Marlborough Man - Alan Carter - E-Book
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Alan Carter

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Beschreibung

Nick Chester hat als undercover cop in seiner englischen Heimat eine Gangsterorganisation auffliegen lassen, die ihn daraufhin auf ihre Abschussliste setzte. Bei der neuseeländischen Polizei, an den landschaftlich grandiosen, rauen Marlborough Sounds versucht er nun, mit seiner Familie ein neues Leben zu beginnen. Aber auch die abgelegene Provinz hat ihre Tücken. Ohne seine ortskundige Kollegin, Constable Latifa Rapata, wäre er hilflos. In der dünnbesiedelten Gegend treibt ein unheimlicher Mörder sein Unwesen. Chester und Rapata müssen sich mit der örtlichen Nomenklatura anlegen, Rassenkonflikte werden sichtbar, und Chester darf nie vergessen, dass die britischen Gangster ihn überall auf der Welt finden können. Jederzeit ...

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Seitenzahl: 460

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Alan Carter

Marlborough Man

Thriller

Aus dem Englischen von Karen Witthuhn

Herausgegeben von Thomas Wörtche

Suhrkamp

Für Kath, meine wunderschöne Muse und Seelenverwandte.

Prolog

Er hat jetzt wirklich eine Belohnung verdient. Lange hat er die Geduld bewahrt, aber überall lauert die Versuchung. Die Frau im Wagen nebenan wirft ihm einen zweiten Blick zu, keinen unfreundlichen. Er lächelt zurück, verdreht die Augen: Wir sind ja nur noch die Chauffeure. Heute? Schwimmunterricht. Sie wartet ebenfalls. Glatte Haut, aber am Hals zeichnen sich die voranschreitenden Jahre ab. Die Backen hängen mehr, als es sein müsste. Sie betrachtet sich schon wieder im Spiegel und zupft ihren Pony zurecht.

Da kommen sie.

Die Eltern, die in die Schwimmhalle gegangen sind, zappen jetzt die Türen auf, werfen Schulranzen und Schwimmbeutel in die Autos, die Kinder klettern hinterher, einige halten Junkfood in den plumpen kleinen Händen. Manche sind übermüdet und greinen. Andere quasseln ohne Punkt und Komma, ihre Augen leuchten, sie sprudeln über vor Leben, Neugier, Erstaunen.

Ein blondes Mädchen steigt in den Wagen nebenan. Ein ernstes Kind mit verkniffener Miene, bestimmt fühlt sie sich vernachlässigt, genau wie die Mutter. Auch sie wird sich ihr Leben lang nach Aufmerksamkeit und Anerkennung sehnen, unfähig, die guten von den schlechten Männern zu unterscheiden. Mum wirft ihm einen letzten langen Blick zu, hofft vielleicht auf mehr als das komplizenhafte Lächeln eines leidgeprüften Helikoptervaters. Sucht den Hauch von Gefahr und Leidenschaft, der ihrem Leben fehlt. Wirst du bei mir nicht kriegen, denkt er. Liebende Mütter sind nicht mein Beuteschema. Er zwinkert ihr zu. Das rettet ihr den Tag, sie macht sich auf die Heimfahrt.

Da kommt er. Die Belohnung. Vater ist nicht da, versucht im Bergbau in Westaustralien das Geld für die Hypothek zusammenzukratzen. Die Mutter noch bei der Arbeit, in einem Immobilienbüro in der Stadt. Ihr einziges Kind.

Aus der Parklücke rausfahren und neben der Bushaltestelle halten. Die Autotür öffnen. Er sagt den Namen des Kindes.

Der Junge wacht aus seinem Tagtraum auf, er hat nicht damit gerechnet, dass jemand ihn abholt. Aber es gibt immer ein erstes Mal. Ein Lächeln des Wiedererkennens.

»Spring rein.«

»Ich soll den Bus nehmen. Ich darf nicht mit Fremden gehen.«

»Ich bin doch kein Fremder?«

Der kleine Junge steigt ein.

Teil 1

1

Das ist die dritte Nacht, in der der Wagen vorbeifährt. Immer zur selben Zeit, gegen zehn. Ein leises Rumpeln, ein gelegentliches Stottern, ein kurzer Aussetzer.

Vielleicht Wildschweinjäger, die oben an der Straße nach dem Weg suchen, der in den Wald auf dem nächsten Hügel führt. Niemand kommt grundlos oder versehentlich diese Straße hoch, sie führt nirgendwohin und endet etwa fünf Kilometer weiter am Zeltplatz Butchers Flat. Der Vollmond verzieht sich hinter den Wolken, und die Umrisse der Hügel verschwinden im dunklen Hintergrund. Unten rauscht der Fluss über die Steine hinweg.

Oder aber Camper, die nach ein paar Bierchen in der Stadt nach Butchers Flat zurückkehren. Doch zum Campen ist es viel zu kalt. Oder Plünderer, die sich von den gerade gerodeten Hügeln Brennholz holen. Eigentlich ist Frühling, aber die Temperatur sinkt immer noch auf den Gefrierpunkt, in der Stadt ist kein trockenes Holz mehr übrig. Außerdem, wer hat schon die zweihundert Kröten für eine Lieferung, wenn jeder Zweite von der Stütze lebt, und außerdem muss es doch bald wärmer werden. Im Winter fegt der Wind vom Südpol über die Antarktis und die Südsee heran, bedeckt die Südalpen mit Schnee und Eis, schlängelt sich durch die grünen Fjorde und einsamen Täler, zieht durch die Türspalten und in die Knochen. Wenn man nicht aufpasst, erstarrt man im Innersten und es erfriert einem das Herz. Und wenn Neuseeland nicht so verdammt schön wäre, würde man sich an manchen Tagen gern die Kugel geben.

Ich bewohne ein zweistöckiges Holzhaus an einem steilen Hang, der zum Fluss abfällt. Ein Rinnsal im Sommer, im Winter brodelt er. Solange der Wakamarina nicht über die Ufer tritt und es keinen Landrutsch gibt, lässt sich mein Haus über eine schmale Straße erreichen, die sich durch das Tal schlängelt und hier oben nie geteert wurde – wir sind nicht nur aus der Welt, wir sind auch weg vom Asphalt. Das Valley ist ein gutes Versteck, sowohl vor den An- und Herausforderungen der modernen Welt als auch vor echten Menschen und realen Bedrohungen. Wir liegen direkt an einer tektonischen Bruchlinie, die statistisch gesehen reif ist für eine seismische Katastrophe – die Schwarzseher und Geologen erwarten sie täglich. Nicht schlimm, seit ich hier angekommen bin, rechne ich sowieso immer mit dem Schlimmsten.

Vielleicht sind es auch Hobby-Schürfer, die Jobs in der Stadt haben und sich hier an hundertfünfzig Jahre alten Claims abarbeiten, die schon damals nichts abgeworfen haben. Denen geht es nicht ums Gold, sondern um Geschichte, Tradition und Kameradschaft. Und um die Flucht vor dem, was sie in der Stadt plagt.

Aber das alles ist es nicht. Ich weiß, wer da kommt. Sammy Pritchard. Er lässt mich wissen, dass er mich endlich gefunden hat. Seine Macht reicht weit, noch aus dem Hochsicherheitsgefängnis streckt er den Arm nach mir aus.

»Komm wieder ins Bett.«

»Ja, Schatz.« Ich sehe Vanessa an, sie ist schlaftrunken und genervt. Ich denke an Paulie, der unten schläft. Wird sich Sammy mit mir begnügen und die beiden am Leben lassen?

Nein. Natürlich nicht.

Kurz nach halb sieben klingelt das Telefon.

»Du wirst am Yachthafen erwartet, Sergeant«, sagt Latifa.

»Mord?«

»Sachbeschädigung. An einem Boot, das Mr McCormack gehört.«

»Du holst mich um diese Zeit wegen Sachbeschädigung aus dem Bett?«

»Auf besonderen Wunsch des District Commanders. Er und Mr M spielen in Nelson zusammen Squash.«

Wir alle wissen, wer Mr M ist und dass ihm halb Marlborough gehört.

»Du kannst in fünf Minuten dort sein, Latifa. Ich brauche eine halbe Stunde.«

»Wenn du da draußen bei den Hippies hausen willst, ist das deine Sache. Außerdem geht es hier nicht um Tempo.«

»Sondern?«

»McCormack will immer den Größten haben. In diesem Fall den Ranghöchsten. Das bist du.«

»Sag dem DC, ich bin auf dem Weg.«

Ich mache mir einen Tee und versuche, Vanessa einen Kuss zu geben, aber sie zieht sich die Decke über den Kopf. Das kommt in letzter Zeit häufiger vor. Sie mag Neuseeland nicht, vielleicht mag sie mich auch nicht mehr.

Der Toyota hustet sich ins Leben, ich fahre von der Kieseinfahrt herunter. Ein Tui flattert pfeifend und schnarrend als schwarzes und leuchtend blaues Gestöber auf eine Silberbirke. Ich denke an den Wagen letzte Nacht. Kommen sie zurück und bringen meine Familie um, wenn ich nicht da bin?

Nein. Sammy würde wollen, dass ich zusehe. Sie werden auf meine Rückkehr warten.

