Marlene: Zeitreisen sind nichts für Feiglinge - Korinna Kano - E-Book

Marlene: Zeitreisen sind nichts für Feiglinge E-Book

Korinna Kano

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Beschreibung

Was macht eine Fünfzehnjährige, die sich plötzlich im Jahr 1943 wiederfindet, nur weil da diese Kiste im Wald stand? Auf einem Roadtrip durch Raum und Zeit kann Marlene ihr tristes Dasein verlassen und zusammen mit ihrem Freund Kurt das Amerika der 1950er Jahre besuchen, den Mauerfall live erleben und in exotische Länder reisen. Das ist Abenteuer pur, aber manchmal auch extrem gefährlich...

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Inhaltsverzeichnis

>> Herbst <<

>> Köln <<

>> Berlin <<

>> New York <<

>> Thailand >>

>> Großvater <<

>> Ko Phayam <<

>> NY im Frühling <<

>> Australien <<

>> Weihnachten <<

>> 1943 <<

Korinna Kano

Marlene

Zeitreisen sind nichts für Feiglinge

Jugendroman

Buch

Marlene, 15 Jahre alt, führt ein ziemlich tristes Leben in einer Sozialwohnung mit ihrer nicht gerade intakten Familie. Ihr Vater trinkt und sie hat keine Freunde. Als sie eines Tages eine Zeitmaschine findet, nimmt ihr Leben Fahrt auf. Sie lernt Kurt im Jahr 1943 kennen und erlebt mit ihm zusammen, wie schön das Leben sein kann und wie gefährlich...

Autorin

Korinna Kano, geboren in Köln, arbeitete in verschiedenen Ländern als Softwareentwicklerin. Heute versucht sie als Lesementorin bereits bei jungen Lesern das Interesse für die unendliche Vielfalt der Welt zu wecken.

Korinna Kano

Marlene

Zeitreisen sind nichts für Feiglinge

2. Auflage Copyright © 2021 Korinna Kano

Alle Rechte vorbehalten.

Die erste Auflage erschien 2019

Die in diesem Roman vorkommenden Figuren und die Handlung sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig. Die Schauplätze sind grundsätzlich real, aber für den Roman teilweise verändert.

Covergestaltung: Korinna Kano

[email protected]

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliographische Informationen der Deutschen Bibliothek. Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet unter http://dnb.de abrufbar.

Für Lana

>> Herbst <<

Als sie ihren Vater aus dem Schlafzimmer kommen hörte, stand sie bereits mit einem Bein im Hausflur. Marlene schlüpfte nach draußen und schloss ganz leise die Wohnungstüre. Dann rannte sie los. Sie rannte, als wäre der Teufel hinter ihr her, ohne sich noch einmal umzudrehen. Am liebsten hätte sie laut geschrien. Sie hasste es, dass er wieder da war. Nur weil sie nicht wollte, dass die Leute komisch guckten, riss sie sich jetzt zusammen. Sie lief immer weiter. Am Waldrand kam sie, völlig außer Atem, unter den ersten Bäumen zum Stehen. Erst als sie sich etwas beruhigt hatte, ging sie langsam weiter in den Wald hinein.

Der Vorort von Köln, in dem sie aufgewachsen war, hatte nicht viel zu bieten für Jugendliche in Marlenes Alter. Es gab kein Schwimmbad, kein Jugendcafé und nur ein paar Geschäfte für den täglichen Bedarf. Was es allerdings gab, das war Wald, sehr viel Wald und ein paar Felder. Dieser Wald war schon immer ihr Rückzugsort gewesen. Sie liebte die Bäume, die stark und unbezwingbar an ihrem Platz standen und trotzdem Ruhe ausstrahlten. Den Eichhörnchen schaute sie gerne zu, wie sie flink über die Äste schnellten, beobachtete Spechte, die Stunde um Stunde an den Stämmen klopften und einmal hatte sie einen Fuchsbau entdeckt, bei dem vier Jungtiere mit der Mutter herumbalgten. In diesen Stunden vergaß sie alles, was sie sonst bewegte.

Zur Schule ging sie ganz gerne, weil sie erstens in dieser Zeit nicht zu Hause sein musste und zweitens, weil sie viele Themen im Unterricht spannend fand. Sie saugte sämtliche Lerninhalte förmlich auf und hatte ein entsprechend großes Wissen in vielen Bereichen. Einige Mitschüler machten ihr deshalb das Leben schwer. Sie lachten über sie und bezeichneten sie als Streberin. Marlene nahm an, dass sie das taten, weil sie neidisch waren auf ihre Top-Noten. Aber auch, weil sie das mit Abstand schlecht angezogenste Mädchen der ganzen Schule war. Und, sie besaß noch nicht einmal ein Smartphone.

Seitdem Herr Römer im Sozialkundeunterricht das Thema Mobbing besprochen hatte, ließen die sie weitestgehend in Ruhe. Aber es hatte auch andere Zeiten gegeben, da hatten sie manchmal ganz schön auf ihr herumgehackt. Ein paar Mitschüler gab es natürlich, die in der Pause mit ihr sprachen, aber kurz zusammengefasst konnte man sagen, dass sie zumindest keine wirklichen Freunde hatte, in der Schule nicht und sonst auch nicht.

Heute Nacht, als sie gerade zu Bett gegangen war, hatte sie die verräterischen Geräusche an der Wohnungstür gehört. Der Schlüssel war mehrmals gegen die Metallblende des Schlosses geschrammt, bevor er das Schlüsselloch fand. Beim ersten Mal hätte man noch meinen können, es wäre Einbildung gewesen. Aber spätestens nach dem dritten Versuch schrillte das Geräusch durch die nächtlich ruhige Wohnung direkt zu Marlene ins Zimmer. Das Zuknallen der Tür brauchte es als Bestätigung schon gar nicht mehr. Ihr Vater war wieder einmal nach Hause gekommen. Das machte er immer, wenn er kein Geld mehr hatte und niemanden fand, mit dem er umherziehen konnte.

Solange der Vater nicht da war, schimpfte ihre Mutter über ihn. Sie bezeichnete ihn oft als alten Säufer, aber wenn er sich dann wieder zeigte, saß sie bei ihm und zusammen tranken sie viel Bier und Schnaps. Das war schon deswegen nicht schön, weil es im Laufe der Nacht immer zu Streitigkeiten kam. Marlene konnte dann nie schlafen.

So war es auch in der vergangenen Nacht gewesen. Sie hatte krampfhaft versucht einzuschlafen. Aber als der Vater anfing herumzubrüllen und die Mutter dann heulte und noch später sogar Gegenstände flogen, war es vollends aus mit der nächtlichen Ruhe.

