Marilu - Tania Witte - E-Book

Marilu E-Book

Tania Witte

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Beschreibung

Eine tödliche Deadline, ein Wettlauf der Emotionen und eine riesige Liebeserklärung an das Leben. "Wenn ich ES jemals tue, geb ich dir die Kette zurück, Elli", hatte Marilu geschworen. Zwei Jahre später freut sich Elli auf ihren Schulabschluss und hat sowohl Marilu als auch den Schwur vergessen. Doch dann findet sie die Kette in der Post. Der beiliegende Brief ist ein Hilferuf - und der Startschuss zu einem fiebrigen Roadtrip. Die Spur, die Marilu gelegt hat, bringt Elli und Marilus Bruder Lasse an ihre Grenzen. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt und allen wird klar: Marilu testet das Leben. Und Elli muss dafür sorgen, dass das Leben diesen Test besteht. Ein emotionaler Roman über die Kunst, das Leben zu lieben, wenn es am schwierigsten ist. Ein Roadtrip, der alle atemlos zurücklässt. Tania Witte ist unter anderem ausgezeichnet mit dem Mannheimer Feuergriffel und einem Literaturstipendium des Deutschen Literaturfonds. Weitere Bücher von Tania Witte bei Arena: Die Stille zwischen den Sekunden

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Seitenzahl: 317

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Tania Witte

Marilu

Für alle, die um sich kämpfen.

Das Leben liebt euch, auch wenn es das

– ich weiß – nicht immer zeigt.

Ausgezeichnet mit dem Mannheimer Feuergriffel

Hinweis:In diesem Buch geht es unter anderem um psychischeErkrankungen – auch die Themen Suizid und Selbstverletzungspielen eine Rolle. Bitte achtet auf euch, wenn ihr wisst, dassihr darauf sensibel reagiert. Wenn ihr euch nicht gut fühlt, dannholt euch bitte Hilfe: Die Telefonseelsorge ist anonym, kostenlosund rund um die Uhr erreichbar. Die Telefonnummer ist0800/111 0111 oder online.telefonseelsorge.de. Ebenso kannstdu dich jederzeit an www.jugendnotmail.de wenden.

Weitere Titel von Tania Witte im Arena Verlag:

Die Stille zwischen den Sekunden

Weitere Titel von Tania Witte als Ella Blix im Arena Verlag:

Der Schein

Wild. Sie hören dich denken

Abdruckgenehmigung: Walking in my Shoes, Depeche Mode, Single aus dem Album »Songs of Faith and Devotion«, Mute Records 1993 | Walking In My Shoes (100 %), Musik & Text: Martin Gore, © EMI Music Publishing Ltd, Subpublisher: EMI Music Publishing Germany GmbH, Song No: 2046971 | »My Silver Lining«, Words and Music by Johanna Kajsa Söderberg + Klara Maria Söderberg © Warner Chappell Music Scandinavia AB © Courtesy of Neue Welt Musikverlag GmbH

1. Auflage 2021

© 2021 Arena Verlag GmbH

Rottendorfer Str. 16, 97074 Würzburg

Alle Rechte vorbehalten

Copyright: © 2021 Tania Witte

Umschlaggestaltung: Maria Seidel unter Verwendung eines

Fotos von © iStockphoto/James Theo Art (Bildnummer:iStock-929646980)

Lektorat: Nikoletta Enzmann

E-Book-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmund, www.readbox.net

E-Book ISBN 978-3-401-80942-7

Besuche den Arena Verlag im Netz:www.arena-verlag.de

Now I’m not looking for absolution

Forgiveness for the things I do

But before you come to any conclusions

Try walking in my shoes

Try walking in my shoes

Depeche Mode

14:12 Dienstag

Sie kam mit der Post. An einem Dienstag mitten im Juli lag sie im Briefkasten, in einen billigen weißen Umschlag gestopft, die Adresse mit orangefarbenem Filzstift daraufgeschmiert. Briefmarke aus Deutschland, kein Absender. Der war auch nicht nötig.

Elli stand vor der Reihe blauer Metallbriefkästen im Hausflur und starrte in das dunkle Fach, in dem der weiße Umschlag zu leuchten schien. Sie musste ihn nicht anfassen, um zu wissen, was er enthielt, sie konnte es sehen – an der leichten Ausbuchtung am rechten unteren Rand des Kuverts, an dem kleinen Loch, das das Metall ein paar Zentimeter weiter oben hineingebohrt hatte. Das Wissen legte sich wie eine Schicht nassen Wassers um ihren Körper.

Sie stand und schaute, der Briefkastenschlüssel baumelte im Schloss, irgendwann baumelte er nicht mehr, sondern hing ruhig da und Elli stand noch immer. Sie stand und merkte kaum, dass Frau Reckling aus dem Zweiten an ihr vorbeiging und sie selbst automatisch »Guten Tag« sagte, merkte nicht, wie die Schicht aus nassem Wasser zu einer Schicht aus Eis wurde, als die Sonne aufhörte, durch das Glas der Tür zu scheinen. Merkte nichts.

Was sie dachte, war:

Oh.

Sie hat sie zurückgeschickt.

Das ist nicht wahr.

Das kann nicht wahr sein!

Und, wie ein summender Grundton, der unter allem lag:

Warum?

Als sich eine Hand auf ihre gefrorene Schulter legte, hatte Ellis gesamter Körper das Summen längst aufgegriffen.

warumwarumwarumwarumwarum

»Warum stehst du hier?«

Das war ihr Vater und es gelang ihm kaum, die Anspannung in seiner Stimme zu verbergen. Sein Summen mischte sich in ihres. Nicht schon wieder, flehte es, bitte nicht schon wieder. Sagen tat er: »Alles okay?«

Reiß dich zusammen, Elli, reiß dich verdammt noch mal zusammen!

Sie schüttelte sich, griff nach dem Kuvert und schob es eilig in die Tasche ihrer viel zu warmen Jacke. Klappte die Briefkastentür zu, schloss ab, zog den Schlüssel heraus. Dann erst drehte sie sich um und lächelte ihren Vater an. Was hatte er gefragt? Alles okay?