Im Yachthafen von Havelock scheint die Sonne auf die grünen Hügel am Wasser und spiegelt sich auf den vor Anker liegenden Freizeitbooten. Ein großer Mann mit kurzem, graumelierten Haar stapft auf und ab, um die Kälte zu vertreiben. McCormack, angezogen für einen Tag auf dem Boot. Heute ist Dienstag, manche haben's gut. Seine Begleiter, ein Mann und zwei Frauen, sitzen in einem in der Nähe geparkten BMW und nippen gelangweilt an Kaffeebechern. Das Boot ist groß und belegt am reicheren Ende des Hafens noch einen halben Liegeplatz zusätzlich. Ich betrachte den Schaden: ein Graffito auf der Steuerbordseite seines kostbaren Katamarans. Wo bisher Serenity II stand, ist jetzt Smaug zu lesen.

»Smaug, Sir?«

Er sieht mich an wie einen Idioten. »Der böse Drache im Hobbit. Smaugs Einöde.«

Ich ziehe das Notizbuch hervor und heuchle Interesse. »Warum Smaug? Glauben Sie, jemand könnte was gegen Sie haben?« Beispielsweise die Hälfte der Bevölkerung am oberen Ende der Südinsel? Auf der Fahrt über die Talstraße zum Hafen runter hatte ich sein Werk vor Augen: gerodete Hügel, nichts als traurige Baumstümpfe, die früher atemberaubende Umgebung eine verwüstete Mondlandschaft.

»Fragen Sie mal bei dem Hühnerzüchterhippie oben bei Ihnen nach.«

Oben bei mir?, denke ich. Woher wissen Sie, wo ich wohne?

Er hält mir ein iPhone vor die Nase. »Er hat mir Drohmails geschickt.«

»Stirb, du raffgieriges Arschloch«. Ich nicke. »Raffgierig. Er muss mal ein Buch gelesen haben.« Ich sage McCormack, er soll mir die Mail weiterleiten, er erledigt es mit ein paar Tippern. Der Wind dreht, kurz fange ich Gestank von faulem Atem auf. So viel Geld, und er kann nicht mal ordentlich Zahnseide benutzen.

»Was ist das für ein Dialekt?«, fragt McCormack.

»Geordie. Nordostengland.«

»Finstere satanische Mühlen und all das?«

»Nicht mehr, die sind alle geschlossen worden. Ist jetzt herrlich grün. Wie hier.«

Ein Schnaufen. »Vielleicht hätten Sie lieber dortbleiben sollen.«

»Dann wäre mir das Vergnügen entgangen, Sie kennenzulernen, Sir.«

Hinter mir wird das Wagenfenster heruntergelassen. Ein lustloses Quaken von McCormacks Reisebegleiter, einem glattgesichtigen Mann mit blonder Tolle, die ihm in die Augen hängt. »Vergessen wir's einfach, Dickie – lass uns frühstücken gehen, okay?«

»Das hat uns den Tag versaut«, sagt McCormack und steckt sein Handy ein. »Kümmern Sie sich um den Ökowichser.«

»Überlassen Sie das ganz mir. Ich werde mit ihm reden und mal hören, ob er was darüber weiß.«

»Reden? Verhaften Sie ihn einfach.«

Überall hängen Kameras und Schilder, die Rund-um-die-Uhr-Überwachung versprechen. Die Art Service, die man verlangen kann, wenn einem eine dicke Yacht gehört. Der Fall sollte leicht zu lösen sein, Havelock ist nicht für die Qualität seiner Kriminellen bekannt.

»Ich halte Sie über den Fortgang der Ermittlungen auf dem Laufenden.«

»Sie wissen, dass ich mit Ihrem Chef Squash spiele, ja?«

»Ja. Ich auch«, lüge ich. »Ich finde, seine Schwäche ist die Rückhand.«

Als ich durch die Tür komme, reicht mir Latifa Rapata einen Pappbecher mit Kaffee. Zwei Jahre aus der Polizeischule raus, und sie wirkt schon jetzt wie ein Veteran mit dreißig Jahren auf dem Buckel. »Vor fünf Minuten hat der DC angerufen. Er möchte mit dir reden.«

McCormack hat seinem Squashkumpel schnell die Ohren vollgeheult.

»Nick«, sagt der DC. »Was zum Teufel treiben Sie da?«

»Ich strebe nach Gerechtigkeit, Sir.« Mein Kaffee ist stark und gut, von der Bäckerei unten an der Straße. »Ohne Furcht und Tadel.« Lieber das Thema wechseln. »Gibt es was Neues über das verschwundene Kind?«

»Nichts. Das ist jetzt eine Woche her. Wie vom Erdboden verschluckt. Hören Sie, Nick, machen Sie's mir nicht unnötig schwer, McCormack ist ein Idiot, aber er kennt nicht nur mich, sondern ist auch mit den ganzen Regierungs- und Beamtenaffen in Wellington per du. Und die sitzen gerade jetzt über meinem Budget.«

Auf meinem Tisch liegt ein Infoblatt, das Angebot, gegen Abfindung freiwillig auszuscheiden oder in Frühpension zu gehen. Noch kann ich mir das nicht leisten.

»Drei Prozent Effizienzdividende. Sie wissen, was das bedeutet, Nick. Das bedeutet Revierschließungen, Rationalisierung, das ganze Programm.« Eine Kunstpause. »Wie geht es Ihrem Jungen? Paulie? Er müsste jetzt elf sein?«

Raffiniert, denke ich. Wirklich raffiniert. Ich weiß, dass er es nicht so meint, er erinnert mich nur daran, dass eine Hand die andere wäscht. »Überlassen Sie das mir, Chef.«

Latifa sitzt am Steuer, wir sind auf dem Weg zurück durchs Valley.

»McCormack ist also blaublütig, wie?«, frage ich.

Sie nickt und wechselt vor einer steilen, scharfen Kurve den Gang. »Schotte in fünfter Generation, und genauso lange ein Arschloch.«

»Du bist auch kein Fan von ihm?«

»Warum auch? Sein Groß-Groß-irgendwas-Großvater hat meinem vor zweihundert Jahren ein fettes Stück Land gestohlen und sich nie dafür entschuldigt.«

Ich zeige auf die Landschaft. »Das gehört alles ihm?«

»Gekauft und abbezahlt.« Auf gerader Strecke in den vierten und rauf auf fast hundert bis zur nächsten Haarnadelkurve. »Der Hügel da drüben wird als Nächstes kahlrasiert.«

Ein Berg aus Kiefern, die zu Streichhölzern werden. »Verdammt, das ist wie in Der Lorax.«

»Was?«

»Ein Buch von Dr. Seuss. Hab ich meinem Jungen vorgelesen.«

»Suuhs, Buuuch. Ich liebe deinen Dialekt, Sarge. Wenn du nicht verheiratet wärst, würde ich dich wahrscheinlich sexy finden oder so.«

Die Unterweisung über den korrekten Umgang mit Vorgesetzten hat Latifa an der Polizeischule offensichtlich verpasst. »Du bist heute dran mit den Fush and Chups«, sage ich.

»Wenigstens gehöre ich hierher.« Sie hebt das Kinn. »Gleich geht's nach links zu Charlie, dem Hühnermann.«

Wir wohnen an derselben Talstraße, acht Kilometer voneinander entfernt. Ich muss x-mal an seinem Tor vorbeigekommen sein, aber wir sind uns nie begegnet. Wir halten vor einem funktionellen – ehrlich gesagt, hässlichen – Wohnhaus, auf beiden Seiten liegen Koppeln, im Hintergrund ragt düster ein halb gerodeter Abhang auf. Hühner scharren auf der Wiese – das bezeugt die Freilandhaltung –, Stunden nach Sonnenaufgang kräht irgendwo ein Hahn. In der anderen Koppel kauen ein paar unlängst geschorene Alpakas an Strohballen herum. Vor mir steht Charlie der Hühnermann. Er ist klein und behaart, zum Schutz vor Sandfliegen von Kopf bis Fuß zugeknöpft, seine Gummistiefel sind mit grauem Matsch verklebt. Er streckt die Hand aus und lächelt freundlich.

»Charlie Evans.«

»Nick Chester, Havelock Police.«

»Ich hab Sie schon gesehen, aber wir haben noch nicht miteinander gesprochen.«

»Dann sind Sie bisher wohl dem Ärger aus dem Weg gegangen.« Ich überlasse es Latifa, ihm die Situation mit McCormack zu erläutern. Sie muss ihre zwischenmenschlichen Kompetenzen trainieren.

»McCormack.« Charlie schnaubt. »Dreckskerl.«

Latifa zeigt ihm auf ihrem iPad die E-Mail. »Haben Sie die geschickt?«

Charlie liest. »Raffgieriges Arschloch. Ja, die ist von mir. Und genau das ist er.«

»Ist das Ihr Werk?« Sie zeigt ihm ein Foto des besprühten Bootes.

Er grinst. »Smaug. Gefällt mir.«

»Waren Sie das?«

»Nein.«

»Können Sie belegen, wo Sie sich wann in den letzten vierundzwanzig Stunden aufgehalten haben, Sir?« Latifa sagt das Sir so, als würde sie es nicht meinen. Wie ich aus Erfahrung weiß.