Sie waren schon eine komische Familie. Marlies, die Mutter, eine ziemlich dünne Frau mit einem dunkelblonden Pagenkopf, die sich nicht sehr um ihr Aussehen kümmerte. Nicht, dass sie Geld für besondere Mode gehabt hätten. Aber manchmal störte es Marlene schon, wenn sie ständig mit den verwaschenen Sweatshirts herumlief, die schon völlig ausgeleiert an ihrem Körper hingen. Sie schnitt sich ihren Pony selber, was man auch sehen konnte, denn oft war er völlig schief. Drei Tage in der Woche ging sie putzen, in einer großen Versicherung in der Stadt und kam erst spät am Abend nach Hause. Ansonsten hockte sie meistens im Wohnzimmer vor dem Fernseher und wartete darauf, dass der Vater sich mal wieder sehen ließ. Wenn er nicht da war, trank sie eigentlich nicht, aber mit ihm zusammen war sie auch meistens betrunken. Sie sparte so viel wie möglich von ihrem Verdienst, um ihrem Mann etwas zu bieten, denn wenn kein Alkohol im Haus war, ging der Vater schnell wieder.

Ihr Bruder Lukas hielt sich, so gut es ging, fern. Er war selten zu Hause.

Nach der lauten langen Nacht war Marlene in den frühen Morgenstunden doch noch eingeschlafen und um 7:30 Uhr plötzlich hochgeschreckt. Der Blick auf den Wecker zeigte ihr, dass sie spät dran war für die Schule. Sie ärgerte sich, dass der Wecker nicht geklingelt hatte und sprang aus dem Bett. Schnell putzte sie die Zähne, schüttete sich drei Fuhren Wasser ins Gesicht und bürstete ihre dunklen widerborstigen Locken so gut es ging in Form. Bekleidet mit dem roten Rollkragenpullover und der ausgewaschenen Jeans, die sie immer trug, wenn sie nicht in der Wäsche war, hatte sie sich noch schnell ein Butterbrot geschmiert und war losgelaufen. Erst unterwegs fiel ihr ein, dass heute Sonntag war und sie gar nicht in die Schule musste.

Bald erreichte sie den Bombentrichter, der im mittleren Teil des Waldes lag, schön versteckt hinter Brombeersträuchern. Er war noch ein Überrest aus dem letzten Krieg. Eine Bombe war dort explodiert und hatte ein riesig großes Loch im Waldboden hinterlassen.

Das wusste sie von dem Förster, der hier ganz selten mal vorbei kam. Aber wenn sie sich trafen, unterhielt er sich immer freundlich mit ihr. Einmal hatte er ihr erklärt, wie ein solches Bombenloch entsteht. Auch wenn sie sich vorher nie Gedanken darüber gemacht hatte, fand sie das sehr interessant. Sie hatte sich danach oft vorzustellen versucht, wie schrecklich wohl das Leben im Krieg gewesen sein mochte.

Es war Oktober und inzwischen schon herbstlich geworden. Beim Ausatmen bildete sich Hauch in der kühlen Luft. Außerdem waren seit vorgestern ganz schön viele Blätter gefallen. Über ihr, in der knorrigen Kiefer, gab ein Eichelhäher seinen heiseren Ruf ab. Marlene schaute nach oben. Der Vogel legte den Kopf schief und sah zu ihr herunter. Er krächzte noch ein paarmal, so dass sie das Gefühl hatte, er wolle ihr etwas erzählen, bevor er weg flog.

Sie schleuderte ihren Schulranzen auf den Boden und schaute dann erstaunt in das Loch hinunter. Neben dem großen Baumstamm, den sie irgendwann einmal mit viel Kraftanstrengung dort hinuntergerollt hatte, stand ein komischer Kasten, der fast aussah wie ein sehr großer Überseekoffer. Er war fast komplett mit den frisch gefallenen Blättern zugedeckt, Einem unbedarften Spaziergänger wäre er vermutlich nicht aufgefallen, doch Marlene bemerkte ihn sofort.

Sie rutschte den Kraterrand hinunter und kam direkt neben der großen Kiste zum Stehen. Sie setzte sich erst einmal auf ihren Baumstamm.

Das Ding sah komisch aus. Es war gerade mal einen halben Meter hoch. Es war in etwa so lang, dass sich ein Mann hineinlegen könnte, rechteckig, ganz aus Metall und es glänzte hell, obwohl gar keine Sonne schien. An den Seiten waren Muster in verschiedenen blauen Metalltönen eingearbeitet. Der Deckel, vielleicht 10 cm hoch und etwas von dem Kasten abgesetzt, hatte längliche senkrechte Einkerbungen und wurde von einem Schnappverschluss mit Druckknopf gehalten. Marlenes Herz schlug jetzt ganz schnell. Wie war diese seltsame Kiste hierhin gekommen?

Marlene schob die Blätter von dem Metalldeckel herunter und versuchte, die Kiste zu öffnen. Sie zog an dem Verschluss und rüttelte an dem Deckel, aber nichts bewegte sich. Dann drückte sie auf den Knopf an dem Verschluss und der Deckel sprang mit einem Klacken auf. Das Innere bestand, ebenso wie die Außenseite, komplett aus Metall. Zwei flache Streben verbanden innen die Seitenteile, wie Sitze in einem Schlauchboot. Vorne war ein kleines bläulich schimmerndes Kästchen eingebaut, aus dem ein silberner Hebel herausragte. Ein paar Lämpchen schimmerten in verschiedenen Farben. Dieses Kästchen glänzte noch stärker als der Rest, so als hätte es jemand gerade erst poliert.

Marlene wackelte vorsichtig an dem Hebel und plötzlich begannen die Knöpfe zu blinken. Sie erschrak, machte einen Schritt zurück, so dass sie gegen den Baumstamm lief und mit einem schrillen Schrei hintenüber fiel.

Als sie sich wieder aufrappelte, musste sie über sich selber schmunzeln. Vor was hatte sie eigentlich Angst gehabt?

Das Gerät sah aus, wie von einem anderen Stern und die Schalter leuchteten extrem hell. Auch das Metall war ganz merkwürdig. Es war nur hauchdünn, aber wenn sie versuchte es zu bewegen, war es stahlhart. Vorsichtig stieg sie erst mit einem Bein in den Kasten, zog dann das zweite hinterher, bückte sich zu dem bläulichen Kästchen und bewegte den Hebel nach oben.

Nun blinkten die Knöpfe nicht mehr wild durcheinander, sondern der Reihe nach, einer nach dem anderen und auf dem Griff des Hebels leuchtete jetzt ein Knopf in einem sehr grellen gelb.