»Klar!«

»Wie lang stehst du hier schon?«

Sie überschlug im Kopf, wann sie von der Schule gekommen war, rechnete hinzu, wann er von der Arbeit kam, erschrak, und log so gelassen wie möglich: »Paar Minuten.«

»Am Briefkasten?«

Ich war eingefroren, sagte sie nicht.

»War in Gedanken. Hast du eingekauft?«

Sie deutete auf den großen Stoffbeutel in seiner linken Hand. Es ragte die Krone einer Ananas heraus, daneben duftete eine Basilikumpflanze und wieder daneben beulte etwas, von dem sie wusste, dass es eine Flasche Wein sein musste. Dumme Frage, schalt sie sich. Und warf schnell hinterher: »Soll ich dir was abnehmen?«

»Lass mal«, antwortete ihr Vater. »Hast ja selbst genug zu schleppen.« Er meinte den Schulrucksack, den sie auf dem Rücken trug, aber nicht fühlte. Von dem Gewicht in ihrer Jackentasche, das sie zu Boden zog, konnte er nichts ahnen. »Gehst du mit oder musst du … noch weiter denken?«

Er machte sich Sorgen. Natürlich. Die Situation war schon beängstigend genug, wenn man Elli, und musste umso beängstigender sein, wenn man ihr Vater war. Wenn man wusste, was im vorletzten Jahr passiert war.

»Nö«, erwiderte sie. »Bin fertig.« Lächelte noch ein bisschen breiter und setzte sich in Bewegung, Fuß vor Fuß den Flur entlang und dann die Treppe hoch, in den ersten Stock. Ihr Vater folgte ihr langsam.

Das Haus, in dem sie wohnten, war absurd. Der Architekt musste auf Drogen gewesen sein, als er es entworfen hatte, komplett im damals schon veralteten Stil der 1980er-Jahre. Weil ihre Eltern einen gewaltigen Achtziger-Tick pflegten, hatten sie eine viel zu hohe Hypothek aufgenommen und kurz vor Ellis Geburt eine der Wohnungen gekauft. Leider hatte der Tick ihrer Eltern auch vor ihrer Tochter nicht haltgemacht, sonst hätten sie sie nie im Leben Elisabeth getauft.

Vor vierzig Jahren mochte der Name angesagt gewesen sein – wer seine deutlich nach der Jahrtausendwende geborene Tochter allerdings so nannte, gehörte bestraft, fand Elli. Solange sie denken konnte, hatte sie selbst sich nie anders als Elli genannt.

Die Wohnung, in der sie seit siebzehn Jahren mit ihren Eltern lebte, erstreckte sich über zwei Etagen – sie hätten sie also auch ebenerdig betreten können, aber dann wären sie geradewegs in der Physiotherapie-Praxis ihrer Mutter gelandet.

Deshalb also treppauf.

In der Tasche den Umschlag, den sie totschweigen musste. Die Last war kaum zu tragen.

Hinter ihr ächzte ihr Vater. Sie dachte an seine Bandscheibe und daran, wie sie sich zwischen den Wirbeln herausdrückte, mit jedem Schritt ein bisschen mehr. Sein Stöhnen klang besorgniserregend. Über die Schulter beobachtete sie, wie er auf der dritten Stufe innehielt und sich an dem Geländer abstützte. Elli seufzte und stieg die Stufen wieder hinab.

»Jetzt gib schon her«, befahl sie. Zu ihrer Überraschung ließ er sich den Beutel tatsächlich abnehmen, ließ zu, dass seine Tochter erneut an ihm vorbei nach oben trabte, die Tür aufschloss, die Schuhe abstreifte und die Einkäufe in die Küche trug.

Als er den Stuhl im Hausflur erreichte, hatte Elli die Sachen bereits wegsortiert.

»So schlimm heute?«, erkundigte sie sich, als sie wieder in den Flur trat und den Beutel an seinen Haken neben der Tür hängte.

Ihr Vater knurrte bejahend. Sie kniete sich vor ihn, um ihm mit den Schuhen zu helfen.

»Heftiger Tag im Laden?«

Er nickte. »Buchlieferungen.«

»Och, Papa! Hast du etwa die ganzen Kisten selbst geschleppt?«

Beschämt sah er zu Boden, als hätte sie ihn dabei ertappt, wie er heimlich unter der Bettdecke gelesen hatte. Elli seufzte. Ihr Vater bat nie um Hilfe und es gelang ihm auch nicht, die Kontrolle abzugeben. Deshalb radelte er noch immer jeden Tag in seinen Buchladen, den er einfach nicht alleinlassen konnte, trotz Bandscheibenvorfalls und Krankschreibung. Und schleppte Bücherkisten, weil er fest davon überzeugt war, dass es ohne ihn nicht laufen würde. Es war zum Heulen.

»Soll ich Mama rufen?«

Dieser Satz erinnerte ihn offensichtlich daran, dass er der Vater und sie die Tochter war und was das in seinem Wertesystem bedeutete: Er, der Vater, musste stark sein, um seiner Tochter Sicherheit zu vermitteln. Eine Strategie, die Elli seit Jahren durchschaute und die sie mittlerweile zur Weißglut trieb. Weil sie das Gegenteil dessen bewirkte, was er damit bezwecken wollte – nämlich, dass sie ihm nicht mehr vertraute, wenn er, wie jetzt, ein tapferes, aber wenig überzeugendes »Geht gleich wieder« hervorstieß.

Elli biss hart auf ihre Unterlippe, um keine sarkastische Bemerkung zu machen. Stattdessen wandte sie sich ab und stellte schweigend seine Schuhe in den Schuhschrank, ihre eigenen ebenfalls. Obwohl es viel zu warm dafür war, ließ sie die Jacke mit dem Kuvert darin an, als sie ein Glas Wasser und die Schmerztropfen aus der Küche holte. Sie zählte dreißig Tropfen ins Wasser und drückte ihm das Glas in die Hand. Er trank.

