Maschinenmacht 1 – Cyan Zane Veil - E. V. Ring - E-Book
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Maschinenmacht 1 – Cyan Zane Veil E-Book

E. V. Ring

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Beschreibung


• Auftakt einer 4-bändigen Reihe
• Nominiert für den Indie-Seraph 2023
• Ausgezeichnet mit dem Selfpublishing-Buchpreis 2023/24

»Sollte ich dich eines Tages wiedersehen, Cyan Zane Veil, bist du entweder tot … oder wünschst dir, es zu sein.«

Vor sechzehn Jahren gelang Zane die Flucht vor dem Mann mit der Aschestimme. Kein Tag vergeht, an dem der Wiener Musiker nicht an die monatelange Tortur in den Testzonen denkt – und an Jen, die er dort zurücklassen musste.
Als sich unerwartet der Weg zur Rückkehr bietet, ist er zu jeder Konfrontation bereit. Doch Zanes alter Feind wurde durch eine Macht ersetzt, der kein Mensch etwas anhaben kann …

Der Auftakt einer Science-Fiction-Reihe, deren Welt sich um einen Maschinenkern dreht. Und eine KI mit einer Mission.

Zum Buch:

Soft Science-Fiction trifft auf Mystery, Survival, Drama und Coming of Age: Der Reihenauftakt behandelt Themen wie Neurodivergenz, Reizüberflutung, Funktionsgetriebenheit, Überleben unter Extrembedingungen (Naturgewalten), Existenz als Testsubjekt, Trauma, PTBS und Aufarbeitung. Illustriert von Gregor Pfingstl.

Zur Reihe:

»Maschinenmacht« spielt im Jahr 2016. Die Reihe beginnt in Österreich und führt schließlich über Portale in den Maschinenkern. Die Hauptperspektivfiguren der einzelnen Bände sind 31 Jahre alt und älter, ihre Vergangenheit wird in Rückblenden beleuchtet. Für Lesende, die handlungsgetriebene Romane rund um komplexe Figuren in physischen wie psychischen Überlebenskämpfen mögen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2022

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E. V. Ring

CYAN ZANE VEIL

TEIL I DER MASCHINENMACHT-REIHE

Die Maschinenmacht-Reihe umfasst vier Bände. Davon bereits erschienen:

Maschinenmacht 1 – Cyan Zane Veil

Maschinenmacht 2 – Aarin Cirrus

E. V. Ring

Die Person hinter dem Pseudonym lebt in Wien, stimmt Klaviere, musiziert und schreibt seit der Kindheit Fiktion. Sie stand einst darstellend auf Musicalbühnen, ehe sie erkannte, dass ihre Liebe im Erschaffen von Geschichten und nicht in ihrer Verkörperung liegt. E. V. Rings Romandebüt Cyan Zane Veil, der Auftakt der Maschinenmacht-Reihe, wurde für den SERAPH 2023 nominiert und mit dem Selfpublishing-Buchpreis 2023/24 ausgezeichnet. Kontakt und Social-Media-Links: https://evring.carrd.co

Impressum

Maschinenmacht 1 – Cyan Zane Veil

© 2022 E. V. Reisenhofer

Hütteldorfer Str. 130C/3/30 | 1140 Wien | Austria

https://evring.carrd.co

Covergestaltung: Nadine Wahl

unter der Verwendung von Bildmaterial von

Gregor Pfingstl (Coverartwork, Rendering: Christian Speiser)

und Adobe Stock

Lektorat: Marieke Kühne, textzucker e. U., Wien

Korrektorat: Tino Falke

Sensitivity Reading: skalabyrinth

Buchsatz: Catherine Strefford

ISBN Paperback (tredition): 978-3-347-74995-5 ISBN eBook (tolino media): 978-3-7546-7637-0

Alle Rechte vorbehalten.

Für die Erstellung dieses Romans – Text wie Gestaltung – wurde keine generative KI verwendet.

Hinweise zum Buchinhalt: Content Notes

Kernthemen

Verknüpfung der Sinne (angelehnt an Synästhesie); Reizüberflutung; Funktionsgetriebenheit (internalisierter Ableismus); Trauma, PTBS und Aufarbeitung; Angst (zu versagen, jemanden zu verlieren, zu sterben); Sehnen nach Geborgenheit; Überleben unter Extrembedingungen (Naturgewalten); Menschenexperimente zur genetischen Optimierung; Existenz als Testsubjekt (ohne Kenntnis über das Ziel); Dauerüberwachung (von Geburt an); Wunsch nach Zerschlagung des Systems; Aufstand und Hoffnung auf Ausbruch.