So etwas hatte sie noch nie gesehen. Ihr war sehr mulmig zumute, aber sie nahm all ihren Mut zusammen und legte ihren Daumen auf diesen Knopf. Während sie fester zudrückte, schloss sie die Augen. Es gab einen starken Ruck vom Boden des Metallkastens und wieder flog sie nach hinten. Dieses Mal landete sie im mittleren Teil des Kastens, zwischen den beiden Metallstreben.

Als sie ihre Augen wieder aufriss, sah sie nichts. Es war natürlich nicht nichts, was sie sah. Aber es war verschwommen. Man konnte es vielleicht so beschreiben: es war, als würde sie durch einen Wasserstrahl hindurchschauen. Aufstehen ging auch nicht, sie wurde wie von einer Sturmbö auf den Boden gedrückt und kam sich vor, wie ein Käfer, der auf dem Rücken liegt. Dagegen ankämpfen brachte gar nichts. Angst breitete sich in ihrem Körper aus und lähme sie noch zusätzlich. Aber bereits nach einigen Sekunden war der Spuk vorüber. Der Druck ließ nach und sie konnte wieder klar sehen.

Marlene erhob sich zögernd und wuschelte durch ihre Haare, weil es sich anfühlte, als klebten sie ihr am Kopf. Beim Betasten merkte sie, dass alles normal war. Aber ein merkwürdiges Gefühl blieb.

Zuerst dachte sie, sie hätte sich getäuscht, aber alles sah plötzlich ganz anders aus als eben noch. Nachdem sie einige weitere Sekunden auf den Trichterboden gestarrt hatte, fiel ihr auf was es war. Das Herbstlaub, das sich in den letzten Tagen auf den Waldboden geschichtet hatte, war verschwunden. Hier gab es nur aufgewühlte Erde. Sie stand auf und sah sich um. Ihr Baumstamm war ebenfalls nicht mehr da. Wie konnte das sein? In welchen Alptraum war sie hier hineingeraten? Sie blieb stocksteif stehen und ihre Augen suchten den Trichter ab, in der Hoffnung, irgendetwas Vertrautes zu finden. Aber da war nichts. Im wahrsten Sinne des Wortes: Nichts. Sie erschrak erneut. Ihre Schultasche hatte eben noch oben am Bombenkraterrand gestanden. Die war ebenfalls weg. Nun verstärkte sich ihre Angst und eine leichte Panik beschlich sie.

Sie kletterte über den steilen, matschigen Boden nach oben. Keine einzige Pflanze wuchs hier, wo sonst alles mit Moos, Brennnesseln und sogar ein paar Farnen bedeckt war. Wärmer war es auch geworden.

Oben angekommen, erstarrte sie, als sie endlich bemerkte, was es war. Hier waren keine Bäume. Deswegen war es so hell. Nun wurde ihr klar, was sie so verwirrt hatte. Der Wald war weg. Einfach weg. Das konnte doch nicht sein. War sie etwa eingeschlafen? Träumte sie? Und wenn, dann war das ein fürchterlicher Alptraum.

Sie lief ein paarmal um den Trichterrand herum und hielt nach allen Seiten Ausschau. Das hier war ein Acker. Ihre Verzweiflung war groß, weil sie überhaupt nicht wusste, was sie jetzt tun sollte. Sie blickte abwechselnd in den Trichter und über den Acker.

Aus der Ferne näherte sich ein dröhnendes Geräusch, das langsam in Marlenes Bewusstsein drang. Sie blickte in die Richtung aus der es kam und sah viele kleine Flugzeuge am Himmel. Gleich darauf waren Detonationen zu hören. Dort über der Stadt warfen sie Bomben ab. Marlene wunderte sich kurz, woher sie das eigentlich wissen konnte, aber irgendwie wusste sie es. Das waren Flugzeuge, die Bomben abwarfen, so, wie in alten Filmen im Fernsehen, die ihr Vater manchmal schaute. Und das hier sah ganz genauso aus.

Die Flugzeuge kamen in ihre Richtung geflogen, das Dröhnen der Motoren schob sich bereits über die Felder zu ihr herüber. Instinktiv wollte Marlene sich wieder in den Krater rutschen lassen. Aber das ging nicht so gut wie sonst, weil hier nur schlammige Erde war. Ihre Schuhe sanken tief in den Matsch ein. Sie stapfte hektisch nach unten und sah, dass dieser Kasten, der ihr das alles eingebrockt hatte, sehr hell leuchtete. Wenn diese Bomber über sie hinweg düsten, dann würden die Piloten die hellen Lichter bestimmt sehen. Also klappte sie schnell den Deckel zu und warf ihre Jacke über den metallischen Kasten. Sie selber kauerte sich daneben. Das Dröhnen kam immer näher, aber es dauerte noch eine gefühlte Ewigkeit, bis die Flugzeuge in unmittelbarer Nähe an ihr vorbei flogen.

Sie warfen nun wieder Bomben ab. Der Knall der Explosionen und die Druckwellen, die sie spürte, waren jetzt so nah und so stark, dass sie laut aufschrie vor Angst. Ihr Herz raste. Marlene machte sich noch kleiner und drückte sich ganz fest an den Kasten. In dieser Position verharrte sie eine ganze Weile, bis das Dröhnen nur noch ganz leise in der Entfernung zu hören war. Sie zitterte am ganzen Leib.

Wie in Trance kletterte sie wieder nach oben und schaute über dieses weite Feld. Sie stand auf schlammigem Ackerboden, aus dem Reihen von kleinen Pflänzchen wuchsen. ‚Im Herbst?‘, fragte sie sich gerade, als sie die Rauchschwaden sah. Sie waren nicht sehr weit weg und Marlene wurde immer bewusster, in welcher Lebensgefahr sie hier steckte. Es war Krieg. Die Erkenntnis sickerte langsam zu ihrem Verstand durch. ‚Wie? Warum?‘ Diese Wörter kreisten in ihrem Gehirn hin und her und ‚Frühling‘ gesellte sich dazu, wenn sie auf den Ackerboden schaute, aus dem diese Pflanzen wuchsen. Und es war warm. Die Sonne brannte nicht, wie im Sommer, sie hatte diese frühlingshafte Wärme. Wieso konnte jetzt Frühling sein? Eben war doch noch Herbst. Und wieso war hier Krieg?

Marlene stolperte wieder hinunter zu dem Kasten. Genau, das Ding hatte sie hier abgesetzt. Dann musste es sie ja auch wieder zurück bringen können. Sie nahm ihre Jacke und zog sie an. Unter dem geöffneten Deckel blinkten diese Knöpfe immer noch grell. Es waren acht Stück. Erst jetzt sah sie die Zahlen darauf. Hintereinander stand da die Kombination:

1 – 7 – 0 – 4 – 1 – 9 – 4 – 3.