Charlie kann es belegen und tut es. Er hat auf dem Hof gearbeitet, die Hühner und Alpakas gefüttert und sich um seine bettlägerige Frau gekümmert, die an Krebs stirbt. »Bauchspeicheldrüse«, sagt er. »Wollen Sie sonst noch was wissen?«

Ich betrachte seine Gummistiefel. »Woher stammt der graue Schlamm? Ich sehe hier nur braunen.«

»Kommen Sie mit.«

Wir folgen ihm. Als wir hinter der Koppel entlanggehen, wird der Wind stärker, zirpt ein Maori-Glockenhonigfresser, brummen die Alpakas. Ich schlage nach ein paar Sandfliegen an meinem Hals und weiß, es wird später wie irre jucken. Wir halten auf einen Graben am Fuß des abgeholzten Hügels zu, der das Abwasser ableitet. Charlie dreht sich um und zeigt auf den Hügel.

»McCormacks Werk. Diese Hälfte hat der Mistkerl vor etwa einem Monat roden lassen.«

»Ernten«, sagt Latifa. »Seine Bäume, seine Ernte, sein gutes Recht. Kann ihm niemand verbieten.«

»Sollte aber jemand.« Charlie zeigt auf den Graben, der mit grauem Schlamm vom Abhang verstopft ist. »Das alles ist bei dem großen Regen vor zwei Wochen runtergekommen und hat meinen Ableitungskanal verstopft, sodass sich die Gülle über das Weideland verteilt und das Gras kaputt gemacht hat. Jetzt muss ich Stroh kaufen, um die Alpakas zu füttern. Damit ist mein halbes Einkommen durch die Hühner weg.« Er schnippt mit den Fingern. »Einfach so.«

»Haben Sie mit McCormack darüber gesprochen?«, frage ich.

»Will er nicht hören.«

»Vielleicht sollten Sie einen Anwalt einschalten?«, fragt Latifa.

»Seiner ist größer und besser. Er hat Geld wie Heu. In den nächsten ein, zwei Monaten holzen sie den Rest ab.« Charlie wirft einen letzten resignierten Blick auf den Graben. »Vielleicht ist mit ökonomischem Trickle-down-Effekt das hier gemeint.«

Latifa gibt ihm unsere Visitenkarte. »Fällt Ihnen irgendwer ein, der Mr McCormacks Boot hätte beschädigen wollen?«

»Kann sich hinten anstellen.« Er steckt die Karte ein.

Der Rest des Tages vergeht mit Papierkram. Berichte, Budgets, Rundschreiben und mehr zu beantwortende E-Mails, als ein Mensch an einem Ort wie diesem jemals erhalten sollte. Havelock, Einwohnerzahl Pi mal Daumen fünfhundert, ist dem Schild an der Stadtgrenze nach die Grünschalenmuschelhochburg der Welt. Die Wirtschaft hier besteht aus: Muscheln, Lachszucht, Schafen und Holzgewinnung. Die Bevölkerung lässt sich grob in zwei Kategorien einteilen: in die, die Natur lieben, und in die anderen, die sie lieber abschießen und häuten. Das Polizeirevier von Havelock sind zwei Personen in einer altmodischen kleinen weißen holzverschalten Baracke an der Hauptstraße. Wie haben es hauptsächlich mit dem zu tun, was schlechte oder betrunkene Autofahrer oder schlechte Trinker anrichten. Alle wissen, dass ein Sergeant eigentlich überqualifiziert ist, aber ich hatte mich geweigert, meine Gehaltsstufe zu senken, und deswegen ist es jetzt so.

In der Theorie verläuft meine Befehlskette eigentlich nach Osten über Picton, dem Fährhafen, dann südwärts durch Blenheim, der Hauptstadt von Marlborough, und westlich zum Bezirkshauptquartier in Nelson. Verbindet man die Punkte, sieht es aus wie ein Mann, der sich in der Wüste verlaufen hat. Tatsächlich arbeite ich in erster Linie dem DC in Nelson zu, denn je weniger Leute von mir wissen, desto besser. Der Polizeibezirk Tasman erstreckt sich über die gesamte Spitze der Südinsel und muss eins der landschaftlich spektakulärsten Reviere der Welt sein. Er umfasst versprenkelt liegende Dörfer und ein paar Orte, die sich als Städte bezeichnen. Es gibt entlegene Höfe, Weingüter, makellose Strände, Tausende von Höhlen und Buchten, eine Unzahl von Schlupflöchern und letzten Auswegen. Die gestauchte, fjordähnliche Küste der Marlborough Sounds erstreckt sich ausgebreitet über fast zweitausend Kilometer, das sind etwa zwei Drittel von Amerika. Passend für ein Land, das sich als Mittelerde vermarktet, wird es von fleißigen und gutherzigen Hobbits, ein paar grimmigen, mürrischen Zwergen, stolzen Elfen und vereinzelten Orks bevölkert, die die Wochenendstreifen auf Trab halten. Meistens ist es ein umwerfend schönes und friedliches Versteck.

Als ich die letzte Kurve auf der Schotterstraße vor unserem Haus umrunde, versinkt die Sonne hinter dem Hügel. Eine graubraune Wekaralle schießt aus dem Unterholz quer über die Straße. Beim Abbiegen sehe ich einen dunkelblauen Pritschenwagen auf der Auffahrt stehen, darauf zwei Bullmastiffs im Käfig. Wildschweinhunde. Sie bellen wie verrückt, und ich kann nur hoffen, dass die Käfige abgeschlossen sind. Ich habe miterlebt, was diese Hunde aus einem ausgewachsenen Wildschwein machen. Auf der Pritsche des Wagens liegen außerdem mehrere Schusswaffen, Messer, eine Kettensäge, andere Werkzeuge. Mir wird vor Angst eiskalt, ich ziehe meine Glock und gehe auf die Haustür zu.

2

Sunderland, England. Vier Jahre zuvor.

Sunderlands Motto lautet: Nil desperandum auspice Deo, frei übersetzt: Verzweifle niemals, vertraue auf Gott. Angesichts der Arbeitslosenquote, die in den letzten drei Generationen sowohl gefühlt als auch real kaum jemals unter die zwanzig Prozent gesackt ist, braucht es etwas, an dem man sich festhalten kann. Oder einen Lottogewinn. Die Werften und Kohlenzechen, die die Gegend einst prägten, sind lange verschwunden, haben Poundland und Billigbackläden Platz gemacht. Aber in der mit einem hohen Zaun gesicherten Villa im Neu-Tudorstil in einem teuren und abgeschiedenen Vorort von Cleadon ist diese harsche Realität aus den Augen und aus dem Sinn.

»Marty, hol dem Jungen ein Stella.«

Für einen mehrfachen Millionär, der seine Zeit mit Wirtschaftsbossen verbringt, ist Sammy Pritchard ein Mann von einfachem Geschmack. Nichts geht ihm über ein scharfes Curry mit kaltem Bier am Freitagabend in South Shields und eine Dauerkarte, um Sunderland mit deprimierend vorhersehbarem Ergebnis im Stadium of Light spielen zu sehen. Vor mir sitzt Sammys Gang: eine zusammengewürfelte Truppe aus Bierbäuchen, toten Augen und grausamem Humor. Sammy hält sich ein paar von uns in seiner Nähe: harte Typen, wie Marty, oder solche, die clever oder ihm nützlich sind, wie ich. Alle anderen sind bloß unnütze Idioten, über die man sich amüsieren kann.

Heute ist Filmabend, wie jeden ersten Donnerstag im Monat, wenn nichts Geschäftliches dazwischenkommt. Wir versammeln uns in Sammys ausgebautem Keller mit dem großen Bildschirm, Surround-Sound, bequemen Sesseln und vollem Kühlschrank. Manchmal läuft Comedy, von Der wilde, wilde Westen kann Sammy gar nicht genug kriegen – er liebt die Furzszene am Lagerfeuer und die, in der das Pferd geschlagen wird. Manchmal Porno: Sammy hat noch die alten Videokassetten aus den Achtzigern, als die Frisuren und Pornobalken so groß waren wie alles andere im Bild. Meistens johlen wir darüber, aber manche von uns gehen mit einem Ständer nach Hause. Vanessa mag diese Abende. Und dann ist da noch Sammys absoluter, unangefochtener Lieblingsfilm.

Marty gibt mir das Bier und zwinkert. »Alles klar, Nicky?«

»Aye, Kumpel.« Ich öffne die Dose und hebe sie hoch. »Prost.«

Sein Blick bleibt einen Moment länger an mir hängen, als er sollte. Laut Polizeiakte ist Marty Stringfellow der designierte Pate und für mindestens drei Morde und viele Körperverletzungen verantwortlich. Zwei der Ermordeten waren Straßendealer, die Sammy betrogen hatten, der ein strenges Regiment führt und sich das nicht gefallen ließ – um nicht für ein Weichei gehalten zu werden. Also schickte er Marty los, der gut mit dem Messer umgehen kann. Die Dealer wurden abgeschlachtet und auf der städtischen Müllhalde entsorgt. Der dritte Mord war eine minderjährige Ukrainerin, die Sammy einem Geschäftsmann aus Newcastle bei einem Immobiliengeschäft als Bonus geschenkt hatte. Als sie ausriss, herrschte peinliche Betroffenheit. Sie wurde mit durchgeschnittener Kehle auf der Toilette eines Nachtclubs aufgefunden, öffentlich zur Schau gestellt. Seitdem hat es keine Ausreißer mehr gegeben. Es gibt gegen Marty noch keine Beweise, aber ich werde welche finden. Hoffe ich.