Fahl sah er aus, die Bartstoppeln wirkten grau, seine Augen flüchtig. Er ließ den Kopf gegen die Wand sinken. »Ich schaff das schon«, sagte er. »Keine Sorge, ich schaff das schon.«

Nee, dachte sie, ist klar. Kurz überlegte sie, ob sie seine Aussage ignorieren und ihre Mutter rufen sollte oder einen Arzt oder doch besser gleich einen Krankenwagen, dann spürte sie den Brief, seine Schwere, und hatte kein Quäntchen Kraft übrig für ihren Vater, der zu stolz war, einmal nicht zu funktionieren. Was sie umso wütender machte, weil sie es von ihm gelernt hatte, das Funktionieren. Weil es genau das war, was sie beinahe das Leben gekostet hatte, vor ungefähr zwei Jahren, und weil er das zwar in ihrem Fall ganz genau wusste, es aber für sich selbst nicht zu begreifen schien.

Soll er doch, dachte sie trotzig, soll er doch.

»Lass wissen, wenn ich noch was tun kann, ja?«

Sie tätschelte seinen Arm. Er hielt ihre Hand mit mehr Kraft fest, als sie in diesem Moment von ihm erwartet hätte. »Elli«, seine Stimme klang bereits gestärkt. »Da unten, am Briefkasten, was war das? Bist du wieder … Geht’s dir gut?«

»Keine Sorge.« Sie versuchte, es nicht zu zynisch klingen zu lassen. »Ich schaff das schon, Papa.«

Dann ging sie in ihr Zimmer.

Der Brief ließ sich kaum aus der Tasche ziehen, es war, als hätte er sich festgekrallt. Die kleine silberne Kante, die sich durch das Kuvert gedrückt hatte, hatte sich im dünnen Innenfutter verfangen, und je hektischer sie zog, desto weniger löste sich das Problem. Zuerst riss das Papier, dann das Jackenfutter.

Panisch begann Elli zu zappeln, als hätte sich etwas in ihre Haut gebrannt, das sie dringend abschütteln müsste. Es gelang ihr, sich aus der Jacke zu winden und sie in die Zimmerecke zu pfeffern, wo sie neben ihrem Lieblingssessel landete. Elli zappelte weiter, zappelte und schluchzte.

Irrational, hörte sie Dr. Verveins Stimme in ihrem Kopf. Das ist komplett irrationales Verhalten. Atme es fort, ganz langsam, und zähl rückwärts …

Elli zählte nicht, sondern schlug nach Dr. Vervein, die sich unbeeindruckt wegduckte, bis Elli genug gewütet hatte. Bis sie erschöpft auf dem Boden saß, den Rücken an das Bettgestell gepresst, unter sich den Teppich spürte (Spür den Boden!), einen Schluck Wasser aus ihrer Trinkflasche nahm (Trink einen Schluck Wasser!), dabei die Jacke nicht aus den Augen ließ, ihren geliebten rostfarbenen Panzer.

Auf allen vieren krabbelte Elli hinüber, schnappte sich die Jacke, schleifte sie hinter sich her, zurück zum Bett. Sie steckte die Hand in die Tasche, löste das verkantete Metall aus dem Papier und dem Futter und nahm die Kette heraus.

Sonnenblick.

»Bist du sicher?«, flüsterte Marilu.

Manchmal tat sie das. Flüstern. Stundenlang. Und manchmal nervte es mich nicht. Nach dem, was in der Stunde zuvor geschehen war, und angesichts der Tatsache, dass es unser letzter gemeinsamer Abend war, hätte sie tun können, was sie wollte. Ich war dankbar, dass sie lebte, dass das Leben sie liebte und sie es umgekehrt auch. Also nickte ich, schnell, ehe ich mir nicht mehr sicher sein würde.

Marilu hatte die Kette durch ihre Finger geschlungen, der Anhänger ruhte in ihrer Handfläche. Er war groß, sicher fünf Zentimeter im Durchmesser und sah komplizierter aus, als er war. Marilu himmelte ihn mit aufgerissenen Augen an.

»Aber du liebst deine Sonnenuhr!«, flüsterte sie weiter, die Stimme hauchig wie der Luftzug, ehe die U-Bahn einfährt.

Wir lungerten oben auf dem rundum eingenetzten Dach herum, auf das wir ohne Aufsicht nicht durften, aber Verbote und Marilu, das funktionierte nicht besonders. Sie war keine Woche hier gewesen, da hatte sie sich schon den Türcode ergaunert. Wann immer ich fragte, wie ihr das gelungen war, verschloss sie mit dramatischer Geste einen imaginären Reißverschluss vor dem Mund und grinste. Nachdem sie mich das erste Mal mit auf das Dach genommen hatte, hörte ich auf zu fragen. Es war verboten, okay, aber es war viel zu schön, um es nicht zu tun. Alleine die Aussicht! Trotz des Netzes.

Unter uns, weit unten, floss der Neckar, hinter uns der Rhein, rechts erstreckte sich die Innenstadt. Oben, hinter dem Sicherheitsnetz, nichts als der sternenbespuckte Himmel. So viele Sterne, wie wir Geheimnisse teilten.

Ja, ich liebte meine Sonnenuhr. Meine Oma hatte sie mir zum zehnten Geburtstag geschenkt. Damit ich nie die Orientierung verlieren würde, hatte sie gesagt, und mir dann gezeigt, wie man sie benutzte. Der Anhänger war aufgeladen mit Omaliebe und meiner eigenen Liebe und bedeutete mir die Welt. Kein Tag, an dem ich ihn nicht in der Hand gehalten hatte. Kein Tag in über fünf Jahren. Trotzdem hatte ich ihn gerade verschenkt.

Weil ich meine Orientierung in den letzten Wochen wiedergefunden und mir geschworen hatte, sie nie wieder zu verlieren. Weil Marilu den Anhänger nötiger brauchte als ich. Weil sie mich gerettet hatte. Weil dieser Tag nach einem Geschenk schrie. Weil ich morgen gehen würde, während Marilu blieb.

»Das ist fantastisch«, flüsterte sie gerade, »jetzt kann ich die Sterne noch besser verstehen lernen. Das Universum wird mich leiten, immer den Sternen nach, dahin, wo das Leben lebt. Und«, sie kicherte, »die Uhrzeit kenn ich auch immer.«

Außer nachts, dachte ich, und schaute zu den Sternen. Dann betrachtete ich erneut den Anhänger, mit dem Marilu zwischen ihren Fingern mit den abgekauten Nägeln spielte, ihn aufgeregt drehte und die Gelenke gegeneinanderdrückte, all die Handgriffe, die ich selbst im Schlaf konnte. Sie drehte, bis der Anhänger nicht mehr flach war, sondern dreidimensional, bis ein Universum entstand, in dessen Mitte die Weltkugel gehörte, auch wenn da nur eine Leerstelle war.

