Marlenes Geheimnis - Brigitte Riebe - E-Book
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Marlenes Geheimnis E-Book

Brigitte Riebe

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Beschreibung

Drei Frauen, drei Generationen und ein Geflecht aus Lügen

Marlene hat die Vertreibung aus der Heimat nach dem Krieg längst hinter sich gelassen. Vor mehr als siebzig Jahren begann sie mit ihrer Mutter Eva am Bodensee ein neues Leben. Eine florierende Schnapsbrennerei, die die Früchte der Region verarbeitet, ist ihr ganzer Stolz. Erst als ihre Nichte Nane kurz nach Evas Beerdigung die Aufzeichnungen der Großmutter liest, bricht die Vergangenheit ohne Vorwarnung herein. Und ein lang gehütetes Geheimnis kommt zutage …

Bestsellerautorin Brigitte Riebe ist zurück – mit einem bewegenden Roman über ein deutsches Familienschicksal

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Seitenzahl: 591

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Das Buch

Als Eva kurz nach Kriegsende aus dem Sudetenland vertrieben wird, gelingt ihr die Flucht über Hunderte von Kilometern an den Bodensee. Dass die kleine Marlene an ihrer Seite überlebt, grenzt an ein Wunder. In dem Dorf Rickenbach bei Salem, umgeben von Streuwiesen und Obstplantagen, ist Eva in ihrem Element. Und so wird aus ihrer kleinen Schnapsbrennerei, die sie mit dem Kriegsheimkehrer Toni Auberlin gründet, ein florierendes Unternehmen.

Jahrzehnte später führt Marlene Auberlin die Geschäfte nach dem Tod von Eva erfolgreich weiter. Doch Marlene hält nicht viel von Familie. Ihre Halbschwester Vicky konnte sie nie leiden, und deren Tochter Nane, die mit Anfang dreißig in einer schweren Krise steckt, ist ihr ein Rätsel. Anlässlich Eva Auberlings Beerdigung treffen die drei unterschiedlichen Frauen wieder aufeinander, und das Geflecht aus Lügen zieht sich immer enger zusammen …

Die Autorin

Brigitte Riebe ist promovierte Historikerin und arbeitete zunächst als Verlagslektorin. Sie hat mit großem Erfolg zahlreiche historische Romane veröffentlicht, in denen sie die Geschichte der vergangenen Jahrhunderte wieder lebendig werden lässt. Mit Marlenes Geheimnis widmet sie sich nun der Kriegs- und Nachkriegszeit nach 1945. Auch Riebes Familie mütterlicherseits stammt aus Nordböhmen, wo sie wie viele Sudetendeutsche nach dem Ende des Dritten Reiches das Schicksal von Vertreibung und Flucht erlitt. Die Autorin lebt mit ihrem Mann in München.

BRIGITTE RIEBE

MARLENES

GEHEIMNIS

ROMAN

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Copyright © 2017 by Diana Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Silvia Kuttny-Walser

Covergestaltung: Teresa Mutzenbach Design

Covermotiv: Collaboration JS/Arcangel; Elenamiv, Klaus Ulrich Mueller,Jose Ramiro Laguna, trabantos, LilKar/shutterstock.com

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-22008-2 V003

www.diana-verlag.de

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Für meine Mutter und ihre Schwestern

Gegen das Vergessen schützt nur die Liebe.

(Dietrich Bonhoeffer, 1906–1945)

1

Endlich war sie wieder am See. Nane war mitten in der Nacht aufgestanden, hatte in ihrer kleinen Frankfurter Wohnung ein paar Sachen zusammengepackt und war danach in Richtung Südwesten aufgebrochen. Sie fröstelte wegen des Schlafmangels, und nach den vielen vergossenen Tränen der letzten Tage fühlte sie sich innerlich ganz wund und leer. Und doch nahm sie dankbar wahr, dass die frische Herbstluft ihr Gesicht streichelte. Zu dieser frühen Stunde war das große Wasser eine glatte Fläche, von der sich langsam muschelgraue Nebelfetzen lösten. Ein Stück entfernt zogen ein paar Enten gemächlich ihre Runden. Bis auf ein einzelnes Licht in der dunklen Restaurantzeile hinter ihr schlief die sonst so belebte Uferpromenade noch.

Es war nun schon einige Jahre her, dass sie zuletzt am Lindauer Hafen gewesen war, mit seinen unverkennbaren Insignien, dem Leuchtturm am Ende der rechten Mole und dem steinernen Löwen am Ende der linken, und jetzt bedauerte sie ihr Versäumnis zutiefst. Wie hatte sie ihre Großmutter so lange Zeit mit halbherzigen Telefonaten und ein paar Weihnachtskarten abspeisen können? Ihr alter Groll gegen sie kam Nane auf einmal nur noch lächerlich vor. Jetzt war die Oma tot, und alle Tränen der Welt konnten nichts mehr wiedergutmachen.

Christiane Auberlin, Nane genannt, mit braunen Locken, dunklen Augen und einem aparten Leberfleck oberhalb des linken Mundwinkels, war vor Kurzem vierunddreißig geworden. Von Kindheit an die Fleißige, die Tüchtige, die Kompetente, die sich allen Anforderungen stets mutig gestellt hatte. Auf einmal jedoch schien sie nicht mehr zu funktionieren, so große Mühe sie sich auch gab. Sie schlief seit Wochen schlecht, litt unter Herzrasen und unerklärlichen Schweißausbrüchen, wenn sie in den Apotheken die phänomenale Wirkung der Schlankheitspräparate anpries, die sie seit einigen Jahren im Außendienst für eine internationale Pharmafirma vertrieb. Inzwischen hatte sie sich an ihren Job gewöhnt, und manchmal mochte sie ihn sogar. Wieso rang sie dann jetzt immer öfter vor den Kunden um die passenden Worte, sie, der bislang in Verkaufsgesprächen die Sätze doch stets glatt über die Lippen gegangen waren?

Allein daran zu denken machte Nane schwindlig. Alles um sie herum schien sich zurückzuziehen, und die Konturen der Umgebung wirkten wattig wie in einem defekten Weichzeichner. Langsam ging sie auf einen der angeketteten Caféstühle zu und setzte sich vorsichtig hin.

Ich bin einfach total überarbeitet, daran wird es liegen, dachte sie und wusste im selben Moment, dass es nicht die ganze Wahrheit war. Ausweichen und verstecken war ihr im Lauf der Zeit zur Gewohnheit geworden, doch ihr Körper zeigte nun unerbittlich, was das auf Dauer mit ihm anstellte. Plötzlich schwoll das brummende Rauschen im Gehörgang an – ihr mittlerweile leider schon so vertraut, dass sie es bis eben kaum wahrgenommen hatte.

Dann jedoch erwachte ihr alter Kampfgeist.

Sie war zu spät gekommen, um mit ihrer Großmutter endlich Frieden zu schließen. Aber immerhin konnten sie sie anständig beerdigen – und das würden sie tun, sobald der Zug eintraf, mit dem ihre Mutter anreiste.

Wieder wandte Nane sich dem See zu.

Er reicht immer weiter, als man schauen kann. Und er spiegelt den Himmel, die Veränderung des Lichts, der Farbe, der Stimmung. Alles spürt man auf einmal um vieles deutlicher …

Von wem stammten diese Sätze? Sie wusste es nicht mehr, und doch war es immer schon so gewesen.

Inzwischen war das Wasser bewegter. Kleine Wellen kräuselten sich und klatschten an die schlickigen Pfeiler des großen Stegs, wo schon bald im Stundentakt die Ausflugsschiffe anlegen würden. Es war der letzte Monat, bevor ein Großteil der Bodenseeschifffahrt bis zum nächsten Frühling eingestellt wurde, und trotz aller inneren Leere und Traurigkeit fühlte es sich für Nane beruhigend an, dass sie sich noch immer daran erinnerte.

»Se sind abr früh dahane glanded!« Eine muntere Stimme im schönsten Schwäbisch holte sie aus ihren Grübeleien. Die Frau war rundlich und nicht mehr ganz jung. Unter ihrer dunkelblauen Strickjacke spitzte eine helle Schürze hervor.

Wortlos sah Nane sie an. Diesen Dialekt hatte sie einst geliebt, später dann gehasst, weil er ihr so gar nicht über die Lippen gehen wollte, jetzt aber war es für sie tröstlich, ihn wieder zu hören.

Die Frau lächelte. »Sie sind wohl nicht von hier?«, fragte sie dann, ins Hochdeutsche wechselnd.

»Doch«, sagte Nane. »Irgendwie schon. Aber eigentlich kommen wir aus …« Sie verstummte. Die verschlungene Familiengeschichte der Menzels und Auberlins in ein paar verständlichen Sätzen für eine Fremde zusammenzufassen war ihr jetzt zu kompliziert. »Jedenfalls war ich viel zu lange nicht mehr da«, fuhr sie schließlich fort.

»Denn verschdehet Sie mi?« Das Lächeln wurde breiter.

Nane nickte. »Jedes Wort«, versicherte sie.

»Mir machet zwar erschd in zwoi Schdunda uf, abr wenn des so isch, noh hol i Ihna einen frischa Apfelkucha ond einen heißa Kaffee. Sie seha ja ganz erfrora aus.«

Die Frau ging zurück ins Lokal und kam binnen Kurzem mit einem Tablett wieder heraus. Vor Nane standen nun ein Teller mit einem großen Stück Apfelkuchen, gekrönt von einem Klecks Schlagsahne, sowie eine Tasse dampfender Kaffee.

