Marmorkuss - Jennifer Benkau - E-Book

Marmorkuss E-Book

Jennifer Benkau

4,8

Beschreibung

Jarno, ein rastloser Underdog, küsst ein Dornröschen aus dem letzten Jahrhundert wach - und wird mit ihr in einen Strudel aus Liebe und Gefahr gezogen. Ein berührender Roman mit zwei Liebenden aus verschiedenen Zeiten, meisterhaft erzählt. Er war ihr in einer alten, mit Rosen überwucherten Villa begegnet - der geheimnisvollen Figur aus weißem Marmor. Und Jarno hatte sich tatsächlich beim Fotografieren der steinernen Schönheit ein bisschen in sie verliebt. Wie verwirrt ist er nun, als nach seinem schüchternen Kuss eine lebendige junge Frau vor ihm steht, die weder elektrisches Licht noch zerrissene Jeans kennt und offenbar hundert Jahre geschlafen hat. Es beginnt eine märchenhafte Liebesgeschichte und gleichzeitig ein Spiel auf Leben und Tod. Denn Jarno ist kein Prinz - im wirklichen Leben steckt er tief in einem Sumpf aus Verbrechen ... In ihrem unvergleichlichen Stil, poetisch und rau zugleich, verwebt Jennifer Benkau, u. a. Autorin von "Himmelsfern", "Dark Canopy" und "Dark Destiny", romantische Fantasy mit einer toughen Thrillerhandlung und erschafft mit dem emanzipierten Dornröschen und ihrem strauchelnden Prinzen ein überaus authentisches Liebespaar.

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TEIL I

Es war einmal ...

KAPITEL 1

Fotostrecke

Pisseflecken an grauer Betonwand. Eine umgeworfene Bierflasche; ihr auslaufender Inhalt mischt sich mit Schneetau, der aus dem Profil von Springerstiefeln rinnt. Selbst gedrehte Zigarettenstummel saugen sich voll. Mittendrin zwei Punks, einer mit Iro und rasierten Augenbrauen; er sitzt halb auf dem Schoß eines Typen, dessen Haar wohl mal blau war und nun zu grauem Mischmasch verblasst ist. Eine Hand mit bis aufs Fleisch abgefressenen Nägeln über einer aknenarbigen Wange. Mit tief hängenden Augenlidern sehen sie sich an, zögern noch einen Moment. Noch einen.

Jarno drückte nicht ab. Noch nicht, noch eine Sekunde wollte er warten, nur noch eine. Er riskierte viel; er spürte die Grenze zu »zu viel« näher kommen und schimpfte stumm mit sich selbst.

Nicht so viel Vernunft, Jarno – weg mit dem Verstand.

Es brauchte bloß Gefühl. Das perfekte Foto.

Er wollte den Kuss nicht im Bild einfrieren, er wollte die Millisekunde davor. Den Moment, in dem die Jungs die Wärme der Lippen des anderen schon auf den eigenen spürten, ohne dass sie sich berührten. Wärme war es, was diese Jungs wollten, und Jarno verlangte ein Bild von dem Augenblick, an dem sie sie am meisten brauchten. Das perfekte Foto.

Taubenflügelflattern von irgendwo schräg oben. Eine Leuchtstoffröhre sirrt. Auf einem Gleis am anderen Ende des U-Bahnhofs fährt einer der wenigen Nachtzüge ein und treibt einen Windstoß vor sich her, in dem Papierfetzen und Blätter umherwirbeln. Die Punks sehen auf. Beschämtes Grinsen, der oben sitzende rotzt an die Wand.

Hastig verbarg Jarno sich hinter der Mauerecke. Wenn sie ihn jetzt erwischten, konnte er sein Foto knicken. Er ließ die verspannten Schultern kreisen, dehnte den Hals nach links und rechts und lehnte sich an die Wand. Der darin gespeicherte Frost kroch ihm augenblicklich durch die drei Jacken, die er übereinandertrug. Sweatjacke, Fleecetroyer, Jeansjacke. Wer hatte ihm den Mist vom wärmenden Zwiebellook erzählt? Seine Mutter? Sie musste es ja wissen; im Wohnzimmer, das sie nicht mehr verließ, waren konstante dreißig Grad. Ihre Weisheiten hatte sie alle aus dem Fernsehen.

An der Oberfläche schneite es vermutlich noch immer. Jarno fror so sehr, dass seine Hände zitterten. Tödlich für ein gutes Foto, daran änderte auch der Autofokus nichts. Das neue Glas lieferte keine IS-Bildstabilisierung und machte die Canon unter anderem dadurch nicht nur zu einer Göttin der scharfen Bilder, sondern auch knapp doppelt so schwer, wie sie mit dem alten Objektiv gewesen war. Für gewöhnlich waren seine Hände ruhig, aber das neue Glas war noch ungewohnt. Und Jarno war nie etwas gut genug. Er lugte erneut um die Ecke.

Sie lächeln, irgendwie scheu. Typen von der Art, die ja überhaupt nicht schwul sind – nee, Alter, auf gar keinen Fall –, heute Nacht aber einfach mal darüber hinwegsehen. Weil es kalt ist, so schrecklich kalt.

Ein schönes Bild.

Aber Jarno wollte ein anderes. Er brauchte den Moment der Sehnsucht nach der Wärme des anderen. Jetzt abzudrücken, würde ein gutes Bild bringen, aber auch ein zu großes Risiko, kein besseres zu bekommen. Wenn sie ihn hörten, war er geliefert und das Foto nur noch Fantasie.

Der Typ, der dem anderen auf dem Schoß sitzt, bewegt die Beine. Im Gesicht des Untensitzenden regt sich etwas. Seine Lider zucken, sicher würde er jetzt seufzen, wenn ihm das nicht peinlich wäre. Erneut nähern sich die beiden Gesichter einander an. Das leere Loch im Nasenflügel sieht aus wie selbst gestochen und hinter sich öffnenden Lippen kommt eine Zahnlücke zum Vorschein, durch die man einen Euro quer reinschieben könnte. Näher kommen sie, näher, und das Bild wird schöner und schöner. Eine Sekunde noch, nur eine.

Klick.

Shit! Er hatte einen Bruchteil der verdammten Sekunde zu lang gewartet. Auf dem Display erscheinen die Punks. Gestochen scharf, das sah Jarno, ohne vergrößern zu müssen. Man entwickelt ein Auge für so etwas. Aber ihre Lippen berührten sich bereits. Da war nichts von Sehnsucht nach Wärme in dem Bild, es zeigte einfach nur einen bescheuerten, stinknormalen schwulen Kuss.