Darin enthalten (Kapitelangabe in Klammer)

Alkohol- und Drogenmissbrauch (14, 16; erwähnt: 9, 31, 36, 40, 69, 70); Nikotin/Rauchen (7, 16, 17, 18, 22, 69, 70)Gewalt gegen Kinder und Jugendliche (physisch, psychisch, medizinisch im Zuge der Tests; implizites Kernthema mit regelmäßiger Erwähnung. Gezeigte Szenen betreffen Jugendliche und sind fast ausschließlich Flashbacks/Rückblenden: 21, 23, 25, 27, 29, 31, 35, 43, 46, 52, 55, 58, 63)Häusliche Gewalt (14)Körperflüssigkeiten (Blut/Verletzungen: 27, 46, 57, 59, 60; Erbrechen: 18, 44, 59, erwähnt: 9, 14, 55)Nadeln/Blutabnahmen/Injektionen (23, 24, 25, 43, 52, 55, 58, 59, 63, 67, 68; regelmäßig erwähnt, u. a. im Prolog)Schwangerschaft und Geburt [Jugendliche], erwähnt (34, 42, 64, 69)Sex [Jugendliche] (16)Suizidalität (18, 64, 65, Epilog; erwähnt: 60)Tiere (Hund: 8, 10, 12, 17; fiktives Fluginsekt: 29, 30; fiktive Schlangenart: 32; fiktive Wolfsart: 46; fiktive Skorpionart: 52; fiktive Schneckenart: 55)Tiertötung [Notwehr] (46)Unfall (Beinahe-Ertrinken: 57, 59; Flugunfall: 45)Mord [Erwürgen], erwähnt (14, 60, 69 [grafische Erzählung], 70, Epilog)Tod einer Figur (44); erwähnter Tod von Angehörigen (11, 14, 60, 64, 69, 70)

Diese Auflistung wurde nach bestem Wissen und Gewissen erstellt, erhebt allerdings keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

Für mein fünfzehnjähriges Ich

Vor sechzehn Jahren

7. Juni 2000

Fünf Monate nach der Entführung: Tag der Flucht

Jen.

Nach Luft ringend stolperte er durch die leeren Straßen. Es war früh am Morgen und kühl. Wie lange war er gefangen gewesen? Er hatte das Zeitgefühl verloren. Bewegte er sich überhaupt? Es kam ihm so vor, als hätte er die Weinberge noch gar nicht verlassen.

Jen.

Immer wieder wanderte seine Hand zu der Einstichstelle an seinem Hals. Brennende Lava floss durch seine Venen, blaue Blitze zuckten über seine Netzhaut und sein Gehirn stand unter Dauerstrom, als würde der Schläfenanschluss noch darin stecken. Sein Schädel dröhnte, der Schmerz drang bis in die Knochen.

Jen.

Ein Wort, ein Name, der wichtigste Name in seinem Leben. Er war alles, woran er denken konnte, alles, was ihn antrieb.

Jen. Jen. Jen.

Er hustete, blinzelte den Schweiß aus seinen Augen, zog den Handschuh ab. Fahrig fuhr er sich über die Stirn, sah über die Schulter. Kein Roboter, der ihm folgte, und auch keine Spur von dem Mann, der ihm den Tod versprochen hatte.

Er musste es nach Hause schaffen, seinem Vater Bescheid geben. Er musste ihm helfen, nach Jen zu suchen und sie zu retten, denn allein würde er es nicht schaffen. Er betete, dass er nicht eingefangen werden oder sterben würde, bevor er irgendjemandem sagen konnte, wo sie war. Der Mann mit der Aschestimme hatte ihr dasselbe gespritzt wie ihm. Er musste sich beeilen.

Das wummernde Dröhnen in seinem Kopf wurde immer lauter, der dunkelgraue eng anliegende Schutzanzug, den er so sehr zu schätzen gelernt hatte, half nicht gegen die Gefahr, die von innen drohte. Er verbrannte bei lebendigem Leib und niemand konnte es sehen.

Er stieß das Gartentor auf, fiel auf die Knie, stemmte sich hoch, schleppte sich zur Tür. Keuchend lehnte er sich dagegen, erleichtert, endlich Halt zu haben, endlich da zu sein. Mit letzter Kraft legte er die Hand auf die Klingel, hörte die Glocke im Vorraum verhallen, drückte sie wieder und wieder und wieder. Warum tat sich nichts? War sein Vater nicht zu Hause? War der Roboter längst hier und wartete auf ihn?