»Ich freu mich, dass du dich freust«, murmelte ich. Ich schaute durch das Schutznetz zum Himmel hinauf und hoffte auf eine Sternschnuppe, um mir wünschen zu können, dass die Liebe in der Uhr ausreichte, um Marilu zu füllen. Damit sie das Leben nicht mehr ständig würde herausfordern müssen. Ich tastete nach ihrer Hand und hielt sie fest, mit der anderen deutete ich auf die Sterne über uns und erklärte, wie die Ringsonnenuhr funktionierte – funktionieren würde, wenn die Sonne scheinen würde.

Die Sonnenuhr sagte es uns nicht, aber meinem Gefühl nach war es etwa elf. Wir sollten uns langsam wieder nach unten schleichen, bevor unser Fehlen auffiel. Leon hatte heute Nachtwache und er verstand keinen Spaß, wenn zwei seiner Schäfchen nicht in ihren Betten lagen. Auch wenn sie im Dunklen die Uhr nicht lesen konnten.

Marilu schien dasselbe zu denken. Ohne meine Hand loszulassen, flocht sie die Kette aus ihren Fingern und drückte den Anhänger flach. Sie streifte die Kette über den Kopf und ließ die Sonnenuhr in den Ausschnitt ihres Shirts gleiten. Dann steckte sie sich das letzte Macaron in den Mund, verdrehte genüsslich die Augen, zerrte mich auf die Füße und bugsierte mich zu der Tür, die durch das Personaltreppenhaus nach unten führte.

Ich wollte gerade die Tür aufziehen, als Marilu einen kleinen Pfiff ausstieß. Ein Ruck durch meinen Arm, meine Schulter, spielerisch, aber auch sehr bestimmend. Ich hielt inne, ihr Kichern in meinem Rücken. Langsam drehte ich mich zu ihr um. Mit einem vielsagenden Lächeln – irgendwas zwischen grimmig und beseelt – ergriff sie auch meine andere Hand. Wir standen uns gegenüber, eine Armlänge voneinander entfernt, Hand in Hand in Hand in Hand und alles fühlte sich extrem bedeutungsvoll an. Marilu schaute mich an, wie nur sie schauen konnte, die Augen unter dem dunkelbraunen, mikrokurz geschnittenen Pony geweitet. Das Blau war vollkommen verschwunden, es wirkte, als würden ihre Augen ausschließlich aus Pupillen bestehen, oder war das die Nacht?

Ich blickte zurück und ein ungutes Gefühl beschlich mich. Eine Ahnung, die mit dem Beginn des Abends zu tun hatte, mit dem, was passiert war, mit dem, was hätte passieren können, und mit etwas, das noch passieren würde.

»Hör zu«, wisperte sie. »Ich weiß, was die Kette dir bedeutet, und das macht das Geschenk so unglaublich wertvoll, dass ich es kaum aushalten kann. Deshalb werd ich niemals zulassen, dass jemand anders sie in die Finger kriegt.« Kunstpause, Griff zum Anhänger, der unter dem T-Shirt lag. Glitzernde blauschwarze Augen. »Wenn ich es jemals tue …«, sagte sie langsam und ich wusste sofort, was sie meinte, und auch, dass ich mit meiner unguten Vorahnung richtiglag. »Wenn ich es jemals tue, geb ich sie dir zurück. Das schwör ich beim Universum.«

Mein Mund war Staub und Worte waren da auch keine, weil das alles ein paar Nummern zu groß für mich war. Ich liebte diese Sonnenuhr, und okay, vielleicht war meine Entscheidung, sie zu verschenken, vorschnell gewesen, aber wenn der Preis wäre, dass Marilu »es« täte, dann wollte ich die Uhr nicht zurück, nie im Leben! Die Verbindung zwischen uns, die jünger und stärker war als alles, was ich je erlebt hatte, war ewig. Und dieser Abend, der den Endpunkt der intensivsten, schlimmsten, wunderbarsten Zeit meines Lebens markierte, durfte keine tragische Erinnerung werden. Auf keinen Fall.

Marilus ekstatisches Leuchten verstärkte meine Beklemmung. Langsam löste ich meine Hände aus ihren, trat einen Schritt näher und versuchte, möglichst bedrohlich auszusehen. Sie strahlte zu mir hoch, einen halben Kopf ungefähr, nicht, weil ich besonders groß, sondern weil sie ziemlich klein war. Ich legte ihr die Hand auf die Wange, streichelte sie kurz und gab ihr dann einen Klaps.

Wag es nicht, hieß das.

Ich hätte schwören können, dass Marilu verstanden hatte.

Hatte sie nicht.

Sonst würde Elli jetzt nicht die Ringsonnenuhr in den Händen halten. Voll mit Oma, mit ihr selbst und jetzt auch noch mit Marilus Schmerz. Er drang aus dem Palladium, aus dem die Uhr gemacht war, Palladium und Aluminium und Edelstahl, drang heraus, floss in Elli hinein, es tat weh, alles tat ihr weh.

Dreihundertsiebenundachtzig, zählte sie stumm, dreihundertsechsundachtzig, dreihundertfünfundachtzig, und weiter, minus eins, dann minus drei, ein paar Mal minus sieben. Bei dreihundertvier hatte sie ihre Finger so weit unter Kontrolle, dass sie in der Tasche ihrer Jacke nach den Überresten des Umschlages tasten konnte. Sie beförderte Fetzen um Fetzen heraus.

Elli steckte die Zunge zwischen die Zähne und biss genauso fest darauf, wie es nötig war, um sich zu konzentrieren. Dann setzte sie das Kuvert zusammen, sorgsam, mit Tesafilm und als hinge alles davon ab. Als sie fertig war, wog sie den Umschlag einen Moment lang in der Hand, schaute hinein, betrachtete die Verschlingungen, die eher nach Ornamenten als nach Schriftzeichen aussahen. Marilu schrieb nicht, sie schnörkelte. Immer in Orange, auf Schranktüren, der Innenseite der Fensterrahmen, in Lampenschirme, sie pulte sogar die Tapete ab und klebte sie nach dem Schreiben vorsichtig wieder an. Und sie schrieb von innen auf Briefumschläge.