Wie bin ich in Sammys inneren Kreis gelangt? Er hält mich für einen dicken Fisch in der Gefängnisverwaltung. Seit wir also die Operation vor einem Jahr eingefädelt haben, mache ich jeden Tag diesen Job, um meine Brötchen zu verdienen. Meine erste Begegnung mit Sammy fand an einem klaren Frühlingsmorgen auf dem Golfplatz in Whitburn statt, wo ich ihn dreist zu einer Wette aufforderte und ihn die hundert Pfund gewinnen ließ, aber nur knapp, sodass er dachte, er hätte sie verdient. Seitdem helfe ich Sammy in meiner angeblichen Tätigkeit als vermeintlicher Logistikguru für Vollzugsanstalten dabei, Waren für seine Freunde hinter Gittern zu schmuggeln, ihnen Wünsche zu erfüllen, ein paar Feinden wehzutun und sowohl Personal als auch Gefangene nach Sammys Wünschen zu verlegen, wenn es seinen Interessen dient. Und er bezahlt mich gut – leider landet alles in der Beweismittelschublade. Außerdem scheint er mich wirklich zu mögen.

Der Aufwand, mit dem Sammy in die Falle gelockt werden soll, ist hoch. Er ist als Kategorie 3 eingestuft. Die SOCA – Serious and Organised Crime Agency, die Abteilung für Schwere und Organisierte Kriminalität – will ihn schon seit langem hinter Gittern sehen. Ich war für diese Aufgabe ideal: bei der Greater Manchester Police auf der Überholspur und gerade von einer Fortbildung beim FBI zurück. In Sunderland hatte seit Jahren niemand mehr von mir gehört, allerhöchstens war ich noch als versoffener Student bekannt. Und vor allem war ich auf dieselbe Schule gegangen wie Sammy: Monkwearmouth – kurz Monkeyhouse, das Affenhaus. Weil ich fünf Jahre jünger bin als er, erinnert er sich nicht an mich, aber die Verbindung reicht. In seiner Akte steht: »Pritchard ist zwar ein totaler Mistkerl, kann aber erstaunlich sentimental und vertrauensvoll sein.«

»Schieb die DVD rein, Marty, guter Junge.« Wir alle kennen Martys Ehrgeiz, und Sammy zupft an seiner Leine. Er wendet sich an mich. »Wie geht's denn deinem Sohn, Nicky?«

Er meint Paulie. Ja, so tief kann ich sinken. Zur Untermauerung meiner Undercover-Geschichte benutze ich meinen Sohn mit Down-Syndrom, um einen beschissenen Sunderland-Gangsterboss zu Fall zu bringen, der am Tag seiner Verhaftung sofort durch zehn neue ersetzt wird. »Aye, super, Sammy. Freut sich wie verrückt über die Dauerkarte. Kann das Spiel gegen ManU am Samstag gar nicht abwarten.«

»Wir werden so aufs Maul kriegen.«

»Ist ihm egal. Solange er seine Pommes mit Mayo bekommt, schert ihn nicht, wo er ist, er könnte auch Newcastle United sehen.«

»Die Elstern? Scheiße. Wenn der kleine Mistkerl das tut, will ich die Dauerkarte zurück.«

»Und ich nehm ihm die Pommes mit Mayo ab.«

Sammy hebt sein Stella und grinst.

Zeit für den Film. Seit etwa sechs Monaten gehöre ich zum inneren Kreis und habe ihn schon fünf Mal gesehen. Sammy kann die Dialoge auswendig und spricht sie oft im Stillen mit, seine Lippen bewegen sich, sein Gesicht verzieht sich. Der Film heißt Bring mir den Kopf von Alfredo Garcia und ist von Sam Peckinpah, dem Sultan des Splatter. Kurz zusammengefasst: Ein amerikanischer Barmann und seine Freundin, eine Hure, begeben sich auf einen Roadtrip durch die mexikanische Unterwelt, um eine Million Dollar Kopfgeld auf einen Gigolo zu kassieren. Ich frage mich manchmal, ob Sammys Faszination daher stammt, dass der Film von einem anderen Sammy P. gedreht wurde. Nein, es steckt mehr dahinter. Brutale Rache ist sein Lebensmotto. Der Legende nach hat er in den Siebzigern bei den Seaburn Casuals mitgemischt, der Hooligantruppe von Sunderland, und sich einen Namen gemacht, indem er einem Newcastle-Fan die Augen rausdrückte. Damals muss er etwa fünfzehn gewesen sein.

Das Licht geht aus, wir machen es uns bequem.

Während des gesamten Films wirft mir Marty Stringfellow immer wieder Seitenblicke zu. Wir sind etwa gleich alt, gleich groß, gleich gebaut. Aber ich sehe wohl besser aus. Er war auch auf der Uni – Leicester. Wenn er nicht Sammy Pritchards Vollstrecker wäre, könnte er inzwischen im mittleren Management sein. Er traut mir nicht. Er identifiziert sich mit dem kopfgeldjagenden Barmann. Ich? Ich halte zu Alfredo Garcia, dem armen Gigolo.

3

Die Polizei in Neuseeland trägt normalerweise keine Schusswaffen, aber ich habe eine Sondererlaubnis – na ja, eigentlich ein Nicken und Augenzwinkern des DC. Ich entsichere die Glock und schiebe die Fliegentür auf. In der Düsterkeit bewegt sich etwas.

»Dad!« Paulie umarmt mich. Er sieht die Glock, verzieht den Mund und schüttelt den Kopf. »Die würde ich lieber wegstecken. Du weißt doch, wie Mum ist.«

Er geht vor mir her in die Küche. Dort sitzen zwei Männer mit dem Rücken zu mir, und Vanessa sieht so fröhlich aus, wie ich sie lange nicht gesehen habe. Die beiden drehen sich um und lächeln. Zwei große Maorimänner, Ende vierzig. Sie stehen auf und geben mir die Hand.

»Steve«, sagt der eine.

»Gary«, der andere. Meine Hand ist gerade noch intakt.

»Tee?«, fragt Vanessa und nimmt eine Tasse.

»Gern.« Ich setze mich neben sie.

»Steve und Gary wollen wissen, ob die Hütte zu mieten ist.«

Wir beide wissen, dass wir das Geld brauchen können. Unser Notgroschen für Paulie. »Was arbeitet ihr?«, frage ich Steve.

»Dies und das«, erwidert Gary an seiner Stelle. »Wir waren die letzten fünf Jahre in Perth, als Fernpendler, aber jetzt werden da Leute entlassen. Schöner Ort, tolle Strände, aber teuer.«

»Und scheißheiß«, sagt Steve. Dann wird ihm sein Fehler bewusst. »Tut mir leid, Missus. Wegen dem Ausdruck.«

Vanessa hat mir Tee eingeschenkt. »Wir haben schon Schlimmeres gehört.«

»Scheiße, echt wahr«, sagt Paulie und hebt seine Coke-Zero-Dose.

Das löst die Spannung. Alle lachen, sogar ich. »Und jetzt?«

Wieder Gary. »Gelegenheitsjobs, Reparaturen, Zäune ziehen, Bäume fällen. Was gerade kommt.«

Ich trinke einen Schluck Tee. »Und die Waffen und Hunde?«

»Wir jagen manchmal. Und verkaufen das Fleisch.«

»Wir dachten an ein, zwei Monate«, sagt Vanessa. »Mal sehen, wie's läuft.«

Wir? »Seid ihr in den letzten paar Nächten hier vorbeigefahren?«

»Ja«, sagt Gary. »Tut uns leid, wenn wir euch erschreckt haben. Wir haben oben bei Butchers Flat gezeltet, aber dann haben wir von der Hütte hier gehört.« Er zeigt auf das Abzeichen an meiner Uniform. »Mussten erst den Mut aufbringen.«

Ich bin erleichtert. Ich und meine Paranoia. Vanessa scheint die Idee zu gefallen, und wenn Sammy Pritchard doch jemanden schickt, ist es vielleicht gut, die beiden hier zu haben. Ich deute über meine Schulter. »Ich will keine Hunde und Waffen auf dem Grundstück haben.«

»Kein Problem. Wir können sie bei jemandem weiter unten lassen.«

»Die nehmen die Hunde, aber nicht euch?«

»Das Grundstück ist nicht so groß wie Ihres«, sagt Gary. »Gibt nicht genug Platz.«

Wir einigen uns auf einen Preis und schütteln die Hand darauf. Gary zahlt die Miete für den ersten Monat in bar. Ich stopfe die Scheine in mein Portemonnaie. »Quittung?«

»Nicht nötig«, sagt Gary.

»Wie lauten Ihre Nachnamen? Das brauche ich für die Steuer.« Eine Lüge, wie alle wissen.

»McCaw.« Gary buchstabiert es.

