschlossen hatte, den ließ sie so einfach nicht mehr heraus. In Zeiten, in denen eine gewisse Wegwerfmentalität in vielen gesellschaftlichen Schichten nicht zu leugnen war und die Welt drohte, an Plastikmüll zu Grunde zu gehen, waren Marianne Werte wie Nachhaltigkeit und Beständigkeit außerordentlich wichtig. Ihr war es unbegreiflich, wenn sich ihre Kollegen an der Universität lieber alle paar Monate ein neues Smartphone leisteten, obwohl das alte noch einwandfrei funktionierte. Diese Wertevorstellungen spiegelten sich auch in ihrem kleinen, beschaulichen Universum in ihrer Altbauwohnung im Herzen der historischen Altstadt Regensburgs wieder. Schiefe Mauern und Wände, sowie niedrige Türen und Dachschrägen waren typisch für diese Gebäude. Doch irgendwie liebte Marianne diesen antiquierten, unmodischen und unpraktischen Charme. Einen nicht unerheblichen Platz in Mariannes Welt, in der vieles für Außenstehende auf den ersten Blick eher ungewöhnlich und sonderbar war, nahmen ihre Herren ein. Herr Gustav und Herr Eder waren auch seit Langem die einzigen tiefergehenden Beziehungen zu männlichen Wesen, sofern man einen nicht mehr funktionsfähigen Radiowecker und einen Kater zu dieser Kategorie zählen wollte. Ansonsten war der Erfahrungsschatz, den Marianne trotz ihrer mittlerweile 42 Jahren in Sachen Beziehungen zu echten Männern aufweisen konnte, sehr begrenzt.

HEUTE MORGEN: MARIANNE UND IHRE MORGENROUTINE 

Ein weiterer Grund, weshalb ihr Herrn Gustavs morgendliches Ächzen und Krächzen nichts ausmachte, war der Umstand, dass sie ohnehin jeden Tag vor ihm wach war. Sie freute sich innerlich darauf, ihn beim ersten Stöhnen auszuschalten. Im Laufe der Zeit hatte sich Marianne selbst so konditioniert, dass sie meist einige Minuten vorher bereits aufwachte. Ihre innere Uhr war so programmiert, dass sie Herrn Gustav an sich gar nicht notwendig hätte, um in den Tag zu starten. Es war eine lieb gewonnene Angewohnheit. Marianne war sich auch sicher, dass sie das morgendliche Ritual vermissen würde, wenn Herr Gustav irgendwann tatsächlich keinen Ton mehr von sich geben würde. Noch hoffte sie, ihn noch lange an ihrer Seite zu wissen. Alles in Mariannes Leben war ihren relativ strengen Regeln unterworfen. Sie ging nie später als 22:00 Uhr zu Bett, wenn sie am nächsten Tag zur Arbeit gehen musste. Samstags und sonntags konnte es schon mal in Ausnahmefällen später sein, wenn sie sich mit ihrer Freundin Marie in einer Kneipe oder einem Restaurant traf.

 

Auch an diesem Tag, einem frostigen Herbstmorgen im Oktober, war sie bereits kurz nach halb sechs Uhr aufgewacht und geistig sofort voll auf der Höhe. Dies war eine Eigenheit, die sie mit Zufriedenheit und einer kleinen Portion Stolz betrachtete. Die Ereignisse des Vortags wirkten offensichtlich noch nach. Marianne lag es fern, ein Morgenmuffel zu sein. Auch am Wochenende stand sie so gut wie nie später als acht Uhr auf. So etwas kam wirklich nur alle heiligen Zeiten vor. Diese Maxime hatte sie bereits als Teenager von ihren Eltern eingebläut bekommen. Egal, wie spät man auch zu Bett ging, man sollte dennoch früh aufstehen. Nur so würde man nicht den halben Vormittag vertrödeln, sondern die kostbare Zeit gewinnbringend nutzen. Selbst, als sie irgendwann in diese kleine Wohnung gezogen war, kam es ihr nicht in den Sinn, an diesem Glaubenssatz zu rütteln. So glich fast jeder Morgen dem vorhergehenden, bis auf eine Sache.