Was sollte das denn bedeuten? Sie versuchte, sich zu konzentrieren. Aber das war schwer, Ihr ganzer Körper zitterte immer noch wie verrückt. Sie atmete mehrmals tief durch, ohne sich zu bewegen. Unter dem Hebel entdeckte sie nun zwei weitere Felder, auf denen Zahlen zu sehen waren.

Diese beunruhigten Marlene noch mehr. Sie wollte nicht jedes Mal, wenn sie da drauf guckte, neue Knöpfe und Schalter finden, mit denen sie nichts anfangen konnte. Zu viele Gedanken schwirrten in ihrem Kopf herum. Obwohl sie sich ermahnte, Ruhe zu bewahren und nachzudenken, konnte sie sich nicht konzentrieren. Sie beschloss, noch einmal hoch auf das Feld zu gehen, um die Lage zu checken. Es hatte sich nicht viel verändert. Die Rauchschwaden von den Bombenabwürfen stiegen immer noch gen Himmel, sowohl in der Ferne über der Stadt als auch in ihrer Nähe am Wäldchen. Das musste die Munitionsfabrik sein, von der ihr auch der Förster erzählt hatte. Die Amerikaner wollten damals im zweiten Weltkrieg diese Munitionsfabrik zerstören.

Das Feld mit den langen Reihen von frisch ausgetriebenen Pflänzchen zog sich in die eine Richtung soweit Marlene blicken konnte. Auf der anderen Seite schaute sie auf einen Wald, der die Fabrik umgab. Gegenüber konnte sie weit entfernt ein paar Häuser erkennen. Sie drehte sich ein paarmal um sich selber und suchte nach Anhaltspunkten, die sie auf eine Idee bringen könnten oder nach jemandem, den sie fragen konnte. Aber wenn hier wirklich Krieg war, würde sich bestimmt sowieso niemand draußen herumtreiben.

Sie ließ sich auf dem matschigen Boden nieder, die Füße halb in den Trichter gestellt und legte ihren Kopf auf die Knie. Es wollte ihr keine Idee kommen, wie sie zurück in ihre alte Welt gelangen konnte.

Dicke Tränen lösten sich aus ihren Augen. Bisher hatte sie noch gar keine Zeit gehabt, traurig zu werden, aber jetzt übermannte sie ein Gefühl der Verlassenheit. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Sie hatte auch keine Ahnung, wie lange sie hier gesessen hatte, als hinter ihr ein Geräusch zu hören war, das sich schnell näherte. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken.

Sie sprang auf und drehte sich um. Quer über das Feld kam ein Mann in dunklen Klamotten auf sie zu gelaufen. Vor Schreck gab sie einen kurzen Schrei von sich und stapfte, so schnell sie konnte, nach unten zu diesem Metallkasten. Ohne zu denken sprang sie hinein, ergriff den Hebel und bewegte ihn nach oben. Dass sie noch nicht früher darauf gekommen war, einfach noch einmal das gleiche auszuprobieren. Sie musste unter Schock stehen, anders konnte sie es sich nicht erklären. Die Knöpfe begannen wieder, der Reihe nach zu blinken. Oben am Trichterrand hatte der Mann sie nun erreicht. Er schaute zu ihr nach unten mit einem verzweifelten Blick und sagte etwas, was sie aber nicht verstand. Sie betätigte hastig den in grellem gelb leuchtenden Knopf an dem Hebel. Der Kasten ruckelte wieder stark, aber dieses Mal fiel Marlene nicht hin, weil sie auf der Strebe saß und schon darauf vorbereitet war. Die Augen zusammengekniffen, fühlte sie den Windhauch und hoffte, gleich wieder in ihrer gewohnten Umgebung anzukommen. Aber als sie sie langsam öffnete, kniete dieser Mann genau vor ihr und schaute sie direkt an. Er hielt sich an dem Metallrand der Kiste fest, so als würde er sonst ertrinken.

Der Mann war vom Laufen über das Feld noch ganz außer Atem. In der Hand hielt er eine Pistole.

„Bitte, nicht schießen.“ Marlenes Stimme zitterte.

„Hab keine Angst, ich will dir nichts tun.“ Der Mann stand auf.

„Ich… wieso? Eigentlich…“, stotterte Marlene.

Der Mann legte beruhigend seine Hand um Marlenes schmutzige Finger, die sich an dem Hebel festkrallten. Sein Atem ging immer noch schnell und er holte tief Luft.

Stockend sagte er: „Du musst keine Angst haben. Ich bringe dich hier wieder weg.“

„Weg? Wohin? Ich will nach Hause.“ Marlenes Gedanken rasten, aber sie war nicht in der Lage das Chaos in ihrem Kopf irgendwie zu ordnen und einen vernünftigen Satz herauszubringen.

„Woher kommst du denn? Wir müssen die Maschine auf deine Zeit einstellen.“ Der Mann schaute sie noch einmal intensiv an und wendete sich dann dem Kasten zu.

„Maschine? Welche Maschine? Was ist das für eine… meine Zeit? Was meinen Sie?“

„Es handelt sich hier um eine Zeitmaschine. Ich habe sie von meinem Großvater bekommen.“ Der Mann sagte das, als wäre es eine völlig normale Sache.

„Eine was?“ Sie lachte hysterisch auf und wollte aufstehen.

Der Mann drückte sie wieder auf den Sitz.

Marlene hatte sich insgeheim schon so etwas gedacht, wollte es aber nicht wahrhaben. „Es gibt keine Zeitmaschinen“, sagte sie bestimmt.

„Ja, das habe ich bis heute Morgen auch geglaubt.“ Er machte sich an den Knöpfen zu schaffen.

„Aber wie kommt...?“ Sie starrte den Mann immer noch an.

„Komm, ich bringe dich nach Hause. Sag mir, an welchem Tag du gestartet bist.“ Der Mann hielt einen der Knöpfe fest. „Aber hier unten hast du nichts verstellt, oder?“ Er zeigte auf die Felder unter dem Hebel.

„Nein, ich habe überhaupt nichts verstellt. Die Zahlen sind mir erst aufgefallen, als ich schon hier war. Ich habe nur den Hebel nach oben geschoben und dann den gelben Knopf gedrückt.“ Marlenes Stimme überschlug sich fast.

„Nun gut, dann sag mir jetzt dein Startdatum.“ Der Mann versuchte augenscheinlich, geduldig zu bleiben.

„Oktober 2018“, stotterte Marlene.

„2018? Das ist weit in der Zukunft!“

„Wie bitte?“

„Ach nichts. Welcher Tag?“ Der Mann schaute immer wieder nach oben zum Kraterrand.

„Kommt da noch jemand?“ Marlene blickte auch hinauf.

