Marthas Boot - Polly Horvath - E-Book

Marthas Boot E-Book

Polly Horvath

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Beschreibung

Als die Eltern der McCready-Schwestern bei einem Tsunami ums Leben kommen, will Großtante Martha die Mädchen zu sich nehmen. Doch auch sie stirbt unerwartet. Völlig auf sich allein gestellt, hecken die Mädchen einen Plan aus, um ihr Zusammenleben nicht zu gefährden. Kann das gut gehen? Warmherzig und humorvoll zugleich schildert Polly Horvath in ihrem unnachahmlichen Stil die Abenteuer der vier mutigen Heldinnen.

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POLLY HORVATH

MARTHAS BOOT

Aus dem Englischen von Anne Brauner

VERLAG FREIES GEISTESLEBEN

FÜR ARNIE, EMILY, REBECCA, MILLIE, LADDIE, BO UND MURPHY. UND FÜR KEENA, ZAYDA, ANDREW UND BONNIE.

INHALT

Cover

Titel

DER BRIEF

TANTE MARTHAS NACHBAR

MISS WEBSTER

AL FARBER

MR PENNYPACKER

BILLY BÄR

DONALD PETTINGER

VERIRRT

DAVY CLEMENT

DIE PARTY

DIE SOMMERFEIER

DAS BOOT

EIN WEITERER MITTLERER GLÜCKSMOMENT

Impressum

Die McCready-Schwestern, Fiona, vierzehn, Marlin, zwölf, Natasha, zehn und Charlie, acht, waren in einer Missionarsfamilie aufgewachsen. Fröhlich und sorgenfrei waren sie von einem Posten zum nächsten durch die ganze Welt gezogen, bis ihre Eltern zum ersten Mal in ihrem Leben Urlaub machten. Ein älterer Onkel hatte ihnen eine kleinere Geldsumme zukommen lassen und sie nach Thailand in sein kleines Hotel eingeladen, da es ihm «zu schaffen machte», dass ihnen nicht einmal Flitterwochen vergönnt gewesen waren. Die drei waren mitsamt dem Hotel von einem Tsunami fortgeschwemmt worden. Zu der Zeit lebten die vier Mädchen auf Borneo im tiefsten Dschungel in einem Häuschen ohne Internet oder Telefonverbindung, wo sie von einer ehrenamtlichen Mitarbeiterin der Kirche versorgt wurden. Sie konnte sich jedoch nicht länger um sie kümmern, da sie bereits anderweitige Verpflichtungen hatte. Deshalb sandte die Kirche eine Mrs Weatherspoon aus Australien zu ihnen, die so lange bei ihnen bleiben sollte, bis die Familie eine Lösung gefunden hatte. Das dauerte ein Jahr.

Mrs Weatherspoon sandte Anfragen an sämtliche Verwandten, die sie und die Kinder ausfindig machen konnten, außer an ihre Großtante Martha McCready, die vor der Küste von British Columbia wohnte. Die Mutter der Mädchen hatte sie, wenn sie Marthas jährlichen Weihnachtsgruß öffnete, stets als «die seltsame Frau, die sich in den Wäldern versteckt» bezeichnet. Mrs Weatherspoon sagte, sie sollten sich die Tante als letzten Ausweg aufsparen, denn sicherlich würde sich vorher jemand Passenderes melden. Die Mädchen hatten Tanten und Onkel in Tampa, Florida, in Lansing, Michigan, Shreveport, Louisiana und in Kingsport, Tennessee. Das war eine ganze Menge. Es dauerte ein Weilchen, bis die Antworten auf Mrs Weatherspoons Bitte eintrudelten. Der Versand und Empfang von Post gestaltete sich im Dschungel schwierig – unzuverlässig und verzögert. Außerdem mussten die Verwandten erst einmal überlegen, nachdem sie die Anfrage erhalten hatten. Die Mädchen waren die Kinder ihrer Schwester oder ihres Bruders, das schon. Aber gleich vier davon. Es war keine Kleinigkeit, vier Kinder in einen bestehenden Haushalt einzugliedern. Einige schrieben an Mrs Weatherspoon, ob sich schon jemand anders gemeldet hatte. Nach Mrs Weatherspoons Antwort verfielen sie erneut ins Grübeln. Das nahm Zeit in Anspruch. Dazu kam, dass keiner von ihnen die McCready-Schwestern kannte. Mr und Mrs McCready hatten sich schon vor Jahren von ihren Geschwistern entfremdet, als sie die aus deren Sicht «höchst sonderbare Entscheidung» getroffen hatten, in eine Kirche einzutreten, von der sie alle noch nie gehört hatten, die sie aber aus einem Grund, den niemand den Mädchen je erklärt hatte, einstimmig missbilligten.

Es war ein sehr trauriges Jahr, doch immerhin warteten die Mädchen gespannt auf die Nachricht, wie es schließlich mit ihnen weitergehen sollte. Fiona, die sich dafür verantwortlich fühlte, die Prinzipien der Familie zu bewahren, erinnerte sich an den Leitspruch ihres Vaters, schwierigen Themen niemals auszuweichen, sondern darüber zu reden.

«Wohin würdet ihr am liebsten ziehen?», fragte Fiona zum Beispiel beim Abendessen.

«Nach Tampa», antwortete Natasha. «Dann können wir im Meer schwimmen.»

«Liegt Tampa am Meer?», wollte Marlin wissen.

«Es liegt in Florida», erklärte Natasha.

«Aber nicht ganz Florida liegt am Meer», meinte Marlin.

«Haie», sagte Charlie, die überall Gefahren witterte.

«Nicht an Land.»