 

Eines Tages begann Marianne sich Fragen zu stellen. Es entsprach zum einen nicht ihrem Biorhythmus vor Herrn Gustav aufzustehen. Zum anderen war es schon eine Art Tradition und Routine, dass sie die verbleibenden Momente im Bett darauf verwenden würde, ihre Gedanken zu sortieren, und sich stets mit denselben Fragestellungen zu beschäftigen. Diese sollten mehr Glück und Freude in ihr Leben bringen. Sie war kein unglücklicher undankbarer oder unzufriedener Mensch. Dennoch war sie fest davon überzeugt, dass es immer etwas gab, was man verbessern konnte, wenn man sich mit Neugierde und Wissbegierigkeit die entsprechenden Fragen stellte. Heute beschäftigte sie die Frage, worüber sie in diesem Augenblick des Lebens glücklich sein könnte und was genau sie an diesem Umstand in Verzückung brachte.

Diese Frage war für gewöhnlich eine, deren Beantwortung ihr besonders Spaß machte. Dementsprechend leicht fiel es ihr auch. Es geschah jeden Tag etwas, das Marianne glücklich machen konnte. Sei es ein Schluck ihres Lieblingstees »Green-Lemon Ingwer«. Regelmäßig kaufte sie diese Sorte in ihrem Stammgeschäft, einem alt-eingesessenen Teeladen in der Schwarze-Bären-Straße und freute sich aufs Neue, wenn die Seniorchefin zugegen war. Man konnte sie vergleichen mit Ottilie Finkenmeier, die alte Dame, die unter ihr wohnte. Beide Damen beeindruckten Marianne sehr. Die Königin der Teesorten damit, dass sie ihr Wissen über die verschiedenen Tees, welches einer Bibliothek glich, an ihre Kunden weitergab. Man spürte bei jedem ihrer Worte ihre Leidenschaft für dieses Getränk. Marianne glaubte, dass diese Frau es sich zur Lebensaufgabe gemacht hatte, jedem Kunden genau die individuell auf ihn zugeschnittene Lieblingssorte zu verkaufen. Genauso machte es Marianne glücklich, wenn sie im Bus der Linie 6, der hoch zur Universität fuhr, einen Sitzplatz bekam. Grundsätzlich war Marianne ein sehr genügsamer Mensch. Meistens war es eine Situation oder Begebenheit des Vortags, welche sie mit Freude erfüllte. Sei es, dass ihr Herr Eder seine Zuneigung zeigte, indem er ihr signalisierte, dass ihm diverse Kraul- und Kuscheleinheiten durchaus recht waren. Oder vorgestern, da hatte sie beim Einkauf im Bioladen in der Gesandtenstraße eine ältere Dame an der Kasse vorgelassen, die nur eine in Plastikfolie eingeschweißte Bio-Gurke bezahlen wollte.

GESTERN VORMITTAG: EIN BESCHWERLICHER AUFSTIEG 

Die erste Eingebung, die sie heute glücklich machte, war der gestrige Tag an sich. Wie jeden Donnerstag hatte sie frei. Nach einem Routinebesuch beim Arzt um 8:00 Uhr traf sie gegen 9:30 Uhr am Eingang des Hauses auf Ottilie Finkenmeier. Frau Finkenmeier wohnte ein Stockwerk unter ihr und das vermutlich schon ihr ganzes Leben. Diese ältere Dame war sage und schreibe 92 Jahre alt, und körperlich normalerweise ganz auf der Höhe, so dass sie ihre Einkäufe und ihren Alltag noch weitestgehend eigenständig bestreiten konnte.

Marianne dachte sich jedes Mal, wenn sie auf Ottilie Finkenmeier traf, dass es eine Freude war, eine derart bemerkenswerte Seniorin kennen zu dürfen. Schon des Öfteren hatte Ottilie sie in ihre Wohnung eingeladen, wo sie sich dann bei selbstgemachtem Hefezopf und Früchtetee über verschiedenste Begebenheiten aus Ottilies ereignisreichem Leben austauschten. Marianne genoss diese besonderen Momente mit Ottilie sehr. Wie schnell konnte sich bei fitten Personen im hohen Alter das Blatt von einen auf den anderen Moment wenden? Marianne hatte größten Respekt vor der Lebensleistung dieser Dame. Deshalb war für sie selbstverständlich, sobald sich die Gelegenheit bot, sich die Zeit für einen kurzen Plausch zu nehmen. Anders als geplant, dauerte dieser gestern beinahe den ganzen Tag.