„Ja, das könnte gleich passieren. Deshalb wäre es sehr freundlich, wenn du mir nun sagst, welches Datum du vorhin noch hattest, junges Fräulein.“ Er lächelte sie traurig an, trotz der offensichtlichen Gefahr, in der er oder besser sie beide, hier schwebten.

„O.K., ich glaube es war der 21. Bin mir aber nicht sicher. Können wir nicht erst einmal hier weg?“ Sie hob die Schultern leicht an.

„Du hast Recht, Mädchen, nehmen wir den 21. Oktober 2018“. Er drehte an den oberen Knöpfen.

Nun war in der Ferne ein Motorgeräusch zu hören von einem heranfahrenden Wagen, kurz danach Männerstimmen.

Der Mann mit den grünen Augen sprang zu ihr in die Zeitmaschine und stellte den Hebel nach oben. „Halt dich fest. Es geht los.“ Er drückte auf den gelb leuchtenden Knopf.

Marlene saß auf dem Metallbrett, als der Ruck die Maschine erschütterte. Sofort schloss sie die Augen und wurde auf den Sitz gepresst. Sie spürte den hinter ihr sitzenden Mann, der dicht an sie gedrückt wurde. Ihr blieb für einen Moment die Luft weg, aber dann ließ der Druck nach und sie waren scheinbar wieder gelandet, falls das der richtige Ausdruck für eine Zeitreise war. Sie öffnete die Augen und konnte ihr Glück kaum fassen. Marlene sprang sofort aus der Kiste und lief freudestrahlend den Abhang des Kraters hinauf. Über ihr formte sich wieder das inzwischen herbstlich lichte Blätterdach der Bäume. Sie war zurück. Und dort stand auch ihr Schulranzen. Sie musste lachen, sie konnte nicht anders und gleichzeitig liefen ihr Tränen über die Wangen.

„Der 21. Oktober war wohl richtig geraten.“ Der Mann schaute zu ihr hoch. Dann klappte er den Hebel nach unten und stieg aus.

„Ja, es ist alles wieder da.“ Marlene rutsche, wie gewohnt, mit Hilfe der vielen Blätter den Hang hinunter, nun wieder ohne im Schlamm zu versinken.

Er setzte sich auf ihren Baumstamm, der jetzt natürlich auch wieder dort lag.

Sie nahm neben ihm Platz. „Wie heißen Sie eigentlich?“ „Kurt. Kurt Decker. Angenehm.“ Er streckte ihr seine rechte Hand entgegen.

Sie nahm sie und drückte sie fest. „Ich bin die Marlene Röckerath. Auch angenehm.“

„So, 2018 also?“ Mit fragendem Blick schaute er zu ihr hoch.

„Ja. Und Sie? Aus welcher Zeit kommen Sie eigentlich?“

„Ich komme tatsächlich aus dem Jahr 1943. Es ist Krieg.“ Er scharrte mit den Stiefeln ein bisschen Laub zur Seite.

„Dann habe ich mich also nicht getäuscht.“ Es war alles so unreal, dass sie sich über sich selber wunderte. Jeder normale Mensch würde doch jetzt ausflippen.

„Es muss schwer sein für Dich zu fassen, was hier gerade passiert.“ Seine leuchtenden Augen schauten sie fasziniert an. „Glaub mir, für mich ist das alles selbst kaum zu glauben.“

Marlene schluckte einmal. „Ja, klar. Echt abgefahren. Ich bin momentan nur froh, dass ich wieder zu Hause bin.“

„Abgefahren? Ach so, du kennst das? Nennt man es in deiner Zeit so, wenn man durch die Zeit reist? Bei uns kennt man das nicht.“ Er klang überrascht.

„Zeitreisen? Nein, das gibt es eigentlich gar nicht. Wenn ich es gerade nicht selber erlebt hätte, das kannst du mir jetzt auch glauben, ich würde es in tausend Jahren nicht für möglich halten.“ Marlene hielt sich die Hand vor den Mund. „Oh, Verzeihung. „Das können Sie mir jetzt glauben, natürlich.“

„'Du' ist schon in Ordnung. Ich heiße Kurt. Aber das habe ich ja schon gesagt.“

„Wie alt bist du denn, Kurt?“

„17 und du?“

„Oh, ich hatte dich älter geschätzt.“

„Danke, sehr freundlich.“ Sein zurückhaltendes Lächeln verstärkte das Grübchen an seinem Kinn. Und plötzlich sah Marlene ihn mit anderen Augen. Er war erst 17. Nun, als sie ihn genauer anschaute, war das klar zu sehen. Sie hatte die ganze Zeit gedacht, dass er ein erwachsener Mann wäre. Wahrscheinlich waren dieser graue filzige Mantel und sein altmodischer Kurzhaarschnitt daran schuld.

„Ich bin 15 und gehe in die Käthe-Kollwitz-Gesamtschule. Und Du? Auf welche Schule gehst Du?“ Sie schaute ihn an.

„Schule? Ja, da war ich auch mal. Das ist aber schon länger her. Meine Schule wurde inzwischen durch Bomben zerstört. Aber schon vorher wurde mein ganzer Jahrgang eingezogen. Wir sind jetzt Flakhelfer. Na ja, 'wir' ist nicht mehr ganz der richtige Ausdruck. Ich bin fast der einzige, der noch übrig ist. Die meisten aus meiner Stufe sind tot oder schwerstverletzt.“ Er schaute auf seine rotbraunen Stiefel mit denen er jetzt wieder in dem Laub herumscharrte.

Marlene nickte ernst.

„Weißt Du? Mein Großvater hatte solche Angst um mich. Als ich heute Morgen für ein paar Urlaubstage von meinem Einsatzort in der Eifel nach Hause kam, hat er mir sofort erklärt, dass er mich retten muss. Er führte mich in das kleine Wäldchen bei der Munitionsfabrik dort hinten und wir haben zusammen diese Metallkiste ausgegraben. Er hat mir gesagt, dass er die eigentlich ein für alle Mal in der Erde lassen wollte, aber jetzt würde die Situation es erfordern, sie wieder auszugraben.“

Marlene lauschte gespannt.