»Lasset Sie’s sich schmegga! Der Kucha isch no oi bissle warm.«

Genüsslich begann Nane zu essen. Als ihr die Augen nach den ersten Bissen feucht wurden, hätte sie nicht sagen können, ob es am Apfelgeschmack lag oder an der Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies, die sie sich so lange verboten hatte.

Äpfel und Großmutter, das hatte seit jeher für sie zusammengehört. Evas weiche Haut, die dunklen Haare, die erst spät silbern geworden waren, sogar die Kleider – alles an ihr hatte sommers wie winters nach der Frucht gerochen, die in Rickenbach das Leben aller bestimmt hatte. Schon als kleines Mädchen hatte Nane davon geträumt, eines Tages genauso zu werden wie ihre Großmutter: souverän, gescheit, humorvoll und bodenständig, eine Frau, der auch im reiferen Alter die Männer noch gern hinterherschauten. Eva hatte ihre Heimat verloren, eine waghalsige Odyssee durch halb Europa überstanden, um in der Fremde neu sesshaft zu werden. Ganz unten hatte sie noch einmal anfangen müssen, ohne dabei jemals bitter zu werden.

»Die Vergangenheit verlierst du nie«, so lautete einer von Evas Lieblingssätzen. »Aber wenn du heute nicht lebst, dann wirst du auch die Zukunft verlieren.«

Selten nur war etwas von der verborgenen Traurigkeit zu spüren, die sie noch am ehesten im Beisein der Enkelin zuließ. Dann saß sie ganz still da, die Hände im Schoß verschränkt, tief in sich versunken. Schon die kleine Nane hatte gelernt, dass man sie in solchen Momenten nicht ansprechen durfte. Denn jetzt war sie wieder in jener anderen Welt, zu der niemand Zutritt hatte. Das Mädchen wagte kaum zu atmen, bis die Großmutter sich ihr mit einem Lächeln zuwandte und ihre warme Hand auf den Kopf des Kindes legte.

Nane löste sich aus ihren Erinnerungen, zog einen Schein aus dem Geldbeutel und ließ ihn auf dem Tisch zurück. Dann stand sie auf, blickte ein letztes Mal auf den See, der inzwischen schon im ersten Sonnenlicht lag, und ging über die Straße hinüber zum Bahnhof.

In der Halle war seit ihrem letzten Besuch das berühmte Jugendstildekor einer sorgfältigen Renovierung unterzogen worden. Durch die Glastür konnte Nane auf die Gleise sehen. Hier war Eva mit der kleinen Marlene vor siebzig Jahren angekommen, zusammen mit anderen Flüchtlingen in uralte Güterwaggons gepfercht, heimatlos, hungrig und verlaust. Welche Ängste sie ausgestanden haben mussten, als man sie auf Lastwagen verlud und anschließend weiter nach Konstanz transportierte, wo die Frauen in einer öffentlichen Auktion als günstige Arbeitskräfte in der Region vermittelt worden waren! Damals hatten die beiden vergeblich von einem Butterbrot geträumt, heute dagegen musste Nane nur an den nächstbesten Bäckereistand gehen, um sich dort als Proviant für die Weiterfahrt zwei Schinkensandwiches und eine Flasche Wasser zu kaufen.

Eigentlich sollte in den nächsten Minuten ihre Mutter eintreffen, aber als Nane die Anzeigetafeln studierte, fand sie nirgendwo einen Hinweis auf den Frühzug aus Genf, den diese im letzten Telefonat erwähnt hatte. Irritiert wandte sie sich an den kleinen DB-Verkaufsschalter, doch auch der Mitarbeiter dort wusste nichts von solch einer Verbindung. Wieder einmal typisch für Vicky, die sich noch nie an Absprachen gehalten hatte!

Nane versuchte, ihre Mutter anzurufen. Es sprang aber nur die Mailbox an, auf der sie eine gereizte Nachricht hinterließ.

Sollte sie jetzt allein zu Tante Marlene fahren? Aber wie würde ihre Mutter dann nach Rickenbach kommen, wohin nur dreimal am Tag eine Buslinie verkehrte?

Die Ohrgeräusche wurden lauter, und Nanes Anspannung wuchs. Mit dem berühmten »Freiheitssinn« ihrer Mutter, wie diese ihre Nachlässigkeiten gern blumig verklärte, war sie schon als kleines Mädchen schlecht zurechtgekommen. Wie sehr hatte sie damals andere Kinder beneidet, bei denen es Tag für Tag nach der Schule ein warmes Mittagessen gegeben hatte, während in ihrem Ranzen meistens nur ein paar Münzen klimperten, damit sie den Hunger in einer Bäckerei oder am Kiosk stillen konnte. Aber dass Vicky sich nicht einmal bei der Beerdigung ihrer eigenen Mutter zuverlässig zeigen konnte, erboste sie.

Nane verließ die Bahnhofshalle, suchte sich draußen einen Sonnenplatz zum Warten und trank ein paar Schlucke Wasser. Als sie die Flasche wieder zuschraubte, hielt am Vorplatz ein silberner Saab mit Schweizer Kennzeichen. Die hintere Autotür ging auf – und Viktoria Auberlin stieg aus, einen kleinen Koffer in der Hand. Sie winkte ihrer Tochter kurz zu, blieb aber, anstatt gleich zu ihr zu gehen, erst einmal neben der Fahrertür stehen und parlierte zunächst ausgiebig durch das offene Wagenfenster mit den Insassen. Schließlich warf sie ihnen eine Kusshand zu und spazierte zu Nane.

»Reizende Menschen«, sagte sie statt einer Begrüßung, während der Saab davonfuhr. »Stell dir vor, sie haben aus freien Stücken einen Riesenumweg auf sich genommen, nur um mich nach Lindau zu bringen. Dabei hätten sie mich ebenso gut an der Straße stehen lassen können.« Sie küsste Nane auf beide Wangen. »Ist das nicht formidabel?«

»Du bist doch nicht etwa getrampt?«, fragte die misstrauisch zurück. »Mitten in der Nacht?«

Vicky warf die schulterlangen Haare zurück, in denen das früher so leuchtende Kastanienbraun immer mehr den Kampf gegen silberne Fäden verlor, und lächelte. Sie schien nicht übermäßig um ihre tote Mutter geweint zu haben. Die blaugrünen Augen waren blank, die Miene wirkte gelassen, fast heiter.

»Einer alten Kuh wie mir tut doch keiner mehr was! Früher gab es für uns gar keine andere Art zu reisen …«

»Früher ist lange vorbei«, erwiderte Nane scharf. »Und hast du nicht immer gesagt, dass man die Toten nicht warten lassen darf?«

»So sehr fehlt sie dir?«, sagte Vicky leise und legte die Hand auf Nanes Arm. »Mir fehlt sie auch, Kleines! Wie der Kern des Universums, so ist sie mir stets erschienen, stark und beständig. Ich musste schon früh von ihr weg, um mich selbst zu finden, aber das konnte ich nur, weil ich ja wusste, dass sie immer da sein würde, wenn ich zurückkommen wollte.« Sie fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Damit ist es nun vorbei. Für mich, für Marlene – für uns alle.«

Nanes Kehle wurde eng, aber sie wollte nicht schon wieder zu weinen anfangen, nicht jetzt, in dieser unübersichtlichen Aufbruchssituation.

»Also komm!«, sagte sie mit leicht schwankender Stimme. »Mein Wagen steht gleich dort drüben.« Ihr Blick glitt zu dem schäbigen kleinen Koffer. »Ist das alles, was du dabeihast?«

»Ich reise am liebsten mit leichtem Gepäck, das weißt du doch. Und für maximal zwei Übernachtungen ist das mehr als genug – falls Marlene mich überhaupt so lange erträgt.«

Nane verkniff sich eine Erwiderung.

Die Streitigkeiten der beiden ungleichen Schwestern waren legendär. Ein verkehrtes Wort, ein falscher Blick, und schon lagen sie sich wieder in den Haaren. Die eine gewissenhaft und stets auf Etikette bedacht, die andere lässig und wild. Selbst heute war Vicky in einem dunkelroten Maxirock und einer bestickten Samtjacke angereist, die beide ihre beste Zeit offensichtlich längst hinter sich hatten. Nane konnte sich Marlenes Kommentar dazu schon jetzt lebhaft vorstellen.

Sie schaute nach links und rechts, bevor sie die Fahrbahn überquerten, da man bei ihrer Mutter nie ganz sicher sein konnte, ob sie nicht wieder im Gehen träumte, und stutzte, als sie an ihrem Wagen anlangte. Neben der Fahrertür hatte sich etwas Schwarzes zusammengerollt, und sie hörte ein jämmerliches Fiepen, als sie nah genug herangekommen war.

Der Hund hob seinen schmalen Kopf mit den Schlappohren und sah sie aus großen braunen Augen ängstlich an.

»Wer bist denn du?« Nane bückte sich zu ihm hinunter.

»Fass ihn bloß nicht an!«, warnte Vicky. »Wer weiß, was er für Krankheiten hat.«

Er zuckte zurück, als Nane seinen Pfoten zu nahe kam, die bluteten.

»Vermissen wird dich wohl niemand, schätze ich.« Ihre leise Stimme schien ihn zu beruhigen.

Der Hund trug kein Halsband. Er war so mager und schmutzig, dass er ein Streuner sein musste, eine Promenadenmischung mit Anteilen von Labrador, Beagle und Cocker, wobei dieser sich optisch am stärksten durchgesetzt hatte.

»Du solltest zum Tierarzt«, fuhr Nane, an den Hund gewandt, fort.