Vorsichtig trennte Elli das restaurierte Kuvert auf, löste es entlang der originalen Klebestellen und entfaltete es beinahe ehrfürchtig, um zu lesen, was Marilu ihr geschrieben hatte. In orangefarbener Tinte, natürlich.

Ellili!

Was ich herausgefunden habe:

Norden ist eine Illusion.

Manchmal ist es lauter als sonst. Manchmal auch zu laut. Heute türmen sich die Geräusche.

Ohne Sonne nützt die Sonnenuhr nichts. Aber sie ist ein Symbol für … du weißt schon.

Es ist noch nicht zu spät.

Such mich! Nein: Finde mich!

Du musst mich finden!

Wenn du schnell genug bist, ist das ein Pluspunkt auf der Leben-Seite.

Gib mich nicht auf.

Gib niemals auf.

Hab dich lieb.

Marilu

PS: Lasse wird dir helfen.

22:34 Dienstag

Eigentlich war es zu spät, um anzurufen, aber sie hatte die Hoffnung, dass Lasse noch wach war. Er war zwei Jahre jünger als Marilu, dann müsste er jetzt… sechzehn sein. Ein Jahr älter, als sie selbst damals gewesen war. Jungs in dem Alter lagen selten um halb elf im Bett, zumindest nicht die, die Elli kannte.

Lasse kannte sie nicht. Alles, was sie über ihn wusste, wusste sie von Marilu. Und dieses Wissen war jetzt auch schon ungefähr zwei Jahre alt. Trotzdem musste sie ihn anrufen, weil er der Einzige war, mit dem sie sich verbünden könnte; der einzige Mensch, der wusste, dass es eine Verbindung zwischen Marilu und Elli gab, denn in ihrem aktuellen Leben hatte sie niemandem davon erzählt. Weil das, was sie beide verband, ausschließlich in Sonnenblick angesiedelt war und »Was in Sonnenblick passiert, bleibt in Sonnenblick«. Zumindest hatte das Therapieteam das immer gepredigt, von wegen Privatsphäre, Vertrauen und sicherem Ort.

Und Marilu? Schoss das Credo in den Wind und drängte sich und Sonnenblick und alles, was damit zusammenhing, in Ellis echtes Leben. Dem, in dem es ihr gut ging, in dem sie stabil stand und überwiegend glücklich war. In dem alles so funktionierte, wie Elli sich das vorstellte. Verdammt!

Sie spürte die Feuchtigkeit auf ihren Handflächen, spürte ihre schmerzenden Kieferknochen. Die Vergangenheit hatte sie eingeholt, in Form eines Anhängers und ein paar verworrener Zeilen, die alles bedrohten, was Elli sich hart erkämpft hatte.

Darum Lasse. Falls seine Nummer noch stimmte …

Marilu hatte sie ihr ins Handy getippt, ganz kurz nachdem Elli ihn kennengelernt hatte. »Ich hab ihm deine auch gegeben. Falls mal was ist«, hatte sie gemurmelt. »Was Wichtiges.«

Das hier war wichtig.

Wichtiger als ihr Ärger über Marilus Eindringen in ihr ziemlich perfektes Leben, wichtiger als ihre Angst und ihr eigenes schlechtes Gewissen, weil sie sich trotz ihres Schwurs nicht mehr bei Marilu gemeldet hatte, nachdem sie Sonnenblick verlassen hatte.

Was hätte sie denn tun sollen? Sie hatte ihre gesamte Energie für das Draußen gebraucht und Marilu … war noch drinnen gewesen. Natürlich hatte Elli an sie gedacht, im ersten Jahr beinahe täglich. Dann immer weniger, in letzter Zeit kaum. Und auf einmal war sie da. In Ellis Welt, erst am Briefkasten, jetzt in ihrem Zimmer. Und sie begriff, dass sie einen Riesenfehler gemacht hatte. Sonnenblick verschwand nicht aus ihrem Leben, bloß weil sie den Ort verlassen hatte. Es war und blieb ein Teil von ihr, genau wie Marilu. Ohne diesen Teil wäre Elli nicht, wo, und ganz sicher nicht, wer sie jetzt war.

Marilu war wichtig.

Also wählte sie. Strich über die Sonnenuhr, während es klingelte.

»Elli?«

Seine Stimme klang anders als in ihrer Erinnerung, tiefer, ruhiger, dunkelbraun. Nicht nach Kind. Ein bisschen nach Marilu, ein bisschen nach … Vampir, wisperte Marilus Stimme in ihrem Kopf.

Elli schwieg nachdenklich in das Mikrofon.

»Hallo? Bist du das?«

Sie holte tief Luft und dann, schnell und ehe die Situation noch peinlicher werden würde, antwortete sie: »Ja, sorry. Erinnerst du dich an mich? Ich … wir haben uns getroffen, als du Marilu in Sonnenblick besucht hast.«

»Und meine vorausschauende Schwester hat mir gleich deine Nummer eingespeichert.« Er lachte. »Logisch erinner ich mich. Du bist die, die sich nicht bewegen konnte.«

Die, die sich nicht … Wow. So viel zu »Was in Sonnenblick passiert, bleibt in Sonnenblick«. Bevor sie Lasse erklären konnte, dass sie sich sehr wohl hatte bewegen können damals, aber schlicht den Sinn darin nicht gesehen hatte, von der Energie mal ganz zu schweigen, sprach er weiter. »Marilu redet ständig von dir.«

Und plötzlich war nichts mehr wichtig, außer der Tatsache, dass er »redet« sagte. Präsens. Sie spürte, wie ihr Atem wieder floss (Spür deinen Atem!), und hätte gerne aufgelegt, jetzt, da sie wusste, dass alles in Ordnung war. Einzig ihre Höflichkeit hielt sie davon ab.

»Sorry«, murmelte sie und verschob mit dem Finger die stählernen Ringe der Sonnenuhr, »dass ich um die Zeit…«

»Kein Ding. Ich überleg auch schon den ganzen Abend, ob ich dich anrufen soll.«

Er tat … bitte was?

»Warum?«

»Na, wegen Marilu.«

Wegen …? Sie räusperte sich.