«Ich bin sicher, dass sie uns zwingen werden, schwimmen zu gehen», jammerte Charlie. «Alle wollen einen ständig dazu bringen, schwimmen zu gehen, auch wenn man gar keine Lust hat. Sie werden uns einen Schwimmkurs aufs Auge drücken.»

«Schwimmkurse finden im Schwimmbad statt. Außerdem hast du bereits schwimmen gelernt,» versuchte Marlin sie zu beruhigen. «Ich glaube nicht, dass du dir Sorgen machen musst.»

«Wahrscheinlich halten sie den Schwimmunterricht im Meer ab, wenn sie schon am Meer leben, und dann fressen uns die Haie», prophezeite Charlie düster.

Marlin hatte angesichts der jüngsten Tragödie Verständnis dafür, dass Charlie Angst vor dem Meer hatte. Doch sie fand, dass Charlie sich vor den falschen Dingen fürchtete. Sie sollte Angst vor Tsunamis und nicht vor Haien haben. Sie war kurz davor, Charlie darauf hinzuweisen, wollte ihr dann aber lieber doch keinen Grund für weiteren Anlass zur Sorge liefern.

Mrs Weatherspoon hielt sich in diesen Gesprächen stets sehr zurück. Es schmerzte sie, dass die Kinder ihre Eltern verloren hatten, und es schmerzte sie, dass ihr Schicksal so ungewiss war. Sie hätte sie gern dauerhaft bei sich aufgenommen, doch sie musste irgendwann nach Australien zurückkehren.

«Jedenfalls nicht nach Lansing, Michigan», fuhr Natasha fort.

«Warum nicht?», fragte Charlie.

«Es klingt am langweiligsten. Was gibt’s schon in Lansing? Nichts.»

«Lansing ist die Hauptstadt von Michigan», erklärte Fiona.

«Das sagst du nur, um anzugeben», entgegnete Natasha. «Das mit der Hauptstadt ist dir doch ganz egal.»

«Das war eine reine Information», sagte Fiona. «Weil ich es eben wusste. Wenn ihr euch an den Stundenplan halten und Geografie lernen würdet, wüsstet ihr es auch.»

Fiona war die große Schwester in Person.

«Nach Kingsport, Tennessee», verkündete Charlie. «Ich glaube, da ist es am besten. Es hört sich an, als gäbe es da jede Menge Schlösser.»

«Weil ein König im Namen vorkommt?», kicherte Marlin. «Dann wirst du enttäuscht sein. Dort wäre es nicht nur langweilig, sondern du würdest noch dazu kein Wort verstehen, weil die da mit diesem extremen Südstaatenakzent reden. Das klingt so, als würden sie versuchen, mit einem Mund voll heißer Kartoffeln zu sprechen. Und vermutlich stehen alle auf Elvis Presley, tragen große Sonnenbrillen und weiße Overalls.»

«Du meinst wohl Graceland», sagte Natasha.

«Graceland ist keine Stadt, sondern so heißt das Haus von Elvis», stellte Marlin klar.

«Wo ist Graceland?», fragte Charlie.

Fiona wusste es auch nicht und beschloss, nach ihrem Kommentar über Geografie das Thema zu wechseln.

«Man versteht den Akzent in Tennessee immer noch besser als den in Shreveport», sagte sie. «Trotzdem bin ich für Shreveport, Akzent hin oder her. In Louisiana gibt es Bayous. Ich wollte schon immer an einem Bayou wohnen.»

«Was ist ein Bayou?» Charlie wollte es genau wissen.

«Weiß ich nicht», gestand Fiona. «Es hört sich einfach gut an.»

«Es ist eine Art Sumpf, über den Pelikane fliegen», erklärte Natasha, die Vögel liebte und wusste, wo die verschiedenen Arten lebten. «Ich hätte auch nichts dagegen, irgendwo zu leben, wo es Pelikane gibt.»

Zu diesem Zeitpunkt fing Mrs Weatherspoon normalerweise leise an zu weinen. Ihre große Angst, die, wie sie wusste, den Kindern gar nicht erst in den Sinn kam, bestand darin, dass überhaupt niemand sie haben wollte – und was dann? Diese hoffnungsvollen Diskussionen trafen sie wie spitze Pfeile ins Herz.

Es stellte sich heraus, dass keines der vier Tante-Onkel-Paare die Kinder wollte. Es täte ihnen schrecklich leid und sie bedauerten es sehr, aber selbst nach langem Abwägen und in dem Wissen, dass sich auch sonst niemand freiwillig gemeldet habe, sahen sie sich dazu einfach nicht imstande.

Sobald eins dieser Ablehnungsschreiben eintraf, war Mrs Weatherspoon außer sich vor Sorge. Als das Jahr, das sie mit den Mädchen verbringen sollte, sich dem Ende näherte, schrieb sie schließlich doch an Martha McCready. Mrs Weatherspoon war im Dschungel von Borneo geblieben, weil sie fest davon überzeugt gewesen war, dass sich jederzeit jemand aus der engeren Familie bereit erklären würde, die Mädchen bei sich aufzunehmen. Doch jetzt war das geschehen, was sie am meisten befürchtet hatte. Sie lief auf und ab, zerkrümelte die Brötchen fürs Abendessen und verlor vollkommen die Kontrolle, während sie verzweifelt versuchte, jedes Mal Ruhe zu bewahren, wenn ein bedauerndes Nein eintraf.

Fiona war dagegen tatsächlich die Ruhe in Person. «Was wird jetzt aus uns?», fragte sie, nachdem der vierte Brief angekommen war.