Ottilie Finkenmeier war eine stolze, selbstbewusste Frau und strahlte dies für gewöhnlich auch aus. Natürlich hatte sie eine Körperhaltung, die aufgrund des hohen Alters gebückt und etwas gebrechlich war. Bisher hatte sie es vehement abgelehnt, sich ihre Besorgungen hoch tragen zu lassen. Ihr schlagfertiges Argument, welches keine Widerrede duldete, war stets: »Noch bin ich unter den Lebenden, meine Liebe, deshalb gibt es keinen Anlass mich wie ein Kleinkind zu behandeln!« Sie lebte im ersten Stock und da es sich um ein kleines, altes Stadthaus handelte, welches wie fast jedes Gebäude in der Regensburger Altstadt unter Denkmalschutz stand, war ein Lift bisher noch nicht eingebaut worden.

Die beiden Damen trafen sich nicht regelmäßig, aber durchaus häufig im Treppenaufgang. Dies war an sich nichts Besonderes, denn jede der beiden Frauen lebte ihr eigenständiges Leben, welches wie bei den meisten Menschen in ein terminliches Korsett gepresst war. Man konnte meinen, dass auch Ottilies Tage komplett durchgetaktet waren. Eine Eigenheit, die sie mit vielen Gleichaltrigen teilte, war die Tatsache, dass sie immer von sich behauptete, nie Zeit zu haben. Wenn man etwas darüber nachdachte, war dies aber irgendwie logisch. Der Supermarkt im Kellergeschoss eines großen Warenkaufhauses war nur etwa 500 Meter Fußweg von der Eingangstür des Wohnhauses entfernt. Dennoch gestaltete sich für eine 92 Jahre alte Seniorin das Besorgen lebensnotwendiger Utensilien als eine zeit- und nervenraubende Herausforderung. Für Marianne wäre es ein Leichtes und eine Selbstverständlichkeit gewesen, die wenigen Sachen, die Ottilie noch für ihr selbstbestimmtes Leben benötigte, auf dem Nachhauseweg, von der Arbeit zusammen mit ihren eigenen Lebensmitteln einzukaufen. Ottilie Finkenmeier hatte dieses Angebot bisher mit Vehemenz abgelehnt. Durch diese Haltung erhöhte sich Mariannes Bewunderung für Ottilie zusätzlich.

 

Gestern hätte die alte Dame das Erledigen des Einkaufs gerne abgegeben. Als Marianne sie nach einigen Tagen wieder im Foyer am Fuße der Treppe traf, bemerkte sie auf den ersten Blick, dass etwas anders war als sonst. Die Seniorin wirkte für ihre Verhältnisse sehr langsam und behäbig. Sie vermittelte einen sehr gebrechlichen Eindruck. Je näher Marianne kam, umso mehr konnte sie die Schweißperlen auf der Stirn von Ottilie erkennen. Sie atmete schwer. Es kostete sie sichtlich große Überwindung sich samt ihrer Einkäufe auf den beschwerlichen Aufstieg zu ihrer Wohnung zu machen. Marianne hatte Frau Finkenmeier noch niemals über etwas lauthals klagen hören. Der Gebrauch von Kraftausdrücken war ihr genauso fremd wie das Verlieren ihrer Fassung oder Haltung. Sie lebte nach dem Motto, dass alles im Leben zur rechten Zeit geschah und alles Negative auch eine positive Seite hatte. Es dauerte nur manchmal, sie zu erkennen. Es war so etwas wie ihre Lebensaufgabe, in allem was geschah und ihr widerfuhr, nicht die Verantwortung bei jemand anderem zu suchen, außer bei sich selbst.

Solange Marianne Ottilie kannte, und das waren schon einige Jahre, hatte sie die alte Dame noch nie das Wort »Problem« aussprechen hören. Diesen Ausdruck gab es in ihrem Vokabular offensichtlich nicht. In diese Kategorie gehörte auch der Begriff »Schuld«. Dieses Wort war in ihrem Sprachgebrauch praktisch nicht existent. Das Leben bestand für sie aus fortwährenden Herausforderungen, die es zu meistern galt. Dafür war nur sie selbst verantwortlich. Grenzen setzte man sich nur im Kopf. Wenn der Geist und die Gedanken frei von Hindernissen und Barrieren waren, konnte man mit der nötigen Portion Vertrauen und Sicherheit in die eigenen Fähigkeiten Großes vollbringen. Dieser unbeugsame Glaube an ihre eigene Kraft und Stärke hatte sie zu der eindrucksvollen Persönlichkeit werden lassen, die in diesem Moment jedoch anscheinend etwas von ihrer Energie eingebüßt hatte.