»Lomu.« Steve ebenso. McCaw und Lomu. Rugbylegenden der All Blacks, Allerweltsnamen. Ihre Augen funkeln. Kaufst du's uns ab?

Wir haben Lügen ausgetauscht. Ich belasse es dabei. »Wenn es aus irgendeinem Grund nicht funktioniert, bekommen Sie Ihr Geld zurück.«

»Klingt fair«, sagt Gary.

Sie fahren los, um die Hunde und Waffen abzugeben und ihre Taschen zu holen.

»Schöne Augen«, sagt Vanessa.

»Steves oder Garys?«

»Deine.« Sie drückt meine Hand. Wir setzen Paulie vor die PlayStation und gehen nach oben ins Bett.

Erneut klingelt in aller Frühe das Telefon. Wenn es wieder um McCormack und sein verdammtes Boot geht, dann fließt Blut, das schwöre ich.

»Bist du wach?«, fragt Latifa.

»Was ist?«, knurre ich.

»Der DC will, dass du reinkommst.«

»McCormack?«

»Diesmal nicht. Der verschwundene Junge ist heute Morgen gefunden worden. Der aus Nelson.«

»Lebt er?«

»Nein. Er wurde auf unserem Gebiet gefunden. Am Schuhzaun vor der Stadt.« Ihre Stimme bricht. »Er ist echt übel zugerichtet.«

Wenn man von Havelock auf dem State Highway 6 – der nach Blenheim und zu den Weinbergen führt – nach Süden fährt, kommt nach etwa zwei Kilometern zur Linken ein Zaun. Drei Drähte, zwischen Holzpflöcken gezogen, grasende Schafe und rundherum grüne Hügel. Der Zaun zieht sich vielleicht einen Kilometer an der Straße entlang, doch die Schuhe hängen nur auf einem Abschnitt von hundert Metern: kleine Kinderschuhe mit rosa Sternchen und Glitzer, Sportschuhe, Hochzeitsschuhe, Tanzschuhe, Sonntagsschuhe, Fußballschuhe, alles Mögliche. Es müssen tausend Paare sein, die da an ihren Senkeln hängen. Ich habe keine Ahnung, wie es angefangen hat. Vielleicht hat es auf diesem berüchtigten Straßenabschnitt einen Autounfall gegeben und Menschen sind ums Leben gekommen, und vielleicht hat jemand zur Erinnerung ein Paar Schuhe aufgehängt. Vielleicht wurden andere dazugehängt, aus Trauer über dieses Ereignis. Und noch mehr, aus Trauer über andere Ereignisse. Aber höchstwahrscheinlich hängen sie völlig ohne Grund da, nur um dazuzugehören, irgendwo hinzugehören: Havelocks Antwort auf Facebook.

Auf der Hälfte des Zauns ist ein weißes Zelt aufgestellt worden, Polizeiband flattert im Wind. Polizisten bewachen die Umgebung und sperren die Straße, Latifa fordert ein paar Gaffer auf, sich zu verziehen. Tatortermittler in weißen Overalls suchen den Boden ab und machen Fotos. Detectives mit Klemmbrettern in der Hand sprechen mit Anwohnern oder versuchen, ein Handynetz zu finden. Sie werden Glück brauchen, hier draußen gibt es große Lücken. Die Sonne hängt irgendwo hinter Regenwolken, in spätestens einer Stunde werden alle Regensachen überziehen. Sogar der DC ist vor Ort, die Polizeiwindjacke spannt über seinen breiten Schultern. Er ruft mich zu sich, um mir einen der Detectives vorzustellen.

»Nick, das ist Detective Inspector Marianne Keegan. Aus Wellington herbeordert. Sie hat das Sagen.«

Wellington?, denke ich. Die Detectives von Tasman und Marlborough sind wohl alle im Urlaub, wie? Wir geben uns die Hand und sagen Hallo. Sie hat kräftige Gesichtszüge und sieht aus, als würde sie sich fit halten. Ihre Hand ist kühl und glatt, der Griff fest. In ein paar Jahren spielt sie sicherlich in der oberen Liga mit, der DC nähert sich langsam dem Pensionsalter. Sie bedankt sich für die Unterstützung meines Teams – das sind Latifa und ich – und bittet um eine Liste der Anwohner, mit denen man reden sollte, entweder weil es allwissende Klatschmäuler sind, oder weil sie als Verdächtige infrage kommen. »Hier draußen«, sagt sie, »wohnen doch bestimmt eine Menge Leute, die irgendwas zu verbergen haben.«

Ich nehme den Hauch eines Liverpool'schen Einschlags aus alter Zeit wahr. »Scouser?«

»Ja, war ich mal, jetzt bin ich Polizistin. Die Liste bitte schnellstmöglich, ja?« Sie geht und gibt einem Jungspund Anweisungen.

»Haben Sie den Bootbeschmierer schon gefunden?«, fragt der DC.

»Nein. Was wissen wir über das Kind?«

»Jamie Riley, sechs. Aus Stoke, auf der anderen Seite von Nelson. Gute Familie, dem Vernehmen nach ein netter Junge. Er ist nach dem Schwimmunterricht drüben in Richmond nicht nach Hause gekommen. Vorletzten Montag. Wir haben die Eltern und die Verwandten und Freunde überprüft, alle haben Alibis. Sie sind völlig am Boden zerstört. Begreifen nicht, was ihnen passiert ist.«

»Wie ist er gestorben?«

»Der Hals wurde gebrochen. Aber es gibt noch andere Verletzungen. Jemand hat ihn eine Woche lang in seiner Gewalt gehabt.« Er wendet sich mir zu, sieht wütend aus. »Gibt's hier irgendwen, der oben auf Ihrer Liste stehen würde?«

»Spontan fällt mir niemand ein. Es gibt ein paar Voyeure und Exhibitionisten, aber soweit ich mich erinnere, steht in keiner Akte was von Gewalt.«

»Laden Sie sie trotzdem vor. Vielleicht wissen sie was. Vielleicht haben sie sich weiterentwickelt.« Er betrachtet den Bildschirm seines trällernden Handys. »Und halten Sie mich über die Sachbeschädigung auf dem Laufenden.«

Ich verbringe die nächsten Bürostunden damit, für Detective Inspector Keegan eine Liste armer Wichser und Wichtigtuer anzufertigen, schicke sie ihr per Mail und biete an, dass entweder ich oder Latifa ihr Team begleiten, wenn Unterstützung durch die lokale Polizei nötig erscheint. Sie bedankt sich. Zur Mittagszeit habe ich Hunger und drehe Däumchen. Nicht das, was ich an einem Tag, an dem in meinem Revier ein ermordetes Kind aufgefunden wird, erwartet hätte. Das Telefon klingelt.

»Sergeant Chester?«

»Am Apparat.«

»Jessie James vom Journal. Latifa meinte, ich sollte mit Ihnen sprechen?«

»Weswegen?«

»Wegen des Mordes natürlich.«

»Sie müssen sich an die Presseabteilung wenden.«

»Ich bin nicht hinter einer Story her, Sie Dummerchen. Ich habe einen Tipp für Sie.«

»Ich höre.«

»Da draußen in den Sounds lebt ein Typ. Man kommt nur mit dem Boot hin. Er hat eine Vorgeschichte.«

»Was für eine Vorgeschichte?«

»Kinder. In Australien. Er stammt aus Perth.«

»Woher wissen Sie von ihm?«

»Mein Freund arbeitet auf dem Postboot. Er kommt auch aus Perth. Vor ein paar Monaten dachte er, der Typ kommt ihm bekannt vor. Er hat den Namen von der Post abgelesen und gegoogelt. Volltreffer. Nach dem, was heute Morgen passiert ist, dachte ich mir, Sie würden Bescheid wissen wollen.«

Ich greife nach einem Stift. »Erzählen Sie.«

Der Regen ist herangerauscht, der Wind weht stärker. Das Polizeiboot aus Picton hat uns abgeholt, und so rumpeln wir an diesem nassen Mittwochnachmittag weit draußen im Pelorus Sound gegen die Wellen an: Marianne, zwei ihrer Ermittler, eine Handvoll Ninjas von der Bewaffneten Einheit und ich. Buchten und Inseln ragen aus dem Wasser, Zufluchtsorte für bedrohte prähistorische Echsenarten und Vögel, die nie das Fliegen gelernt haben. Als wir uns Patrick Smiths abgelegener Bucht nähern, schwimmt eine Delphinschule neben uns her. Ein Hubschrauber schwebt über dem Ferienhaus, eine Holzhütte, die sich in die Furchen eines Hügels schmiegt.

Patrick begrüßt uns am Anleger, zu seinen Füßen sitzt ein schwarzes, behaartes Schwein wie ein Hund. Er sieht eigentlich nicht nach Kinderschänder aus, jedenfalls auch nicht mehr als alle anderen in Marlborough. Ich frage mich, ob die Ninjas wirklich notwendig waren, aber die Kollegen in Perth haben uns vor Patricks Jähzorn gewarnt. Oder sich einen Spaß erlaubt.

»Patrick.« Marianne steigt auf den Anleger. Er hält ihr die Hand hin, sie ignoriert es. Ich kann sie verstehen. Man gewöhnt sich nie daran, einem Kinderschänder die Hand zu geben.

