2,99 €
Die Zeitreisen von Marlene und Kurt gehen weiter. Die beiden Freunde geraten durch Zufall in das Jahr 1794, mitten in den Einmarsch von Napoleons Truppen nach Köln. Sie erleben das alte Cöllen, wie es war, bevor die Franzosen dort das Leben der Menschen auf den Kopf gestellt und vieles mitgebracht haben, das heute noch Gültigkeit hat in Köln und ganz Deutschland. Dort treffen sie die Magd Elisabeth, deren Schwester Sophie in Lebensgefahr schwebt. Wie schaut es in der Zukunft aus? Können sie Sophies Leben retten und die Bienen in der Zukunft gleich noch mit?
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2021
Inhaltsverzeichnis
>> 1794 <<
>> Medizinische Wunder <<
>> Das Leben ist ein langer ruhiger Fluss<<
>> Kurze Pause <<
<< Besuch aus der Gegenwart>>
<<Zurück nach 1794 >>
>>2219<<
>>Zurück in die Zukunft<<
Korinna Kano
Marlene
Zeitreisen für Fortgeschrittene
Jugendroman
Buch
Die Zeitreisen von Marlene und Kurt gehen weiter. Die beiden Freunde geraten durch Zufall in das Jahr 1794, mitten in den Einmarsch von Napoleons Truppen nach Köln. Sie erleben das alte Cöllen, wie es war, bevor die Franzosen dort das Leben der Menschen auf den Kopf gestellt und vieles mitgebracht haben, das heute noch Gültigkeit hat in Köln und ganz Deutschland. Marlene und Kurt treffen die Magd Elisabeth, die dringend Hilfe benötigt. Sie bekommen eine Ahnung vom Leben im 18. Jahrhundert und versuchen zu helfen. Aber gelingt ihnen das, ohne sich selber in Gefahr zu bringen? Und wie sieht es eigentlich in der fernen Zukunft aus?
Autorin
Korinna Kano, geboren in Köln, arbeitete in verschiedenen Ländern als Softwareentwicklerin. Heute versucht sie als Lesementorin bereits bei jungen Lesern das Interesse für die unendliche Vielfalt der Welt zu wecken.
Korinna Kano
Marlene
Zeitreisen für Fortgeschrittene
Copyright © 2021 Korinna Kano
Alle Rechte vorbehalten.
Die in diesem Roman vorkommenden Figuren und die Handlung sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig. Die Schauplätze sind grundsätzlich real, aber für den Roman teilweise verändert.
Covergestaltung: Korinna Kano
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Bibliographische Informationen der Deutschen Bibliothek. Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet unter http://dnb.de abrufbar.
Was bisher geschah...
Marlene hat Kurt 1943 getroffen. Getroffen klingt sehr normal. Aber normal ist das alles nicht gewesen, was sie erlebt haben.
Durch Kurts Zeitreiseunfall im Jahr 1943 landete die Maschine 2018 bei Marlene und sie konnte ihn aus dem Krieg retten. Zusammen haben sie dann den Mauerfall in Berlin erlebt, Kurts Verwandte 1953 in New York besucht, haben Thailand bereist und Australien gesehen.
Auch die Gefahr für Kurts Familie stieg im Krieg immer weiter an. Als sein Vater sogar von den Nazis eingesperrt worden war, mussten alle in einer gefährlichen Rettungsaktion in das heutige Köln geholt werden.
Das ist jetzt knapp drei Monate her. Seitdem haben sie von dem Lottogewinn ein großes altes Haus in der Südstadt gekauft, das Kurts Familie nun bewohnt.
Marlenes Familie macht ständig Ärger. Ihr Vater ist ein gewalttätiger Trinker und ihre Mutter lässt alles einfach geschehen. Nur wenn Marlene mit Kurt unterwegs ist, kann sie das alles vergessen.
„Iiieh. Das stinkt hier“, rief Marlene aus und rümpfte die Nase.
„Psst. Sei doch still.“ Kurt legte den Zeigefinger auf seinen Mund und drehte sich zu ihr um.
Marlene schaute angewidert auf den Boden des Grabens, in den sie mit ihrer Zeitmaschine gelandet waren und wo ihre Schuhe nun bis zur Hälfte im Morast versanken. Sie schüttelte sich kurz, band ihre braune Lockenmähne mit einem Gummiband zu einem Zopf zusammen und spähte dann über den Rand des Grabens.
Auf dem Marktplatz herrschte reges Treiben. Es wurden Körbe herumgetragen, Kisten geschleppt und rumpelnde Karren mit großen Holzrädern über dicke Pflastersteine gezogen. Hier und da war auch mal eine Pferdekutsche zu sehen. Alle Frauen hatten lange Röcke an, meist mit Schürzen und trugen große Kopfhauben. Viele Männer waren in dreiviertellange Hosen gekleidet und die meisten trugen derbe Stiefel, an denen, wie bereits jetzt an Marlenes Schuhen auch, dick der Schlamm klebte.
„Wo sind wir hier?“ Marlene drehte sich wieder zu ihrem Freund um, breitete die Arme aus und schaute ihn fragend an.
„Wo, kann ich dir sagen. Ich hab die Koordinaten nicht geändert. Frag lieber, wann wir sind.“ Kurt bückte sich zu der Anzeige auf der Zeitmaschine. „Es ist der 06.10.1794. Hast du das verstellt?“
„Nein! Ich habe mich doch sofort nach hinten gesetzt. Du wolltest mich doch überraschen.“
„Das stimmt wohl.“ Er runzelte die Stirn. „Eigentlich dachte ich an 1947... ich wollte mal schauen, wie es kurz nach Kriegsende hier aussieht. Na ja, das mit der Überraschung hat ja wohl geklappt.“
„1794? Oh Mann! Das ist aber lange her. Ist das nicht das Jahr, in dem die Franzosen unter Napoleon nach Köln einmarschiert sind?“
In diesem Moment gab es einen Tumult auf dem Marktplatz. Eine Horde zerlumpter Männer, teilweise in abgerissenen Uniformen, stürmte den Platz. Sie schienen ziemlich ausgehungert und griffen nach allem, was die Marktleute nicht schnell genug wegräumen konnten.