Die Punks stießen sich gegenseitig weg, stolperten über ihre eigenen Beine, landeten mit dem Hintern in Schneematsch, Bier und Urin.

»Mann, der Penner fotografiert uns. Der fotografiert uns!«

»Was soll das, du Proll? Bist du pervers, oder was?«

»Ey, das geht nich, den kauf ich mir, Mann, den kauf ich mir!«

Jarno glaubte ihnen sofort. Der Hauch von Idee, den Jungs anzubieten, das Foto zu löschen oder ihnen die Speicherkarte auszuhändigen, verlor sich, als er den Baseballschläger bemerkte, den ihre Körper zuvor verdeckt hatten. Ein Schlagring blitzte.

»Hey!«, rief er rüber, seine Stimme hallte durch die nachtstillen U-Bahn-Tunnel, verlor sich in ihnen. »Alles klar, lasst euch nicht stören, ich wollte euch nicht nerven. Bin schon weg.« Während er sprach, drehte er bereits ab, machte ein paar zügige Schritte und begann zu rennen. Hinter ihm donnerten zwei Paar Springerstiefel mit solchem Krawall über den Boden, als folgte ihm ein berittenes Regiment. Ein gebrülltes »Den kauf ich mir!« schien ihn beinah im Nacken zu berühren. Ihm war keine Zeit geblieben, die Canon zurück in ihre gepolsterte Tasche zu stecken, stattdessen presste er sie wie einen Football zwischen Achsel und Brust, beide Hände darum geschlossen, obwohl er so langsamer vorankam. Er musste das neue Objektiv schützen, in seiner Eile hatte er nicht einmal den Deckel auf das Glas stecken können. Wie die Punks drauf waren, würden sie die dreieinhalbtausend Euro teure Kamera kurzerhand mittels ihrer Stiefelsohlen in ihre Einzelteile zerlegen und später reichlich Alkohol auf den Frust kippen, sie nicht verhökert zu haben.

Sein Vorsprung schrumpfte. In seinen Lungen brannte schon die Kälte. Seine Kondition war mal besser gewesen. Alles an ihm war mal besser gewesen.

»Bleib stehen, du Spanner!«, keuchte einer der Punks hinter ihm. Verdammt, waren die nah! Jarno unterdrückte es, sich über die Schulter umzusehen. Er hastete die Treppe hoch, nahm immer drei Stufen auf einmal und jagte durch die Bahnhofshalle, vorbei an Mülleimern, Ticketautomaten und einem verrammelten Hotdog-Stand, neben dem ein Obdachloser auf Styroporplatten im Sitzen schlief, den von mehreren Wollmützen geschützten Kopf an die Würstchenbude gelehnt. Kleingeld flog Jarno aus den Taschen der Jeansjacke. Drei Tauben stoben vor ihm auf. Ein jugendliches Pärchen kam ihm entgegen, Jarno machte einen Bogen. Die Punks nicht, einer schubste das Mädchen. Der Junge rief: »He! He, was soll denn das?«

Aktion: Rette die Canon – das soll das!, dachte Jarno, weil er an nichts anderes denken konnte. Rette die Canon. Sie war – von dem schrottreifen Polo abgesehen, den er hasste, aber für seinen Job brauchte – sein einziger Besitz. Er hatte die Bahnhofshalle fast durchquert, die Punks waren knappe zehn Meter hinter ihm. Doch nun versperrte die Glasfront seinen Weg nach draußen. Alle drei Türen waren zu und als er hergekommen war, hatte er sich nicht gemerkt, welche davon nicht abgeschlossen war. Die mittlere? Er warf sich aus vollem Lauf mit der linken Schulter dagegen und klatschte vor eine unnachgiebige Wand aus Sicherheitsglas. Sein Kopf knallte durch die Wucht des Aufpralls gegen die Scheibe und er fühlte sich, als hätte man neben ihm eine riesige Glocke angeschlagen. Wwwronnng. Beinah hätte er die Kamera fallen gelassen. Sein Blick schoss zu den Punks, während er sich taumelnd gegen die nächste Tür warf. Sie hatten ihn fast, waren so nah, dass er die weiße, getrocknete Spucke in ihren Mundwinkeln sah. Die zweite Tür ging schwerfällig nach außen auf, eine dicke Gummilippe schabte über den Boden. Jarno quetschte sich nach draußen, presste die Tür zu und gab Fersengeld. Zwischen Graffiti auf Backstein und dem heruntergekommenen Bikeport aus gewelltem Kunststoff rannte er die Treppen hinab. Streusalz knirschte unter seinen Chucks, dennoch glitten seine Schritte über die vereisten Stufen wie nackte Füße über eingeölte Badfliesen. Er nahm eine Hand von der Kamera, um sich am Geländer festzuhalten, doch das kostete wieder Zeit. Die Punks hatten den Kopf der Treppe bereits erreicht. Jarno sah sie als Schemen hinter sich aufragen. Einer folgte ihm die Stufen herab, der andere blieb stehen, spuckte nach ihm und brüllte atemlose Drohungen, die mit Darmentleerungen und Nahrungsaufnahme zugleich zu tun hatten. Jarno kümmerte sich nicht darum, sondern floh durchs Licht gelblicher Straßenlaternen und vorbeifahrender Autos, verfolgt von einer ganzen Meute Schatten.

»E-len-der Feig-ling!«, röchelte der zweite Typ, der verbissen wie ein Terrier hinter ihm blieb. Jarno rannte weiter. Es war ihm egal, was ein schwuler Punk von ihm dachte, und es wäre ihm auch egal gewesen, diesem seine selbst gepiercte Nase nach innen zu dreschen. Wichtig war einzig und allein seine Canon.

»Ich – will bloß – die Kamera!«, bellte der Typ ihm nach.

Genau da liegt unser Problem, du Schmock.