«Das Jugendamt», erwiderte Mrs Weatherspoon unter Tränen, «ist (schluchz, schluchz) sicherlich eine Möglichkeit.» Dann schnäuzte sie sich in ihr allzeit griffbereites besticktes Taschentuch.

«Von der sonderbaren Großtante haben wir immer noch nichts gehört», sagte Marlin.

«Nein, Liebes», schniefte Mrs Weatherspoon, «das stimmt, aber sie ist ein bisschen zu alt, um vier Kinder aufzunehmen. Und wenn ich es recht verstanden habe, lebt sie seit eh und je wie eine Einsiedlerin. Ich würde keine allzu große Hoffnung auf sie setzen.»

«Worauf sollen wir unsere Hoffnung denn dann setzen?», fragte Natasha.

«Wie gesagt, aufs (schluchz, schluchz) Jugendamt», keuchte Mrs Weatherspoon. «Auf der Straße werdet ihr nicht enden, aber du liebe Güte (sie versuchte, das Schluchzen zu beenden, indem sie sich das Taschentuch in den Mund stopfte, sodass das Ende des Satzes recht gedämpft klang), ausgerechnet das Jugendamt!»

«Wieso ist das denn so schlimm?», wollte Charlie wissen, die Mrs Weatherspoons abgrundtiefen Kummer nicht verstand.

«Ich glaube, Mrs Weatherspoon meint eine Pflegefamilie», antwortete Fiona. «Nicht schön, aber auch nicht das Ende der Welt. Sie werden doch eine finden, die uns alle vier nimmt, oder? Sie werden uns doch nicht aufteilen?»

«Das ist es ja», schniefte Mrs Weatherspoon. «Ich habe es schon zu oft erlebt, und ich habe große Angst, dass genau das passieren wird. Ihr werdet getrennt und möglicherweise in Pflegefamilien irgendwo in den USA gesteckt. Hunderte von Meilen voneinander entfernt. In alle Winde verstreut!»

Nun brach Mrs Weatherspoon endgültig zusammen, legte sich vor ihnen auf den Boden und bebte vor Traurigkeit. Fiona war enttäuscht. Sie hatte Mrs Weatherspoon gern und war ihr dankbar für alles, was sie in diesem Jahr für sie getan hatte. Auch dafür, dass sie ein Jahr lang auf ihr eigenes Leben und ihre vertraute Umgebung verzichtet hatte, um für sie zu sorgen. Aber es erschien ihr ungehörig, dass sie derart die Beherrschung verlor.

Außerdem merkte Fiona, dass sich ihre Schwestern angesichts dieser erwachsenen Zurschaustellung von Verzweiflung und der Nachricht, sie könnten einander verlieren, beinahe selbst in die Hose machten vor Angst. In diesem furchtbaren Jahr hatten sie sich an ihre Tapferkeit und Hoffnung geklammert und fanden es hochgradig unfair, dass ihnen nun etwas noch Schrecklicheres bevorstehen sollte. Das betraf insbesondere Fiona, die sich verpflichtet fühlte, für ihre verbliebene Familie zu sorgen und sie zusammenzuhalten. Die Vorstellung, dass ihre jüngeren Schwestern und insbesondere Charlie in eine fremde Familie gesteckt würden, noch dazu möglicherweise Hunderte von Meilen von ihr entfernt, wo sie sie nicht im Blick behalten konnte, war zu abscheulich, um sie in Worte zu fassen. Sie schmiedete den Plan, zu viert in den Dschungel zu flüchten, falls es soweit kommen sollte. Lieber stellten sie sich gemeinsam den Schlangen, als dass jede für sich den Kummer und Schrecken ertragen musste, sich täglich zu fragen, wie es den anderen wohl ergehen mochte.

Eine Woche lang machte Fiona sich solche Sorgen, dass sie nichts essen konnte, doch als sie in der darauffolgenden Woche aus dem Schulbus stiegen und auf ihr Haus zugingen, sahen sie Mrs Weatherspoon auf der Vordertreppe auf und ab tanzen und ein Stück Papier schwenken. Erst dachten sie, sie hätte den Verstand verloren, aber als sie näherkamen, sahen sie, dass es sich um einen Brief handelte.

«Was ist das?», fragte Fiona, als Mrs Weatherspoon fröhlich damit vor ihren Gesichtern wedelte. Fiona wagte nicht zu hoffen, dass es sich um die ersehnte fünfte Antwort handelte.

«Meine Lieben, meine Lieben, ihr seid gerettet!», rief Mrs Weatherspoon beglückt.

Nachdem die Kinder sich auf die Stufen gesetzt hatten, las Mrs Weatherspoon ihnen den Brief ihrer Großtante ganze achtzehn Mal vor. Zum Glück war er kurz.

Liebe Mrs Weatherspoon,

vielen Dank für die Mitteilung, in welch missliche Lage meine Großnichten geraten sind. Ich nehme sie bei mir auf. Das ist doch selbstverständlich. Hier sind meine Adresse, meine E-Mail-Adresse und meine Telefonnummer für die Mädchen, wenn sie in die Zivilisation zurückkehren, wo diese Dienste funktionieren. Bitte teilen Sie mir ihre Flugdaten mit, damit ich sie am Flughafen hier auf Pine Island in British Columbia abholen kann. Ich wohne außerhalb von St. Mary’s By the Sea, aber sie werden auf dem einzigen Insel-Flughafen landen, der auf der Nordseite von Pine Island in Shoreline liegt. Ich freue mich darauf, sie dort abzuholen.