»Was ist denn mit ihr?«

»Wie, was ist mit ihr?« Seine Stimme brach von Dunkel-zu Hellbraun und einen Augenblick war Elli erleichtert, dass er doch ein bisschen des Kindes in sich trug, das sie kennengelernt hatte, und seinem Stimmbruch noch nicht ganz entwachsen war. »Ich dachte, das würdest du mir erzählen.«

»Ich dir?«

»Nicht?«

Das war das mit Abstand sonderbarste Gespräch, das Elli je geführt hatte. Und das sollte was heißen. Verwirrt verstummte sie und auch Lasse schien den Sinn dieses Anrufs zu suchen.

»Noch mal von vorne«, forderte er schließlich. »Sie hat dir einen Brief geschickt.«

»Du weißt davon?«

»Jap.«

»Aber…«

Wie konnte das sein? Marilu schickte ihr diesen Brief, der überdeutlich ein Abschied war – und Lasse wusste davon? Wer, bitte schön, kündigte Abschiedsbriefe an? Und warum klang Lasse zwar erstaunt, aber nicht aufgeregt, warum sprach er im Präsenz von seiner Schwester, was lief hier ab? Elli räusperte sich erneut.

»Woher?«

»Weil ich auch einen bekommen habe.« In seiner Stimme lag kein Hauch von Ungeduld – eher Neugier. »Und in meinem steht, dass sie dir geschrieben hat.«

»Weiter nichts?«

»Nicht wirklich. Irgendeine Geschichte von einem Gasthaus im Odenwald, in dem wir früher mal Urlaub gemacht haben, und wie glücklich sie da war. Total wirr alles, Marilu halt.«

Ja, Marilu halt.

»Hat sie in letzter Zeit ihre Tabletten genommen?«

»Woher soll ich das wissen?«

Elli schnaubte, das Telefon am Ohr und die Aufmerksamkeit fest auf den Anhänger in ihrer Hand gerichtet.

Gib niemals auf.

»Weißt du, wie es ihr geht?«

»Keine Ahnung, sie hat sich länger nicht gemeldet. Macht sie aber öfter«, fügte er schnell hinzu. »Kannst du dir wahrscheinlich vorstellen.«

Marilu halt.

»Und seit sie ausgezogen ist…«

»Sie ist ausgezogen?«

»Ja, am Tag nach ihrem Achtzehnten – Neujahr.« Langsam schlich Unruhe in seine gebrochene Stimme, als würde er begreifen, dass es hier um mehr ging als um wirre Briefe, um mehr als nur Marilu halt. »Sag mal, was ist eigentlich los? Ich dachte, das wär wieder einer ihrer blöden Scherze, sie hat ja manchmal eine Art, Menschen…«

Eine Art, Menschen … zu ärgern, zum Lachen zu bringen, herauszufordern, zusammenzuwürfeln, zu manipulieren, zu testen, ihre Liebe zu erklären … Elli hatte in den Monaten mit Marilu einen Eindruck von »ihrer Art« bekommen, Lasse hatte ein Leben lang Zeit gehabt, jeden einzelnen dieser Punkte zu ergründen – und vermutlich noch viele mehr. Darin, dass er den Satz nicht beendete, lag: alles. Wie er ihn fortsetzte allerdings, die plötzliche Wachsamkeit in seiner Stimme, zeugte davon, dass es sehr vieles gab, was Elli nicht wusste. »Stimmt was nicht mit ihr?«, hakte er nach. »Ist sie wieder …?«

»Keine Ahnung. Ich … ich hab keinen Kontakt zu ihr gehabt, seit Sonnenblick. Sie hat ein paar Mal geschrieben, aber ich …«

… hab mich seit unserem letzten Abend auf dem Dach nie mehr gemeldet. Weil sie mir Angst gemacht hat. Und Angst hatte ich schon ohne Marilu genug.

Sie schluckte ihre Gedanken herunter und sprach rasch weiter. »Jedenfalls war heute dieser Brief in der Post, aus heiterem Himmel.« Der Unterton in ihrer Stimme war nicht zu überhören; entschuldigend und aggressiv zugleich. Wenn Lasse von dem Versprechen wusste, das sie Marilu bei ihrem Abschied gegeben hatte (Für immer, Elli, lass uns schwören, dass wir uns nie aus den Augen verlieren!), und schlimmstenfalls auch davon, dass sie es gebrochen hatte, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken.

»Und was steht drin?«, fragte er.

»Dass ich sie suchen soll.«

»Suchen? Wieso?«

»Weiß nicht, es ist alles ziemlich …« Sie zuckte hilflos mit den Schultern, was Lasse nicht sehen konnte. Er vollendete ihren Satz trotzdem.

»Wirr?«

»Ja.« Marilu halt. »Aber es ist auch egal, es geht, glaub ich, mehr um das, was sie nicht schreibt, also das, was zwischen den Zeilen …« Es ging um das, wofür die Sonnenuhr stand. Und dafür fehlten ihr gerade die Worte. Hilflos brach sie ab.

Eine Weile herrschte Stille in der Leitung, überbrückte die einundachtzig Komma neun Kilometer, die sie trennten. Von Tür zu Tür, sie hatten es mal ausgerechnet in Sonnenblick.

Mannheim–Frankfurt.

Elli–Marilu.

Elli–Lasse.

Manchmal ist es lauter als sonst.

»Okay«, setzte sie erneut an. »Du weißt nicht, wo sie steckt, und nicht, ob sie ihre Medikamente nimmt. Du hast einen komischen Brief bekommen, in dem steht, dass ich auch einen gekriegt hab. Wenn ich dir sagen würde, dass ich mir Sorgen mache, was würdest du dann antworten?«

Lasse seufzte, tief und resigniert – wie jemand, der solche Situationen schon viel zu oft erlebt hat. Als er sprach, hatte er seine Erwachsenenstimme wiedergefunden. »Ich mir auch, würde ich antworten. Und dass ich morgen vorbeikomm.«

»Morgen? Musst du nicht zur Schule?«

»Sommerferien.«

Klar. Einundachtzig Komma neun Kilometer, zwei Bundesländer. »Bei uns gehen die erst übermorgen los.«

»Ab Donnerstag habt ihr Ferien?«

Elli nickte, dann fiel ihr ein, dass er sie nicht sehen konnte, und wiederholte ihr »Ja« noch einmal laut.