„Komm, wir gehen hoch. Bei dem Trubel fallen wir nicht auf.“ Kurt zog eine in grün-brauner Tarnfarbe gemusterte Plane unter dem hinteren Sitz der metallischen Zeitmaschine hervor, klappte den Deckel zu, befestigte das Vorhängeschloss an die Verstrebungen und stülpte die Plane darüber.
„Können wir die hier zurücklassen?“ Marlene blickte besorgt auf die verkleidete Kiste.
„Klar. Die sind gerade mit anderen Sachen beschäftigt. Und außerdem sieht man sie fast nicht unter dieser Plane, oder?“
Vor dem Graben wuchsen zwei Büsche, die zusätzlich die Sicht auf die Zeitmaschine verdeckten. Marlene brach ein paar Zweige ab und legte sie auf die Kiste. Das gab ihr ein etwas besseres Gefühl.
Sie schlenderten über den Markt, während immer mehr Männer herbeiströmten. Die Händler konnten ihre Waren nicht so schnell in Körbe verstauen, wie die Soldaten sich daran vergriffen. Das führte zu Rangeleien. Kurt konnte gerade noch einem Verkäufer ausweichen, der sich mit lautem Gebrüll auf einen Franzosen stürzte. Dessen Kameraden kamen ihm zur Hilfe und griffen den Händler an. Das führte schnell zu einer Massenschlägerei, an der sich bald ein ansehnlicher Teil der Marktbesucher beteiligte.
Marlene und Kurt sprangen zur Seite und wichen den Angreifern, so gut es ging, aus. Sie arbeiteten sich bis zur anderen Seite des Platzes durch. Der Gestank hatte noch weiter zugenommen und bald sahen sie, dass sie auf einem Fischmarkt gelandet waren. Überall auf dem Boden lagen Abfälle, die von den Marktbesuchern zertreten wurden. Zottelige Hunde und magere Katzen liefen herum und stritten sich um Fischköpfe.
Sie gingen weiter. Alle paar Meter wurden sie von einem Bettler angesprochen, der einen Hut vor sie hinhielt. Die Bettler unterschieden sich von den anderen Marktbesuchern dadurch, dass sie wirklich nur noch mit Lumpen bekleidet waren. Marlene machte jedes Mal eine Sprung zur Seite, weil sie nicht wollte, dass sie jemand anfasste. Der Trubel war enorm. Alles wuselte kreuz und quer über den Platz.
„Das hier kommt mir nun sehr bekannt vor“, sagte sie und starrte die Kirche im Hintergrund an. „Wir sind immer noch in Köln. Und jetzt verstehe ich, warum der Platz hier im Jahr 2019 immer noch Fischmarkt heißt. Und das ist die Kirche Groß St. Martin.“
Ein völlig verdreckter Soldat blieb vor Marlene stehen. „Ah, mon amour. Je viens avec toi1.“
„Was? Ich verstehe kein Wort. Lassen Sie mich los.“ Sie schüttelte ihn ab und lief ein paar Meter zur Seite.
Der Soldat mit blauem Rock bekleidet, einem dreieckigen Hut, seine Schuhe mit Lumpen umwickelt, unrasiert und abgemagert und einer alten Flinte über die Schulter gehängt, lachte laut und ging dann weiter.
„Mann, das ist ja voll ekelig.“ Marlene wischte mit der Hand über den Jackenärmel, den der Soldat angefasst hatte.
„Was meintest du eben mit Franzosen?“, fragte Kurt.
„Ach ja. Die Besatzung Kölns durch die französische Revolutionsarmee. Ob du es glaubst oder nicht, das haben wir erst letzte Woche im Geschichtsunterricht durchgenommen. Ich kann mich noch daran erinnern, dass es Oktober war und 1794. Die Franzosen sind in Köln einmarschiert. Mein Lehrer meinte, die Kölner hätten sich unterwürfig ergeben, es sei zu keinerlei Blutvergießen gekommen und ab diesem Tag hätte sich alles geändert in Köln.“
„Sie nun wieder.“ Kurt schüttelte den Kopf und schaute seine Freundin lachend an. „Gibt es eigentlich irgendetwas, was du nicht weißt?“
„Wirklich, wir haben das gerade in Geschichte gehabt, woher sollte ich das sonst wissen? Na ja, jedenfalls haben die Franzosen erst einmal alles besetzt und beschlagnahmt.“
„Das hört sich logisch an, wenn man schon eine Stadt einnimmt.“ Kurt blickte zur anderen Marktseite, wo sich jetzt wieder laute Stimmen erhoben und plötzlich Schreie zu hören waren.
Mit lautem Hufgeklapper stoben ein paar Reiter durch die Menge auf den Fluss zu. Die Menschen rannten wie aufgescheuchte Hühner in alle Richtungen, Marktstände stürzten um oder wurden niedergetrampelt.
Im Rhein lagen viele Schiffe, die den beiden Zeitreisenden noch gar nicht aufgefallen waren, weil bisher der Markt ihre gesamte Aufmerksamkeit beansprucht hatte.
Die Reiter, die mit deutlich besseren Uniformen bekleidet waren als das Fußvolk, sprangen von ihren Pferden und rannten auf die Schiffe zu. Einer, der auf seinem Pferd sitzen geblieben war, zog eine Schriftrolle aus seiner Jacke und verlas einen Text, der aber aus der Ferne nicht zu verstehen war.
„Ich glaube, das ist die Info an die Schiffseigner, dass ihre Waren beschlagnahmt sind.“
„Das ist ziemlich eindeutig.“ Kurt starrte gebannt auf das Szenario am Rhein.
Die Schiffsführer begannen zu schimpfen und versuchten, sich gegen die Soldaten zur Wehr zu setzen. Aber nachdem ein Reiter ein paar Schüsse in die Luft abgegeben hatte, war Ruhe. Die Soldaten gingen an Bord der ersten Schiffe, die vorne am Kai lagen.