»Und wir sollten jetzt los«, wandte Vicky ein. »Es kommt sicher gleich jemand, der sich seiner annimmt. Du bist nicht für das Elend der ganzen Welt verantwortlich, Nane.«

Das Winseln wurde lauter. Doch anstatt aggressiv zu reagieren, leckte der Hund Nanes Hand.

»Ach, du willst mich gleich adoptieren?«, fragte sie. »Ich kann aber leider kein Tier bei mir aufnehmen …«

»Wäre es nach dir gegangen, dann hätte sich unsere Wohnung schon früher in die reinste Arche Noah verwandelt«, sagte Vicky. »Alles mit vier Pfoten, das irgendein Zipperlein hatte, wolltest du mir anschleppen. Und daran hat sich offenbar bis heute wenig geändert. Du musst auch einmal lernen, Nein zu sagen. Und dein schönes Auto …«

Nane sah sie nicht einmal an.

»Ist meine Angelegenheit, oder?«, sagte sie nur.

Der Hund brauchte dringend Hilfe. Und ihre Tante, die stets Katzen und bisweilen auch Hühner, Gänse und sogar Ziegen gehalten hatte, kannte bestimmt einen Veterinär. Auf dem Land wurden Sprechzeiten nicht so penibel eingehalten. Vielleicht konnte ja heute noch jemand nach dem verletzten Tier sehen.

Der Hundeblick war herzzerreißend. Da wusste Nane, dass sie bereits verloren hatte.

Mit einem Seufzen öffnete sie die hintere Tür und breitete die alte Decke, die sie für Staufälle immer dabeihatte, über die Rückbank. Gut die Hälfte des Polsters ließ sich damit abdecken. Dann hob sie den Hund hoch, der sich alles gefallen ließ, als spüre er, dass sie es gut mit ihm meinte. In ihren Armen war er überraschend leicht, schien fast nur aus Knochen und Fell zu bestehen, und sehr warm. Nane war erleichtert, dass er sich so problemlos ins Auto bugsieren und auf der Rückbank absetzen ließ. Als er nach einer anderen Liegeposition suchte und dabei seinen Bauch zeigte, entdeckte sie die Zitzen.

»Dein Findelhund ist also eine Sie«, kommentierte Vicky, die die Aktion ungewohnt schweigsam beobachtet hatte.

Nane öffnete den Kofferraum, schraubte einen Becher mit dem Schlankheitspulver auf, von denen sie auf ihren Verkaufstouren immer einige als Gratisproben dabeihatte, und goss Wasser in den Plastikdeckel. Gierig begann die Hündin zu schlabbern. Innerhalb von Sekunden war der Deckel leer.

»Noch mehr?« Nane füllte den Deckel erneut.

Die Hündin trank ein zweites Mal.

»Na also«, sagte sie, als sie sich hinter das Steuer setzte und den Motor anließ. »Wir zwei verstehen uns. Wäre schön, wenn du jetzt auch einsteigen würdest«, forderte sie ihre Mutter auf, die sich daraufhin neben sie setzte und den kleinen Koffer zu ihren Füßen abstellte.

Sie waren noch auf der Brücke, die den Lindauer Inselteil mit dem Festland verband, als Nane lautes Würgen hörte. Im Rückspiegel konnte sie sehen, wie die schwarze Hündin sich im Schwall erbrach, natürlich exakt auf jenen Teil der Rückbank, den die Decke frei gelassen hatte.

»Na wunderbar«, kommentierte Vicky. »Das hat uns gerade noch gefehlt.«

Sollte Nane anhalten?

Der Gestank nach Erbrochenem war derart penetrant, dass sie das Fenster herunterlassen musste. Allerdings schien das Tier für den Moment so erschöpft, dass wohl kaum eine weitere Kotzattacke drohte.

Nane gab Gas. Doch die letzten Kilometer, die früher immer wie im Flug vergangen waren, zogen sich heute trotz spärlichen Verkehrsaufkommens in die Länge, vielleicht weil sie und Vicky so wenig Lust zum Reden verspürten. Endlich kam Friedrichshafen, dann Meersburg, bevor Überlingen ausgeschildert war und sie schließlich in Richtung Salem abbiegen konnte. Natürlich stand der Ortsname Rickenbach auf keinem der Schilder. Das Dorf war in den 1970er-Jahren eingemeindet worden und bei Evas und Marlenes Ankunft 1946 kaum mehr als ein größerer Weiler gewesen. Schnaps gebrannt hatten sie dort allerdings schon damals. Aber keine sollte das Zusammenspiel von Maische und Feuer so gut beherrschen wie Eva Menzel, das mittellose Flüchtlingsmädchen aus dem fernen Nordböhmen.

Nane fuhr im Schritttempo weiter, als sie die ersten Häuser von Rickenbach erreicht hatte. Die Kirche, der kleine Friedhof, das Wirtshaus, die alte Dorfschule, aus der längst eine Fremdenpension geworden war, das stattliche Anwesen der Benteles, das umfassend renoviert erstrahlte, Kathi Köberlins Hexenhäuschen – alles war ihr unendlich vertraut. Vicky, die ebenfalls in die Vergangenheit einzutauchen schien, murmelte Unverständliches.

Dann tauchte linker Hand das Auberlinhaus auf, so schief und verwinkelt, wie es seit jeher gewesen war. 1898, so lautete die Inschrift über der alten Holztür, und die prangte neuerdings in frischem Gelb. Der Rest schien Nane unverändert: die Fachwerkbalken, die Wind und Wetter im Lauf von über hundert Jahren von Braun nach Grau gefärbt hatten, die viel zu kleinen Fenster, die selbst im Sommer nur zögerlich das Sonnenlicht in die Zimmer ließen, der wurmstichige Balkon mit der niedrigen Balustrade, den zu betreten man ihr als Kind immer wieder streng verboten hatte. Sogar der Schuppen, in dem der alte Brennofen gestanden hatte, existierte noch, wenngleich er wesentlich größer war als in ihrer Erinnerung.

Gleich nebenan hatte allerdings die Neuzeit prunkvoll Einzug gehalten. Der moderne Laden bestand hauptsächlich aus Glas und Stahl und war in edlem Grau gehalten. Auberlin. Ein kühner Schriftzug in Zitronengelb zog sich über die gesamte linke Seite. Und kleiner darunter: Obstbrände & mehr aus der Region.

Während Nane noch immer gedankenverloren darauf starrte, begann die Hündin hinter ihr kläglich zu winseln, und das brachte sie in die Gegenwart zurück.

»Marlene wird Augen machen«, sagte Vicky. »Ein krankes Tier bringt ihre penible Planung für Mamas Begräbnis doch sicher total durcheinander.«

»Wenn du dich ein bisschen zusammenreißt, könnte es vielleicht ausnahmsweise gehen«, entgegnete Nane, bevor sie sich wieder der Hündin zuwandte. »Um dich kümmern wir uns gleich«, versprach sie. »Ich will nur erst schnell Tante Marlene begrüßen gehen.«

Sie stieg aus und war nur noch ein paar Schritte vom Haus entfernt, als die Tür aufging und eine Frau auf sie zukam. Groß war sie, knochig, noch immer sehr aufrecht. Das Gesicht mit seinen klaren Linien wirkte wie gemeißelt. Als Kind waren ihre Haare von so hellem Blond gewesen, dass sie fast weiß ausgesehen hatten, das wusste Nane von alten Fotos, und genauso waren sie jetzt auch im Alter wieder geworden: eine schimmernde Gloriole, die Marlenes Kopf umfloss. In all den Jahren hatte sie sich kaum verändert. Nur die Wangen waren noch schmaler geworden, und die adrette dunkle Bluse wie auch die Gabardinehose saßen so locker, als gehörten sie eigentlich einer wesentlich fülligeren Person. Schweigend starrte sie Nane an, dann trat ein erschrockener Ausdruck in ihre emailleblauen Augen.

Nanes Unsicherheit wuchs. Sie waren sich einmal sehr nahe gewesen, doch dieses enge familiäre Band war längst zerfasert und brüchig geworden, nicht zuletzt durch ihre eigene Schuld.

»Was ist passiert? Und wer zum Teufel hat dir das angetan?« Marlene klang zutiefst besorgt.

Verdutzt blickte Nane an sich herab. Erst jetzt bemerkte sie, dass ihre helle Daunenjacke und die Hose blutverschmiert waren.

»Niemand! Beruhige dich, ich bin ganz in Ordnung«, versicherte sie. »Allerdings liegt in meinem Auto eine kranke Hündin, von der stammt das ganze Blut. Mama und ich haben sie in Lindau aufgelesen. Ich dachte, du kennst bestimmt einen guten Tierarzt.«

Als sie nun lächelte, legte sich Marlenes hageres Gesicht in tausend Fältchen.

»Ja, da könnte ich dir in der Tat weiterhelfen«, sagte sie und erwähnte ihre Schwester auf dem Vordersitz des Wagens, die sie längst erspäht haben musste, mit keinem Wort.

Es tat Nane unendlich gut, diese spröde Stimme wieder zu hören. Sie machte einen Schritt nach vorn, dann hielt sie inne, um kurz darauf erneut auf ihre Tante zuzustolpern. Alles in ihr wurde weit und hell. So war es hier immer schon gewesen, früher, in jenen goldenen Zeiten, die sie so sehr vermisst hatte.

Marlene breitete für einen Moment die Arme aus. Dann ließ sie sie erneut sinken, als habe sie sich bei etwas Verbotenem ertappt. Kurz war ihr Mund jedoch ganz weich geworden, bevor sie die Lippen schon wieder leicht spöttisch schürzte und die Hände in die Seiten stemmte.