»Okay, dann komm ich übermorgen.«

Sie wollte gerade zustimmen, als ein Gedanke in ihrem Kopf aufblitzte, in Großbuchstaben, und sie anbrüllte. DAS IST ZU SPÄT! HAST DU DEN BRIEF NICHT GELESEN? ÜBERMORGEN IST ZU SPÄT! Ihr Hirn wich zurück, stolperte und spuckte das Unwichtigste aus, was ihr einfiel.

»Hast du überhaupt Geld?«

»Geld?« Lachte Lasse über die Unsinnigkeit der Frage oder über ihren Inhalt? So oder so: Sein Lachen passte nicht zu der Erinnerung, die sie an ihn hatte. »Geld war bei uns nie das Problem, Elli.«

Nein, Marilu war das Problem. Immer gewesen, immer noch. Im Kopf raste sie durch ihren Plan für den folgenden Tag.

Aufwachen.

Tagebuch.

Youtube-Morning-Work-out.

Schule.

Dr. Vervein.

Sportstudio.

Zu Tom.

Die letzte Folge How to get away with murder gucken.

Schlafen.

Wenn du schnell genug bist…

Ihre Hand schloss sich so fest um die Sonnenuhr, dass sich die Achse der Welt in ihre Handfläche bohrte. Pläne konnte man ändern. (Pläne kann man ändern, Elli!) War blöd, ging aber. Kein Sport also.

»Okay«, murmelte sie. »Du hast recht. Wir müssen uns beeilen. Komm morgen. Ich schick dir die Adresse.«

15:47 Mittwoch

Sie wartete vorm Haus auf ihn, neben den meterhohen dunkelroten Stockrosen, auf die ihre Mutter so stolz war, den Rücken an die raue Wand gelehnt. Im Mund den Geschmack von Blut, um den Hals die Sonnenuhr, in der umgehängten Tasche den Brief.

Lasse war ein paar Minuten zu spät, das war okay, auf die Art konnte Elli ihr Gespräch mit Dr. Vervein sacken lassen. Es war ziemlich genau so verlaufen:

Marilu hat mir einen Brief geschrieben.

Aha. Und was stand drin?

Es geht eher darum, was nicht drinstand.

Oh?

Sie hat den Anhänger mitgeschickt.

Die Sonnenuhr? Aber ihr hattet doch abgemacht, dass sie dir die nur schickt, wenn sie …

Genau.

Oh.

Ja.

Und dieser Brief… Was macht der mit dir?

Weiter waren sie nicht gekommen, denn den Rest der Stunde hatte Elli hyperventiliert, während Dr. Vervein auf sie eingeredet hatte. Sie hatte sich in den vergangenen zwei Jahren daran gewöhnt, an diese Psychologensprache, an das »Was macht das mit dir« und »Wie fühlt sich das an«, sie konnte in den Boden atmen und sich eine Schutzhülle aus blauem Licht imaginieren, sie konnte analysieren, interpretieren und reflektieren.

Aber sie hatte keine Ahnung, was sie mit den Empfindungen anfangen sollte, die dieser Brief in ihr weckte, mit dem sich Marilu ungefragt in ihr Leben drängte. Oder mit ihren Schuldgefühlen, weil sie Marilu nie auf eine ihrer E-Mails oder Nachrichten geantwortet hatte – oder sie besucht. Obwohl sie es geschworen hatte. Und sie hatte keine Ahnung, wie sie damit umgehen sollte, was das alles mit ihr machte.

Sie starrte auf den Boden, in den sie atmete. Kopfsteinpflaster aus Granit, die Ecken abgerundet von Millionen an Füßen, die seit Hunderten Jahren darüber hinweggelaufen waren, auf Ledersohlen, Holzsohlen, Gummisohlen, Pfennigabsätzen. Ihr Atmen fand seinen Weg zwischen die Fugen der Steine, sackte in die Erde und nahm einen Teil ihrer Anspannung mit sich. Gerade genug, um aufrecht stehen zu bleiben.

»Alles okay bei dir?«

Ausgelatschte Vans, das Karomuster passend zu dem Kopfsteinpflaster, auf dem sie standen. Verwaschene Jeans, slim cut. Sie sah höher, ein abgeliebtes T-Shirt, noch höher.

»Krass«, entfuhr es ihr. »Du bist voll groß geworden!«

Einen kurzen Moment hing das Schweigen zwischen ihnen und sie spürte die Röte aufsteigen, langsam, vom Hals aufwärts. Als sie ihre Wangen erreicht hatte, begann er zu lachen, tief, kieksend und glucksend zugleich.

»Sorry«, murmelte sie betreten.

»Schon okay, Omi.«

Ein letztes Kieksgluckslachen, dann streckte er ihr die offene Hand hin, sie schlug automatisch ein und ebenso automatisch stieß sie anschließend ihre Faust gegen seine. Sie roch Aftershave, und obwohl sie ihm noch immer nicht richtig ins Gesicht gesehen hatte, hätte sie gewettet, dass es darin nichts zu rasieren gab.

Sie hob den Kopf ein letztes Stückchen und schaute nach.

Er hatte waldhonigfarbenes Haar, heller, aber genauso grundstrubbelig wie Marilus, besaß deren kantiges Kinn, deren große blaue Augen, und wenn er den Kranz dunkler Wimpern drum herum tuschen würde …

»Du wirkst nicht mehr so verhungert wie damals«, unterbrach er ihre Analyse. »Siehst gut aus.«

»Danke. Du siehst aus wie deine Schwester.«

Er runzelte die Stirn. »Oder sie wie ich?«

»Geht nicht.« Elli zuckte die Schultern. »Sie war zuerst da.«

Er legte nachdenklich den Kopf schief. »Stimmt. Als Zweitgeborener hat sich das mit der Individualität schnell erledigt.«

So redet doch kein Gerade-erst-Sechzehnjähriger, dachte sie. Nicht mal, wenn er aus einer reichen Familie mit altem Geld kommt und, genau wie Marilu, seit seiner Empfängnis mit klassischer Musik bombardiert wird. Nicht mal, wenn er – auch das wusste sie von Marilu – auf ein geisteswissenschaftliches Gymnasium geht, auf dem er Latein und Griechisch lernt. So redet man nicht, wenn man ausgelatschte Vans trägt und eine Schwester wie Marilu hat. Oder … gerade.