„Weißt du denn auch, warum die dort alle im Hafen liegen?“ Marlene blinzelte in Richtung Fluss.
„Na, weil sie Rast machen und vielleicht neue Waren laden oder ausladen?“
„So ähnlich. Wenn die großen Schiffe vom Niederrhein kommend weiterfahren wollten nach Süden, mussten die ihre Waren in kleinere Schiffe umladen, so genannte Oberländer.“
„Wieso das denn?“
„Wegen der hohen Fließgeschwindigkeit des Rheins im Mittelrheintal, also zwischen Köln und Mainz und außerdem weil das Flussbett sehr felsig war. Dort konnte man die großen, tief im Wasser liegenden Boote, die am Niederrhein genutzt wurden, nicht fahren. Und weil die Waren in Köln sowieso umgeladen werden mussten, hatte die Stadt seit dem Mittelalter ein Stapelrecht verhängt. Das heißt, alle Schiffe, die hier vorbeikommen, werden gezwungen anzuhalten und ihre Waren den Kölner Bürgern anzubieten. Außerdem müssen sie für die Benutzung der Kräne bezahlen.“ Marlene blickte zum Rhein, wo scheinbar alle Schiffer mit dem Be- und Entladen beschäftigt waren. „Die Stadt macht also richtig Reibach mit den Händlern.“
„Na, da hat sich ja wohl bis heute nicht viel dran geändert. Zumindest schimpft der Imbissverkäufer, den ich ab und zu mal aufsuche, ständig darüber, dass das Finanzamt ihn in den Ruin treibt.“ Kurts Augen glitten von einem Kahn zum nächsten, von den Reitertruppen zu den Händlern.
„Wenn er viel zahlen muss, dann verdient er offenbar ganz gut“, kommentierte Marlene und zog ihre Schultern leicht hoch.
„Frische Heringe. Kauft frische Heringe.“
Die beiden drehten sich schnell um zu der hellen Stimme, die sie von hinten angesprochen hatte. Es war ein junges Mädchen mit einer weißen Haube auf dem Kopf, einem langen schmutzigen Rock aus grobem dunklen Stoff mit weißer ebenfalls fleckiger Schürze, die einen anscheinend schweren Korb mit Deckel vor sich abstellte.
Jetzt, als Marlene und Kurt sich zu ihr gedreht hatten, erschrak das Mädchen. Sie hob den Korb wieder an, wendete sich zum Gehen und murmelte eine Entschuldigung.
„Jetzt warte doch, Mädchen.“ Kurt rannte hinter ihr her.
„Et tut mir leid, ich wollt Euch nit anspreche, edler Herr.“ Sie hielt inne und blickte steif auf den Boden.
„Was? Edler Herr?“ Marlene prustete los. „Der ist alles mögliche, aber sicher kein Edelmann.“
Das Mädchen schaute sie kurz schief an, bevor sie ihren Blick wieder starr nach unten gerichtet hielt.
„Hallo erst einmal. Ich bin die Marlene“, ihre Hand vor dem Mädchen ausgestreckt.
Dieses schaute kurz nervös zwischen den beiden hin und her und setzte den Korb nun wieder vor sich ab.
„Jetzt sei nicht so schüchtern. Wir tun dir doch nichts. Nur Heringe können wir momentan nicht gebrauchen.“ Kurt drückte mit zwei Fingern ihr Kinn ein Stückchen nach oben, so dass er ihr in die Augen sehen konnte.
„Woher kommt Ihr, edler Herr?“ Das Mädchen wirkte immer noch ängstlich.
Marlene blickte auf ihre Anziehsachen. Die Schuhe waren das einzig unauffällige an ihnen, nämlich über und über mit Schlamm bedeckt. So konnte man zumindest nicht erkennen, dass sie keine Holzpantinen oder sonstiges altmodisches Schuhwerk trugen, wie die meisten hier, sondern braune und schwarze Sneakers. Immerhin hatte Kurt nicht seine roten angezogen. Wer weiß, zu was das geführt hätte, vielleicht sogar zu einer Verhaftung. Marlene erinnerte sich, dass der Geschichtslehrer davon gesprochen hatte, dass man damals wegen Nichtigkeiten verhaftet wurde, ohne sich dagegen wehren zu können. Aber ihre braune Steppjacke und Kurts schwarze Lederjacke waren trotzdem sehr auffällig, inmitten der ganzen Lumpen hier. Jeans waren offensichtlich auch noch nicht erfunden.
„Tja, wir kommen tatsächlich von weit her. Stör dich nicht an unserer Kleidung“, beantwortete Marlene die Frage.
„Ach so, ja.“ Kurt schaute nun auch ertappt an sich herunter. „Vergiss die Kleider. Ist nicht wichtig. Wie heißt du? Ich bin der Kurt.“
Sie knickste, blickte wieder auf den Boden und murmelte: „Ich bin die Elisabeth.“
„Hallo Elisabeth. Schön, dich kennenzulernen.“ Marlene schaute das verschüchterte Mädchen an, das sich heftig am Arm kratzte, der übersäht war mit Pusteln und Schorf.
Als Kurt das entdeckte, sprang er einen Schritt nach hinten. „Oh Gott, was hast du denn?“
Das Mädchen starrte weiter auf den Boden. „Ich weiß nit.“
„Du musst zum Doktor. Das sieht ja schlimm aus.“ Marlene beugte sich etwas vor, um den Arm näher zu untersuchen.
„Pah, Doktor. Wat denkt Ihr denn wohl? Ich hab keinen Taler übrig.“ Sie schaute auf.
„Ja, du hast recht. Das war dumm von mir.“ Jetzt schaute Marlene betroffen auf den Boden und trat einen Schritt zurück, als sie merkte, dass sie direkt in einem Haufen von Fischköpfen stand.
„Wo wohnst du denn?“ Kurt hatte sich wieder gefangen und sprach freundlich auf das Mädchen ein.