Kurt blickte sie kurz an. „Er hat mir alles genau erklärt. Also, wie sie funktioniert. Ich war schon eingestiegen und er war gerade dabei, sie auf ein Datum einzustellen, von dem er meinte, dass mir dann keine Gefahr mehr droht, da kamen Amis angeflogen und warfen Bomben ab, auf die Munitionsfabrik. Mein Großvater schrie noch, ich solle den Knopf drücken. Das tat ich auch. Es gab aber nur einen Ruck und ich fand mich inmitten dieses Bombentrichters wieder, wo ich dich gerade getroffen habe, ohne die Zeitmaschine.“

„Aber, wie kam dann die Zeitmaschine zu mir?“ Sie schüttelte ungläubig den Kopf. „Und, du warst doch gar nicht in dem Trichter als ich landete.“

„Ich weiß es auch nicht. Ich kann es mir nur so erklären, dass die Maschine irgendwie während der Zeitreise von einer Bombe getroffen wurde und dann alles durcheinander geraten ist. Die Koordinaten haben sich um ein paar Hundert Meter verschoben. Ich bin dann in dem Bombenloch gelandet, wahrscheinlich nur Sekunden nach der Detonation. Die Zeitmaschine muss dann auf die von meinem Großvater eingestellte Zeit, also zu dir gereist sein.“

Marlene schnappte nach Luft. „Du meinst, sie ist mehr als siebzig Jahre später bei mir angekommen? Leer?“

„Offensichtlich, ja. Ich bin im Jahr 1943 herausgefallen und die Maschine ist dann ins Jahr 2018 gereist.“ Kurt klang jetzt sehr überzeugend. „Was ich nicht verstehe, ist, warum das Datum der Zeitmaschine wieder auf 1943 zurückgestellt war. Oder hast du den 17.04.1943 etwa selber eingestellt?“ Er drehte sich zu ihr.

„Nein. Natürlich nicht. Ich wusste doch bis eben noch nicht einmal, dass das dort ein Datum ist.“

„Ja, du hast Recht. Also muss das wohl auch mit dem Bombenabwurf zusammenhängen. Das Datum hat sich dann scheinbar wieder zurückgestellt.“ Kurt schaute nachdenklich auf die Knöpfe.

„Aber eigentlich ist es ja auch egal. Hauptsache wir sind in Sicherheit“, platzte es aus Marlene heraus.

„Na ja, außer mein Großvater. Der ist jetzt tot.“ Mit einem noch traurigeren Gesicht, als er es sowieso schon die ganze Zeit hatte, blickte er Marlene wieder an. „Ich bin dann, nachdem ich in dem Bombenkrater gelandet war, natürlich sofort zu dem Wäldchen zurückgelaufen. Aber ich habe meinen Großvater nur tot da liegen sehen. Dann kamen schon die nächsten Jagdbomber und schossen wieder auf die Munitionsfabrik.“

„Ja, die habe ich auch gesehen.“ Marlene nickte und erschauderte als sie sich an die Situation erinnerte.

„Nachdem die wieder weg waren und ich meinem Großvater nicht mehr helfen konnte, wollte ich eigentlich zurück nach Hause gehen.“ Kurt legte den Kopf schief. „Aber dann sah ich dich an dem Krater stehen und hatte schon ein komisches Gefühl, dass du irgendetwas mit der verschwundenen Zeitmaschine zu tun haben könntest.“

„Aber, ich hatte doch nichts mit dem Verschwinden zu tun“, sagte Marlene bestimmt.

„Nein, natürlich nicht, aber du warst ja immerhin mit ihr angereist. Und nur so habe ich es tatsächlich noch geschafft, in eine sichere Zeit zu kommen, so wie es mein Großvater geplant hatte.“ Er lächelte jetzt wieder. „Oder ist das hier gar keine sichere Zeit?“

Marlene strahlte ihn an. „Doch, was Bomben angeht, bist du hier völlig sicher.“

Sie saßen noch lange auf dem Baumstamm, bis sie merkten, dass es allmählich dämmerte.

„Ich muss eigentlich bald mal nach Hause“, sagte Marlene zu Kurt. „Mein Vater ist zwar da, dann kümmert sich eh keiner um mich, aber je nachdem merken sie es doch und dann bekomme ich Ärger. Das versuche ich nach Möglichkeit zu vermeiden.“

„Um welche Art von Ärger handelt es sich dabei?“ Kurt schaute sie an.

„Am schlimmsten wäre Stubenarrest.“ Sie erhob sich von dem Baumstamm.

„Oh, das wäre sehr schlimm. Dann könnten wir uns nicht sehen.“ Er schien tatsächlich erschrocken. Nach einem kurzen Moment fügte er hinzu: „Wenn du das überhaupt möchtest, mich wiedersehen.“

Sie blickte von der Zeitmaschine zu ihm. „Klar.“

Er lächelte sie an.

„Wichtig ist jetzt vor allem, was wir mit dir heute Nacht machen. Wo könntest du schlafen?“

„Ich kann hier bleiben und die Nacht im Wald verbringen. Dann sieht mich auch niemand.“ Er schaute an sich herunter. „Ich bin ziemlich schmutzig.“

Marlene prüfte seine Kleidung jetzt genauer. Er trug einen grauen langen Mantel mit Knöpfen und aufgesetzten Taschen auf der Brust. Dazu eine graue Hose aus dem gleichen filzigen Stoff und rotbraune große klobige Schuhe. Als sie den Aufnäher an seinem Oberarm sah, erschrak sie. „Was hast du denn da am Ärmel? Das ist ja ein Hakenkreuz.“

„Oh ja, ich musste der HJ beitreten, also der Hitlerjugend, bevor sie uns als Flakhelfer einsetzten. Da ist diese Armbinde mit Hakenkreuz Pflicht.“

„So kannst du hier nicht herumlaufen. Wenn dich jemand damit sieht, wirst du eingesperrt. Der Schmutz ist eher ein geringeres Problem.“ Ihre Stimme war plötzlich lauter geworden.

„Eingesperrt? Oh. Bei uns wurde man eher eingesperrt, wenn man sie nicht trug. Es scheint sich hier wirklich um eine friedliche Zeit zu handeln.“

„Ja, weitestgehend. Zumindest in dieser Region.“ Marlene fasste dieses rote Stück Stoff an. „Kann man das nicht abmachen?“

„Klar kann man das.“ Er zog ein Messer aus der Brusttasche seiner Jacke, klappte es auf und versuchte, die Nähte damit zu kappen.

„Komm, ich helfe dir.“ Sie nahm ihm das Messer ab und trennte an mehreren Stellen die Nähte durch, so dass er kurz darauf die Armbinde Stück für Stück abreißen konnte.

Dann holte er die Pistole hinten aus seinem Hosenbund heraus und hielt sie Marlene hin. „Und die hier? Die brauche ich dann wohl auch nicht, oder?“

„Nein, auf keinen Fall.“ Erschrocken wich sie zurück.

„Dann sollten wir die Sachen vielleicht vergraben.“ Er wiegte die Pistole in der Hand.

Sie suchten eine große Buche in der Nähe aus, unter der Kurt sofort begann, ein Loch zu graben. Marlene wickelte die Gegenstände in eine Plastiktüte, die sie in ihrem Ranzen fand und legte sie dann hinein. Gemeinsam schaufelten sie Erde darüber und klopften alles fest.