Sie stieß sich von der Wand ab und konnte sich zu ihrer eigenen Überraschung ganz leicht bewegen.

»Kaffee?«, schlug sie vor.

»Ich nehm keine Drogen«, erwiderte er. »Aber ein Kakao wär schön.«

»Zucker ist auch eine Droge«, bemerkte Elli amüsiert.

»Punkt für dich.« Er grinste sie dermaßen offen an, dass Elli gar nicht anders konnte, als ihn zu mögen.

Er trank Kakao, sie ihren geliebten Flat White.

Der Kick, den ihr der durch die Milch kaum abgemilderte doppelte Espresso gab, wirkte auf sie in der Tat wie eine Droge, und ja, sie sollte dringend zu Kamillentee statt Koffein greifen. Sollte. Leider liebte sie Kaffee, seit sie mit Tom zusammen war – seit mehr als eineinhalb Jahren. Sein Kaffeetick hatte auf sie abgefärbt, vielleicht weil sie gemeinsam so viel probiert hatten, als er sich bei einem Barista-Workshop angemeldet hatte. Tom machte so was: Geld sparen, um an einem Barista-Workshop teilzunehmen – bloß um das, was er mochte, besser zu verstehen. Ihm bereitete es keine Angst, neue Dinge zu lernen. Weil er, im Gegensatz zu ihr, keine Angst vorm Scheitern hatte.

Eine Weile schlürften sie schweigend und gleichermaßen zufrieden an ihren Getränken, dann fiel die Zufriedenheit langsam ab und der Elefant im Raum – Marilu – ließ sich nicht länger ignorieren.

»Okay.« Elli gab als Erste auf, setzte ihre Tasse ab und befreite den Brief aus ihrer Umhängetasche. »Hier.« Sie streifte die Kette über den Kopf und legte sie daneben. »Kann ich deinen Brief auch sehen?«

Ohne seinen Kakaobecher abzusetzen, griff Lasse in den Rucksack und zog einen zerknitterten Umschlag hervor.

Die Briefe schienen Zwillinge zu sein. Auch seiner war auf die Innenseite des Kuverts geschrieben, ebenfalls in Orange. »War was drin?«, wollte sie wissen.

Er nickte, wühlte erneut und legte dann eine vergilbte Werbebroschüre zu seinem Brief. Elli überflog sie kurz.

»Bad König? Was soll das? Wo ist das?«

»Odenwald.« Ohne eine weitere Erklärung nahm er die Sonnenuhr an sich, drehte und wendete sie. »Die kenn ich. Die hatte sie immer um den Hals. Sie hat gesagt, dass ihr das Teil hilft, den Sternen zu folgen.« Er spielte mit dem Anhänger herum, faltete ihn auf, sodass er die Welt umschloss, drückte ihn zusammen, bis er flach wurde. »Wieso hast du die?«

»Der Anhänger hat mir gehört.« Elli nahm einen Schluck Kaffee gegen den Knoten in ihrer Brust. »Ich hab ihn ihr an unserem letzten Abend geschenkt und sie … Lies erst mal den Brief.«

Gehorsam faltete er den Brief auf und las, den Finger auf dem Papier. Er verharrte bereits bei der Anrede, als ob der dumme Kosename, den ihr Marilu verpasst hatte, wichtig wäre. Sie schüttelte abwehrend den Kopf. Der Finger glitt weiter. Elli hätte mitsprechen können, Wort für Wort. Lasse stöhnte, als er bei dem PS angekommen war.

»Sie ist irre«, schussfolgerte er, als er das Blatt wieder ablegte. »Aber anders irre als sonst.«

Das stimmte. Jedes Wort in diesem Brief schien bewusst gewählt – der Brief hatte nichts von Marilus depressivem Schwarz und nur sehr wenig von ihrem manischen Wasserfallschreiben. Vor allem aber hatte er keinen Zusammenhang.

»Ist deiner genauso?«

Lasse deutete auffordernd zu dem Kuvert. Dann warf er ein paar Marshmallows in seine Kakaotasse und nahm sie zwischen beide Hände, als müsse er sich daran wärmen. Im Juli. Elli verstand ihn besser als ihr lieb war.

Alles in ihr drohte einzufrieren, genau wie gestern am Briefkasten, als sie die Hand ausstreckte, in Zeitlupe, Lasses Umschlag auffaltete, die orangefarbene Schrift scharf stellte.

Lasse.

Brüderchen und Schwesterchen.

Der Odenwald, das Gasthaus.

Dreieinssieben, weißt du noch?

Du bist fast durchgedreht als ich auf dem Balkongeländer getanzt hab.

Du und deine Angst immer

Vorm Glücklichsein muss man keine Angst haben.

Und ich war glücklich. So glücklich, damals, dort

Weil das Leben mir da zum ersten Mal gezeigt hat, dass es mich liebt

Weißt du, ob das Leben dich liebt?

Du musst es rausfinden! Du musst dahin.

Schnell.

Ohne dich wird es mich ausspucken.

Hab dich lieb.

Marilu

PS: Ich hab Elli geschrieben.

Elli spürte ihr Herz, als sie »Weißt du, ob das Leben dich liebt?« las. Es beschleunigte von eingefroren zu Jogger zu Rennpferd zu Überschall. Sie sollte kein Koffein trinken. Sie sollte keine solchen Briefe bekommen.

In. Den. Boden. Atmen.

Der Boden hier war mit Fliesen versiegelt, die nach Südfrankreich aussahen – oder arabisch, jedenfalls nach weit weg und ohne Zugang zur Erde. Ihre Panik floss über die Fliesen, unter dem Tisch hinüber zu Lasse, bis an die Sohlen seiner Vans.

Über den Tisch schwappte Lasses Unverständnis. Er hatte sie nicht aus den Augen gelassen, den Kakao in der Hand, den Blick ernster, als er alt war, und mit einem Subtext darin, den sie nicht greifen konnte. Lauernd? Neugierig?

»Verstehst du das?«, fragte seine Vampirstimme.

Du bist zu jung für das alles hier, antwortete Elli stumm. Und ich auch.