„Ich bin in Anstellung beim Klespé.“
„Bei wem?“ Marlene runzelte die Stirn.
„Von Klespé, natürlich. Verzeiht.“ Sie schaute wieder auf den Boden.
„Was? Wieso entschuldigst du dich? Und wer in Gottes Namen ist von Klespé?“ Kurt stemmte seine Hände in die Hüften.
Das Mädchen bekreuzigte sich und sprach ganz leise: „Der Bürgermeister, mein Herr, der Bürgermeister Reiner Josef Anton von Klespé.“
„Ach. Beim Bürgermeister arbeitest du also. Interessant. Und der verkauft Heringe?“ Marlene schaute auf den Korb.
„Nein, mein Herr. Ich verkauf die Fische für seinen Bruder. Der ist Kaufmann und handelt mit allem, was von den Schiffen kommt.“
„Hä? Mein Herr? Sag mal spinnst du? Ich bin die Marlene, hab ich doch gerade gesagt.“
„Oh. Verzeiht. Aber Ihr tragt Beinkleider... und da dachte ich...“ Sie machte ein Gesicht tiefster Verzweiflung.
„Ach so. Stimmt. Frauen tragen bei euch immer Röcke, oder?“ Marlene schaute an sich herunter und biss sich auf die Lippen.
„Bei uns? Etwa bei Euch nit? Von wo kommt Ihr?“ Sie schaute Marlene, nun etwas mutiger, an.
„Wir kommen aus Kö...“
„Aus Königsbrunn“, ergänzte Kurt schnell.
Marlene drehte ihren Kopf ruckartig zu ihrem Freund.
„Königsbrunn? Wie viele Tage musstet Ihr reiten?“ Das Mädchen blickte leicht bewundernd, wie Marlene fand.
„Oh, das ist weit weg. Wie lange sind wir geritten, Kurt?“ Sie lächelte ihn an.
„Äh, keine Ahnung. Zehn Tage?“ Er zuckte mit den Schultern.
„Kommt Ihr aus dem Süden?“
„Ja, Elisabeth, ganz recht, aus dem Süden.“
„Das erklärt Eure Sprache, Fremde.“
„Ist es bei euch immer so hektisch? Oder was passiert da gerade?“ Kurt machte eine ausschweifende Armbewegung über den Markt.
„Oh, dat iss wohl der Franzos. Der Herr Bürgermeister hat jestern davon jesprochen, dat die französischen Truppen bereits kurz vor der Stadt stehen und er ein Blutvergießen unbedingt verhindern will. Er sprach davon, sich ergeben zu wollen.“
„Das hat er ja dann wohl gemacht.“ Marlene nickte zufrieden in Richtung Markt, wo immer noch alle durcheinander liefen.
„Man hört jedenfalls keine Gewehrsalven.“ Elisabeth griff langsam nach ihrem Korb und hob ihn an. „Ihr wollt keine Heringe. Dann muss ich weiter. Wenn die Fische vergammeln wird dat keine Freude auslösen bei Herrn von Klespé.“
„Warte, ich helfe dir. Das ist ja bestimmt viel zu schwer.“ Kurt nahm ihr den Korb ab.
„Danke, mein Herr. Bitte folgt mir.“ Sie ging auf die Kirche Groß St. Martin zu, mitten auf den Markt.
Marlene nahm einen Griff des Korbes und Kurt trug ihn von der anderen Seite. So liefen sie hinter Elisabeth her.
„FRISCHE HERINGE, LIEBE LEUTE, FRISCHE HERINGE.“ Elisabeth rief mit lauter Stimme.
Eine dickliche Magd mit langem blauen Rock, roter Schürze, und einer roten Kappe blieb vor ihr stehen. „Wo hast du denn deine Heringe, Magd?“
Elisabeth drehte sich um. Kurt und Marlene schlossen auf und stellten den Korb auf den Boden.
„Hier, janz frische Heringe. Am Morgen von der Nordsee jekommen.“ Sie öffnete den Deckel des Korbes.
Die Magd musterte Kurt und Marlene lange.
„Wollt Ihr sie anschauen?“ Das Mädchen hielt ihr einen Hering vor das Gesicht.
„Ja, zeig schon her.“ Die Magd ließ zögerlich den Blick von den beiden und nahm den Hering in die Hand.
„Ein Fisch einen Heller. Zehn Stück nur neun Heller.“ Elisabeth holte einen zweiten Fisch aus ihrem Korb.
„Gut, dann gib mir zehn.“ Die Magd öffnete ihren Korb, warf den Hering, den sie in der Hand hielt, hinein. Elisabeth packte noch weitere neun Fische dazu.
„Neun Heller.“ Das Mädchen streckte die Hand aus und die alte Magd zählte ihr die Münzen hinein.
„Zeig mal. Die sehen ja toll aus.“ Marlene wollte sich eine Münze aus Elisabeths Hand nehmen.
Die aber riss ihre Hand zurück, steckte das Geld ganz schnell in ihre Rocktasche und schaute Marlene ungläubig an.
Die Frau stand mit ihrem Korb in der Hand immer noch an der gleichen Stelle und starrte ungeniert auf die beiden Fremden.
„Ich empfehle mich, gnädige Frau, auf bald“, sagte Elisabeth und riss die Magd aus ihrer Starre, die dann in Richtung Fluss weiterlief.
Kurt legte wieder den Deckel auf den Korb und sie folgten Elisabeth.
„FRISCHE HERINGE. KAUFT, LIEBE LEUTE, KAUFT. NIEMAND WEIß, WAS DIE FRANZOSEN ÜBRIG LASSEN. FRISCHE HERINGE.“
Eine weitere Magd, dieses Mal eine dünne mit einem roten Rock und weißer Schürze, blieb vor ihr stehen.