Instinktiv trugen ihn seine Schritte in Richtung Zuhause, aber er besaß trotz des Gefühls von Magensäure in den Atemwegen noch die Geistesgegenwart, nicht in seine Straße einzubiegen. Typen, die in Winternächten in U-Bahnhöfen knutschten, war es zuzutrauen, dass sie einen Bruch begingen. Wenn es außer der Canon noch etwas Schützenswertes für Jarno gab, waren es seine beiden türkischen Mädels. Keine von beiden wäre erfreut, fortan von einer Horde schwuler Punks belagert oder gar ausgeraubt zu werden. Er rannte nach rechts statt nach links, an der nächsten Möglichkeit wieder rechts und direkt auf das überdimensionale »M« zu, das die Altbauten des Viertels wie ein beschützender Kirchturm überragte. Die McDonald’s-Filiale lag im Bahnhofsviertel – und somit mitten im Revier der Punks, das er mit einem simplen Foto angepinkelt hatte –, aber sie erschien ihm vorerst sicher. Für die Mitarbeiter waren Schlägereien nichts Neues, sie galten als eilig darin, die Polizei zu rufen, am liebsten bevor Blut floss oder Zähne flogen, weil sie ansonsten später aufwischen mussten. Das weit in alle Richtungen leuchtende »M« bot Asyl. Für die Canon würde Jarno sich sogar wie ein Mädchen auf dem Klo einschließen, wenn es nötig war.

Bevor er den Burger-Clown erreicht hatte, merkte er, wie sein Vorsprung größer wurde. Hundert Meter später hörte er keine Schritte mehr hinter sich und sah nur noch seine eigenen Schatten über den Asphalt zucken. Er wagte einen Blick über die Schulter. Der Punk stand vornübergebeugt auf dem Gehweg, eine Hand auf den Oberschenkel gestützt, die gegenüberliegende Schulter gegen die Hauswand gelehnt. Er keuchte wie die Schwangeren in Daily Soaps, wenn gerade die Fruchtblase geplatzt war.

Und er heulte.

Jarno blieb stehen und drehte sich um. Der Punk schimpfte vor sich hin, aber mehr als ein paar Beleidigungen verstand Jarno nicht. Sein Gesicht war verzerrt vor Wut, Scham und Verzweiflung und sein runder Rücken zitterte. Der lange, schlaksige Kerl sah verloren aus, wie ein Fragezeichen, das jemand aus seiner Form geprügelt hatte. Jarno zögerte, er konnte nicht einfach abhauen. Es wäre so einfach, dem Jungen die SD-Card hinzuwerfen. Er konnte das Foto ohnehin nicht verwenden, es war vielleicht gut, aber nicht das, was er brauchte. Es verfehlte das Thema um den Bruchteil einer Millisekunde, was in der Kunst eine ganze Welt bedeutet. Sollte der Typ mit dem schwulen Bild doch machen, was er wollte. Während er überlegte und in seinem Kopf bereits die Karte aus der Schnittstelle zog, entwickelten seine Hände an der Kamera ein bösartiges Eigenleben. Sein Daumen strich beiläufig über den kleinen Hebel und brachte ihn in die On-Stellung. Während er das Gerät von der einen in die andere Hand übergab, aktivierte er den Blitz, drehte eine Winzigkeit an der Blende. Er hob die Kamera nicht an, sah nicht ins Display. Das Objektiv musste er nach Gefühl in die richtige Position drehen, reine Intuition.

Weinender Punk, erwischt beim Knutschen mit einem Kumpel und nicht in der Lage, die miese Ratte zu verdreschen, die ihn angenagt hatte, in genau dem Moment, als er glaubte, sicher zu sein.

Sicherheit, zertreten. Ein schönes Bild.

Klick.

* * *

»Schau dir diese Katharina von Lindberg an.« Wilhelmine, liebevoll »das Minchen« genannt, stößt mich mit dem Ellbogen in die Seite und deutet über das bunte Blumenmeer des Schulgartens zur Straße. »Lässt sich mit dem Automobil abholen, tzz. Wir sollen alle sehen, was sie hat, nicht wahr?«

»Minchen!« Ich ziehe die Holztür hinter uns zu und sehe mich nach ungebetenen Zuhörerinnen um. Zum Glück sind wir allein. »Wie ungerecht von dir! Wenn Katharina eines nicht hat, dann ist es die Entscheidungskraft über ihr Auftreten.«

»Du meinst, ihr Herr Vater beschließt, dass sie mit Tamtam und Brimborium durch die Straßen fährt, damit alle sehen, was er als Stadtrat verdient?«

Ich nicke und gebe mir Mühe, das qualmende Automobil nicht anzustarren, während wir die gewundene Treppe hinabgehen. Durch die Hecke, die das Internat eingrenzt und über die man nur von den obersten Stufen an der Eingangstür hinwegschauen kann, entschwindet die Straße nach wenigen Schritten unseren Blicken.

»Das behauptet zumindest mein Vater«, flüstere ich dem Minchen zu und dieses nickt interessiert. »Der trinkt hin und wieder Cognac mit dem Herrn Stadtrat und wenn der erst genug getrunken hat, wird er leutselig. Neulich soll Katharina sich seiner Kleiderwahl widersetzt haben. Der Herr Stadtrat war empört über dieses unbändige Benehmen.«

Das Minchen versteckt sein Lächeln hinter einer Hand. »Da muss unser Fräulein von Lindberg wohl vorsichtig sein, sonst verheiratet Herr Papa sie am Ende doch noch mit einem, der ihr die Flötentöne beibringt. Ich frage mich ohnehin, warum sie das Lehrerinnen-Seminar macht. Glaubst du, die einzige Tochter des Stadtrats würde nicht vor dem Altar enden?«

Ich verkneife mir ein Seufzen. »Man endet kaum, nur weil man heiratet.«

»Na, da erzählt dir meine Mutter aber etwas anderes. Warum sonst hat sie mir zur Beerdigung der Großmutter ein schwarzes Frauenkleid schneidern lassen, obwohl ich erst vierzehn war? Damit es mir bei meiner Hochzeit passt, weil dann nämlich das kleine Mädchen zu Grabe getragen wird. Das waren ihre Worte. So und nicht anders.«

Meine Meinung dazu ist eine andere, doch das weiß das Minchen bereits. »Deine Mutter kauft Kleider auf Vorrat, weil sie ein wenig geizig ist, so sieht es aus.« Von Hochzeiten oder eben keinen Hochzeiten mag ich für den heutigen Tag nicht sprechen.

Warum muss bloß alles im Leben endgültig entschieden werden? Sogleich entsinne ich mich an Johans Worte: Weil nur eine Entscheidung, die wir für immer treffen, eine wohlüberlegte ist, da wir ansonsten immerzu alles ändern, was wir ändern können.