»Na, dann eben willkommen im alten Zuhause, Nanekind!«, sagte sie mit leiser Ironie. »Wie schön, dass du endlich den Weg zurück gefunden hast, selbst wenn der Anlass denkbar traurig ist. Unsere Mutter war die Beste. Ich weiß noch gar nicht, wie es ohne sie weitergehen soll.« Sie räusperte sich und schaute dann zum Wagen. »Willst du nicht endlich auch aussteigen, Vicky?«, fragte sie laut.

*

Bis zur Ankunft des Tierarztes hatten sie die Hündin im Flur auf alte Decken gebettet. Wieder hatte sie sich von Nane ohne Protest aus dem Auto heben und ins Haus tragen lassen. Nur die dunklen Augen folgten ihr seitdem unablässig, und den schmalen Kopf ließ sie erst wieder sinken, sobald Nane in der Nähe war. Ihr noch einmal Wasser zu geben wagten sie nicht, bevor sie nicht wussten, was ihr fehlte. Nane hatte ihr die Pfoten provisorisch verbunden, aber sie bluteten noch immer, wie rostige Flecken auf der weißen Gaze anzeigten, und die Hündin wirkte sehr schwach. An den beiden Katzen, die sich nacheinander neugierig dem Krankenlager näherten, schien sie sich nicht weiter zu stören. Die erste war ein kräftiger Kater namens Leo, der schnell das Interesse verlor; die andere war die graue Minka, die länger schnupperte, Leo aber schließlich mit hocherhobenem Schwanz in den Garten folgte.

»Auf unseren Dr. Rossi kannst du bauen«, sagte Marlene, die Nanes innere Anspannung zu spüren schien. »Fabio lässt niemanden im Stich.«

»Ihr duzt euch?«, fragte Nane erstaunt, weil die Tante früher immer so distanziert zu allen gewesen war.

»So ist das auf dem Land.« Es klang abschließend. »Man merkt, wie lange du nicht mehr hier warst.« Sie rang sich ein dünnes Lächeln ab. »In der Zwischenzeit bringe ich dich auf dein Zimmer – und dich auch, Vicky.« Das kam deutlich kühler. »Viel zum Auspacken hast du ja nicht.«

»Du weißt doch, wie ich zu reisen pflege«, erwiderte Vicky ruhig. »Unbelastet von unnötigem Gepäck, immer bereit für Spontanes.«

Marlenes genervter Blick sprach Bände. Spontane Ideen waren ihr ein Graus, weil ihre jüngere Schwester sie seit Kindertagen damit traktiert hatte. Schweigend ging sie voran, gewichtigen Schritts, trotz ihrer neuerdings so zarten Konstitution, wie um noch einmal zu verdeutlichen, dass dieses Haus nun ihres war.

Nane hatte gerade erst die untersten Stufen der knarzenden Treppe betreten, als auch schon ein Strom von Erinnerungen sie überflutete, so lebendig, dass sie unwillkürlich Halt am Treppenlauf suchen musste, den Generationen von Auberlins blank gescheuert hatten. Dunkel war es gewesen und bitterkalt, als die Großmutter sie als kleines Bündel, dick in Decken gepackt, nach oben getragen hatte. Fest hatte sie ihr Köpfchen gegen die weiche Brust geschmiegt und dabei an der Wange das verrutschte Silberkreuz mit den Granatsteinen gespürt, das zur Großmutter gehörte wie die dunklen Haare oder der Apfelduft. Alles wird gut, Nanekind, hatte sie damals gemurmelt. Deine Mama mag ab und zu ein verrücktes Huhn sein, aber sie ist und bleibt ein Huhn mit Herz, so wie alle Frauen in unserer Familie. Sie kommt wieder zurück, um dich zu holen, ich weiß es. Du ruhst dich also jetzt erst einmal bei der Babička aus, und morgen sehen wir beide dann weiter …

Es war das erste und einzige Mal gewesen, dass sie die Nacht in Evas Zimmer verbracht hatte. Sonst konnte man sich lediglich zu ihr hineinschleichen, wenn sie ihren kurzen Nachmittagsschlummer hielt, vorausgesetzt allerdings, man legte sich still dazu und machte keine Faxen, sonst flog man nämlich ganz schnell wieder hinaus. Nicht einmal der Opa durfte sich dauerhaft hier breitmachen, obwohl sie die beiden nachts manchmal lachen und scherzen hörte, wenn sie später die Ferien hier verbrachte. Ein Zimmer für sich allein – in Rickenbach ging das Gerücht, das sei nur eine von Evas eisernen Bedingungen gewesen, unter denen sie den Apfelbauern Toni Auberlin überhaupt geheiratet hatte. Ein Unding, wie die Leute raunten. So ein dahergelaufenes Flüchtlingsmädel aus dem Osten, und dann Ansprüche stellen wie eine Adelige! Doch Eva musste nur den Kopf heben und den Blick ihrer dunklen Augen wachsam schweifen lassen, und jedes Getuschel erstarb auf der Stelle.

Natürlich führte Marlene sie an der Tür vorbei, hinter der jenes damals heiß begehrte Zimmer lag. Alles hier hatte immer schon nach Äpfeln geduftet, die Bettwäsche, die Möbel, Evas Kleider. Sogar der gewebte Teppich schien diesen Geruch angenommen zu haben. Nane hatte sich als Achtjährige davon überzeugen können, als eine ihrer Haarspangen heruntergefallen war.

»Da schlafe ich jetzt«, hörte sie die Tante sagen, als bedürfe es einer Erklärung. Jeder aus der Familie wusste, dass Marlene Äpfel allenfalls in gekochter oder geschmorter Form zu sich nahm. Sie konnte sie roh nicht essen und war sogar außerstande, das knirschende Geräusch zu ertragen, wenn jemand in ihrer Nähe in einen frischen Apfel biss. Nane wurde von ihr jedes Mal prompt fortgeschickt, sobald sie es einmal vergessen hatte. Und dennoch gehörte das einstige Reich der Apfelkönigin nun ihr. Sogar Marlenes kerzengerader Rücken verriet, dass sie jeden Zentimeter davon verbissen verteidigen würde. »Dich habe ich im Zimmer von unserem Vater untergebracht. Und Vicky, du schläfst im Mädchenzimmer.«

Sie nannte es tatsächlich noch immer so, obwohl sie diesen Sommer siebenundsiebzig geworden sein musste! Und auch Vicky, Nanes Mutter, mit der sie es viele Jahre hatte teilen müssen, war inzwischen über sechzig und gehörte definitiv nicht mehr in die Kategorie Mädchen.

»Meinetwegen«, murmelte sie achselzuckend. »Ist zum Glück ja nicht für lang.« Damit war sie im Zimmer verschwunden.

»Soll mir recht sein«, murmelte Nane. »Hauptsache, das Bett ist nicht ganz so schmal …«

Abrupt blieb Marlene stehen.

»Ihr immer mit euren breiten Betten«, sagte sie missbilligend. »Jeder halbwegs normale Mensch kommt beim Schlafen mit maximal einem Meter prima zurecht. Aber deine Mutter und du, ihr schwärmtet ja schon immer für diese komischen Lie-ge-wie-sen.« Aus ihrem Mund hörte es sich an wie eine besonders scheußliche Perversion. »So etwas haben wir leider nicht zu bieten.« Sie stieß die Tür auf. »Meinst du, du wirst hiermit zurechtkommen?«, fragte sie.

Das würde sie. Nane wusste es, kaum dass sie das Zimmer betreten hatte. Es lag nach hinten, weil Opa Toni gern ruhig geschlafen und ihn der anwachsende Lärm der Durchgangsstraße immer mehr gestört hatte. Sie glaubte noch immer ganz schwach den Geruch seines heimlichen Zigarillokonsums wahrzunehmen, obwohl das eigentlich gar nicht sein konnte, da der Großvater schon so lange nicht mehr lebte. Doch es gab nach wie vor den massiven Mahagonischreibtisch, an dem er so oft an seinen Erfindungen getüftelt hatte, anstatt auf den Streuwiesen oder in den immer größer werdenden Obstplantagen anzupacken, wie es sich Eva eigentlich gewünscht hätte. Anderen gegenüber hatte sie ihn stets verteidigt, ihren ruhigen, meist in sich gekehrten Mann, der lange nicht hatte fassen können, dass ausgerechnet er die von allen begehrte Schönheit erobert hatte. Aber wenn sie allein waren, war es durchaus ab und an zu Streitigkeiten zwischen ihnen gekommen.

»Ich kann es mir auch nicht leisten zu träumen«, hatte sie ihn etwa ausgeschimpft. »Denn wenn ich es täte, könnte es möglicherweise zu deinen Ungunsten ausfallen. Also nimm dich gefälligst zusammen und komm mit mir ins Obst. Damit verdienen wir unser Geld, nicht mit deinen sinnlosen Fantastereien.«

Nane stellte die Reisetasche ab. Für ihre paar Sachen war sogar der schmale Schrank zu groß. Jetzt aber reizte sie erst einmal der Schreibtisch. Und vor allem das leicht vergilbte Foto, das in einem schmalen Silberrahmen darüber aufgehängt war.

Eva Menzel. Apfelkönigin 1946, 1947, 1948.