Marlene rieb sich den Dreck von den Händen. „Besser so, oder?“

„Ist in Ordnung. Ich hänge nicht daran.“ Er setzte sich wieder auf den Stamm. „Dann bleibe ich mal hier. Kommst du morgen wieder?“

„Ja, aber ich muss erst einmal zur Schule.“ Ihr fiel ein, dass sie ja noch das Butterbrot im Ranzen hatte. Sie ging zu ihrer Schultasche, holte das in Alufolie eingewickelte Brot heraus und warf es mit Schwung hinunter zu Kurt. Der fing es auf und begann sofort es auszuwickeln. „Seltsames Material. Ihr wickelt eure Brote in Metall ein?“

„Ach so. Du kennst gar keine Alufolie. Womit habt Ihr denn damals eure Schulbrote eingepackt?“

„Natürlich in einer Butterbrotdose oder auch in Pergamentpapier. Darf ich mal probieren? Was ist das braune? Das ist kein Zuckerrübensirup.“

„Nee, Zuckerrübensirup hat meine Oma immer gegessen. Das ist Schokocreme. Schmeckt gut. Iss nur, es ist deins.“

Kurt knabberte ein bisschen an der Kruste. Nach kurzem Kauen riss er seine Augen erstaunt auf. „Fabelhaft! Das ist Schokolade auf dem Butterbrot. Wirklich schmackhaft.“ Er biss nun ein großes Stück ab und kaute genüsslich.

„Gut, dann kann ich dich hier lassen. Morgen früh auf dem Schulweg komme ich kurz vorbei und bringe dir mehr zu essen und eine warme Decke. Am Nachmittag nach der Schule überlegen wir uns, wo du erst einmal wohnen kannst, wenn du hier bleiben möchtest.“

„Ein sehr guter Plan. Dann geh jetzt mal besser nach Hause, bevor deine Alten dich noch einsperren.“ Den letzten Bissen kauend, steckte er die Hände, die eine leichte Blaufärbung angenommen hatten, in seine Jackentaschen.

„Dir ist ja jetzt schon kalt. Wie willst du die Nacht hier draußen verbringen? Du erfrierst noch.“ Marlene runzelte die Stirn. „Mach dir mal keine Sorgen, Fräuleinchen. Ich habe die letzten Monate draußen verbracht. Zwar habe ich meine Handschuhe verloren und meine Mütze nicht dabei, aber dort in der Bergregion war es bestimmt kälter als hier im Flachland. Ich werde ein bisschen herumlaufen, das wärmt mich wieder auf.“ Er winkte und bedeutete ihr damit, dass sie beruhigt gehen konnte. Marlene zuckte mit den Schultern und hob ihre Hand kurz an, bevor sie sich umdrehte und nach Hause ging.

>> Köln <<

Ihre Eltern waren nicht zu Hause, als sie dort ankam. Sie duschte noch schnell den Matsch ab, der sich bis in die Haare gesetzt hatte und ging dann früh schlafen, weil sie völlig k.o. war. Entsprechend früh wachte sie am nächsten Morgen auf, was gut war. Sie holte die alte Decke aus ihrem Kleiderschrank und rollte sie ganz eng zusammen. In der Küche schmierte sie Butterbrote für Kurt und auch für sich selber. Aus dem Vorratsschrank nahm sie noch eine Dose Würstchen und eine Flasche Wasser mit.

Als sie am Bombentrichter ankam, war Kurt nirgends zu sehen. Ihr fuhr sofort ein Stich ins Herz und sie merkte, wie sehr sie sich darauf gefreut hatte, ihn wiederzutreffen. Er war so anders als alle Menschen, die sie kannte. Sie ging trotzdem nach unten und legte ihre Mitbringsel auf den Baumstamm. Und als sie sich umdrehte, stand er oben und lächelte zu ihr herunter.

„Einen wunderschönen guten Morgen, Fräulein.“ Er hatte die Hände in die Hüften gestemmt.

„Guten Morgen.“ Sie konnte sich das Strahlen nicht verkneifen, so sehr freute sie sich darüber, dass er doch nicht verschwunden war.

Er sah mit schief gelegtem Kopf zu ihr herunter.

„Wieso sagst du dauernd ‚Fräulein‘? Das hört sich ziemlich dämlich an.“

„Na, was soll ich denn sonst sagen? Bist du etwa schon verheiratet?“

„Hä? Wieso verheiratet? Ich bin 15. Wenn mich normalerweise jemand Fräulein nennt, gebe ich ihm einen Tritt.“

„Dann versuche ich mir das mal zu merken. Ich will ja schließlich nicht, dass du mich ernsthaft verletzt. Das was der Krieg nicht geschafft hat…“ Er schmunzelte.

„O.K. Herr Flakschütze.“

„Flakhelfer.“

„Na gut, dann eben Flakhelfer. Was auch immer das ist.“ Sie nahm auf dem Baumstamm Platz und wickelte sich ein Butterbrot aus.

„Sie haben uns auch Luftwaffenhelfer genannt. Wir haben in einer Flakstellung in der Eifel gelebt. Ein paar Soldaten haben uns an der Flak, also einer Fliegerabwehrkanone, ausgebildet und sind dann wieder weg. Schätze mal, die mussten dann woanders hin, weitere Flakhelfer ausbilden. Unsere Aufgabe war, das Dorf zu beschützen, für das wir eingeteilt waren. Einmal haben wir mit der Flak einen Jagdbomber vom Himmel geholt, der dann ein paar Kilometer von uns entfernt herunterkam und ausbrannte. Die verkohlten Piloten waren nicht mehr zu erkennen.“ Kurt erzählte das mit einem gleichmütigen Gesicht während er langsam herunter kam.

Sie nickte stumm und hatte auf einmal keinen Hunger mehr, also packte sie das Brot wieder ein.

Kurt setzte sich neben sie und streckte ihr seine Hand zur Begrüßung hin. „Guten Morgen Marlene. Wie geht es dir heute?“

Marlene nahm seine Hand. Die Geste war zwar etwas altmodisch, aber sie empfand sie als persönlich und fühlte sich ihm sehr nahe in dem Augenblick.

„Willst du lieber Salami oder Käse?“

„Ich darf sogar wählen?“ Kurt strahlte.

„Du darfst nicht nur wählen, du kannst sie alle essen.“ Sie reichte ihm ein Butterbrotpäckchen. „Ich habe dir auch noch eine Dose Würstchen, Wasser und eine Decke mitgebracht. Aber, Mist, mir fällt gerade auf, dass wir gar keinen Dosenöffner haben.“

Kurt angelte nach seinem Taschenmesser. Er zog aus einer Seite ein Metalltool heraus, an dem sich ein Dosenöffner befand und hielt es in die Luft. „Danke Marlene. Du tust so viel für mich.“

„Viel? Du hast mir doch das Leben gerettet. Ohne dich hätte ich diese Zeitmaschine nicht ans Laufen gebracht und wäre wahrscheinlich dort erschossen worden.“ Sie zuckte mit den Schultern.