Ich erlaube mir nun doch einen Seufzer und wünschte, ich …

* * *

»… könnte es ändern, aber das kann ich nicht. Ein besseres hab ich nicht.«

»Es gibt Fotografen und es gibt Leute, die Fotos knipsen«, sagte Seval und lehnte sich von hinten über Jarnos Schulter, damit sie das kritisierte Bild besser betrachten konnte. Ihr Haar streifte seine Schläfe. Es war vom Duschen noch feucht und er atmete unauffällig ein, um den blumigen Duft ihres Shampoos in sich aufzunehmen. »Du bist ein Fotograf, aber das da«, sie tippte auf den Bildschirm und hinterließ einen Fingerabdruck, »ist geknipst. Das sehe sogar ich mit meinem verkümmerten Kunstverstand.«

Jarno stützte die Ellbogen vor der Tastatur auf den Tisch und lehnte den Kopf auf die Fäuste, sodass ihm seine Fingerknöchel die Augen in die Höhlen drückten. Vielleicht konnte er die Fantasie, ihr Haar auf der Innenseite seiner Schenkel zu spüren, aus dem Kopf herausdrücken. Sie hatte recht. Das Bild von dem heulenden Punk war nichts weiter als ein Schnappschuss. Originelles Motiv, aber schlampig umgesetzt. Geknipst. Die Beleuchtung hatte er völlig versemmelt, das Rauschen an den Bildrändern glich einer Beleidigung an die Canon, die es selbst in der Hand eines Anfängers besser konnte, und ein schlechtes Bild am Rechner nachzubearbeiten, war möglich, verstieß aber gegen seine Prinzipien.

Seval rieb ihm über beide Schultern, was aller Zärtlichkeit zum Trotz leider nicht viel mehr als eine freundschaftliche Aufmunterung war. »Na komm, du wirst es überleben, auch mal ein schlechtes Bild gemacht zu haben. Morgen machst du ein besseres. Die Ausschreibung läuft bis Ende Februar, du hast noch lange Zeit.«

Er sah nicht zu ihr auf, weil er noch nicht einmal die Zähne geputzt, geschweige denn geduscht oder sich rasiert hatte. Jeden Morgen zog er einem beschämenden Ritual gleich dieselbe Runde: in Jeans und T-Shirt barfuß erst zum Klo, dann zur Kaffeemaschine. Einen Schlenker ins Wohnzimmer an seinen PC. Tasse abstellen, Knopf drücken. Während der Rechner gemächlich hochfuhr, schlurfte er eine Etage durchs Treppenhaus nach unten, rauchte die erste Zigarette, fror sich die Füße blau und nahm auf dem Rückweg die Briefpost mit. Dann rief er seine Mails ab und lud die Bilder der letzten vierundzwanzig Stunden hoch. Waren gute dabei, erkaltete der Kaffee, da er in diesem Fall bis zum Mittag arbeitete, ohne die Finger einmal von Maus und Tastatur zu lösen. Waren es nur schlechte, rannte er nach jedem einzelnen vor die Tür zum Rauchen.

Seval hatte sich längst an den Zustand gewöhnt, Jarno nicht.

»Ich suche schon seit zweieinhalb Monaten nach dem Bild«, sagte er und klickte die vorherige Aufnahme an. »Letzte Nacht hätte ich es fast gehabt. Es war da, weißt du? Ich hab es gesehen, direkt vor meinen Augen.« Kurz und dunkelrot schwoll der Impuls an, gegen den Monitor zu boxen. Er bezwang ihn, aber das kostete ihn sämtliche Energie und ließ matte Leere zurück. »Ich hab es gehen lassen. Um eine halbe Sekunde verpasst. Ist doch Scheiße.«

»Das Motto? ›Sehnsucht nach Wärme‹ hieß es, oder? Gibt viel her. Gerade jetzt im Winter, wenn es so kalt ist, kannst du das doch bestimmt an jeder Ecke finden.«

»Hm«, machte Jarno. Das dachte sie vielleicht. Er starrte die knutschenden Punks an. Handwerklich war das eine einwandfreie Aufnahme, wirklich gute Arbeit. Das Bild verhöhnte ihn, weil es ihm so dramatisch zeigte, was er verpatzt hatte. Eine halbe Sekunde bloß, vielleicht auch nur eine viertel, und die Stimmung war vollkommen umgeschlagen. Wie bei einem Kaleidoskop. Man neigt es nur ganz leicht, ein My Drehung genügt und schon rieseln die Teilchen durcheinander und formieren sich neu. Das Bild aus der Sekunde zuvor ist unwiderruflich verloren, sooft man auch daran dreht.

Mit einem unausgesprochenen Fluch klickte er auf das Mülleimer-Icon. Ein Fenster sprang auf.

Wirklich löschen?

Ja, Blödmann, wirklich löschen.

»Ich finde es ohnehin ziemlich mies von dir, Leute heimlich zu fotografieren«, sagte Seval, während sie zur Couch ging, auf der ihr Laptop stand. Sie schob die Katze beiseite, die sich an die Lüftung gekuschelt hatte wie an einen Kachelofen. »Hallo, Katze, tut mir leid, wenn ich störe, aber du haarst mir alles voll.«

Katze antwortete mit einem gleichgültigen Mrrw? und drehte sich auf den Rücken.

Seval seufzte ergeben und kraulte den milchweißen Bauch. »Jarno, ich meine das ernst. Was, wenn die dich erwischt und vermöbelt hätten?«

Er zuckte mit einer Schulter. Daran hatte er nicht mal gedacht, bis sie aufgesehen hatten. Es war bei der Flucht bloß um die Canon gegangen, um nichts anderes. »Dann hätte ich es wohl verdient gehabt.«

»Ooh«, gab Seval höhnisch zurück. »Eine Runde Bedauern. Das Selbstmitleid solltest du dir sparen, das steht dir nicht. Wann hast du eigentlich deine Katze das letzte Mal gebürstet? Die Haare kleben überall, selbst in meinem CD-Laufwerk sind welche.« Sie pustete über ihre Tastatur und konzentrierte sich auf ihren Monitor. Jarno erkannte bunte Balkendiagramme, sie arbeitete offenbar immer noch an der Statistik über die Wahlbeteiligung der Arbeiterklasse in Absurdistan. Das Land gab es genauso wenig wie die Arbeiter, ihre ganze Arbeit war ein Fake. Seval nannte es Studium der Politikwissenschaften. Um dieses durchzuziehen, hackte sie nächtelang auf ihr 10-Zoll-Aldi-Laptop ein und stand sich tagsüber zur Finanzierung bei H&M als Verkäuferin die Beine in den Bauch. Sie hatte diesen verrückten Traum. Sie wollte die Frauenrechte verbessern – nicht in Deutschland, nein, für Seval durfte es gern ein Level komplizierter sein. Ihr Interesse galt der Türkei. Dafür studierte sie Politik, machte Praktika und bewarb sich auf Volontariate in jeder erdenklichen seriösen Presseredaktion, um Kontakte zu knüpfen, die ihrer Meinung nach die halbe Miete waren. Fertig ausgebildet wollte sie sich aufmachen und ein Land verbessern, das ihre Großeltern verlassen hatten und dessen Sprache sie in der deutschen Abendschule perfektionieren musste, weil sie, von zwei Urlauben abgesehen, nie dort gewesen war. Warum sie das wollte, war simpel: Es war ein kompliziertes Unterfangen. Schwierig, fast unmöglich. Und Seval wollte beweisen, dass sie es konnte.