Mit herzlichen GrüßenMartha McCready

«Sie freut sich darauf!», deklamierte sie immer wieder, wenn sie nicht gerade vorlas, als könnte sie ihr Glück nicht fassen. Allmählich fühlte Fiona sich richtig unerwünscht. Andererseits verstand sie, was Mrs Weatherspoon meinte. Sie wurden nicht einfach nur aufgenommen und geduldet. Da war jemand, der sie haben wollte.

Als Mrs Weatherspoon keine Lust mehr hatte, den Brief noch einmal vorzulesen, sprang sie auf und ging ins Haus, um einen Kokoskuchen zu backen. Obwohl sie gute einhundertzehn Kilo wog, war sie der festen Überzeugung, dass sich Freude mit einem Kuchen am besten ausdrücken ließ. Die Mädchen sahen darin eine ihrer bewundernswertesten Eigenschaften und bestärkten sie stets in diesem Glauben.

Als die Schwestern später in dem großen gemeinsamen Schlafzimmer in ihren Betten lagen, sagte Fiona: «Es war nett von ihr, dass sie sich so mit uns gefreut hat.»

«Mindestens so wie für sich selbst, wetten?», sagte Marlin. «Jetzt kann sie nach Hause fahren.»

«Das ist nicht besonders mitfühlend von dir», schimpfte Fiona, die diesen Satz von ihrer Mutter übernommen hatte. Überhaupt stellte sie fest, dass sie immer mehr wie ihre Mutter sprach, als wollte sie mit ihrem Wortschatz und ihrer Ausdrucksweise an sie erinnern. «Sie war ein Jahr hier, da darf sie sich wohl freuen, nach Hause zu kommen.»

«Und was für ein trauriges Jahr», fügte Natasha hinzu. «Es war sicher nicht einfach, dabei zu sein. Eine Zeit lang habe ich fast jeden Tag geweint.»

«Ich weine immer noch», meinte Charlie.

«Ja, aber du hast schon geweint, bevor Mom und Dad gestorben sind», sagte Marlin. «Das liegt in deiner Natur.»

«Ich bin keine Heulsuse», protestierte Charlie.

«Nein, Schatz», beschwichtigte Fiona. «Du bist sensibel.»

«Mrs Weatherspoon weint auch», sagte Charlie. «Sie weint die ganze Zeit. Als wir darüber geredet haben, wohin es uns wohl verschlagen würde, hat sie jeden Abend geweint.»

«Sie ist auch sensibel.»

«Jetzt muss sie nicht mehr weinen», bemerkte Natasha. «Wir sind gerettet.»

«Hoffentlich gibt es dann keinen Grund mehr zu weinen», sagte Marlin.

«Ja.» Das hoffte Fiona auch. «Mom hat immer gesagt, man kann sich die Welt anschauen und all das Elend sehen oder man kann sie sich anschauen und all die Freude sehen. Am besten freuen wir uns auf dieses Abenteuer in Kanada. Konzentrieren wir uns auf das Positive.»

«Ich will Mommy und Daddy wiederhaben», wimmerte Charlie.

Danach war es still. Es war nicht fair so zu tun, als wollten sie das nicht auch alle und als hätte Charlie nicht einfach ausgesprochen, was sie ebenfalls empfanden. Doch Fiona nahm sich insgeheim vor, den anderen zuliebe den Dingen möglichst optimistisch gegenüberzutreten. Sie würde mit gutem Beispiel vorangehen und sich auf die Freude konzentrieren. Dann schliefen sie ein.

Wenn Mrs Weatherspoon nicht gerade Kuchen backte, weil sie auf der Zuckerwelle eines Feierrausches schwamm, fuhr sie im Laufe des darauffolgenden Monats mit dem Jeep die lange Strecke in die nächstgelegene Stadt. Dort überwies sie Geld für die Mädchen nach Kanada, kaufte ein Handy für Fiona und sorgte dafür, dass die Papiere und Ausweise in Ordnung waren. Zu Hause half sie Fiona beim Packen. Mrs Weatherspoon würde zurückbleiben, aufräumen und das Häuschen im Dschungel abschließen, bevor sie selbst nach Hause flog. Es gab viel zu tun, aber schließlich setzte sie die Kinder mit allerlei Anweisungen, Warnungen und mit in Frischhaltefolie verpackten Kuchenstücken ins Flugzeug. Die Reise konnte beginnen.

«Gibt es da Kiefern?», fragte Charlie. «Die Insel heißt Pine Island.»

«Es gibt hohe Bäume», antwortete Natasha. «Ich habe British Columbia im Schullexikon nachgeschlagen. Tannen, Sitka-Fichten und Kiefern.»

«Alte Regenwälder», erklärte Marlin, die sich ebenfalls informiert hatte.

«Voll mit wilden Tieren!», rief Charlie. «Wusste ich’s doch.»

«Ein paar, ja», gab Natasha zu. «Wölfe, Bären, Pumas.»

«Die dringen bestimmt nicht in die Stadt vor, Nat», sagte Fiona. «Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie in St. Mary’s By the Sea herumspazieren.»

«Tante Martha hat gesagt, sie lebt außerhalb», meinte Charlie.

«Großtante Martha», verbesserte Marlin.

«Das sind zu viele Worte. Ich werde sie einfach Tante Martha nennen.»

«Ich auch», stimmte Natasha zu.

«Okay, ich auch», gab Marlin nach.

«Es wird schön, Charlie», versprach Fiona. «Wart’s nur ab, es wird anders sein als an allen Orten, an denen wir bisher waren. Weißt du noch, wie viel Angst du vor den Schlangen auf Borneo hattest, und keine hat dich je gebissen?»

«Hmmm», brummte Charlie, die sich nie so einfach überzeugen ließ, und schlug ihren Comic auf.