„Wie alt sind die Viecher? Zeig her.“
„Ganz frisch, gute Frau, heute morgen angekommen. Frisch von der Nordsee.“ Elisabeth bedeutete den beiden, den Korb abzustellen und öffnete den Deckel. „Gute Frau, seht her.“
Die Frau beugte sich über den Korb und schaute misstrauisch hinein. „Wieviele sind das?“
Elisabeth zählte schnell durch. „14 Heringe, gute Frau.“
„Dann will ich das mal glauben. Aber wehe die sind alt. Dann werde ich zum Bürgermeister kommen für eine Beschwerde.“
„Sehr wohl, gute Frau. Die sind frisch wie der junge Morgen.“ Elisabeth packte die Fische in den Korb der Frau und hielt die Hand auf. „Fünfzehn Heller.“
„Was? Fünfzehn? Das sind doch nur vierzehn Heringe.“ Die Frau runzelte die Stirn.
„Morgen gibt es vielleicht keine mehr. Dat sind die letzten.“ Sie deutete ein leichtes Lächeln an.
Die dünne Frau zählte kopfschüttelnd fünfzehn Münzen in Elisabeths Hand und zog dann davon.
„Hey, das hat ja super geklappt. Alle Heringe verkauft. Und was machen wir jetzt?“ Marlene nahm den Griff des nun leeren Korbes wieder auf.
Kurt schnappte sich den anderen und wartend standen sie vor Elisabeth.
„Ich muss heim zu meiner Familie. Meine Schwester ist krank und schafft die Arbeit nicht mehr alleine.“
„Oh, was hat sie denn? Hoffentlich nichts Schlimmes.“ Marlene runzelte die Stirn.
„Sie hat das Fieber und ist ganz schwach. Schon als ich jestern früh fortgegangen bin, konnte sie nicht aufstehen.“
„Das hört sich ja nicht gut an.“ Kurt schaltete sich nun auch ein.
„Ja, sie ist arg schlimm dran.“
„Und niemand kann euch helfen? Da muss doch etwas zu machen sein.“ Marlene schüttelte ungläubig den Kopf. „Ich schlage vor, wir kommen mit und schauen uns das mal an.“
„Seid Ihr Heiler? Könnt Ihr uns helfen?“ In Elisabeths Blick blitze ein kleiner Hoffnungsschimmer auf.
„Nein, Heiler sind wir nicht. Aber vielleicht gibt es eine Lösung. Wir müssten deine Schwester mal sehen.“ Marlene machte forsch ein paar Schritte vorwärts.
Kurt überholte sie und warf ihr einen fragenden Blick zu.
Marlene ignorierte ihn und wandte sich stattdessen an Elisabeth. „Wohin müssen wir denn? Wo lebt deine Familie?“
„Unser Hof is in Esch, nen kleinen Marsch entfernt. Wir jehen durch die Eigelsteintorburg und dann weit über die Felder.“ Sie deutete nach vorne und ging dann über den Kirchplatz von Groß St. Martin, um den herum jetzt noch nicht annähernd so viele Häuser standen wie 2019. Zuerst kamen sie durch eine enge Gasse, dann überquerten sie einen großen Marktplatz, auf dem ein ähnliches Gedränge herrschte, wie zuvor auf dem Fischmarkt.
„Ha, wenn ich es nicht wüsste, erkennen kann man den Alter Markt nicht wirklich. Er kommt mir viel größer vor.“ Marlene schaute sich ungläubig um.
„Was erkennt Ihr? Dat hier is der Alder Maat. Seid ihr vorher schon einmal in Cöllen gewesen?“ Elisabeth wendete ihren Blick kurz den beiden zu.
„Äh, ja. Schon öfters“, stammelte Kurt.
„Seid Ihr Händler?“
„Äh, Händler? Ja, Händler.“ Kurt nickte schnell.
„Was handelt ihr?“ Sie umrundete einen verlassenen Marktstand, der, wahrscheinlich von den einfallenden Franzosen, so gut wie leer geräumt war. Nur ein paar traurige Kohlblätter lagen noch auf der Holzplatte herum. Elisabeth griff nach den Blättern und entdeckte darunter einen roten Apfel, den sie schnell in ihre Schürzentasche steckte.
„Ja, was handeln wir denn?“ Kurt schaute Marlene fragend an.
„Wir, äh, wir vertreiben Medikamente.“ Marlene duckte sich leicht und hob die Schultern an, so als würde sie erwarten, dass gleich von oben etwas auf sie drauf fällt.
„Wat soll dat denn sein?“ Elisabeth drehte sich wieder im Gehen um.
„Na, Heilmittel, Pillen..., also Säfte und so.“ Sie kniff abwartend die Augen zusammen.
„Ach, Ihr seid doch Heiler? Dann könnt Ihr uns helfen?“
„Nein, wir sind wirklich keine Heiler, aber wir handeln mit Mitteln, die heilen können. Ganz neue Erfindung aus dem Süden.“ Marlene kniepte Kurt zu.
Elisabeth blieb nun stehen. „Ihr habt Mittel, die heilen können? Taugen die was? Dann sind sie so teuer, dass wir sie uns nicht leisten können.“ Als sie diese Einsicht hatte, kippte ihr Kopf förmlich nach unten.
„Nein nein, jetzt warte erst einmal ab.“
An einem Haus mit bröckeliger Fassade angekommen, schloss sie die verwitterte Holztüre auf, nahm den beiden den Korb ab und stellte ihn hinein. Sofort setzten sie ihren Marsch fort. Als sie um die nächste Häuserecke gebogen waren, blieb Marlene erstarrt stehen und blickte nach oben. „Kurt!“
Er stoppte ebenfalls und richtete seinen Blick nach oben. „Meine Fresse. Da brat mir doch einer nen Storch.“
Elisabeth drehte sich nach den beiden um. „Wat is? Dat is der Dom.“
„Ja, das sehe ich. Aber der ist ja noch gar nicht fertig.“ Marlene konnte ihren Blick nicht von dem, auch ohne Domtürme bereits imposanten Gebäude nehmen.
„Wann wurde der nochmal fertig gebaut?“ Kurt runzelte die Stirn.
„Wie fertisch jebaut? War der schon mal fertisch?“ Elisabeth setzte ihren Weg kopfschüttelnd fort.