„Und ohne dich hätte mich eine amerikanische Bombe erwischt oder ich wäre als Flakhelfer drauf gegangen.“

„Also gut, dann sind wir quitt.“ Sie erhob sich. „Iss mal alles auf. Wie ich sehe, kannst du dir gut selber helfen. Ich muss jetzt zum Unterricht. Um halb drei bin ich wieder zurück.“ Sie kletterte hinauf und ging schnellen Schrittes in Richtung Schule.

Es kam Marlene so vor, als hätten sich die fünf Stunden noch nie so lange gezogen. Englisch, Kunst und Geschichte, alles Fächer, die sie eigentlich liebte, aber heute konnte sie sich nicht konzentrieren. Als die letzte Stunde endlich überstanden war, packte sie schnell ihre Sachen zusammen und eilte zurück in den Wald. Dort wurde sie schon von Kurt erwartet. Er stand in seiner Uniform neben einem größeren Haufen von Ästen und sonstigem Holz, den er zusammengesammelt hatte.

„Hallo Kurt. Ich sehe, du hast die Zeit genutzt.“ Marlene schaute etwas bedröppelt. „Aber ich fürchte, wir können hier kein Feuer machen. Das würde sofort den Förster anlocken.“

„Warum das denn nicht? Wir haben immer Feuer angezündet, wenn uns kalt war. Aber leider habe ich keine Zündhölzer.“ Er nickte aber und fing sofort an, die Holzstücke aufzunehmen und in der Umgebung zu verteilen. „Dann ist es wahrscheinlich auch besser, wenn der Holzstapel nicht direkt bei unserem Lager liegt.“

„Ganz genau. Und gut, dass du die Zeitmaschine schon abgedeckt hast, so dass man sie nicht sofort sieht, falls sich mal jemand hierher verirrt.“ Marlene nahm sich auch ein paar große Hölzer und warf sie in der Gegend herum. Nach ein paar Minuten sah es nicht mehr wie die Vorbereitung zu einem Osterfeuer aus.

„Wie war es in der Schule? Hast du etwas gelernt, heute? Ich wünschte, ich könnte auch noch mal hingehen. Früher habe ich sie gehasst, aber dann, seit ich nicht mehr durfte...“ Er rieb sich die Hände, legte sie zusammen und pustete in die Handflächen.

„Ich glaube, wir müssen dir erst einmal etwas Warmes zum Anziehen besorgen, das nicht so auffällig ist. Ich gehe schnell nach Hause und hole Sachen von meinem Bruder.“ Sie nickte ihm kurz zu und lief sofort los.

Beim Betreten der Wohnung hörte sie, dass ihre Eltern im Wohnzimmer saßen. Der Fernseher lief und die beiden stritten sich schon wieder. Sie warf ihre Schultasche in ihr Zimmer und klopfte bei ihrem Bruder an. Keine Reaktion. Also öffnete sie leise die Tür.

Aufräumen würde dem Zimmer auch mal gut tun. Es türmten sich Berge von Klamotten auf dem ungemachten Bett und dem Schreibtischstuhl. Sie kletterte über Schuhe, die wahllos im Zimmer herumlagen und öffnete den Kleiderschrank. Dort waren gottseidank auch noch ein paar saubere Anziehsachen in den Fächern. Sie nahm ein weißes T-Shirt und einen grauen Pullover heraus. Eine saubere Jeans konnte sie nicht finden. Dann musste Kurt seine Hose eben anbehalten. Unten standen noch ein paar alte Turnschuhe von Lukas, die er schon lange nicht mehr getragen hatte. Sie nahm sie heraus und sah auch direkt warum. Die Sohle löste sich etwas von dem oberen Teil. Egal, sie packte alles in eine Plastiktüte. Nun brauchte sie noch eine Jacke. Ihr fiel ein, dass ihre Tante letztes Jahr eine von ihrem Sohn mitgebracht hatte, die Lukas aber nicht haben wollte. Die war dunkelblau und Marlene hatte sie an sich genommen, für den Fall, dass sie ihr irgendwann passen würde.

Unten in ihrem Kleiderschrank fand sie den Anorak in einem Karton. Sie rollte ihn ganz fest zusammen und steckte ihn ebenfalls ein. Aus der Küche holte sie sich noch ein halbes Brot und schlich sich ganz leise wieder nach draußen, bevor ihre Eltern mitbekamen, dass sie zu Hause war.

Völlig außer Atem kam sie am Trichter an. „Hi, du bist noch nicht erfroren, gottseidank. Ich habe dir ein paar Klamotten von meinem Bruder mitgebracht. Sind nicht mehr die Neuesten, aber ich denke für den Moment sollte es gehen.“

„Hei. Wieso hei?“ Kurt schaute von seinem Sitzplatz auf dem Baumstamm hoch zu ihr. Er hatte sich die Decke umgelegt.

„Hi? Ist Englisch und heißt Hallo.“ Sie sagte es so daher.

„Ach so. Sprecht ihr hier auch Englisch?“

„Nicht im Alltag. Aber nachdem Deutschland den Krieg verloren hatte, kamen die Besatzungsmächte, eben auch Amerikaner und Engländer und haben geholfen, das Land wieder aufzubauen. Da ist dann viel Englisches hängengeblieben, schätze ich mal. Jetzt lernt es jeder in der Schule.“

„Habe ich es doch gewusst. Ha! Wir haben den Krieg verloren. Das ist vielen schon länger klar gewesen, aber gesagt hat es niemand laut. Besatzungsmächte? Was soll das denn sein?“ Kurt schüttelte unentwegt den Kopf.

Marlene brauchte einen Moment, bis sie merkte, dass ihr theoretisches Geschichtswissen für Kurt banale Lebensrealität war, die ihn unmittelbar und direkt betraf. Sie fuhr dann mit ihrer Ausführung fort: „Weil die Alliierten, also die Staaten, die sich verbündet haben, um Hitler den Garaus zu machen, damit auch Erfolg hatten, also den Krieg dann gewannen, haben sie Deutschland besetzt und in Zonen aufgeteilt. Das waren ab 1945 die Amerikaner, Engländer, Franzosen und die Russen.“

Marlene war froh, dass sie das Dritte Reich und den zweiten Weltkrieg erst kürzlich in der Schule durchgenommen hatten, so konnte sie Kurt Rede und Antwort stehen.

Der erhob sich von dem Baumstamm und lief nachdenklich um die Zeitmaschine herum. „Das muss ich erst einmal verdauen.

---ENDE DER LESEPROBE---