So lächerlich er das alles fand, Jarno beneidete sie. Seval hatte eine Vision. Was hatte er? Unter einem Kaufland-Werbeblatt lag die neueste Absage versteckt, damit Seval sie nicht sah. Ein Standardschreiben, aber von der freundlichen Art.

Vielen Dank für das in unseren Betrieb gesetzte Vertrauen, blah. Bitte nicht als Wertung der persönlichen Qualifikationen betrachten, blah. Bei der Vielzahl der Interessenten und da bedauerlicherweise nur ein Ausbildungsplatz vergeben werden kann, blah … leider für einen anderen Bewerber entschieden. Blahblahblah.

Einen Traum hatte er auch, so war es nicht. Aber seiner war ein Luftschloss in den Wolken und die Leitern, die er zu bauen versuchte, trugen sein Gewicht nicht. Nie.

»Vielleicht sollte ich den Wettbewerb vergessen«, sagte er, mehr zu sich selbst als zu Seval, die ohnehin abwesend schien. »Weißt du, wie viele Ausbildungsplätze zum Fotografen in dieser Stadt im letzten Jahr vergeben wurden? Keiner. Und im vorletzten Jahr? Einer, aber im Jahr davor wieder kein einziger. In den umliegenden Städten sieht es nicht anders aus. Das heißt, bei diesem bescheuerten Wettbewerb werden Tausende von Bildern eingehen. Wie komme ich darauf zu glauben, meins wäre das eine, hm?«

»Weil du gut bist«, erwiderte Seval. Ihre Finger flogen ohne ein Zögern über die winzige Tastatur. Ein Fensterchen ploppte hoch, der Facebook-Chat. Es wunderte ihn nicht, dass sie trotzdem mit ausreichend Aufmerksamkeit bei ihm war. Im Multitasking machte dieser Frau niemand etwas vor. »Und weil du es willst. Mehr können die anderen auch nicht bieten, es gibt also keinen Grund, warum du nicht das beste Bild abgeben solltest.«

»Warum ich?«

»Warum ein anderer?«

Mit der Einstellung betrachtete Seval jede Herausforderung. Warum sollte man nicht der sein, der die Welt rettet? Sie sollte sich mit Statistiken besser auskennen, aber sie sagte immer, dass die Quote unerheblich sei, selbst die winzigste. Für den einen Fall, der die winzige Quote darstellte, bedeute es hundert Prozent.

»Du verlierst nichts, wenn du weiter Fotos machst«, fuhr sie fort. Ihre Finger machten klackerdiklackerdiklack. Jarno brauchte schon seine ganze Konzentration, um ihr zuzuhören. »Auch wenn du nicht gewinnst, hast du immer noch die Bilder. Du hast Zeit und mehr als Bewerbungen zu schreiben und zu jobben, kannst du ohnehin gerade nicht tun. Füllt dich das aus?«

Um ehrlich zu sein, füllte ihn schon lange nichts mehr aus. Woran sie kein Quäntchen Schuld trug und doch gewichtig beteiligt war, was er ihr allerdings niemals sagen würde. Sie wusste es auch so, seitdem sie ihn abgewiesen hatte, freundlich, aber bestimmt, wie es ihre Art war. Seitdem bestand das stillschweigende Agreement, Jarnos nicht existentes Liebesleben unter keinen Umständen zu thematisieren.

»Gib die Chance nicht auf, auch wenn sie klein ist. Vielleicht erkennen sie dein Talent in diesem Wettbewerb und du bekommst endlich deinen Ausbildungsplatz. Du hast ein Dutzend Fotos, die gut genug sind und zum Thema passen würden. Such dir eins aus und schick es ab.«

»Keins davon ist das eine, das perfekte Foto.«

Sie ignorierte seinen Einwand. Klackerdiklack. »Den Rest lädst du auf Foto-Communitys und auf deiner Homepage hoch. Auch so sind schon Künstler entdeckt worden.«

Er brummte einen Laut, der mit Fantasie als Zustimmung durchgehen würde. Sie hatte recht.

Es war nur schwer, optimistisch zu bleiben, wenn …

* * *

… die Aussicht, einen Traum zu verwirklichen, an so vielen Fäden hängt, von denen einige nicht von mir selbst gehalten werden und andere so radikale Einschnitte in mein Leben bedeuteten. Wer Lehrerin sein will, darf keine Familie haben; wer Familie will, darf nicht Lehrerin sein. Warum begehrt nicht endlich jemand gegen diese Ungerechtigkeiten auf?!

»Lass uns über etwas anderes reden«, bitte ich das Minchen. »Kannst du Manfred irgendwo sehen?«

Wir treten durch das schmiedeeiserne Tor des Mädcheninternats und schirmen unsere Augen gegen die Strahlen der Nachmittagssonne ab. Kutscher helfen den Seminarteilnehmerinnen, die nicht im Internat leben, in die Wagen und fahren nacheinander los, sich letzte Grüße zurufend. Bloß Manfred, unser Fahrer, der auch das Minchen mit nach Hause nehmen soll, ist noch nicht da. Unter meinem hohen Kragen bildet sich Schweiß. Die strenge Kleiderordnung ist das Nächste, wogegen dringend jemand aufbegehren muss. Wenn die Schuljungen und Mädchen in flatternden Kleidchen oder bequemen kurzen Hosen in die Schule laufen und Luft um ihre aufgeschlagenen Knie weht, muss ich die dunkle Bluse hochschließen und dem Anstand zuliebe einen Unterrock und lange Strümpfe tragen. Schon jetzt ist es viel zu warm dafür, dabei ist es erst Mai und die Temperaturen noch angenehm. Nur in Gedanken lege ich die einengende Kleidung ab, schlüpfe in ein Straßenkleid und fahre mit dem Fahrrad durch den Park, um eine Stunde lang die Abendsonne zu genießen und den heutigen Vortrag mit dem Thema »Nötige Züchtigung des Schülers« von Oberstudienrat Schlauber möglichst schnell zu vergessen. Der Mann macht mir Albträume mit seinen antiquierten Ansichten und den stechend blauen Augen. Wenn er mich ansieht, bekomme ich das Gefühl, er wäre ein Späher des Leibhaftigen und würde jede meiner Sünden entdecken und mit Freude an meiner Scham aller Welt verraten.