„Keine Ahnung. Das muss ich noch mal nachschlagen“, flüsterte Marlene vor sich hin und setzte sich auch wieder in Bewegung.
„Also, deine Schwester. Wir müssen uns mal anschauen, was ihr fehlt.“ Kurt stolperte über das Kopfsteinpflaster hinter Elisabeth her. „Und, wir sollten vor Einbruch der Dunkelheit wieder zurück sein.“
„Ihr habt recht. Dann kommt geschwind.“ Elisabeth legte jetzt einen Zahn zu und manövrierte sie durch enge Gassen und kleine Plätze, bis sie zur Eigelsteintorburg kamen.
Nach kurzem Betrachten bemerkte Marlene: „Da fehlt doch was. Eigentlich hat die Eigelsteintorburg oben noch die Zinnen. Komisch.“
Sie gingen durch die Mitte des Stadttors hindurch, das zwischen den Stadtmauern eingefasst war und standen dann auf einem sandigen Feldweg.
„Das ist ja der Hammer. Hier ist noch gar nichts. Nur Felder so weit man sehen kann und wir sind eigentlich mitten in der Innenstadt“, entfuhr es Kurt.
Elisabeth schaute ihn wieder fragend an, sagte aber nichts.
Sie gingen durch abgeerntete Stoppelfelder und ein scharfer Wind blies ihnen auf der weiten Ebene entgegen.
„Ganz schön kalt hier.“ Kurt schloss den Kragenknopf seiner schwarzen Lederjacke.
„Und du, Elisabeth, hast ja gar keine Jacke an.“ Marlene zitterte, aber dem Mädchen schien die Temperatur nichts auszumachen.
„Schon gut. Mein Tuch liegt noch beim Bürgermeister im Haus. Ich bin vorhin in Eile weg.
Nach einem über zweistündigen Marsch zeigte Elisabeth nach Norden. „ Schaut, da vorne ist der Hof.“
In der Ferne sahen sie ein paar Häuser und Höfe, verstreut auf den Feldern stehen.
„Viele Nachbarn habt ihr aber nicht hier.“ Kurt blieb stehen und hielt seine Hand über die Augen, um in die Ferne schauen zu können, obwohl keine Sonne schien. Er musste dann schnell wieder in einen Laufschritt übergehen, um zu Elisabeth aufzuschließen.
„Aber hier ist frische Luft. Es stinkt nicht mehr.“ Marlene atmete demonstrativ tief ein und hielt das Tempo.
„Ja, schön is et. Aber auch schwer.“
„Was meinst du? Die Feldarbeit?“ Kurt blickte zu Elisabeth herüber.
„Dat und alles Beschwerliche. Alle Mäuler stopfen. Im Winter die Kälte. Die Tiere.“ Sie stapfte weiter in Richtung des Hofes. „In der Stadt is das Leben irgendwie leichter.“
„Wieviele Geschwister hast du denn?“ Marlene holte auf und ging nun direkt neben Elisabeth.
„Sieben sind et. Die jüngsten sind die Zwillinge. Die Mutter ist bei der Geburt jestorben.“ Sie erhöhte ihr Tempo noch ein wenig und bald erreichten sie das Dorf.
Mit schnellen Schritten passierten sie ein paar kleine Häuser und Menschen, die mit schwerer Arbeit beschäftigt waren. Eine Frau schrubbte vor einer armseligen Hütte große Wäschestücke in einem Holzzuber, ein Mann sägte Holz. Dann, nach einer ganzen Weile, erreichten sie drei Gebäude, die ein Hufeisen bildeten und Elisabeth ging voran auf den Hof. Es herrschte reges Treiben. Hühner liefen überall herum. Zwei kleine Jungs schoben einen großen Karren in einen Stall, aus dem prompt ein paar Gänse aufgeregt schnatternd herausgelaufen kamen. Ein Mann in Hosen und Wams aus grobem braunen Stoff und mit derben Stiefeln, führte eine Kuh an einem Strick. Ein Hund kam ihnen schnüffelnd entgegen.
„Der ist aber süß!“ Marlene beugte sich entzückt zu dem hellbraunen kurzhaarigen Mischling herunter und kraulte ihn am Kopf, was dieser sofort mit Schwanzwedeln beantwortete.
„Elisabeth, da bist du ja. Geh schnell rein. Die Sophie ist schlecht dran.“ Der Bauer hatte sie gesehen und brüllte quer über den Hof, ohne die Fremden Ankömmlinge zu beachten.
„Ja, Paps, ich mach schon.“ Elisabeth warf ihren Weggefährten noch einen Blick zu und rannte dann ins Haus.
„Wer seid Ihr?“ Die beiden kleinen Jungs hatten den Karren abgestellt und standen plötzlich hinter ihnen. Ihre teilweise geflickten, teilweise noch löchrigen Hosen und Pullover standen förmlich vor Dreck. Getrockneter Matsch klebte an ihnen.
„Ich bin Kurt und das ist Marlene.“ Kurt beugte sich ein wenig zu ihnen herunter. „Und wer seid ihr?“
„Ich bin Karl und dat is Wilhelm.“ Der eine Junge mit blonden verfilzten Haaren und einem Stock in der Hand, zeigte auf seinen Bruder, der ganz genauso aussah und dem, genauso wie ihm selber, der Rotz aus der Nase lief. Neugierig, mit einem freundlichen Gesicht, musterten die beiden die Fremden.
„Woher kommt Ihr?“
„Wir kommen aus Kö...“, begann Marlene.
„Aus Königsbrunn“, ergänzte Kurt schnell, weil Marlene offensichtlich schon wieder den Namen der Stadt vergessen hatte, aus der sie angeblich kamen.
„Wo is dat?“, meldete sich jetzt Wilhelm.
„Das ist ganz weit weg“, erklärte Marlene.
„Was macht Ihr hier?“ Nun war Karl wieder dran.