Da drehte sich der Schlüssel im Schloss und die Tür schwenkte auf. Er stolperte zurück. Ein entnervter, glasiger Blick begegnete ihm, der sich erst in Unglauben, dann in Schock verwandelte.

»Christopher«, flüsterte sein Vater.

Nach all der Zeit seinen Geburtsnamen zu hören, hatte etwas ähnlich Surreales wie der echte Himmel über seinem Kopf. Tränen liefen über Zanes Wangen. Er machte einen letzten Schritt, dann kippte er nach vorne.

Sein Vater fing ihn auf und ging mit ihm zu Boden. »Wo warst du?«, hauchte er ihm ins Ohr, während er ihn fest an sich drückte und wiegte wie ein Kleinkind. »Wir suchen seit fünf Monaten nach dir!«

Das kalte Blau, das vor Zanes innerem Auge blitzte, stand im absurden Kontrast zu den züngelnden Flammen, die seinen Körper verzehrten. Nie hätte er gedacht, dass er mit fünfzehn sterben würde. »Jen ist noch dort«, brachte er hervor. »Du musst ihr helfen.«

Das Wiegen hörte auf. Sein Vater drückte ihn sacht von sich. »Wo ist sie?« Sein Blick wanderte über Zanes Körper, sein Gesicht versteinerte. »Was ist passiert?«

Zane konnte kaum noch atmen. Er hatte keine Zeit, ihm alles zu erzählen, wollte loswerden, was wichtig war. »Du musst in die Weinberge. Da ist ein Portal nach der Unterführung, damit kommst du in die Zonen.« Seine Kraft reichte nur noch für ein letztes Flehen. »Du musst Jen da rausholen, Papa. Bitte.«

Zane fielen die Augen zu. Er spürte, wie er zu Boden gelassen wurde, behutsam, doch der Schwindel machte eine Tortur daraus.

Das Rattern einer Wählscheibe drang zu ihm durch, dann folgte die belegte Stimme seines Vaters: »Herr Inspektor? Hier ist Peter Vallant. Es ist wegen Christopher. Er ist zurück. Ich glaube, er steht unter Drogen und ich … ich weiß nicht, was ich tun soll.«

Hol Jen da raus!, schrie Zane in sich hinein, weil er es nicht mehr laut schaffte, und wünschte sich, was er sich noch nie gewünscht hatte: dass sein Vater seine Gedanken lesen konnte.

Das Dröhnen schwoll zu ohrenbetäubendem Hämmern an, das innere Feuer fraß ihn auf und als er glaubte, den Schmerz nicht länger ertragen zu können, gipfelte der Lärm in übergangsloser Stille.

Alles wurde friedlich und leicht.

Und dann schwarz.

1

4. Januar 2016

Monotones Vibrieren zerrte ihn aus dem Schlaf. Es mischte sich zu dem vertrauten weißen Rauschen in seinem Kopf, das ihm stets das Gefühl gab, ein Radio mit schlechtem Empfang zwischen den Ohren zu tragen. Wie jeden Morgen verbannte er es aus seiner Wahrnehmung und wünschte, er könnte dasselbe mit der Vibration auf seinem Nachttisch tun.

Chris grummelte ins Kissen, tastete mit geschlossenen Augen um sich, bekam sein Handy zu fassen und hob blinzelnd ab. »Hallo?«

Die blasse Sonne warf ihre ersten Strahlen durch die Lücken der Schlafzimmerjalousie und stempelte Lochkartenmuster auf die grau gestrichene Wand. Es konnte nicht später als acht Uhr sein – wer um alles in der Welt rief ihn an seinem freien Tag so früh an?

»Guten Morgen, Chris.«

Abrupt fuhr er hoch. »Coralie.« Er hatte nicht um diese Zeit mit dem Anruf der Ärztin gerechnet, doch der Missmut war verflogen. »Guten Morgen.«

»Tut mir leid, dass es so früh ist. Mein Tag ist voller Termine.« Der Straßenlärm im Hintergrund verriet, dass sie unterwegs war. »Wie geht’s dir?«

»Gut, danke. Hier passieren keine allzu aufregenden Dinge. Ich hoffe, bei euch ist auch alles okay?«

»Alles bestens. Lynn ist eben erst von einer Tour zurückgekommen. Ich soll dir schöne Grüße ausrichten.«

»Liebe Grüße zurück. Ich beneide sie um ihre Energie.« Er unterdrückte ein Gähnen.