Breitbeinig stand ihre Großmutter da auf der Streuwiese vor einem großen Baum, an dem nur noch wenige Früchte hingen, lachend, die Augen zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen, als ob sie in die Sonne blinzeln müsste. Sie trug ein Kleid mit bauschigem Rock und einem schmalen Taillengürtel, doch trotz des Fotos in Schwarz-Weiß wusste Nane, dass es rot gewesen sein musste. Jahre später hatte sie es nämlich ausgeblichen im Schrank gefunden und war zum Spielen hineingeschlüpft, bis Marlene sie dabei erwischt und erbost ausgeschimpft hatte.

Auch jetzt wartete die Tante wie ein weiblicher Zerberus an der Tür und beobachtete sie.

Und ganz wie früher fühlte Nane sich sofort ertappt.

»Ich zieh mir nur schnell was anderes an«, sagte sie und schlüpfte aus der schmutzigen Jacke. »Eine frische Hose und …«

»Da hör ich doch was.« Marlene lauschte nach unten. »Das wird schon Fabio sein. Am besten kommst du gleich runter, sobald du fertig bist. Außerdem gibt es ja vor der Beerdigung noch einiges zu erledigen.«

Der Mann, der sie unten in der Diele erwartete, war knochig und sehr groß. Seine hellbraunen Haare standen wie störrische Antennen vom Kopf ab, als lege er aufs Kämmen keinen allzu großen Wert. Dazu passte auch die zerschlissene braune Lederjacke, die etwas an einen Rockmusiker erinnerte. Zur Begrüßung schlang er seine langen Arme um Marlene, küsste sie auf die Wangen und hielt sie dabei einen Moment länger fest als unbedingt nötig, das fiel Nane sofort auf.

»Du rufst, Leni«, sagte er, »und schon bin ich da. Seit wann bist du Katzennärrin denn nun auch auf den Hund gekommen?«

»Die Hündin hat meine liebe Nichte angeschleppt«, erwiderte Marlene, als er sie wieder losgelassen hatte. »Nane Auberlin. Du wirst dich wahrscheinlich nicht mehr an sie erinnern. Sie hatte gerade erst ihr Abi gemacht, als unser Vater gestorben ist.«

Rossi nahm Nane genau in Augenschein.

»Aber doch nicht etwa jener schlecht gelaunte Teenager mit der noch übler aufgelegten Frau Mama, oder?«, fragte er mit charmantem Grinsen. »Nichts hat damals Gnade vor Ihren kritischen Augen gefunden. Nicht einmal Ritas phänomenale Spätzle, die sonst so ziemlich jeden begeistern.«

»Sie waren auch auf Opas Beerdigung?«, fragte Nane erstaunt. »Davon weiß ich gar nichts mehr. Tut mir leid. Das ist alles schon so lange her.«

Er nickte, ohne den Blick von ihr zu nehmen.

»Und jetzt ist Ihre Hündin krank«, sagte er schließlich und kniete sich neben das Deckenlager. »Wie ist das denn passiert?«

Nane zuckte die Schultern.

»Keine Ahnung«, antwortete sie. »Und meine Hündin ist sie, genau genommen, auch nicht. Ich habe sie in Lindau neben meinem Wagen entdeckt. Sie hatte kein Halsband, und ich könnte wetten, einen Chip werden Sie auch nicht finden. Aber sie hat stark geblutet und einen jämmerlichen Eindruck gemacht, deshalb habe ich sie kurzerhand mitgenommen. Im Auto hat sie sich dann erbrochen, nachdem ich ihr etwas Wasser gegeben hatte. Meine Rückbank ist eine einzige Sauerei.«

»War im Erbrochenen auch Blut?«, fragte Rossi.

Nane schüttelte den Kopf. »So genau habe ich gar nicht hingeschaut«, sagte sie. »Wäre das wichtig?«

»Unter Umständen, ja«, sagte Rossi und zog behutsam die Lefzen der Hündin hoch. »Blasse Schleimhäute«, stellte er fest. »Hatte ich mir fast schon gedacht. Könnte auf eine Vergiftung hindeuten.«

»Ich gehe im Auto nachsehen.« Marlene stand auf und ging hinaus. Nach ein paar Augenblicken war sie wieder zurück. »Ja, da war definitiv Blut«, sagte sie. »Nicht viel, aber unübersehbar.«

Die Hündin hielt still, während Rossi sie abhorchte. Dann beschäftigte er sich mit den verletzten Pfoten.

»Die sind das kleinere Problem«, sagte er schließlich. »Aber mir gefällt nicht, dass sie noch immer bluten. Dazu die blassen Schleimhäute und das erbrochene Blut – ich tippe auf Rattengift, in welcher Form auch immer. Der Wirkstoff, den die Hersteller dafür oft verwenden, ist ein Marcumarderivat und verhindert die Blutgerinnung. Das kann auf Dauer übel werden, auch wenn ein Hund natürlich schwerer ist als die Nager.«

»Muss sie sterben?«, fragte Nane erschrocken.

»Das wollen wir doch nicht hoffen.« Rossi richtete sich wieder zu voller Größe auf. »Aber ich werde sie mitnehmen müssen«, sagte er. »In meiner kleinen Akut-Tierklinik kann ich ihr Vitamin-K-Infusionen legen und beobachten, wie sie darauf reagiert. Vielleicht muss sie sogar über Nacht bleiben. Kommt ganz darauf an, wie sich ihr Zustand entwickelt.«

»Da wird Brian sich aber freuen«, sagte Marlene mit leicht süffisantem Lächeln. »Hunde hüten statt tanzen gehen.«

Er lächelte prompt zurück.

»Derzeit haben wir lediglich zwei Hasen, einen Papagei in der Mauser, einen lahmen Esel und drei frisch kastrierte Straßenkater auf Station«, sagte er. »Das schaffen wir mit links.« Wieder traf Nane sein warmer Blick. »Wie heißt die Kleine denn überhaupt?«, fragte er. »Ich muss ja schließlich wissen, wen ich da mitnehme.«

»Souki«, sagte Nane spontan und legte ihre Hand dabei bekräftigend auf den schmalen Hundekopf. »Wie hat es Sie eigentlich in diese Gegend verschlagen?«, fügte sie dann hinzu. »Fabio Rossi klingt ja nicht gerade nach Baden-Württemberg.«

Nun zuckte er die Achseln.

»Das Internat natürlich«, sagte er. »Salem. Wir haben es beide besucht, meine Schwester drei Jahre vor mir, und ich dann ebenfalls. Unser Vater war Diplomat, alle paar Jahre versetzte man ihn in ein anderes Land, da hatten unsere Eltern nur wenig Zeit, sich um unsere Erziehung zu kümmern. Laura hat es inzwischen längst wieder nach Italien verschlagen. Und bei mir haben sie nicht damit gerechnet, dass ich mich unsterblich in diesen Landstrich verlieben könnte und für immer hierbleiben will. Ein Rossi als Landtierarzt – das ist so ungefähr das Letzte, was mein Vater sich für seinen einzigen Sohn vorgestellt hat.«

Marlene nickte beiläufig, als sei ihr die Geschichte unendlich vertraut.

»Wir hören also von dir?«, fragte sie, als Souki sicher in seinem dunkelgrünen SUV verstaut war, in den hinten eine Spezialtransportbox für kranke Tiere eingebaut war. »Du kannst gern auch noch spät anrufen. Du weißt ja, ich bin immer lange auf. Und heute, am Abend vor Mamas Beerdigung, bekomme ich sicher ohnehin kein Auge zu.«

»Mach ich«, sagte er und schien plötzlich zu zögern.

»Um die Bezahlung mach dir mal keine Sorgen«, setzte sie noch hinzu. »Meine Nichte hat seit Jahren einen tollen Posten in der Pharmaindustrie. Und falls alle Stricke reißen, bin ich schließlich auch noch da.«

»Das war es nicht, was mir soeben durch den Kopf ging.« Er klang besorgt. »Du siehst müde aus, Leni. Richtig geschafft. Pass bitte auf dich auf. Ich weiß doch, wie sehr du an deiner Mutter gehangen hast – eine bemerkenswerte Frau, die uns allen fehlen wird. Versprichst du mir das?«

Marlene nickte knapp, während Rossi einstieg, geschickt den Wagen wendete und schließlich die Einfahrt wieder verließ.

»Und jetzt?«, fragte sie schließlich. »Ich könnte ein wenig Ablenkung gebrauchen, und ich denke, du auch. Soll ich dir den neuen Laden zeigen?«

»Gern«, antwortete Nane, obwohl das Rauschen im Ohr wieder lauter geworden war und anzeigte, dass sie sich lieber ausruhen sollte. Doch der unüberhörbare Stolz in Marlenes Stimme zwang sie förmlich zu dieser Antwort.

Gemeinsam gingen sie auf das Glasgebäude zu. Im Inneren war inzwischen eine raffinierte Beleuchtung in Betrieb, die manche Bereiche des Geschäfts besonders grell in Szene setzte. Als Marlene die Tür aufstoßen wollte, wurde sie von innen bereits geöffnet. Ein muskulöser Mann Mitte vierzig mit kurz geschnittenem dunklem Bart lächelte ihnen entgegen.

»Wir haben noch nicht ganz geöffnet«, sagte er verbindlich. »Aber wenn Sie schon mit der Chefin daherkommen …«

»Das ist Martin Raible, Obstbauer, Brenner und seit ein paar Jahren meine rechte Hand«, sagte Marlene. »Ihm habe ich so ziemlich alles zu verdanken, was du hier siehst.«

Er winkte bescheiden ab. »Ich habe nur ein bisschen mitgeholfen«, sagte er, »seit die Seniorchefin sich vollständig aus dem Geschäft zurückgezogen hat. Sehr viel mehr war es gar nicht.«

»Und das ist meine Nichte Christiane Auberlin«, fuhr sie fort.