„Ihr könnt einem ganz schöne Löcher in den Bauch fragen.“ Kurt wuschelte dem letzten Frager über den Kopf. „Sagt mir lieber, wie es eurer Schwester Sophie geht.“
„Sophie liegt im Fieber. Sie kann nicht arbeiten.“ Wilhelm antwortete nun wieder.
„Meinst du, wir könnten mal zu ihr gehen?“ Marlene schaute die kleinen Männchen abwechselnd fragend an.
„Geht nur zu. Sie liegt in der Kammer.“ Er zeigte zum Hauseingang.
„Wollt ihr uns den Weg zeigen?“ Marlene schob die beiden an der Schulter in Richtung des Hauses.
In diesem Moment kam der Vater ohne Kuh um die Ecke des Stalls und rief ihnen mit heiserer Stimme zu: „Fremde, was wollt Ihr?“
Erschrocken drehten Marlene und Kurt sich um.
„Wir sind mit Elisabeth gekommen. Wir möchten sehen, wie es Eurer Tochter Sophie geht und ob wir ihr helfen können.“ Marlene sagte das mit fester Stimme.
„Seid Ihr Heiler?“ Der Vater kam auf sie zu.
„Nein, wir kommen von weit her, aber vielleicht können wir Medika... äh, Heilmittel für sie bringen.“
„Das könnt Ihr?“ Ein erleichtertes Lächeln huschte über sein Gesicht. Dann wurde er wieder erst. „Aber nein. Wir können das nicht bezahlen.“
„Das lasst mal unsere Sorge sein.“ Kurt nickte ihm beruhigend zu.
„Wir müssen die Sophie aber mal sehen. Könnt Ihr uns zu ihr führen?“ Marlene versuchte, ihre Worte der hiesigen Sprache anzupassen.
„Oh ja, gewiss. Karl, Wilhelm, geht mit ihnen in die Kammer.“ Damit schien das Thema für ihn erledigt und er wandte sich zum Gehen.
„Kommt.“ Die beiden liefen voran.
Kurt und Marlene versuchten, möglichst schnell, aber noch gehend zu folgen.
Das Haus war eher klein und etwas verwahrlost. Der Mörtel zwischen den dunkelroten Ziegeln war teilweise herausgewaschen, so dass die Steine frei lagen und auch das Dach machte keinen Vertrauen erweckenden Eindruck. Sie betraten den Flur durch eine grob gezimmerte Holztür. Marlene konnte den Wind, der durch das Haus zog, auf ihrem Gesicht spüren, als die Haustür bereits wieder geschlossen war. Die Jungen öffneten eine Zimmertür, die vom Flur abging. Dort sahen sie beim näher kommen Elisabeth an einem Bett sitzen. Die kleinen Jungs stellten sich jeder an eine Seite des Türrahmens. Marlene und Kurt traten in die Kammer.
Elisabeth hielt die Hand ihrer Schwester, die schweißnass, mit fahlem Gesicht und unter einer Haube hervorschauenden verklebten Haaren, in einem Bett lag. Mit glasigem Blick schaute sie den Fremden entgegen, konnte die Augen aber offensichtlich nicht aufhalten, denn Sekunden später schien sie zu schlafen. Elisabeth schaute die beiden hilfesuchend an. Sophie drehte sich unruhig im Schlaf und murmelte unverständliche Dinge.
„Oh, mein Gott, das sieht wirklich nicht gut aus.“ Marlene trat noch einen Schritt näher an das aus rohen Holzbrettern gezimmerte Bett heran, aus dessen Matratze Strohhalme herauslugten. „Wie lange, sagtest du, hat sie das?“
„Am Vortag is sie schon schwach jewesen und jestern in der Früh konnte sie nich mehr aufstehen.“
„Hat sie denn etwas gegessen? Oder ist sie mit einem anderen Kranken in Berührung gekommen?“ Marlene versuchte sich zu konzentrieren und alles zu erfragen, was wichtig sein könnte.
„Ich weiß nichts, woher es rührt.“ Sie drehte sich zur Tür. „Oder wisst ihr was, Jungs?“
„Nein, ich weiß auch nichts“, flüsterte der kleine Karl und schaute auf den Boden.
„Und du Wilhelm? Hat sie dir was gesagt?“ Elisabeth wendete sich dem anderen kleinen Zwilling zu.
„Sie hat sich an der Säge geschnitten. Es ist doll das Blut geströmt.“ Er schaute ängstlich zum Bett.
„Aber dat is ja nich schlimm. Jeder schneidet sich mal. Davon wird se nit krank.“ Resigniert zuckte Elisabeth mit den Schultern.
„Moment mal, vielleicht doch.“ Marlenes schaute die Kranke nachdenklich an.
„Was? Ein Schnitt?“ Elisabeth machte eine wegwerfende Handbewegung.
„Doch, das kann schon sein, wenn Bakterien in die Haut...“ Marlene war jetzt nicht mehr zu bremsen.
„Wat is?“ Elisabeths Blick wanderte von Marlene zu Kurt und wieder zurück.
„Na die Bakte... egal. Kannst du mir die Wunde mal zeigen?“
Elisabeth schaute immer noch verwirrt, aber langsam hob sie die löchrige, aus grober Wolle gewebte Bettdecke an. Sie griff sich den linken Arm, um den ein schmutziges gelbes Tuch gewickelt war.
„Darf ich mal?“ Marlene setzte sich neben Elisabeth auf die Bettkante. Sie wickelte das Tuch vorsichtig ein Stück ab.
„Woah“, entfuhr es Kurt und er wich einen Schritt zurück.
„Das sieht schlimm aus. Und es eitert schon. Ich würde wetten, dass sie eine Blutvergiftung hat“, wandte sie sich an Kurt.
„Eine Vergiftung? Aber se hat doch nix jifiges jejessen?“ Elisabeths schaute noch ungläubiger als Momente zuvor, wenn das überhaupt ging.
„Das ist schwer zu verstehen. Aber vielleicht können wir deiner Schwester helfen. Wir müssen uns allerdings beeilen, fürchte ich.“ Marlene zog bereits ihr Smartphone aus der Jackentasche und machte schnell ein Foto von der Wunde. Dann wickelte sie das Tuch wieder um den Arm und stand dann auf.