Nachdem der Hubschrauber dafür gesorgt hat, dass Smith nicht abhaut, während wir auf dem Weg zu ihm sind, fliegt der Pilot davon, zum nächsten Job oder zurück in die Basis auf eine schöne Tasse Tee.

»Sie wollen sicher mit nach drinnen ins Warme kommen«, sagt Patrick. Er ist mittleren Alters, wirkt völlig unauffällig und klingt genau wie der Privatschullehrer, der er einst war. Zwanzig Jahre lang hat er an einer der angesehensten Schulen in Perth unterrichtet, man denke an all die Eltern, die teuer dafür bezahlt haben, dass Patrick an ihren kleinen Jungs herumspielt. Es gab zwar über die Jahre einige Beschwerden, aber die Schule hat alles unter den Teppich gekehrt, bis es nicht mehr tragbar war und Patrick gegen eine schöne Abfindung entlassen werden musste. Ohne den Ermittlungsausschuss hätte er sich nicht hier verkriechen müssen, und Jessie James' Freund hätte ihn nicht erkannt. Die Anschuldigung, dass er bei einem der Jungen körperliche Gewalt angewendet hätte, hat Mariannes Interesse geweckt. Sie stakst auf den Strand zu, das große Schwein kaut einen Keks, aus seinem Maul tropft Speichel.

»Es hört auf Blondie«, sagt Patrick, der meinen Blick bemerkt.

»Aber es ist schwarz.«

»Das weiß es nicht. Es ist nicht durch menschliche Erwartungen belastet.«

»Sie werden drinnen erwartet.«

Wir sitzen an einem Küchentisch aus Kiefernholz in einem wohnlichen, vollgestopften Zimmer mit Blick auf das Naturreservat. Ein Holzofen knistert vor sich hin, im Kessel kocht Wasser, aber niemand will etwas. Die Ninjas warten draußen und rauchen.

»Wir müssen Sie aufs Revier mitnehmen, Patrick. Und Ihnen eine Speichelprobe abnehmen und ein paar Fragen stellen.« Marianne schaut sich im Zimmer um. »Haben Sie was dagegen, wenn wir uns umsehen?«

»Bleibt mir eine Wahl?«

»Nein.« Sie lächelt kühl. »Vielleicht packen Sie ein paar Dinge zum Übernachten ein.«

Sie stellt mich dazu ab, ihm beim Packen zuzusehen, während die anderen die Hütte auseinandernehmen. Patrick faltet ein paar Hemden zusammen, der Regen trommelt ans Fenster.

»Selbst an einem Ort wie diesem entkommt man seiner Vergangenheit nicht«, sagt er, während er Unterwäsche, Socken und Waschzeug in einer Reisetasche verstaut.

»Tja«, sage ich.

»Ich will Ihnen nicht zu nahe treten, aber Sie wirken ein bisschen zu alt dafür.«

»Zu alt wofür?«

»Für mich den Babysitter zu spielen, während andere die richtige Polizeiarbeit erledigen.«

»Sie kennen sich wohl aus damit, ja?«

»In Perth habe ich das alle paar Wochen mitmachen müssen. Dann hat es mich in Adelaide eingeholt. Danach in Hobart.«

»Soll ich Mitleid haben?«

»Nein. Aber normalerweise passt einer der Jüngeren auf mich auf.«

Ich trete an ihn heran. »Sind Sie fertig?«

»Muss schwer sein, nicht mehr im Mittelpunkt zu stehen.« Er schließt die Tasche. »Ich kann mir das gut vorstellen.«

Bis wir zurück in Havelock sind, ist es später Nachmittag und wird langsam dunkel. Patrick ist zur Vernehmung ins Gefängnis im dreißig Kilometer entfernten Blenheim gebracht worden. Bevor ich Feierabend mache, gebe ich meine beiden Mieter Gary McCaw und Steve Lomu ins System ein, und drei Mal dürft ihr raten? Sie existieren nicht. Warum habe ich sie auf mein Grundstück ziehen lassen? Vanessa mag sie, und ich bin anscheinend bereit, alles, und sei es noch so blöd, zu tun, um sie bei Laune zu halten. Ich mache mich auf die achtzehn Kilometer lange Heimfahrt durch das Wakamarina Valley. Es gibt in der Stadt eine Polizeiwohnung, aber ich habe mich dagegen entschieden, und jetzt wohnt Latifa dort. Wenn ich aus irgendeinem Grund über Nacht bleiben muss, gehe ich ins Motel oder benutze ein Klappbett mit Schlafsack im Büro. An der Abzweigung nach Canvastown, benannt nach dem alten Bergbaulager aus Goldrauschzeiten, stehen ein paar Autos vor dem Trout Hotel, an dessen Fassade seit über einem Jahr ein Zu-Verkaufen-Schild hängt.

Ich sehe Charlie Evans, der gerade mit den Alpakas beschäftigt ist und Heu verteilt. Wir winken uns zu. Je weiter man rausfährt, an den Hobbyfarmen und Wochenendhäusern vorbei, desto abgeschiedener, schöner und wilder wird es. Als ich schließlich auf unsere Auffahrt abbiege, steht der dunkelblaue Pritschenwagen vor der Hütte, und ich frage mich wieder, ob es klug war, Steve und Gary in unser Leben zu lassen. Sie grillen irgendetwas hinter der Hütte, trinken Bier und nicken mir zu. Im Haus schaut Paulie Spongebob im Fernsehen, und Vanessa summt vor sich hin, während sie in der Küche Suppe kocht.

»Riecht gut.« Ich lege meinen Arm um ihre Hüfte, sie lässt es zu.

»Danke. Die Suppe sollte auch gut sein.«

»Wie war's heute?«

»Ruhig. Paulie war mit den Jungs zusammen. Gary zeigt ihm morgen, wie man Aale fängt.«

»Ist das eine gute Idee?« Die Aale hier können dick wie mein Arm und doppelt so lang werden. Paulie kriegt Angst, und dann haben er und wir tagelang damit zu tun.

»Gary kommt gut mit ihm klar. Er hat einen Bruder, der auch so ist.«

»Okay.« Ich mustere sie. »Du wirkst glücklich?«

»Es ist schon fast besorgniserregend, zwei Tage hintereinander ein Häkchen im Kalender.« Sie hat recht. Seit unserer Ankunft hat es nichts als Kreuze gegeben. Jeden Tag in der oberen linken Ecke des Datums, in den Kalendern der letzten beiden Jahre, nichts als Kreuze. »Was ist mit dir? Ich hab's in den Nachrichten gehört, der kleine Junge, die armen Eltern.«

»Schlimm. Wir haben jemanden festgenommen, aber ich glaube nicht, dass er es war.«

»Wen?«

»Einen Typen, der draußen in den Sounds wohnt. Er hat in Australien eine Vorgeschichte.«

»Hoffentlich war er's. Dann ist es schnell vorbei.«

»Das wäre schön.«

»Warum glaubst du nicht, dass er es war?«

»Zu sehr der Typ armer Wichser. Der Typ, der das getan hat, ist viel abgebrühter.«

Sie wirft einen warnenden Blick in Paulies Richtung. »Wir brauchen Holz für den Ofen. Geh und mach dich nützlich.«

Nach draußen zum Holzhacken. Nachdem ich eine Schubkarrenladung zusammengehackt habe, höre ich hinter mir den Kies knirschen. Ich fahre herum. Es ist Steve. Mit einem Messer. Ich packe die Axt fester, schätze die Distanz und die Schwingbögen ab.

»Kann ich um einen Gefallen bitten?« In der anderen Hand hält er einen Schleifstein, an dem er das Messer reibt.

»Nur zu.«

»Wir gehen heute Nacht auf Schweinejagd. Ich wollte fragen, ob es okay ist, wenn wir das Schwein in dem leeren Schuppen ausnehmen und häuten?«

Ich sehe vor mir, wie Paulie aus Versehen in die Szene hineinplatz. »Eher nicht. Wegen des Jungen.«

»Ihre Frau hat erwähnt, dass er morgen in der Schule ist. Wir können die Tür über Nacht mit einem Vorhängeschloss sichern. Bis er nach Hause kommt, ist alles gesäubert, abgespritzt und weggeräumt.« Eine Pause. »Ihr schien es recht zu sein.«

»Ich bin bei der Arbeit.« Ich zucke die Achseln und nicke. »Wenn Vanessa nichts dagegen hat, soll es mir recht sein.« Ist es aber nicht, und er weiß es. Ich mag nicht gegen meine Frau ausgespielt werden. Bilde ich mir das nur ein, oder findet er das Ganze irgendwie amüsant?