»Mein herzliches Beileid«, sagte Raible. »Ihre Großmutter war eine Ausnahmeerscheinung. Das weiß ganz Rickenbach.«

»Danke«, sagte Nane und wunderte sich, warum ihr sein Handschlag trotz der freundlichen Anteilnahme so unangenehm war.

»Eigentlich ist meine Nichte ja auch fast vom Fach«, sagte Marlene. »Das stimmt doch, Nane?«

»Damit will sie sagen, dass ich vor geschätzten hundert Jahren mal Pharmazie studiert habe«, sagte Nane und spürte, wie ihr Mund ganz trocken wurde, wie jedes Mal, wenn dieses für sie heikle Thema angeschnitten wurde. »Da lernt man unter anderem natürlich auch das Destillieren. Aber inzwischen habe ich das meiste längst wieder vergessen. Lassen Sie mich bloß nicht an Ihre Teufelsmaschinen! Davon habe ich nicht die geringste Ahnung.«

»Sie sind Apothekerin?«, fragte er interessiert. »Das stelle ich mir sehr interessant vor.«

»Falsch geraten. Ich arbeite für eine große Pharmafirma.«

»In der Forschung?«, bohrte er weiter.

Nane zog die Schultern hoch.

»Nicht ganz«, sagte sie nach einem kleinen Räuspern. »Eher im Marketing.«

»Gefällt es Ihnen denn hier bei uns?« Er beobachtete sie genau. »Seit Neuestem haben wir auch selbst gebrannten Gin und Whisky im Angebot. Die Konkurrenz schläft nicht. Und wer heutzutage in dem Geschäft mitmischen will, der muss flexibel sein.«

Nane schaute sich nach allen Seiten um. »Da habt ihr wirklich viel geleistet«, sagte sie schließlich.

Was zumindest keine Lüge war. Der Laden war groß und umfassend bestückt. Das Lichtkonzept passte, und vielleicht war es ja wirklich nicht einfach, mit Whisky- und Schnapsflaschen so etwas wie Atmosphäre zu erzeugen. Denn alles hier wirkte in ihren Augen zu steril. Irgendetwas Wichtiges fehlte. Der Laden hat keine Seele, dachte sie plötzlich. Vielleicht ist es das.

»Magst du was probieren?« Marlene kam mit zwei kleinen Gläsern zurück, in denen eine bernsteingelbe Flüssigkeit schwappte.

»Um diese Zeit und dann auch noch heute?« Nane schüttelte den Kopf. »Besser nicht.«

»Nur einen winzigen Schluck«, drängte Marlene. »Es ist unser neuestes Husarenstück – und wir beide sind enorm stolz darauf.«

Um sie nicht zu brüskieren, ließ Nane sich darauf ein. Der Obstbrand explodierte auf ihrer Zunge. Aprikosen schmeckte sie, dazu eine Prise Zimt. Und Sommer. Heiße, schier endlose Tage. Weich rann er die Kehle hinab, um anschließend im Magen ein kleines Feuerwerk zu entzünden.

»Köstlich«, lobte sie. »Und sehr gefährlich. Denn man mag eigentlich gar nicht mehr damit aufhören.«

»Der stammt von der alten Streuwiese«, sagte Marlene fast andächtig. »Obst, das Zeit zum Wachsen und Reifen hat, schmeckt einfach anders als diese eilig hochgezogenen Früchte, so war es schon immer. Ich bin gerade dabei, ein paar unserer früheren Grundstücke zurückzukaufen. Obwohl sie alle sehr daran kleben, meine geschätzten Nachbarn! Eigentlich lohnt es sich ja gar nicht mehr, bei dem stattlichen Alter, das ich inzwischen erreicht habe, und kinderlos, wie ich nun einmal bin, das habe ich mir schon öfter von ihnen anhören müssen. Aber …« Sie schaute zu Martin. »Man kann ja schließlich nicht immer nur machen, was die Leute von einem erwarten, oder?«

Er begann zu strahlen. Dann sah er wieder Nane an.

»Entschuldigen Sie bitte«, sagte er. »Für einen Augenblick hatte ich Ihren großen Verlust fast vergessen. Sie bleiben bis über das Wochenende?«, erkundigte er sich.

Eine Spur zu beflissen, wie sie plötzlich fand. Und reichlich neugierig dazu.

»Na, ein bisschen länger wohl schon«, erwiderte sie. »Ich habe unterwegs einen kranken Hund aufgelesen, der muss erst wieder gesund werden. Und außerdem hatte ich ganz vergessen, wie schön es hier ist. Ich freue mich schon drauf, all das wieder neu zu entdecken.«

Sein Blick begann plötzlich zu flackern.

Weil er nicht damit gerechnet hatte, dass plötzlich eine jüngere Verwandte von Marlene auftauchte und sich hier auch noch breitmachte? Aber vielleicht bildete sie sich das auch nur ein, so müde und ausgelaugt, wie sie sich auf einmal fühlte.

»Ich glaube, ich lege mich doch erst ein bisschen hin«, sagte sie. »Ich bin schon seit heute Nacht auf den Beinen, und ich will fit sein für alles, was noch vor uns liegt. Vielleicht kann ich ja sogar Souki schon bald wieder vom Tierarzt abholen.«

»Die ist bei ihm und Brian in den allerbesten Händen«, entgegnete Marlene mit Nachdruck. »Zwei wie Pech und Schwefel. Immer schon.« Sie schnaubte kurz, was leicht unwillig klang. »Also, ich könnte am helllichten Vormittag ja kein Auge zutun! Aber du wirst schon wissen, was gut für dich ist. Dein Wagen allerdings …«

»Kann auch noch ein weiteres Stündchen warten«, sagte Nane, die schon fast an der Tür war. »Jetzt brauche ich erst einmal ein wenig Ruhe.«

Kaum hatte sie sich hingelegt, war sie auch schon weggedöst. Und ihr Schlaf musste so tief gewesen sein, dass sie nichts von dem mitbekam, was um sie herum geschah. Als Nane wieder wach wurde, schien ihr die helle Nachmittagssonne ins Gesicht.

Sie reckte sich und stand auf.

Wo waren die blutverschmierten Kleidungsstücke abgeblieben?

Sie fand sie weder im Zimmer noch im alten Badezimmer ein paar Türen weiter, das sie als Nächstes aufsuchte. Hier gab es noch immer das bauchige Boilerungetüm, das jedes Mal eigens angeheizt werden musste, wenn jemand ein Vollbad nehmen wollte. Gleich nebenan allerdings hatte Marlene eines der kleinen Zimmer zu einem modernen Bad mit Dusche und einer Sprudelwanne umgestalten lassen.

Von unten kam ein köstlicher Duft, der Nane unwiderstehlich anzog. Sie ging in die Küche, wo neben dem Herd eine große Auflaufform mit Milchreis, geschmorten Äpfeln und Zimt auskühlte. Hier gab es kaum noch Spuren von früher. Die alte Kredenz hatte modernen Einbaumöbeln Platz gemacht, in die diverse Elektrogeräte integriert waren. Nur der vertraute dunkelgrüne Kachelofen nebst umlaufender Holzbank und der alte Küchentisch hatten die Renovierung überlebt.

»Dein Lieblingsessen, als du klein warst«, sagte Marlene mit einem halben Lächeln. »Hätten wir dich gelassen, hättest du jedes Mal alles ganz allein verputzt.«

»Du hast es extra für mich gekocht?«, fragte Nane gerührt. »Wie lieb von dir!«

»Deine Mutter mochte es auch«, sagte Marlene. »Zumindest früher.«

Als hätte sie Vickys Erscheinen mit dieser Feststellung heraufbeschworen, betrat diese nun die Küche.

»Ich hab mich herrlich ausgeruht«, sagte sie lächelnd, was ihr sofort einen strengen Blick von Marlene eintrug. »Wahrscheinlich schläft man eben doch nirgendwo besser als daheim.«

Wenigstens hatte sie ihre dunkelrote Späthippie-Kleidung gegen eine graue Hose und einen weiten Pullover in derselben Farbe eingetauscht, aber nicht einmal das schien Gnade vor Marlenes Augen zu finden.

»Falls du deine Hose und die Jacke suchst, die trocknen gerade auf dem Wäscheständer im Garten«, fuhr sie fort, ausschließlich an ihre Nichte gewandt, während sie eine großzügige Portion Reisauflauf auf einem Teller anrichtete. Als sie sich dabei vorbeugte, klaffte der Ausschnitt ihrer Bluse ein Stückchen auf, und jetzt sah Nane, dass sie Omas altes Granatkreuz an einer längeren silbernen Kette trug.

Vicky gab einen kleinen Ton von sich.

»Hat sie dir das vererbt?«, fragte sie spitz. »Oder hast du es einfach an dich genommen?«

»Red keinen Unsinn!« Marlene sah sie nicht an, während sie weiter das Essen verteilte. »Sie hat es mir schon vor Jahren geschenkt. Schließlich bin ich ihre Älteste. Außerdem war ich da, als sie mich gebraucht hat, während du dich selbst verwirklichen musstest. So einfach ist das.«

Für einen Moment wurde es sehr still in der Küche.

»Und dein Auto ist auch wieder sauber«, fuhr Marlene nach kurzem Räuspern fort. »Martin musste allerdings ordentlich schrubben.«

»Wieso denn das? Ich wollte doch niemals, dass er die Schweinerei wegmachen soll«, protestierte Nane, deren Appetit auf die geliebte Süßspeise plötzlich nicht mehr ganz so groß war.