Ohne nach den Gründen für diesen ungewöhnlichen Schwächeanfall zu fragen, nahm Marianne den Einkaufskorb in die eine Hand und hakte Frau Ottilie Finkenmeier auf der anderen Seite bei sich ein. Sie tat dies mit einer derartigen Überzeugung und einem so unerschütterlichen Nachdruck, dass die alte Dame quasi keine andere Wahl hatte, als Folge zu leisten. So erklommen die beiden Frauen in dem Tempo, in dem es Frau Finkenmeier möglich war, die Stufen nach oben. Dies dauerte etwa zehn Minuten, ohne dass unnötig viele Worte gewechselt wurden. Die Anstrengung war Ottilie merklich im Gesicht abzulesen, auch wenn sie sich nie eine Schwäche eingestehen würde. Als sie vor der Wohnungstür standen, sah Marianne den Schlüssel zwischen den Einkäufen und schloss, ohne zu fragen auf. Ottilie war gerade ohnehin nicht mehr in der Lage, eine große Welle des Protests loszutreten. Mit jeder Treppenstiege nahm die Erschöpfung der alten Dame zu und ihre Kräfte schwanden.

Marianne schleuste die Seniorin schnurstracks auf das eindrucksvolle Biedermeiersofa im Wohnzimmer und stellte den Korb auf dem mächtigen Holztisch ab. Dann ging sie in die Küche und holte ein Glas Wasser. Als sie zurück ins Wohnzimmer kam, hatte Ottilie bereits wieder etwas von ihrer Fassung gewonnen und einige Male tief ein- und ausgeatmet. Soweit es ihre körperliche Verfassung wieder zuließ, konnte man in ihrem Gesicht einen Ausdruck aus Erleichterung und Dankbarkeit erkennen. Nachdem die Seniorin, noch immer so gekleidet, wie sie die Wohnung etwa zwei Stunden zuvor verlassen hatte, ein paar kleine Schlucke Wasser zu sich genommen hatte, war es ihr wieder möglich zu sprechen. Dies gelang ihr bereits mit klarer, deutlicher Stimme. »Liebe Marianne, ich danke Ihnen von ganzem Herzen, dass Sie selbstlos und umsichtig das Ruder an sich gerissen haben, um einem alten, aus der Form geratenem Schlachtschiff wie mir zurück in ihren Heimathafen zu verhelfen!«

Daraufhin half Marianne der alten Frau aus ihrer warmen Kleidung. Sie erlaubte sich die Frage, ob sie wüsste, woher dieser ungewöhnliche Kräfteeinbruch rührte. Ottilie entgegnete, dass sie drei Tage zuvor morgens auf dem Weg ins Badezimmer gestürzt war und ihr seither die rechte Hüfte große Schmerzen bereitete. Nachdem sie sich wieder hatte aufrichten können, rief sie ihren Hausarzt an, der kurz darauf kam. Zum Glück war nichts gebrochen oder ernsthaft verletzt. Sie hatte nur eine starke Prellung. Doktor Schmidhammer hatte ihr Ruhe verordnet und ihr Ausflüge zum Einkaufen für diese und die nächste Woche verboten. Sie hatte sich jedoch nicht daran gehalten. Ottilies Ehemann Wilfried war vor fünf Jahren, überraschend mit 83 Jahren an einem Herzinfarkt verstorben. Seither lebte die alte Dame allein in der Wohnung und sie beabsichtigte diese nur auf ihrer letzten Reise ohne eigenes Zutun zu verlassen, wenn »sie sich ohnehin nicht mehr würde wehren können«.

Ottilie fragte Marianne ob sie nicht Lust hätte ihr ein wenig Gesellschaft zu leisten, da sie gerade nicht gern allein war und der Besuch erst gegen 17:30 Uhr zu erwarten sei. Außerdem verspürte sie ein leichtes Ziehen in der Herzgegend. Dies behielt sie aber für sich. Sie könnten sich doch ein Familienalbum ansehen und zusammen Mittagessen. Marianne hatte an diesem Tag nichts Spezielles geplant. Deshalb war es ihr ein Vergnügen, mit Ottilie Zeit zu verbringen, um mehr über ihre Vergangenheit zu erfahren. Das Album, welches Marianne aus einer Schublade des Wohnzimmerschranks nehmen sollte, war so dick, dass man locker Stunden oder Tage damit verbringen könnte.