Viele Flugzeugwechsel und viele Jetlag-Stunden später landeten die Mädchen endlich auf dem Flughafen von Shoreline. Da er so klein war, dass es nicht einmal Flugsteige gab, stiegen die Mädchen auf dem Rollfeld aus. Sie waren bereits in Vancouver durch den Zoll gegangen und begaben sich nun direkt zu dem Gepäckförderband, wo ihre Großtante sie abholen wollte. Doch niemand kam auf sie zu. Hoffnungsvoll musterten sie jede alte Dame, die vorbeikam, doch keine von ihnen erkannte sie oder sprach sie an.

«Offenbar steckt sie im Stau», sagte Fiona. «Wir holen jetzt unser gesamtes Gepäck, setzen uns hin und warten. Außerdem rufen wir Mrs Weatherspoon an, damit sie weiß, dass wir gut angekommen sind.»

«Sollten wir damit nicht warten, bis Tante Martha hier ist?», fragte Marlin.

«Nein, lasst uns jetzt anrufen, dann können wir sofort los, wenn Tante Martha kommt. Ich kann es kaum erwarten, mich hinzulegen. Es ist einfach schrecklich, wenn man versucht, im Flugzeug sitzend zu schlafen.»

Fiona rief also an und Mrs Weatherspoon sagte: «Ja, meine Lieben, dann gibt es nun tatsächlich ein wunderbares Happy End für euch. Unsere Kirche ist auf der Insel nicht vertreten, aber ihr könnt mir immer schreiben, wenn ihr geistigen Beistand braucht. Das ist für mich selbstverständlich. Sagt das eurer Tante.»

«Das machen wir», versprach Fiona.

«Und ruft mich an, wenn ihr etwas braucht.»

«Vielen Dank für alles, Mrs Weatherspoon.»

«Es war mir ein Vergnügen, Liebes.» Mrs Weatherspoon legte auf.

Die Mädchen setzten sich auf die Stühle neben den Gepäckbändern und warteten eine Stunde. Sie warteten zwei Stunden. Wenn sie ihre Tante anriefen, ging nur die Mobilbox dran. Obwohl Fiona jedes Mal eine Nachricht hinterließ, rief niemand zurück.

«Fiona», fragte Marlin, «was sollen wir tun?»

«Wir fahren mit dem Taxi zu ihrer Adresse», beschloss Fiona. «Ich habe jede Menge Bargeld. Wenn wir da sind, sehen wir weiter.»

Sie waren von der Reise, die neununddreißig Stunden gedauert hatte, erschöpft, und außer dem Taxifahrer hatte niemand einen Einwand. «Das ist eine weite Fahrt nach St. Mary’s By the Sea. Es wird euch eine Stange Geld kosten.»

Als Fiona ihm eine Hand voll Geldscheine vor die Nase hielt, zuckte er mit den Schultern, warf ihr Gepäck in den Kofferraum und sagte nichts mehr. Es dämmerte bereits. Anfangs herrschte noch viel Verkehr, doch auf den Straßen, die sich um die Klippen wanden, wurde es bald stiller. Auf der einen Seite erstreckte sich weiter unten das Wasser und auf der anderen bildeten Kiefernwälder eine dichte grüne Fläche.

«Da, Kiefern.» Fiona wollte sie Charlie zeigen, doch Charlie war eingeschlafen.

«Wunderschön», schwärmte Fiona von zwei Weißkopfseeadlern, die den thermischen Auftrieb nutzten, um in Spiralen über dem Wald zu kreisen. «Ich wusste, dass es hier schön ist. Adler, Natasha.»

Doch Natasha war ebenfalls eingeschlafen.

Die Sonne hinterließ auf ihrer eigenen Reise nach Westen eine samtene rosige Spur am Himmel und bog um die Ecke der Welt, wo sie anderen Menschen einen neuen Tag brachte – Menschen, die die Mädchen auf Borneo und anderswo zurückgelassen hatten.

«Das wird schon», sagte Fiona zu Marlin, der immer wieder die Augen zufielen, und dann noch mal, wie ihre Mutter zu sagen pflegte: «Alles wird gut.»

Aber so schnell ging es dann doch nicht. Der Taxifahrer passierte schließlich den Ortseingang des bezaubernden Seebads St. Mary’s By the Sea, dessen alte Schindelhäuschen sich aneinanderlehnten. Auf den Bürgersteigen standen altmodisch wirkende Straßenlaternen und aus ordentlichen Hängekörben rankte sich eine üppige Pflanzenpracht. Am Ortsausgang fuhr er an gepflegten kleinen Häusern und den dazugehörigen Grundstücken vorbei und verließ den Ort wieder. Dann ging es erneut auf langen waldgesäumten Straßen in die Wildnis bis zu Martha McCreadys Farm. Nachdem Fiona dem Fahrer das Geld gegeben hatte und er wieder weggefahren war, klopften die Mädchen an die Tür des kleinen zweigeschossigen Hauses mit seiner umlaufenden Veranda. Schlussendlich klingelten sie, doch niemand öffnete.

«Ich glaube, hier ist keiner», verkündete Marlin, was offensichtlich war und lehnte sich an die Tür. Wie sie alle konnte sie sich nur noch mit Mühe auf den Beinen halten und wurde fast verrückt vor Müdigkeit.

«Nein.» Zum ersten Mal wirkte Fiona zu verdutzt, um zu wissen, was als Nächstes zu tun war.

Marlin suchte unter der Fußmatte und fand einen Schlüssel unter einem Blumentopf.