»Olle Petze«, murmle ich.

»Was sagst du?«, fragt das Minchen irritiert. »Meinst du mich?«

»Nein, schon gut. Ich habe laut gedacht.«

»An den alten Schlauber, was? Wie sehr er meine Nerven strapaziert! Für ihn sind unsere Seminare nichts als eine Albernheit, mit der wir uns die Zeit vertreiben, bis geheiratet wird. Ehrlich, ich verstehe nicht, warum er Vorträge vor Frauen hält, wenn er doch ständig betonen muss, dass wir ohnehin nur Lehrer zweiter Klasse werden.«

»Minchen«, flöte ich. »Du stehst mitten auf der Straße.«

»Aber es ist wahr.« Sie schmollt, senkt aber die Stimme. »Warum erfüllt ein pensionierter Mann eine Aufgabe, die ihm so widerstrebt? Um seine Frustration an uns auszulassen?«

»Was glaubst du denn? Womöglich braucht er auch nur Geld.«

»Wozu, denkst du, sollte er das benötigen? Er lebt recht bescheiden, heißt es.«

»Denk doch nach.« Ich kämpfe gegen das Kichern und wage nur noch zu flüstern. »Immerzu betont er, wie wichtig eine brave Ehefrau sei. Aber er hat nie eine geheiratet. Könnte doch sein, dass er stattdessen für den ein oder anderen Frauendienst mit Geld bezahlen muss.«

Minchens Ohren färben sich rosa. »Meine liebe Klara, endlich blickst du mal hinter die männliche Fassade. Wie kommt das? Hat das mit dem jungen Herrn Kaufmann zu tun, der dich Samstag für Samstag vernichtend beim Tennis schlägt?«

Hitze steigt mir in den Kopf. Es ist selten eine kluge Idee, das Minchen herauszufordern. Sie zahlt es dreifach zurück und gibt großzügig Bonus, ungeachtet der Tatsache, dass ihr Vater bei der Bank arbeitet und sie von Kindesbeinen an die Sparsamkeit gelehrt hat.

»Ach, bitte frag nicht«, komme ich weiteren Äußerungen zuvor.

»Oh, wenn du so etwas sagst, dann magst du ihn.«

Natürlich! Aber natürlich mag ich den Johan. Wie kann überhaupt ein Mensch Johan nicht gernhaben? Er sagt immer, man könne besser über Dinge grübeln, nachdem man zunächst darüber gelacht hat. Oft genug lache ich über die Tatsache, dass eine Heirat das Ende meines nicht einmal begonnenen Lehrerinnendaseins bedeuten würde. Aber stets bleibt daraufhin dieser saure Geschmack im Mund zurück wie ein übles Aufstoßen. Es ist so ungerecht, dass Männer alles haben dürfen: Heirat, Kinder, Arbeit. Frauen müssen sich entscheiden.

Ein Motorrad knattert vorbei, der Fahrer winkt uns zu und fährt übermütige Schlangenlinien. Das Minchen hält sich lachend die Ohren zu.

»Hoffentlich ist Manfreds alter Zosse nicht vor Schreck tot umgefallen, als das Motorrad ihn überholt hat!«, ruft sie, als der Lärm abebbt.

»Beschrei es nicht. Letzte Woche ist die neue graue Stute, die Vater in England gekauft hat, vollkommen toll geworden, als ein solches Gefährt an ihr vorbeischoss. Manfred hat die Kutsche nur mit Mühe und Not auf der Straße halten können. Er sagte, er sah das Pferd schon mit gebrochenen Beinen im Graben liegen und hat noch Tage danach über diese neumodischen Dinger geschimpft. Aber horch mal, ich glaube, da kommt er.«

Wir drehen uns in die Richtung, aus der wir Hufschlag auf dem Pflaster hören. Da fällt mein Blick auf eine zartgliedrige hellblonde Frau, die auf der anderen Straßenseite steht und zu uns herübersieht. Wie seltsam, wo mag sie so plötzlich hergekommen sein? Ich grüße sie mit einem Nicken, aber die in ein lindgrünes und beinah verboten modernes Kostüm gekleidete Frau reagiert nicht. Sie steht an dem schmiedeeisernen Gartentor einer Villa. Ich kenne die Familie, die dort lebt, doch diese Frau gehört nicht dazu. Womöglich eine entfernte Verwandte auf Besuch? Sie sieht mich an, ohne eine Miene zu verziehen.

»Kennst du die Dame dort?«, frage ich das Minchen. Sie vergisst wie so gern jede Etikette und stiert mit gerecktem Hals über die Straße.

»Ich habe sie nie zuvor gesehen. Aber du musst sie kennen, Klara, so wie sie dich anschaut.«

»Nein.« Ich entscheide, es darauf ankommen zu lassen. »Schönen guten Tag!«, rufe ich über die Straße. Immer noch regt die Dame sich nicht. Wie seltsam.

»Höflich ist sie nicht gerade«, raunt das Minchen. »Aber mach dir nichts draus. Komm, wir tun so, als wäre sie Luft. Was sie kann, können wir auch. Schau! Da kommt ja Manfred mit der Kutsche.«

Beim Einsteigen verspüre ich den dringenden Wunsch, mich nach der Frau umzudrehen. Es prickelt zwischen meinen Schulterblättern, mir ist unbehaglich und ich könnte schwören, es liegt daran, dass die Fremde mir nachblickt. Langsam rollt unser Wagen die Straße entlang und biegt um die erste Ecke. Das Internat, die Villa gegenüber und die fremde Frau auf der Straße verschwinden. Nur die ungestellten Fragen, wer sie wohl ist und was sie will, fahren mit. Ich habe ein böses Gefühl im Magen und …

* * *

… dieses Gefühl hatte Jarno nie getrogen, auch nicht damals, als seine Welt von einer Explosion erschüttert worden war.