Marianne fing an, die Familienchronik von der letzten Seite an zu betrachten, auf der die neuesten Fotos eingeklebt waren. Das erste Bild war vor fünf Jahren gemacht worden und somit relativ neu. Es zeigte zwei erwachsene Männer, die in schwarze Anzüge gekleidet waren. Ottilie erklärte, dass es tatsächlich das einzige, halbwegs aktuelle Bild war, welches ihre beiden Söhne gemeinsam zeigte. Es war am Tag des Begräbnisses ihres Vaters entstanden.

Neben Alfred, mittlerweile 51 Jahre alt, Ottilies jüngstem Sohn, war noch Hans-Wilhelm zu sehen. Er war nur knapp eineinhalb Jahre älter. Sein Zwillingsbruder Lorenz galt seit neun Jahren als verschollen. Marianne hatte bereits davon erfahren, aber es noch nicht über das Herz gebracht, die alte Dame danach zu fragen. Schon früh hatten die beiden älteren Söhne ihrer Heimatstadt den Rücken gekehrt.

Hans-Wilhelm war Oberstudienrat an einem unterfränkischen Gymnasium. An eine Rückkehr nach Regensburg war nicht zu denken. Für Ottilie, die in ihrem Leben nie woanders als in Regensburg gelebt hatte, war es unbegreiflich, dass Hans-Wilhelm es zu keinem Zeitpunkt seiner Laufbahn als bayerischer Beamter nur in Betracht gezogen hatte, einen Versetzungsantrag zurück in die Heimat zu stellen, wenngleich sie natürlich ahnte, was einer der Beweggründe für ihn war.

Umso erfreulicher war es, dass nach dem Ableben des Vaters die beiden verbliebenen Söhne, vor allem ihrer Mutter zuliebe, es sich bisher jedes Mal einrichten konnten, den ersten Weihnachtsfeiertag gemeinsam mit ihrer Mutter in ihrer oberpfälzischen Heimatstadt zu verbringen. Ottilie legte keinen großen Wert auf materielle Dinge. Sie hatte alles, was sie benötigte und konnte sich mit ihrer Pension alles Mögliche leisten, was ihr in den Sinn kam. Die Aufmerksamkeit, die Wertschätzung und Zeit, die ihr ihre Söhne an diesem Tag entgegenbrachten, waren für sie von unschätzbarem Wert. Natürlich fand sie es schade, dass Wilfried und vor allem auch Lorenz nicht mehr dabei sein konnten. Auch sie hätten sich köstlich darüber amüsiert, wann immer sich die Jungen darüber wunderten, wie komplett verschieden ihre Lebensverläufe doch waren.

GESTERN VORMITTAG: DIE STADT IM WANDEL 

Die nächste Fotografie hatte Wilfried gemacht, da er selbst im fortgeschrittenen Alter noch passionierter Hobbyfotograf gewesen ist. Obwohl keine Personen darauf zu sehen waren, hatte sie dennoch einen besonderen Wert. Es war das letzte von ihm aufgenommene Bild. Darunter stand in seiner Handschrift geschrieben: Neupfarrplatz im Frühjahr des Jahres 2010.

Ottilie gestand Marianne, dass sie heute Morgen recht unvernünftig gewesen ist und sich, wie schon die letzten Jahre, auf den Weg zum Supermarkt am Neupfarrplatz gemacht hatte. Sie hatte sich schlicht und ergreifend überschätzt. Auch wenn sich die Geschäfte in der Tändlergasse hin und wieder geändert hatten und sich auch der Neupfarrplatz mit seinen Einkaufsmöglichkeiten im Lauf der Jahrzehnte einen merklichen Wandel unterzogen hatte, so blieb die Strecke doch immer gleich. Sowohl Marianne als auch Ottilie fanden es sehr bedauerlich, dass ein etablierter, türkischer Gemüse- und Feinkostladen am St.-Kassians-Platz, unweit des Marktes, aufgehört hatte zu existieren. Ohne großes Aufsehen standen die Räume von einer Woche zur nächsten leer. Was das liebenswerte ältere türkische Ehepaar Aygül und Günder Lenük, welches den Laden seit einer gefühlten Ewigkeit betrieben hatte, letztendlich zu diesem Schritt bewogen hatte, blieb ein Geheimnis. Ottilie und Marianne hatten es immer genossen, auch wenn es etwas teurer war als im Discounter nebenan, frisches Obst und andere, nicht alltägliche Lebensmittel bei diesem Händler zu beziehen. Immer häufiger fühlte sich Ottilie wie ein lebender Dinosaurier, ein Überbleibsel aus einer vergangenen Zeit, dem nach und nach das gewohnte Umfeld wegbrach.