«Gut gemacht», murmelte Fiona hundemüde und schloss die Tür auf.

Das Haus war blitzblank und leer. Im Obergeschoss standen vier bezogene Betten nebeneinander in einem großen Schlafzimmer.

«Die sind bestimmt für uns», verkündete Marlin. «Wenigstens wissen wir jetzt, dass wir erwartet wurden.»

Das zweite Schlafzimmer gehörte eindeutig ihrer Tante, doch auch dort war niemand.

Nachdem die Schwestern im Erdgeschoss Lebensmittel im Kühlschrank und in den Schränken entdeckt hatten, aßen sie rasch eine Mahlzeit aus Müsli und Obst, duschten und fielen in die vier Betten. Fiona schrieb eine Nachricht für Tante Martha und legte sie für den Fall, dass sie später noch kam, auf den Küchentisch.

«Ich kann mir nicht vorstellen, was mit ihr passiert ist», sagte Fiona.

«Ist mir inzwischen egal», murmelte Marlin. «ich bin einfach froh, dass ich endlich liege. Ich bin so froh, dass ...» Bevor sie den Satz beenden konnte, war sie wie Natasha und Charlie tief und fest eingeschlafen.

Nur Fiona blieb wach, müde wie sie war, und dachte angestrengt nach. Sie wusste nicht, wie sie mit dieser erneuten Wendung ihres Schicksals umgehen sollte. Ihr fiel kein vernünftiger Grund für das Verschwinden ihrer Tante ein. Fiona überlegte und überlegte und überlegte, bis auch sie aufgab und einschlief.

Als die Mädchen am nächsten Morgen aufwachten, hegte Fiona für einen Moment die Hoffnung, ihre Tante wäre in der Nacht zurückgekehrt. Als sie in den Flur schaute und die Zimmertür ihrer Tante weiterhin offenstand, beschloss sie, nachzusehen. Das Bett war unberührt und ein Rundgang durchs Haus bewies, dass die Tante nach wie vor nicht da war.

Fiona stellte erneut Müsli und Milch auf den Tisch. Obwohl sie sicher war, dass ihre Tante nichts dagegen haben würde, hatte sie ein komisches Gefühl, die Lebensmittel ohne ihre Erlaubnis zu verbrauchen. Nachdem die Schwestern heruntergekommen waren, machten sie es sich in den bequemen alten Stühlen auf der Veranda gemütlich. Es roch nach Kiefern, Erde und nach dem Meer. Sie waren noch nie an einem Ort gewesen, der so roch. Es war weder wie im Dschungel noch wie in der Wüste und auch nicht wie in der Stadt. Es roch nach Frühling, ein Prickeln lag in der Luft, als brächte der Wind frische Energie für neue Pläne – voller ungeahnter Möglichkeiten.

«Mom hat immer wieder gesagt, wie seltsam sie ist», meinte Marlin. «Vielleicht gehört es zu den seltsamen Dingen dazu, dass sie einfach ohne Vorwarnung verschwindet.»

«Wir könnten die Nachbarn fragen», schlug Natasha vor.

«Hat sie überhaupt welche?», fragte Charlie, denn vor ihren Augen erstreckten sich nur eine riesige eingezäunte Wiese sowie rundum Kiefernwald, während hinter dem Grundstück Berge aufragten.

«Sie muss doch irgendwelche Nachbarn haben», erwiderte Marlin. «Wir können sie nur von hier aus nicht sehen. Nach dem Frühstück sollten wir rübergehen und bei ihnen klopfen. Vielleicht hat sie jemandem gesagt, wohin sie gegangen ist.»

Die Mädchen räumten das Frühstück ab, kümmerten sich um das Geschirr, machten die Betten und zogen sich an. Dann gingen sie auf die Straße hinaus. Charlie hielt die ganze Zeit Fionas Hand, blickte unverwandt in den Wald und wartete auf Bären. Als Erstes stießen sie auf ein kleines freies Grundstück, auf dem ein Wohnwagen stand. Ein Fliegengitter hing halb losgelöst an einem Fenster, die Stufen, die zur Tür führten, waren kaputt, und auf der Wiese standen ein alter Kühlschrank und eine Badewanne.

«Vielleicht sollten wir nochmal weitergehen», schlug Natasha nervös vor, als ein großer Mann mit einem ungepflegten weißen Haarschopf, der ein schmutziges Unterhemd und eine zerrissene Hose trug, die Fliegengittertür aufriss und die Mädchen böse ansah.

«WAS?», schrie er. «Wer seid ihr?»

«Unsere Großtante wohnt nebenan», antwortete Fiona.

«Jetzt nicht mehr», sagte der Mann. «Hat sich vor zwei Tagen begraben.»

Fiona verließ der Mut. Obwohl sie sich die ganze Nacht die schlimmsten Dinge ausgemalt hatte, war sie auf diese allerschlimmste Möglichkeit nicht gekommen.

«Man kann sich nicht selbst begraben», sagte Marlin unfreundlich. Sie war die Einzige von den Vieren, die kratzbürstig wurde und sich streiten wollte, wenn ihr jemand quer kam. «Wie soll das gehen?»

«Meine Mutter hat gesagt, sie hat sich in den Wäldern versteckt», erklärte Natasha.

«Sie hat sich nicht in den Wäldern versteckt, sie war nur keine, die was auf Klatsch und Tratsch gab», erwiderte der Mann. «Sie hat mit keinem geredet. Ich war zwölf Jahre ihr Nachbar und wir haben kaum ein Wort gewechselt. Sie mag – mochte die Menschen nicht.»

«Was meinten Sie damit, dass sie sich begraben hat?», fragte Fiona höflich.