»Danke, Nick«, sagt er. »Ich weiß es zu schätzen. Wenn Sie morgen Abend nach Hause kommen, ist Schweinefleisch im Kühlschrank.«

»Danke.«

»Schlimme Sache in der Stadt, hab ich gehört.«

»Ja.«

»Hoffentlich finden Sie den Mistkerl bald. Wir können die Hunde auf ihn ansetzen.«

»Ich schau mal, was ich machen kann.«

»Diese Typen kommen immer wieder damit durch.« Er wendet sich zum Gehen, klopft mit dem Messer gegen seinen Oberschenkel. »Latifa findet, Sie sind in Ordnung.«

Wohlwollen von meiner Untergebenen. Hab ich ein Glück. »Wie schön. Woher kennen Sie sie?«

»Latifa kennt jeder.«

Mitten in der Nacht höre ich den Pritschenwagen vor dem Schuppen halten. Leises Gemurmel und Keuchen beim Heben und Schleppen. Ein Fluch und ein Kichern. Das Klirren einer Kette am Dachbalken. Vielleicht bilde ich mir nur ein, das Aufplatschen der Schweineinnereien auf dem Boden zu hören. Der Wasserschlauch. Der Schuppen wird gegen Paulies Neugier geschützt und abgeschlossen. Ich kuschele mich an Vanessa, und sie drückt sich gegen mich, schiebt meine Hand auf ihre Brust. Als ich die Augen schließe, sehe ich aus der aufgeschlitzten Schweinekehle Blut tropfen.

4

Vor etwa hundert Millionen Jahren ist Neuseeland von Gondwana abgebrochen, auf seiner eigenen tektonischen Scholle davongetrieben und hat sich in einer kalten Ecke des Pazifiks festgesetzt, unbehelligt von den Raubtieren, die sich auf dem Superkontinent entwickelten. Die Vögel lernten nie zu fliegen, weil es nicht nötig war. Tuatara huschten durch das Dickicht, ohne zu ahnen, dass ihre Dinosauriergenossen Millionen Jahre zuvor von einem auf die schiefe Bahn geratenen Kometen ausgelöscht worden waren. Schnecken und Käfer wuchsen auf Faustgröße heran. Neuseeland war die Arche Noah der seltsamen Kreaturen, lange vor Noah. Dann kam vor ungefähr achthundert Jahren der Mensch, und alles ging den Bach runter. Wir sind eine zerstörerische und gnadenlose Spezies und haben viel auf dem Kerbholz. Das geht mir durch den Kopf, als ich an den gerodeten Hügeln, die der sanfte Nieselregen aufweicht, vorbeifahre. Es geht mir durch den Kopf, als ich mir das in meinem Schuppen aufgehängte Schwein vorstelle, dessen Blut im Boden versickert. Und es geht mir durch den Kopf, als ich wieder im Mobilnetz bin und mein Handy einen verpassten Anruf von Marianne Keegan anzeigt, die die ganze Nacht lang Patrick Smith bearbeitet hat.

»Nichts?«, frage ich, als ich zurückrufe.

»Nichts. Das Haus ist sauber. Die Computer auch. Und bisher gibt es keine Spuren, die ihn mit dem Fundort in Verbindung bringen. Ein paar fragwürdige Flecken auf dem Bettlaken, aber das kann ich von meinem vierzehnjährigen Sohn auch sagen.«

»Und er kann nachweisen, wo er sich im fraglichen Zeitrahmen aufgehalten hat?« Wir haben Zeugen, die am Fundort vorbeigefahren sind und das Ablegen der Leiche auf die letzten beiden Nachtstunden vor der Dämmerung eingrenzen können, und außerdem welche, die Jamie Riley noch gegen halb fünf am Montagnachmittag an der Schwimmhalle gesehen haben.

»Nein, aber das muss er auch nicht, oder? Es ist unsere Aufgabe, seine Anwesenheit nachzuweisen.«

Warum erzählt sie mir das, dem Hinterwäldlerbullen aus Havelock?

»Lassen Sie ihn gehen?«, frage ich.

»Noch nicht. Wir müssen noch ein paar Tests machen. Und vielleicht meldet sich ja als Antwort auf unsere Gebete noch irgendein Zeuge.« Sie schnauft. »Laut Obduktion hatte der Junge genug Rohypnol im Blut, um einen Elefanten lahmzulegen. Hoffentlich war er in den letzten schrecklichen Stunden seines Lebens betäubt.«

Ein schwacher Trost. Ich kann mich nicht länger beherrschen. »Warum erzählen Sie mir das?«

Eine Pause. »Sie haben es gleich gewusst, stimmt's? Sie haben gewusst, dass es nicht Smith war.«

»Das war kein Kunststück.«

»Ich hab Sie überprüfen lassen, ein Kollege von mir in Wellington hat das übernommen.«

»Und?«

»Nichts. Sie haben keine Vorgeschichte. Aber tauchen wie aus dem Nichts in einem winzigen Provinznestrevier auf und kassieren das Gehalt eines Sergeant.«

»Qualität hat seinen Preis.«

»Sind Sie ein Test?«

»Was?«

»Testen Sie mich?«

So geht es einem, wenn man in einem großen Büro in einer Stadt wie Wellington arbeitet: Man überschätzt die eigene Bedeutung. Ich möchte ihr gerne sagen, dass sich die Welt nicht allein um sie dreht, dass sie Paranoia und Soziopathie den Verbrechern überlassen solle. »Wie gesagt, das war kein Kunststück. Ich hatte einfach einen guten Riecher.«

»Ich finde noch raus, wer Sie sind.«

Das Gespräch bricht ab, der Regen hört auf, und die Sonne kommt zum Vorschein.

Zwei von Mariannes Untergebenen aus Wellington, beide vor der Zeit kahl und untersetzt, erwarten mich auf dem Revier. Sie stellen sich vor: Benson und Hodgson. Mein Hirn speichert sie als Benson und Hedges, und ich weiß, dass ich das nie wieder ändern kann. Marianne will, dass ich sie begleite, um die armen Wichser und Wichtigtuer auf der Liste zu überprüfen. Sie will mich beschäftigen und quasi unter ihrer Aufsicht haben. Wäre ich von Büropolitik vergiftet und würde ihre dunklen Gedanken denken, würde ich das Gleiche tun. Also wieder los, raus auf die Straßen und in die hohlen Gassen von Marlborough. Ich bin unschlüssig, mit wem ich zuerst nicht reden will – Wichser oder Wichtigtuer –, aber Benson nimmt mir die Entscheidung ab. Hinter der Schule in Havelock wohnt eine Frau, die Teilzeit in der Touristeninfo arbeitet. Passt zu ihr.

»Christine, haben Sie kurz Zeit?«

Sie hat den Wasserkocher angeworfen, als hätte sie uns erwartet. Ich stelle ihr Benson und Hedges vor. Sie gibt uns Tee und Anzac-Kekse und tratscht darüber, wer Drogen verkauft und wer illegal auf McCormacks Firmenland jagt.

»Aber das ist Ihnen ja alles bekannt, nicht wahr?«, sagt sie bedeutungsvoll an mich gewandt.

Steve und Gary. Sie ist ihnen bereits auf der Spur.

»Waren irgendwelche Fremden in der Stadt, die in der Touristeninfo seltsame Fragen gestellt haben?«

»Leider nein. Wir hören jeden Tag seltsame Fragen, aber in letzter Zeit hat mich nichts schaudern lassen.«

»Ihr Informantennetzwerk hat keine Gerüchte oder Theorien ausgespuckt?«

»Wenn mir was einfällt, rufe ich Sie an.«

Christine von der Touristeninfo hat mir also ihr Missfallen an meinen neuen Mietern untergejubelt, sich aber für die Ermittlung als völlig nutzlos erwiesen. Danach fahren wir nach Westen, an der Pelorus Bridge vorbei und in Richtung Rai Valley, eine beeindruckende Schlucht, vor der Touristen Schnappschüsse machen.

Ich beschließe, mich gesellig zu zeigen. »Kennen Sie die Szene in Hobbit 2, wo die Zwerge in Fässern den Fluss runterschießen? Die wurde hier an der Pelorus Bridge gedreht.«

Hedges wirft mir im Rückspiegel einen Blick zu. »Wo kommt denn der Dialekt her? Außer ›Hobbit‹ und ›Pelorus‹ hab ich nichts verstanden.«

»Nee? Sorry.«

Wir fahren schweigend weiter.

Der echte Gollum von Rai Valley lebt gefährlich nahe an der Schule: Michael Flower. Der Name verstärkt den Gruselfaktor nur. In Michaels Strafakte steht, dass er jungen Mädchen in Nelson und Christchurch im öffentlichen Nahverkehr unter die Röcke fotografiert hat. Er wohnt in einem penibel aufgeräumten, sterilen Haus, auf dem Bildschirmschoner seines Computers streckt das kleine Mädchen aus ET ihrem außerirdischen Freund den Finger entgegen. Für die fraglichen Zeiträume hat er Alibis: Als Jamie Riley verschleppt wurde, hat er seine Mutter im Altersheim in Christchurch besucht, als Jamie gefunden wurde, befand er sich auf der Bluebridge-Fähre auf dem Rückweg aus Wellington.

»Hämorrhoiden.« Er rutscht auf dem Stuhl herum. »Die Ärzte kümmern sich nächste Woche darum. Sammeln sie ein, brennen sie ab und schicken sie ins Nirwana.«

»Das lässt sich doch bestimmt hier vor Ort machen?«, fragt Benson. »Sie müssen doch sicher keine Bootsreise antreten, um die Dinger ernten zu lassen?«

»Lange Warteliste. Ich lasse es privat machen. Mum bezahlt.«

Und so geht der Tag weiter. Wichsern auf den Zahn gefühlt, Wichtigtuer abgehakt, Benzin verbraucht. Der Letzte auf der Liste ist ein ehrenamtlicher Helfer, der draußen im Naturreservat in den Sounds versucht, ein paar flugunfähige Vögel vorm Aussterben zu bewahren. Und wir haben einen Volltreffer.