„Ihr könnt ihr helfen? Wirklich?“ Ein Hoffnungsschimmer machte sich auf Elisabeths Gesicht breit.
„Wir können es nicht versprechen, aber wir wollen es versuchen. Komm Kurt, wir müssen zurück in die Stadt.“
Elisabeth nickte und ihre Augen gingen schnell hin und her.
„Zeigst du mir nochmal deinen Arm?“
Sowohl Elisabeth als auch die beiden Jungs starrten auf das Telefon.
„Macht euch jetzt mal keine Gedanken um dieses Gerät hier. Das ist nur für die Untersuchung.“
Elisabeth zog langsam den linken Ärmel mit der rechten Hand etwas nach oben und hielt ihn Marlene hin, nicht, ohne sich vorher noch einmal herzhaft zu kratzen. Der Arm war übersäht mit roten Flecken, die teilweise schon bluteten oder mit Schorf bedeckt waren. Marlene machte zwei Fotos von Sophies Arm und steckte das Handy dann schnell wieder zurück in ihre Tasche.
Zusammen verließen alle das Haus. Die Zwillinge fragen jeder noch einmal, ob sie wirklich wiederkommen würden. Nachdem Kurt und Marlene das ausdrücklich versprochen hatten, machten sie sich sofort auf den langen Fußmarsch zurück in die Stadt. Unterwegs diskutierten sie, wie sie nun vorgehen sollten, wenn sie in ihrer Zeit angekommen waren. Sie einigten sich darauf, dass sie zusammen zum Hausarzt gehen wollten und ihn mit einer erfundenen Geschichte über eine Flüchtlingsfamilie, die nicht zum Arzt gehen könne, davon überzeugen wollten, dass er ihnen ein Antibiotikum für die schwerkranke Sophie verschrieb und auch etwas für diesen juckenden Ausschlag von Elisabeth.
Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichten sie wieder die Stadtmauer von Köln und gingen durch das Eigelsteintor zurück zu ihrer Zeitmaschine. Die Tumulte hatten sich weiter ausgebreitet. Es waren inzwischen noch mehr französische Soldaten von Westen her in die Stadt eingezogen. So hatten die beiden zumindest ungehindert durch das im Norden befindliche Tor in die Stadt gelangen können. Nun, als sie alleine zurück zum Fischmarkt in Richtung Rhein gingen, waren sie nicht durch Gespräche mit Elisabeth abgelenkt und konnten sich alles genau anschauen.
Die kleinen Häuser sahen fast alle so aus, wie die wenigen, die heute noch in dem kleinen Bezirk der Altstadt standen, schmal mit spitzen Dächern.
Als sie wieder am Dom vorbeikamen, bemerkten sie voller Erstaunen, dass ein Trupp französischer Soldaten gerade dabei war, mitsamt ihrer Pferde in die Kathedrale hinein zu gehen. Sie erkannten das Rathaus wieder, weil es fast genauso aussah wie 2019. Erstaunt waren sie insbesondere darüber, dass es zwischen den Häusern überall so viel Platz gab für Gemüsegärten und sogar für Weinanbau innerhalb der Stadtmauer.
„Bist du dir eigentlich bewusst, welchen Tag wir heute hier erleben?“ Marlene hatte sich bei Kurt eingehakt. Sie fühlte sich so sicherer, an seiner Seite zu gehen, vorbei an den herumpöbelnden Soldaten, den vorbeirennenden Bürgern und in diesem unerträglichen Gestank innerhalb der Stadtmauer.
„Das sagtest du bereits. Wir erleben den Einmarsch der Franzosen.“
„Gut aufgepasst. Der Einmarsch von Napoleons Truppen. Und weißt du auch, was ab jetzt mit der Stadt passiert?“ Sie machte einen spitzen Mund.
„Ab jetzt müssen alle Kölner französisch sprechen?“
„Nein! Nicht ganz, aber von der Besatzungszeit oder auch schon von noch früher, als die feinen Leute alle französisch sprachen, sind in Köln letztendlich doch ein paar Wörter übrig geblieben, die heute noch benutzt werden. So zum Beispiel der Paraplü, der Schirm oder das Plümmo, die Bettdecke.“
„Pussieren2 kenne ich.“ Er grinste.
„Das ist klar. Und das Trottoir, also den Bürgersteig, den kennst du auch.“
„Klaro.“
„Aber ganz falsch liegst du nicht. In Belgien ist das so passiert. Eine Region wurde von Napoleon als französisches Departement angegliedert und unter seiner Herrschaft wurde französisch als offizielle Amtssprache eingeführt, wo man zuvor teilweise wallonisch oder niederländisch gesprochen hatte. Und deshalb ist der eine Teil heute immer noch französischsprachig.“
„Wieso nur ein Teil? Spricht man nicht in ganz Belgien französisch?“
„Belgien hat sogar drei offizielle Landessprachen: französisch, flämisch, das ist eigentlich niederländisch, nur mit einem etwas anderen Akzent, und deutsch.“
Kurt nahm seinen Blick von einem Pulk Männer, die in zerlumpten Uniformen auf sie zukamen und wandte sich Marlene zu. „Wie? Deutsch?“
„Ja, nach dem zweiten Weltkrieg fielen Gebiete im Osten von Belgien, die vorher zeitweise mal zu Deutschland gehörten, wieder Belgien zu. Und weil die Menschen dort eben deutsch sprachen, hat man dann deutsch als dritte Amtssprache eingeführt.“
Kurt nickte. „Und was passiert denn in Köln jetzt, nachdem Napoleon hier eingefallen ist?“
„In den nächsten etwa zwanzig Jahren ist nicht nur Köln, sondern weite Teile des Rheinlandes und eben ein Teil von Belgien von den Franzosen besetzt und die führen dann französische Gesetze hier ein, das französische Rechtswesen und die Säkularisierung.“
„Die Säkulari.