«So wie ich es sage. Nicht körperlich natürlich, wenn du das meinst. Ihre Leiche hat sich keine Schaufel gegriffen oder den Sarg in der Erde versenkt, bevor sie reingesprungen ist.»

Angesichts dieser drastischen Beschreibung zuckten die Mädchen zusammen.

«Sie hat alles vorbereitet, das wollte ich damit sagen. Es gab niemanden, der sich gekümmert hat. Anscheinend hatte sie zu niemandem Vertrauen. Sie hat ein Grab auf dem Friedhof von St. Mary’s By the Sea gekauft. Der Grabstein wurde schon fünf Jahre vor ihrem Tod aufgestellt. Das ging einigen Leuten zu weit, sie fanden das krankhaft. Sie behaupteten, ihnen würde ein Schauer über den Rücken laufen, wenn sie jeden Tag auf dem Weg in die Stadt an ihrem wartenden Grabstein vorbeikämen. Aber eure Großtante hat sich der Wirklichkeit immer gestellt. Sie wusste, dass man in unserem Alter einfach so sterben kann.» Er schnippte mit den Fingern. «Und genauso war’s. Sie ist im Baumarkt tot umgefallen. Schwerer Herzinfarkt. Ist nur sechzig geworden, aber sie hat alles geregelt. Sie hatte einen Bestatter beauftragt, ihr Testament gemacht und ihre Papiere geordnet. Da sie wusste, dass nur wenige Leute zu ihrer Beerdigung kommen würden – Moment – seid ihr deshalb hier? Nein, ihr seid nicht zur Beerdigung gekommen. Wetten, dass ihr nicht einmal wusstet, dass sie tot ist? Ihr seid die vier, die sie erwartet hat.»

«Ich dachte, Sie hätten nie mit ihr geredet», entgegnete Marlin.

«Marlin …», sagte Fiona warnend.

«Tja, ihr seid zu spät gekommen.» Er überging Marlins Einwurf. «Wie gesagt, sie ist tot. Sie hat mir ihr altes Angelzeug und euch das Haus und alles andere hinterlassen. Vor zwei Wochen hat sie ihr Testament geändert. Wenn ihr nicht aufgetaucht wärt, hätte ich alles geerbt. Aber das ist mir egal. Hiram Pennypacker, ihr Möchtegern-Anwalt, hat mich gestern telefonisch informiert. Er wusste anscheinend nicht, dass ihr kommt. Er wollte nämlich herausfinden, wie er euch die Nachricht von eurem Erbe zukommen lassen kann. Ich hole das Angelzeug in den nächsten Tagen aus eurem Schuppen.»

«Wieso Sie?», fragte Marlin.

«Weil das Angelzeug jetzt mir gehört», antwortete er in Zeitlupe, als wäre Marlin ein bisschen beschränkt.

«Nein, ich meine, warum hat sie es Ihnen hinterlassen?»

«Marlin …», warnte Fiona erneut.

«Wieso, er hat gesagt, er kannte sie kaum», gab Marlin zu bedenken. «Deshalb ist die Frage berechtigt. Warum sollte man jemandem etwas vererben, den man nicht kennt? Und wenn es nur das Angelzeug ist? Wieso sollte man ihm überhaupt etwas vererben?»

«Niemand kannte sie. Und mich kennt auch keiner. Dafür habe ich keine Zeit. Ich habe sie gewarnt, vier Kinder aufzunehmen, aber sie ließ sich nichts sagen. Sie war …» Mit einem Mal war der Mann sprachlos – offenbar vor Rührung –, drehte sich um und knallte die Wohnwagentür zu.

«Nun ja», stammelte Fiona, während sie in einer Mischung aus Schock und der Erwartung, der Mann würde wieder hervorkommen und seinen Satz beenden, wie angewurzelt stehen blieben. Er kam aber nicht. «Ich würde sagen, der Zweck unseres Besuches hat sich erfüllt. Wir wissen jetzt, warum sie nicht zum Flughafen gekommen ist, um uns abzuholen.»

Sie gingen wieder nach Hause. Als wäre es ihr gerade eingefallen, meinte Marlin unten an der Einfahrt: «Damit sind wir genau so weit wie vorher. Beim Jugendamt.»

Charlie heulte los und bekam einen Schluckauf. «Dann bringen sie uns weg? Wir können nicht mehr zusammen bleiben?»

«Doch», sagte Fiona. «Sie bringen uns nicht weg. Wir besitzen jetzt ein eigenes Haus. Wir wohnen nicht nur zur Miete. Da Tante Martha uns alles vererbt hat, bedeutet das sicher auch, dass noch irgendwie Geld zu dem von Mommy und Daddy hinzukommt. Wir müssen rausfinden, wie das alles funktioniert. Dafür sollten wir uns wohl mit ihrem Anwalt Mr Pennypacker treffen. Das Geld muss auf ein Konto überwiesen werden, so wie damals, nachdem Mommy und Daddy gestorben sind. Mrs Weatherspoon hat mit Tante Martha darüber gesprochen, wie das alles angelegt ist, und ich habe es selbst auch irgendwo schriftlich. Unser Geld von Mommy und Daddy liegt auf der Canadian Imperial Bank of Commerce, die eine Filiale in St. Mary’s By the Sea betreibt. Im Moment können wir davon bestimmt ganz gut leben, vielleicht sogar recht lange, bis wir alt genug sind, um zu arbeiten.»

«Wie wär’s, wenn wir Mrs Weatherspoon anrufen und ihr berichten, wie es gelaufen ist?», schlug Natasha vor.