»Ja, ich hab auf ein schlüpfendes Küken gewartet und nachts hier gezeltet. Geschlüpft ist nichts, aber ich hab drüben auf Paddy Smiths Anleger Licht und Bewegung gesehen.«

»Um wie viel Uhr?«

»Gegen vier Uhr morgens. Normalerweise ist er kein Frühaufsteher.«

»So viel kriegen Sie von ihm mit?«

»Ich warte seit sechs Wochen darauf, dass das verdammte Ei platzt. Sonst gibt's hier ja nicht viel zu sehen, oder?«

Marianne Keegan ist mit unserer Arbeit zufrieden, hat heute selber einen kleinen Durchbruch erlebt und knöpft sich Patrick Smith mit frischer Energie vor. Vielleicht hat sie ja doch recht, und ich irre mich. Was kann man mehr verlangen? Sie ist forsch, flink und knackig, und ich bewundere ihre Haltung – eine gefährliche Frau, die darauf aus ist, mein Geheimnis zu entdecken. Zur Belohnung erlaubt sie uns sogar, nebenan per Videolink zuzugucken. Benson und Hedges lehnen ab, sie haben viel zu tun. Ich wickle ein Kantinensandwich aus und mache es mir im Videoraum bequem. Patrick hat inzwischen juristischen Beistand bekommen, eine junge Frau von der öffentlichen Rechtsberatung – macht einen netten Eindruck. Das Tonband nimmt auf, und ein Untergebener schreibt Notizen. Marianne wirft einen letzten Blick in die Akte und klappt sie zu.

»Mr Smith, vorletzte Nacht gegen vier Uhr morgens war ein Boot an Ihrem Anleger. Erzählen Sie mal.«

Er zuckt die Achseln. »Keine Ahnung. Ich habe geschlafen.«

»Licht. Bewegungen, Menschen. Ihre Hütte steht keine fünfzig Meter vom Anleger entfernt.«

»Ich habe einen festen Schlaf.«

»Der Lärm und die Aktivitäten wurden von jemandem in fünfhundert Meter Entfernung bemerkt.«

»Wie gesagt.«

Sie klatscht einen Ausdruck auf den Tisch. »Das ist das Boot, das gegen vier Uhr gesehen wurde, als es Ihren Anleger verließ. Können Sie den Namen und die Registrierungsnummer lesen?«

»Caravaggio.« Er liest die Nummer vor. »Das ist mein Boot.«

Die Anwältin runzelt die Stirn. »Ihr Zeuge hat ja bemerkenswert gute Augen, wenn er aus fünfhundert Metern Entfernung im Dunkeln eine Bootsnummer erkennen kann.«

»Er ist Vogelbeobachter. Er hat ein Fernglas. Und am Boot war Licht.« Marianne wendet sich wieder an Patrick. »Wo ist das Boot jetzt?«

»Ich weiß es nicht. Manchmal borgt es jemand. So sind wir da draußen in den Sounds. Man hilft einander aus.«

»Gibt es wen, der sich das Boot regelmäßig borgt?«

Patrick wirft ihr ein paar Namen zu. Der Untergebene schreibt sie auf.

Die Anwältin unterdrückt ein Gähnen. »War's das? Sie halten meinen Mandanten jetzt seit fast dreißig Stunden fest, er hat umfassend kooperiert und Ihre Fragen beantwortet.«

Marianne lächelt. »Haben Sie noch ein bisschen Geduld mit mir.« Sie blättert wieder durch die Akte und zieht ein Blatt Papier hervor. »Mr Smith, kennen Sie einen Jungen namens Denzel Haruru?«

»Jungen? Er ist fünfzehn. Gebaut wie ein Rugbyspieler. Und …«

»Er ist minderjährig.«

»Und wie ich gerade hinzufügen wollte, er entdeckt seine Sexualität.«

»Wie all die anderen Jungen an Ihrer schicken Schule damals, hm? Wenn ich für jedes Mal, das mir jemand wie Sie so etwas sagt, einen Dollar haben könnte.«

Die Anwältin schüttelt den Kopf. »Das ist ein Trick. Ich rate meinem Mandanten zu schweigen.«

Patrick tätschelt ihren Arm und nickt in Richtung Akte. »Was ist mit ihm? Was hat er gesagt?«

»Er hat gesagt, Sie hätten ihn sexuell missbraucht und ihm mit Gewalt gedroht, wenn er jemandem davon erzählt. Und dass Sie gesagt hätten, dass Sie so was schon mal gemacht hätten und es wieder tun würden.«

Patrick bellt ein Lachen heraus. »Der Junge kann auf sich selbst aufpassen. Wenn ich versuchen würde, ihn gegen seinen Willen anzufassen, würde er mir den Hals brechen. Völlig absurd.«

»Er sagt, Sie sagen.« Die Anwältin sammelt ihre Sachen zusammen und steht auf. »Das ist lächerlich. Wir gehen.«

Patrick zuckt die Achseln und grinst. »Wie mir geraten wird.«

»Setzen Sie sich, alle beide. Ich bin noch nicht fertig.«

Sie setzen sich. Die Anwältin hält ihren Mantel und ihre Tasche auf dem Schoß. Sie macht keine Anstalten, noch etwas aufzuschreiben.

Patrick wirkt immer noch belustigt. »Nur damit Sie es wissen, ab jetzt heißt es nur noch ›kein Kommentar‹.« Er nickt seiner Anwältin zu. »Wie mir geraten wurde.«

Marianne wirft einen Blick auf die Wanduhr. Sie weiß nicht weiter. Ich bin enttäuscht. Ich hatte ein bisschen Wellington'sche Hexerei erwartet. »Sie können gehen, Mr Smith.« Marianne wendet sich an die Anwältin. »Wir werden uns sehr bald wieder mit Ihrem Mandanten unterhalten wollen.«

»Da bin ich ja gespannt«, sagt die Anwältin.

Als ich endlich nach Hause fahre, ist es schon dunkel. Motten und andere Insekten flattern durch das Scheinwerferlicht. Der Regen hat aufgehört, aber ein kräftiger Wind schüttelt die Bäume. Frösche hüpfen über die Straße, Äste liegen auf dem Boden. In der letzten Kurve höre ich unten den Fluss. Zu Hause und in der Hütte brennt Licht. Als ich meine Stiefel an der Matte abwische und die Tür aufschiebe, höre ich Paulie weinen.

»Was ist los?«

Vanessa kniet vor ihm und tröstet ihn. Sie dreht sich um. »Sie haben heute im Fluss einen Aal gefangen. Paulie hat gesehen, wie Gary ihn zum Abendessen zubereitet hat. Das war ein Schock, stimmt's, mein Schatz?«

Paulie nickt und seufzt ein paarmal tief.

»Ich wusste, dass das nicht gut geht.«

»Was?«

Ich zeige hinter mich. »Mit den Jungs. Wir können so was nicht brauchen.«

Vanessa sieht mich an, als wäre ich ein Idiot. »Beruhig dich, Liebling. Es hat schon Schlimmeres gegeben.«

»Ja«, sagt Paulie und sieht mich ganz genauso an. »Beruhig dich, Dad.«

Ein Klopfen an der Tür. Es ist Gary, er wirkt besorgt. »Paulie, alles gut, Kumpel?«

»Alles klar, Alter«, sagt Paulie.

Gary grinst. »Das ist gut. Wenn du das nächste Mal zu uns in die Hütte kommst, klopf kurz oder ruf, okay? Dann gibt's keine bösen Überraschungen.«

Paulie hält den Daumen hoch. »Alles klar.«

Ich gehe mit Gary nach draußen. »Habt ihr euer Schwein geschossen? Ich hab euch letzte Nacht zurückkommen hören.«

»Ja, und alles ist wieder sauber, als wäre nie was gewesen. Wollen Sie nachsehen?«

»Ich glaube Ihnen.«

»Der Schlachter macht gerade Hacksteaks daraus. In ein paar Tagen bekommen Sie welche.«

»Toll.« Ich zeige aufs Haus. »Paulie mag Sie.« Und Vanessa auch, denke ich.

»Er ist ein toller Junge.«

»Er ist sehr vertrauensvoll.«

Gary lächelt. »Das hat er nicht von seinem Vater, wie?«

»Nein. Aber Sie sind immer noch hier, und wir reden noch, das ist doch was, oder?«

»Ein Tag nach dem anderen, stimmt's?«

Er kehrt in die Hütte zurück, ich höre ihn gedämpft mit Steve sprechen. Dann ein kurzes, raues Auflachen. Was ist denn ständig so verdammt komisch?

In der Nacht zerrt der Wind am Dach, der Regen trommelt. Ich kann nicht schlafen und werde den Gedanken nicht los, dass Sammy Pritchard mich gefunden und seine Leute losgeschickt hat. Gary und Steve: harmlose Wanderer oder tödliche Kuckuckseier? Vanessa stöhnt im Schlaf. Ich weiß nicht, ob vor Lust oder Schmerz.

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