Die ersten eineinhalb Jahre der Ausbildung zum Groß- und Außenhandelskaufmann hatten hinter ihm gelegen und er war stolz gewesen auf das, was er erreicht hatte. Er besaß ein Auto – gut, es war nur eine kleine Rostlaube, aber immerhin schuldenfrei selbst finanziert –, seine Canon sowie zwei der besten Objektive, die man für Geld kaufen konnte, und lebte in einer Mietwohnung. Nicht viele Neunzehnjährige konnten das vorweisen, vor allem nicht ohne finanzielle Unterstützung der Eltern oder des Staates. Er fühlte sich sicher, geerdet. Er hatte sein Leben im Griff.

Und dann passierte es.

Die Firma, in der er arbeitete, handelte mit Oberbekleidung. Mit Restposten, Produktionsüberschüssen sowie mängelfreien Fehlproduktionen, das waren zum Beispiel T-Shirts, deren Farbe oder Schnitt vom Vereinbarten abwichen. All das wurde aufgekauft, bekam das eigene Label verpasst und wanderte als gute Qualität zu kleinsten Preisen in den Einzelhandel. Alles lief gut, bis das Finanzamt nachhakte. Der Geschäftsführer – Jarno hatte auf einer Weihnachtsfeier mit ihm beschwipste Bratäpfel gegessen und über den Bundesliga-Herbstmeister diskutiert – wanderte in den Bau. Jarno erinnerte sich noch genau an seine Worte zwischen Schrottwichteln und satirischem Christkindchengedicht: »Du kannst in Deutschland einen Mann auf offener Straße niederschießen, mein Junge, und kommst auf Bewährung frei. Aber unterschlag mal hundert Euro an Steuern, da buchten sie dich gleich ein. Ha-ha.«

Leider war es genau das, was ans Licht gelangt war: Steuerhinterziehung und Geldwäsche. Ha-ha. Es waren deutlich mehr als hundert Euro gewesen. Innerhalb weniger Stunden hatte die Firma nur noch auf dem Papier existiert und siebenundvierzig Menschen standen ohne Arbeit vor dem Gebäude und sahen einander ratlos an. Die Wut kam bei den meisten erst hinterher, es soll einen kleinen Aufstand gegeben haben mit Randale, Sachbeschädigung an Firmeneigentum und einer Schlägerei. Da war Jarno allerdings längst weg gewesen. Auf Jobsuche, denn der Vermieter seiner vier Wände würde sich mit nichts anderem zufrieden geben, außer der kompletten Monatsmiete pünktlich am Ersten.

Aktuell fuhr er Pizza aus. Das wurde pro Stunde dreißig Cent besser bezahlt als das Kistenschleppen im Getränkemarkt und galt als relativ sicher. Bier und Fastfood waren die letzten Dinge, auf die die Menschen in diesem verhärmten Städtchen verzichten würden. Jarno war da keine Ausnahme, über seinem ehemaligen Sixpack hatten sich bereits kleine Dellen breitgemacht. War das ein Wunder, wenn es das Essen umsonst gab? Trotzdem blieb der Job nur eine Maßnahme, um die Zeit zu überbrücken. Wo würde man schon enden, wenn man ohne abgeschlossene Ausbildung und mit einem mittelmäßigen Realschulabschluss Pizza ausfuhr? Vermutlich in der Kneipe, in der auch sein Vater täglich anzutreffen war; da, wo man sich gegenseitig auf Schultern und Plauze klopfte und als einzig Schönes das BILD-Mädchen auf Seite eins zu sehen bekam. Das dafür täglich.

Nein, keine Option.

Irgendwann würde eine Bewerbung positiv beantwortet werden. Im besten Fall die, bei der es in der Ausschreibung hieß:

»Arschkalt hier!

Schick uns Dein bestes Bild zum Thema ›Sehnsucht nach Wärme‹ und wir machen einen Fotografen aus Dir!«

»Du solltest das alles nicht so ernst sehen«, sagte Seval und unterbrach damit seine Gedanken. »Du bist neunzehn Jahre alt, Jarno, und wirkst gerade so müde, als müsstest du dich schon neunzehn Jahre lang mit Jobs durchmogeln. Das bleibt doch nicht dauerhaft so.«

Seine Schultern zuckten ohne sein Zutun. »Ich mach die Dinge eben lieber richtig, Sev. Nicht fehlerfrei, sondern richtig.« Und das, was aktuell geschah, das war nicht richtig.

»Schon klar. Und jetzt hängst du richtig durch, ja?«

»So ungefähr.«

Klackerdiklackerdiklack. »Wer es braucht.«

»Was ich brauche, ist eine Zigarette, Sev.« Nein, ich brauche …

* * *

»… ein klein wenig mehr Übung und ich gewinne, du wirst schon sehen!«

Ich raffe den Rock und hebe mit der anderen den Tennisschläger. Der Wind bringt den Duft der blühenden Linden mit sich. Im Vereinsheim des Tennisklubs gehen heute viele Leute ein und aus; Johan und ich sind nur zum Spielen hergekommen, das ist schön. Der Tag ist so herrlich, dass ich mich insgeheim frage, ob das nicht nur ein schöner Traum ist.

Auf der anderen Seite des Netzes neigt Johan seinen Schläger, um eine Hummel, die sich im Gras niedergesetzt hat, daraufklettern und dann fliegen zu lassen. Er kann nicht einmal ohne Schuldgefühle auf ein Insekt treten. Ich habe ihm Unrecht getan, denke ich und verbiete mir die Gedanken mitsamt allen Erinnerungen gleich wieder.

»Schlag schon auf, Johan, bevor ich Wurzeln schlage!«

»Wirst du übermütig, weil du ein einziges Spiel gewonnen hast? Den Satz führe immer noch ich an.«

»Ja, ja. Weil du mich in Grund und Boden diskutierst und alles, was so kreucht und fleucht, vorschickst, sobald du eine Pause brauchst. Würdest du mehr spielen und weniger reden …« Weiter komme ich nicht mit meinen Neckereien, denn der harte Filzball kommt auf mich zugeschossen und ich muss einen Sprung zur Seite machen, um nicht getroffen zu werden. Meine Rückhand gerät unelegant, aber ich bekomme den Ball über das Netz. Johan nimmt ihn mit einem spöttischen Lächeln an und spielt ihn gönnerhaft zurück.

Na warte, du!