«Nein», entgegnete Fiona nachdenklich. «Obwohl ich glaube, dass sie ein schlechtes Gewissen hätte, würde sie dennoch das Jugendamt informieren.»

«Also haben wir keinen Erwachsenen», stellte Marlin fest. «Meinst du nicht, dass jemand was dagegen hat?»

Fiona dachte nach. Wer wäre in diesem Fall dieser Jemand? Beim letzten Mal war es die Kirche gewesen, doch die Kirche war nicht mehr für sie zuständig, oder? Diese Leute hatten sie sicher in einem neuen Heim bei einer Verwandten untergebracht und damit ihre Pflicht erfüllt. Wenn die Mädchen niemandem erzählten, dass kein Erwachsener bei ihnen wohnte, wer sollte dann davon erfahren? Wer sollte sich dafür interessieren, was von nun an aus ihnen wurde?

«Schreiben wir nochmal Briefe? An die Tanten und Onkel und flehen sie an, dass einer von ihnen uns aufnimmt? Vielleicht sollten wir ihnen Geld anbieten?», meinte Marlin halb im Scherz.

Fiona schwieg kurz. Etwas, das gerade gesagt wurde, hatte sie auf eine Idee gebracht, aber sie bekam sie nicht richtig zu fassen, so betäubt war sie von diesem neuerlichen Hindernis, das ihnen im Weg stand.

«Nicht weinen, Charlie. Ich glaube, ich habe eine Idee. Sie muss nur noch ein wenig reifen.»

«Was sollen wir bloß machen?», wimmerte Charlie, ohne auf Fionas Ermahnung, nicht zu weinen, einzugehen.

«Erstmal erkunden wir unseren neuen Besitz. Wir schauen nach, was es in den Schränken zu essen gibt, und wenn es Trockenhefe und Mehl gibt, backe ich ein Brot. Mom hat immer gesagt, die besten Ideen wären ihr beim Teigkneten gekommen. Wisst ihr nicht mehr, dass sie das immer als Erstes getan hat, wenn wir irgendwo neu eingezogen sind? Damit das Haus genauso roch wie all unsere anderen Häuser davor? Sie hat gesagt, Brotbacken riecht überall gleich, ganz egal, wo man landet.»

«Einverstanden!», rief Charlie.

Die nächste Stunde verbrachten sie damit, ihr Grundstück zu erforschen. Sie stießen auf einen Obstgarten in einer Ecke der eingezäunten Wiese, auf der noch weitere Bäume standen und auf mehrere große Unterstände.

«Die sehen aus wie Ställe. Anscheinend hatte sie irgendwann mal Pferde», meinte Natasha. «Schade, dass keine mehr da sind.»

«Pferde können wir uns nicht leisten», sagte Fiona. «Ich fürchte, wir müssen sehr sparsam mit dem Geld umgehen. Ich habe mich kaum damit befasst, wie viel Geld wir haben, weil Mrs Weatherspoon sich um alles gekümmert hat, und weil ich dachte, wenn wir hier sind, wäre Tante Martha dafür zuständig. Aber jetzt muss ich mir das alles genau ansehen. Deshalb, fürs Erste keine Pferde.»

Ein steiniger Weg führte hinunter an einen kleinen Strand. Gerade war Ebbe, das seichte Wasser reichte weit ins Meer und wurde von der Sonne gewärmt.

«Gehört der Strand uns?», fragte Charlie.

«Würde ich so sagen», antwortete Fiona.

«Also, so was hatten wir noch nie.» Charlie wurde allmählich munterer. «Und das kostet nichts.»

Sie wateten ins Wasser, steckten die Finger in Seeanemonen und schauten zu, wie ihre winzigen Fangarme sich um ihre Finger schlossen. Zwischen den Felsen entdeckten sie große purpurfarbene Seesterne mit vielen Armen, die Charlie zunächst für Tintenfische hielt. Natasha erklärte ihr, was es war und warnte davor, den durchsichtigen, schwer erkennbaren Quallen, die hier und da im Meer trieben, zu nahe zu kommen. «Das brennt.»

Als es Mittag wurde, hatten sie, windzerzaust, eine Salzkruste auf der Haut und eine gehörige Portion Sonne getankt. Sie gingen zum Haus zurück, wo Fiona aus dem großen Vorrat an Aufschnitt, den ihre Tante ganz eindeutig für sie gekauft hatte, ihr Mittagessen vorbereitete. Anschließend scheuchte sie ihre Schwestern aus der Küche, damit sie ihre Bücher lasen oder Ketten aus Wildblumen bastelten, während sie in den Schränken und Schubladen kramte und zu ihrer Freude feststellte, dass alle Zutaten zum Brotbacken vorhanden waren. Nachdem sie Hefe mit Wasser vermischt hatte, geschah zu ihrer Verwunderung nicht das Gleiche wie früher bei ihrer Mutter. Sie rief Marlin, die es sich ansah, das Rezept im Internet auf Tante Marthas MacBook Air durchlas, den Finger in das Hefewasser hielt und meinte: «Ich glaube, dein Wasser war zu kalt.» Sie schüttete es aus. «Lass mich mal.»

Fiona schaute zu, wie Marlin von vorne anfing und die Hefe diesmal wie gewünscht schäumte. Marlin gab die anderen Zutaten hinzu und knetete den Teig immer von Neuem auf dem kleinen Küchentisch durch. Als sie ihn endlich in eine Schüssel gelegt, mit einem Geschirrhandtuch zugedeckt und die Küche geputzt hatte, war Fiona in der Zwischenzeit ihrer Idee ein gutes Stückchen näher gekommen und rief die anderen auf die Veranda.