»Ach, weißt du«, in Marlenes Augen trat ein leicht verträumter Ausdruck, »der Martin Raible würde auch noch ganz andere Dinge für mich tun, wenn ich ihn darum bäte.« Sie stand auf. »Ich setze mich noch für ein Weilchen ins Büro. Nach dem Begräbnis geht es ja gleich mit der Ernte weiter. Da kommt man dann zu gar nichts mehr.«

»Du gehst noch immer selbst ins Obst?« Erst nachdem Nane es ausgesprochen hatte, fiel ihr auf, dass sie unwillkürlich den alten Ausdruck ihrer Großmutter verwendet hatte.

»Was denkst du denn?« Marlenes Rücken wurde noch eine Spur steifer. »Als Chefin ist man immer verantwortlich. Für alles. Erst wenn das nicht mehr geht, ist es vorbei.« Sie räusperte sich. »Und jetzt greift endlich zu! Wozu hab ich mir sonst die ganze Mühe gemacht?«

Nach kurzem Zögern folgte Nane der Aufforderung. Ja, es schmeckte wie früher – süß und leicht säuerlich, mit einer winzigen Prise Bitterkeit, die vom Zimt herrührte. Eigentlich hätte sich nun so etwas wie die altbekannte Seligkeit in ihr ausbreiten müssen, stattdessen fühlte sie sich ziemlich fehl am Platz, denn ihre Mutter hatte ihren Teller bislang nicht angerührt.

»Du glaubst also, das geht noch immer so wie früher«, sagte Vicky langsam. »Du befiehlst – und wir anderen tun, was du verlangst. Aber das ist jetzt vorbei. Und es wird höchste Zeit, dass du das endlich kapierst.«

Marlene blieb neben dem Ofen stehen.

»Und du schneist herein und willst gleich Anweisungen geben? Mutter und ich waren dir doch total egal in all den Jahren. Das hast du uns unmissverständlich gezeigt. Dann führ dich jetzt auch nicht auf, als hättest du hier etwas zu sagen!«

Vicky stand auf.

»Ich wollte einmal im Leben friedlich mit dir reden«, sagte sie. »Denn so einiges zu besprechen gäbe es ja durchaus. Aber das ist offenbar nicht möglich.«

»Friedlich?« Marlenes Stimme kippte. »Dass ich nicht lache! Selbst für Mutters Beerdigung bist du dir zu schade, sonst wärst du ja früher gekommen. Den Ablauf hat sie übrigens eigenhändig schriftlich festgelegt. Dazu hat sie dich nicht gebraucht. Und um den Rest – Leichenschmaus, Trauergäste, Totenblick, Grabschmuck und die tausend weiteren Kleinigkeiten, die anfallen – habe natürlich ich mich gekümmert. Weil man es eben so macht. Und weil die anderen es so erwarten. Glaubst du vielleicht, Rickenbach verlässt sich auf eine Vagabundin wie dich, die im letzten Moment anrückt – oder vielleicht auch nicht?«

»Du hättest mich doch ohnehin nichts machen lassen.« Vickys Stimme klang noch immer mühsam beherrscht. Aber hektische rote Flecken am Hals verrieten ihre wachsende Erregung. »Weil du dir immer schon alles unter den Nagel gerissen hast, als sei es dein gutes Recht. Aber ich bin auch Evas Tochter – nur für den Fall, dass du das vergessen haben solltest.«

»Mama und ich, das war eine Einheit!« Jetzt schrie Marlene. »Und das galt schon, als es dich noch gar nicht gab. Hast du auch nur die geringste Ahnung, was wir zusammen alles durchgestanden haben? Natürlich nicht. Weil es für dich ja immer nur um Viktoria ging! Aber weißt du, was? Wir hätten sehr gut auf das ganze Schlamassel verzichten können, das deinetwegen über unsere Familie gekommen ist!«

»Soll das heißen, ich wäre besser gar nicht geboren worden?«, fragte Vicky schneidend. »Denn dann hätte ich eure Idylle auch nicht stören können. Ist es das, was du mir gerade sagen willst, Schwester?«

Marlene zuckte die Achseln. »Wenn du so willst …«

Nane war aufgesprungen und legte ihre Hand auf Marlenes Arm.

»Jetzt hört doch auf, euch so anzugiften!«, verlangte sie. »Das ist ja nicht zum Aushalten. Oma ist noch nicht unter der Erde, und ihr …«

»Halt du dich da raus.« Ruppig schüttelte Marlene sie ab. »Das ist etwas zwischen uns Schwestern und geht dich nichts an.«

Vicky sah sie kopfschüttelnd an, dann drehte sie sich um und ging wortlos hinaus.

»Genauso hat sie es immer schon gemacht.« Marlene klang verbittert. »Sobald es schwierig wurde, ist sie einfach verschwunden.«

»Dieses Mal warst aber du es, die zu weit gegangen ist«, widersprach Nane. »Wie kannst du nur etwas derart Verletzendes zu deiner eigenen Schwester sagen? Mich gäbe es dann übrigens auch nicht – hast du daran schon mal gedacht?«

Marlene zupfte an ihrer Bluse.

»Sie bringt mich immer wieder aus der Fassung«, murmelte sie trotzig. »Das beherrscht sie so gut wie sonst kein anderer Mensch auf der Welt. Und dann sage ich Dinge, die ich später bereue.«

»Sag ihr das«, drängte Nane sie. »Sprich mit ihr! So zerstritten könnt ihr doch nicht eure Mutter zu Grabe tragen.«

»Später. Ich muss jetzt erst einmal eine Weile für mich sein.« Marlene griff nach einem dicken braunen Umschlag, den sie auf der Ofenbank abgelegt hatte. »Der ist übrigens für dich. Mama hat gesagt, ich soll ihn dir nach ihrem Tod geben. Eigentlich wollte ich ja erst noch die Beisetzung abwarten und anschließend eine kleine Zeremonie daraus machen. Kannst dich bei deiner Mutter bedanken, dass daraus nichts geworden ist!«

Damit ließ sie Nane allein.

Der starke Kaffee aus der Thermoskanne, die Marlene auf den Tisch gestellt hatte, machte Nane noch zittriger. Nach diesem furiosen Auftakt war im Krieg der Schwestern noch einiges zu erwarten. Als sie den Tisch abgeräumt und alles Geschirr ordentlich in die Spülmaschine sortiert hatte, wurde der Impuls, sich ins Auto zu setzen und zurück nach Frankfurt zu fahren, fast übermächtig.

Doch sie kämpfte dagegen an.

Du bleibst, befahl sie sich selbst. Das bist du deiner Großmutter schuldig. Außerdem braucht Souki dich. Und du brauchst diese Landschaft und den See.

Vor allem aber hatte der geheimnisvolle Umschlag ihre Neugier geweckt. Sie öffnete ihn und zog ein dickes dunkelrotes Notizbuch hervor. Als sie es aufschlug, fiel ihr ein zusammengefaltetes Blatt Papier entgegen, das sie öffnete und glatt strich.

Liebe Nane,stand da in der korrekten, ein wenig spitzen Handschrift ihrer Großmutter, der man bei einigen Buchstaben noch immer ansah, dass sie sich vor langen Jahren aus der alten Sütterlinschrift entwickelt hatte, als ich endlich zur Ruhe gekommen war, habe ich nach und nach meine Geschichte aufgeschrieben. Ganz fertig ist sie leider nicht geworden, obwohl ich mir das eigentlich fest vorgenommen hatte, aber jetzt bin ich zu krank dafür. Und vielleicht ist es auch ganz gut, wenn gewisse Dinge in mir verschlossen bleiben. Aber du sollst wissen, wie alles gekommen ist, damit du nicht die gleichen Fehler begehst wie ich.

Ich weiß schon lange, wie sehr du dich quälst, weil du dein letztes Staatsexamen nicht bestanden hast, und ich wünschte, wir beide hätten in Ruhe darüber reden können. Doch das war nicht möglich, weil du mir mein Verbot, den Benteles nahe zu sein, so übel genommen hast und seitdem immer auf Abstand geblieben bist. Ja, es hat mir wehgetan, dass deine Besuche hier immer seltener geworden und schließlich ganz ausgeblieben sind, aber ich habe es dir nicht übel genommen. Die Frauen unserer Familie haben alle ihren Stolz. Wie sollte es bei dir anders sein? Den wahren Grund konnte ich dir damals noch nicht sagen, dafür warst du zu jung, doch wenn du diese Seiten gelesen hast, wirst du mich vielleicht besser verstehen.

Gefühle zu äußern ist mir zeitlebens nie ganz leichtgefallen, aber ich war durchaus in der Lage, tief zu empfinden. Als junges Mädchen bin ich der großen Liebe begegnet und durch alle Höhen und Tiefen gegangen – bis ein entsetzlicher doppelter Verlust alles in mir absterben ließ. Damals dachte ich, ich könne nie wieder lieben, aber ich hatte mich getäuscht. Denn ich habe meine Mädchen geliebt – und auch dich, mein schönes, kluges Nanekind. Stets habe ich größte Stücke auf dich gehalten. Deshalb bekommst nun auch du meine Lebensbeichte zu treuen Händen.

Ich habe sie so aufgeschrieben, als sei sie die Geschichte einer anderen, das hat es mir leichter gemacht, auch die schlimmsten Erlebnisse nicht auszulassen. Du sollst wissen, woher du kommst – woher wir alle kommen. Das wird deine Wurzeln festigen und dir helfen, deine Flügel für den Start ins Leben mutig auszubreiten. Ich weiß, du bist sehr viel stärker, als du selbst glaubst. Und ich weiß auch: Wenn es eine gibt, die dauerhaften Frieden zwischen Marlene und Viktoria stiften kann, dann bist es du, meine große, kleine Enkelin.