Ich hebe den Rock ein Stückchen höher, als es anständig ist, und schmettere den Ball mit aller Kraft quer über das Spielfeld. Johan jedoch lässt sich nicht ablenken. Er rennt hinterher, kleine Krater im Rasen hinterlassend. Seine Schlägerkante trifft den Ball, trotzdem jagt dieser so schnell auf meine Seite zurück, dass er die Luft mit einem Pfeifen teilt. Ich spurte los, aber mit der glatten Ledersohle meiner Leinenschuhe geraten meine Füße ins Rutschen. Vielleicht hätte ich mich durch einen weiten Ausfallschritt abfangen können, wenn nicht die langen Röcke im Weg gewesen wären. Ich trete auf den Saum und falle ins Gras.

»Klara, hast du dich verletzt?« Johan kommt sofort herbei, vergessen scheint sein Ehrgeiz, sein Gesicht ist voller Sorge.

Beinahe muss ich lachen, obwohl mein Handballen schmerzt. »Es ist nichts passiert, ich bin doch bloß gestolpert.«

Er hilft mir auf die Beine und mustert mich kritisch. »Himmel, Klara, kannst du denn nicht besser aufpassen? Wie du aussiehst!«

Giftgrüne Flecken verunstalten mein cremefarbenes Sommerkleid. Auch mein Handballen ist grün, darunter verstecken sich ein paar oberflächige Kratzer. Wenn Vater das sieht, macht er mir sicher Vorhaltungen. Du bist doch kein Kind mehr, sagt er immer – und als ich ein Kind gewesen war, hatte es geheißen: Du bist doch kein Junge. Irgendetwas ist immer falsch an mir.

»Daran sind nur diese Röcke schuld. Der Stoff ist überall im Weg. Beim Fahrradfahren, beim Tennisspielen. Vom Reiten will ich gar nicht erst anfangen.«

Johan drückt meine Hand, streift meine Fingerknöchel mit dem Daumen. »Du würdest mir gut gefallen in diesen Frauenhosen.«

»Ja«, seufze ich. Die unverbindliche Berührung fühlt sich schön an. Schöner als … »Ich mir auch. Das Minchen hat mir eine Frauenzeitung gegeben, die sie aus Berlin geschickt bekommt. Darin waren Fotografien von einer Frau aus Belgien, Hélène Dutrieu heißt sie. Sie ist berühmt, Johan, berühmt, weil sie Fahrrad fährt wie keine andere. Sie tritt im Varieté mit ihrem Fahrrad auf.« Vor Begeisterung schießt mir Hitze ins Gesicht. »Sie haben sie vor ihrem Haus abgebildet, in weiten Hosen, wie die Orientalen sie tragen, aber nur bis zum Knie. Dazu hatte sie geschnürte flache Stiefel an. Sie sieht wunderschön aus. Es waren Schnittmuster in der Zeitung, um die Frauenhosen nachzuschneidern.«

Johan schüttelt den Kopf, aber er lächelt dabei. »Das hier ist aber doch nicht Berlin oder Brüssel, meine Liebe. Und bei den Orientalen sind wir auch nicht.«

»Aber es könnte doch sein wie in Berlin! Oder wie in Paris! Wenn eine Frau beginnen würde, dann würden alle anderen es nachmachen, so war es in Berlin auch und zuvor in Paris.«

»Nein, meine Liebe, das denkst du dir zu einfach. Hierzulande tut es dem Ruf einer Frau nicht gut, in Männerhosen zu stolzieren. Denk doch an deine Schüler später. Was sollen sie von dir halten? Und deren Eltern erst.«

Die sollen mich für eine kluge, tüchtige und freundliche Frau halten und sich nicht um meine Kleidung scheren, ist alles, was ich denke.

»Dein Ruf, kleine Klara, ist das Allerwichtigste als Lehrerin. Riskiere ihn nicht für frauenrechtlerische Spielereien. Der Preis ist zu hoch. Das ist es doch nicht wert.«

»Aber wie albern ist das denn, Johan? Wer modern sein will, muss genau das verstecken, um nicht zu scheitern? Das ist doch nicht richtig.«

»Und fordere auch deinen Vater nicht mit Albernheiten heraus«, spricht er weiter, als hätte er mir gar nicht zugehört. Für einen Augenblick bin ich nicht mehr sicher, ob ich laut gesprochen oder bloß gedacht habe.

»Er ist so ein guter Mann, du solltest wirklich dankbarer sein.«

Ich betrachte die Grasflecke auf meinen hellen Schuhen. Dankbar muss ich tatsächlich sein, weil zumindest Vater keine Steine vor meine Füße legt. Keine großen.

»Mein Vater würde nur lachen, wenn meine Schwestern auf die Idee kämen, Lehrerinnen werden zu wollen«, fährt Johan fort und lacht selbst dabei. Ihn zu verletzen, wäre falsch, daher unterbreche ich ihn nicht, als er von den Heiratsplänen seiner jüngeren Schwester berichtet und mich dabei fortführt, obwohl unser Tennisspiel überhaupt noch nicht beendet ist. Er hält meine Hand, das ist das kleine Opfer sowie ein Schweigen wert, denn das tut er selten in der Öffentlichkeit.

KAPITEL 2

Urban Exploration

Der Himmel hing tief und hatte die Farbe von uralten Tennissocken, die man ständig mit Jeans zusammen gewaschen hat. Schneeregenfarben. Jarnos vom Joggen abgehackte Atemstöße gefroren in der Luft. Er musste wirklich wieder mehr für seine Kondition tun.

Als er zum Treffpunkt kam, dem Hinterhof einer verrottenden Autowerkstatt, zelebrierte Ben bereits die ersten Korbwürfe. Jarno steckte sich eine Zigarette an und beobachtete seinen Freund, ohne auf sich aufmerksam zu machen. Ben schmiss nie einfach den Ball durch das dafür vorgesehene Gitternetz, sondern machte ein Kunstwerk aus jedem Wurf, in dem nicht nur gewonnene Punkte von Bedeutung waren, sondern auch, ob seine Rastas beim Wurf flogen und sein Gesichtsausdruck stimmte. Er war der Auffassung, dass selbst Kobe Bryant ohne sein gutes Aussehen nie zu Ruhm gekommen wäre. Und was Kobe konnte, konnte Ben erst recht. Dachte er. Die Tatsache, dass er statt in einer Basketball-League auf dem Hinterhof einer Autowerkstatt spielte, tat nichts zur Sache. Man wusste ja nie, wann man den großen Wurf landete.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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