Ich zähle auf dich, Christiane Julika Auberlin. Möge das Glück der ganzen Welt mit dir sein!

Deine Großmutter Eva

Jetzt konnte nichts mehr Nanes Tränen aufhalten. Sie weinte so heftig, dass es in ihren Schläfen zu pochen begann, doch irgendwann wurde sie dann wieder ruhiger.

Sie hat mir verziehen, dachte sie in einer seltsamen Gefühlsmischung aus Ungläubigkeit und Glück. Sie hat die ganze Zeit über gewusst, was wirklich mit mir los war. Jetzt halte ich ihr Vermächtnis in den Händen – ausgerechnet ich, die es doch am allerwenigsten verdient hat.

Nane zog ein Taschentuch aus der Hosentasche und schnäuzte sich ausgiebig. Dann stand sie auf, das Notizbuch wie einen kostbaren Schatz fest an die Brust gedrückt. Sie würde die Großmutter nicht noch einmal enttäuschen, das nahm sie sich in diesem Moment vor. Alles, alles würde sie versuchen, um sich dieses Vertrauens würdig zu erweisen. Doch zuerst musste und wollte sie lesen, was Eva ihr hinterlassen hatte.

Dafür gab es im ganzen Haus nur einen geeigneten Ort: Opa Tonis Zimmer, in dem Marlene sie einquartiert hatte.

2

Reichenberg, 1938

Jeder Morgen, an dem Tonleitern und Kadenzen aus dem offenen Fenster nach draußen drangen, versprach ein guter Tag zu werden, so jedenfalls war es all die goldenen Jahre in Prag gewesen. Davor kamen die Atemübungen, Grundlage jeder guten Stimme, später dann schloss sich das Legato-Singen an, das ein Leben lang immer weiter perfektioniert werden musste. Schon als kleines Mädchen war Eva an dieses aufwendige morgendliche Einsingen ihrer Mutter gewöhnt. Julika Bagosy, die Bagosy, wie sie früher auch genannt worden war, besaß einen zarten, ungewöhnlich klaren Koloratursopran, der ein wenig an den Klang einer Querflöte erinnerte. Für dramatische Opernrollen wie Verdis Gilda oder seine Violetta hatte ihr Stimmvolumen nie ganz gereicht. Doch vor ihrer Heirat und auch noch in den ersten Jahren danach war Julika als Blonde in Die Entführung aus dem Serail, als Sophie in Der Rosenkavalier oder als Olympia in Hoffmanns Erzählungen bejubelt worden.

Nicht nur ihre Stimme kam beim Publikum gut an, auch die fragile, hochgewachsene Gestalt mit den rotblonden Locken und der hellen Haut wurde allgemein bewundert. Diese temperamentvolle Ungarin gehörte nicht zur Riege schwergewichtiger Sänger, die sich unbeholfen und stocksteif in ihren Rollen abplagen mussten. Wie eine Elfe wirkte sie neben den anderen auf der Bühne, leichtfüßig, fast schwerelos. Ihre Taille blieb über Jahre hinweg schmal, Beine und Fesseln waren geradezu aufsehenerregend, und sie sorgte dafür, dass die meisten Kostüme ihr Dekolleté gekonnt in Szene setzten.

Allerdings war die Bagosy auch bekannt für ihre Launenhaftigkeit, aber solange ihr Stern hell erstrahlte, nahm ihr die niemand ernsthaft übel, weder die Dirigenten und Regisseure, mit denen sie arbeitete, noch die Zuschauer. Auf dem Zenit ihrer Karriere allerdings begann sie es mit ihren Allüren zu übertreiben, kam so gut wie immer zu spät zu den Proben, beanspruchte lauter Extras und bedachte vor allem die jüngeren weiblichen Mitglieder des Ensembles mit Eifersucht und kaum verbrämter Missgunst. Was sich schnell herumsprach. Bestimmte Rollen wurden ihr nun nicht mehr angeboten, und sie musste in eher zweitklassigen Häusern auftreten.

Dazu gehörte auch, dass Julika nach der späten Geburt ihrer Tochter mehr und mehr ins leichte Fach gewechselt hatte. Jetzt sang sie Partien in diversen Lehár-Operetten, brillierte als Csárdásfürstin und bekam im Prager Theater in den Weinbergen als Gräfin Mariza so viele Vorhänge, dass es in die Annalen des Hauses einging. Sie selbst allerdings sprach nicht gern darüber und tat in bedauerlicherweise seltener werdenden Interviews Operettenauftritte mit einem leicht frivolen Augenaufschlag als vorübergehende Liebhaberei ab, die sich jederzeit wieder ändern ließe. Die Familie allerdings bekam zu spüren, dass Julikas Verzweiflung wuchs.

Das betraf Fritz Menzel, Apotheker von Beruf, der die acht Jahre ältere Sängerin schon während seiner Studienzeit in Prag glühend verehrt hatte und vor Glück fast übergeschnappt wäre, als sie seinen Antrag endlich annahm. Und es betraf auch Eva, die gemeinsame Tochter, äußerlich dem dunkelhaarigen Vater so ähnlich, dass sie ihm nach ihrer Geburt im Krankenhaus ganz selbstverständlich das richtige Kind gebracht hatten, die schon früh lernte, alle Zeichen mütterlicher Aufregung zu deuten.

Als Menzels Onkel Baldur 1934 verstarb und ihm das dreistöckige Wohnhaus am Altstädter Platz in Reichenberg vererbte, in dessen Erdgeschoss die Rosenapotheke lag, fasste er nach langem Grübeln den Entschluss, mit der Familie in seine Heimat zurückzukehren. Julika glaubte zunächst an einen üblen Scherz und verlor schließlich die Fassung, als sie merkte, wie ernst es ihm damit war.

»Ich bin in Budapest geboren, habe Gesang in Wien studiert und bin in Prag bejubelt worden. Großstädte, das ist meine Welt! Was zum Teufel soll ich da in einem Kaff bei tumben Sudetendeutschen?«

»Reichenberg ist die Metropole Nordböhmens und eine lebendige Industriestadt dazu«, erwiderte Fritz mühsam beherrscht. »Mit einem durchaus beachtlichen Kulturangebot. Manche nennen es sogar das Wien des Nordens. Wenn dir Sudetendeutsche derart zuwider sind, hättest du vielleicht besser keinen heiraten sollen.«

»Und was ist mit eurer sogenannten Heimatfront, die jetzt überall ihre urdeutschen Ansprüche herumkrakeelt?«, setzte sie nach. »Ich dachte immer, du fühlst dich als Demokrat, Fritz Menzel, und hasst die Nazis ebenso sehr wie ich! Übrigens weiß ich von einem unserer Tänzer, dass dieser Henlein, der da den Vorreiter spielt, dem eigenen Geschlecht mehr als zugetan ist.«

»Soviel ich weiß, haben dich Homosexuelle doch noch nie gestört. Die Hälfte deiner hochgeschätzten Theaterkollegen gehört dazu.«

»Ja, weil sie dazu stehen, ganz im Gegensatz zu diesem verdrucksten Turnmeister, der sich die Rettung deutschen Kulturguts auf die Fahne geschrieben hat. Das waren für mich schon immer die Allerschlimmsten: öffentlich Zucht und Ordnung predigen und dabei heimlich verbotene Laster pflegen!«, fauchte sie ihren Mann an. »Hat er dich jetzt etwa auch schon mit seinem Germanenwahn infiziert – von wegen: gleiches Blut gehört in ein gemeinsames Reich?«

»Mit Konrad Henlein und seiner Bewegung habe ich nichts zu schaffen«, erwiderte Fritz scharf. »Das weißt du ganz genau. Und von Deutschland kann doch keine Rede sein. Wir werden weiterhin in der Tschechoslowakei leben, nur eben ein Stück weiter nördlich. Dort, wo ich zur Welt gekommen bin. Und wo auch schon meine Eltern und Großeltern geboren wurden und gestorben sind, auch wenn es damals noch Böhmen hieß und zur K.-u.-k.-Monarchie gehört hat.«

»Du bist ein Träumer. Und ein blinder Fantast, der einfach nicht begreifen will, wie rasant die Welt sich gerade ändert.« Zwischen Julikas fein gestrichelten Augenbrauen stand nun eine steile Zornesfalte. »Hier in Prag können wir frei sein – und nichts anderes will ich auch weiterhin.«

»Und ich will nach Reichenberg«, beharrte er. »Zurück nach Hause. Mit euch, meiner Familie. Der Umzug findet statt. Daran gibt es nichts mehr zu rütteln.«

»Dann geh doch zurück in dein Zuhause!«, schrie sie. »Ich wünschte, ich wäre dir niemals begegnet!«

Eva, wider Willen Zeugin dieser heftigen Auseinandersetzung, machte sich ganz klein. Das Gesicht ihres Vaters war zu einer weißen Maske erstarrt. So wütend und gleichzeitig verletzt hatte sie ihn noch nie zuvor erlebt. Julika schmiss Türen und verzog sich schmollend ins Gästezimmer. Prompt bekam sie Migräne und sprach tagelang kein Wort mehr. Wie konnte ihr Mann es wagen, ihre Träume von der Rückkehr auf die großen Bühnen so schnöde zu durchkreuzen? Dabei übersah sie großzügig, dass sie inzwischen Mitte vierzig war, ein Alter, in dem Soubretten kaum noch besetzt wurden.