Coralie lachte. »Richte ich aus.« Das Klimpern eines Schlüsselbunds war zu hören. »Hast du Pläne für heute?«

»Dieselben wie jedes Jahr.« Chris schlug die Decke zur Seite und stand auf.

»Das klingt gut. Dann störe ich dich nicht länger und wünsche dir eine erholsame Zeit. Melde dich, wenn irgendetwas ist, okay?«

»Mach ich. Und danke für den Anruf.«

»Nichts zu danken, Chris. Bis dann.«

Chris legte auf, streckte sich und bahnte sich seinen Weg durch das mit Möbeln und Instrumenten zugestellte Wohnzimmer.

Sie ist wirklich supernett, kommentierte die Stimme in seinem Kopf, die er ausgerechnet heute noch nicht begrüßt hatte. Deine letzte Sitzung ist Ewigkeiten her und trotzdem erkundigt sie sich noch nach dir.

Chris betrat die Küche, öffnete den Schrank und zog die Kaffeedose heraus. Jedes Jahr am selben Tag, bestätigte er still. Er befüllte die Espressokanne und lächelte. Happy Birthday, Jen.

Danke schön.

In seiner Erinnerung trat sie aus ihrem Elternhaus, hinein in den Nebel des vierten Januars 2000. Chris stellte die Kanne auf die Herdplatte. Ich kann kaum glauben, dass du jetzt auch schon einunddreißig bist. In meinem Kopf klingst du noch immer wie fünfzehn.

Jen lachte. Ich möchte dich daran erinnern, dass du mir jederzeit eine andere Stimme verpassen kannst.

Auf keinen Fall. Chris winkte ab. Ich pfusch da nicht herum.

Er ließ die Herdplatte ihre Arbeit tun und schlurfte ins Bad, das gerade groß genug war, um die kleinste Waschmaschine der Welt zu beherbergen. Während er sich die Zähne putzte, schweiften seine Gedanken zu Jen.

Natürlich malte er sich in regelmäßigen Abständen aus, wie sie sich wohl verändert hätte. Ihr Aussehen. Ihre Haltung. Ihre Art. Der Klang ihrer Stimme. Doch er scheiterte jedes Mal daran, weil er nicht das Gefühl hatte, ihr damit auch nur in irgendeiner Weise gerecht zu werden. Also sprach er weiterhin mit der Jen, die er kannte. Mit der Erinnerung, die nie verblasste.

Er rasierte sich, wusch sich das Gesicht, stellte einmal mehr fest, dass längst wieder ein Friseurtermin fällig war – oder die Anschaffung eines Haarbands –, und verließ das Bad.

Als Chris ins Wohnzimmer trat, mischte sich zum Fauchen der Kaffeekanne das Vibrieren seines Handys, das er nach dem Telefonat auf der Arbeitsplatte abgelegt hatte. Er sprang übers Sofa, schlitterte actionfilmreif in die Küche und bekam das Handy gerade noch zu fassen, ehe sich die Mobilbox aktivieren konnte. Diesmal hatte er zuerst aufs Display gesehen.

»Simon«, begrüßte er den Tontechniker.

»Chris, mein Lieblingsdrummer!«

Skeptisch hob er eine Augenbraue. Wenn Simon ihm so ins Telefon gurrte, konnte das nur Extrastunden bedeuten. »Was willst du?« Er klemmte das Handy zwischen Ohr und Schulter und goss den dampfenden Kaffee in die größte Tasse, die er auf die Schnelle fand.

»Also, pass auf. Ich habe da ein Prog-Metal-Album und der Drummer der Band ist eh ganz gut, aber …«

»Aber du hast keinen Bock, Prog Metal zu editieren?«, riet Chris und inhalierte den Duft des frisch gebrühten Kaffees.

»Siehst du, das mag ich so an unserer Zusammenarbeit. Wir verstehen uns einfach.«

»Mhm«, machte Chris, allerdings nicht aus Überzeugung. »Wie viele Songs sind es?«

»Vierzehn. Du musst nicht alle einspielen«, beeilte Simon sich zu sagen. »Mir wäre schon geholfen, wenn du dich der Problemkinder annehmen würdest.«

Chris nahm das Handy in die freie Hand und lehnte sich gegen den Kühlschrank. »Und wie viele Problemkinder sind es?«

»Vier…zehn?«, antwortete Simon kleinlaut.

Chris schmunzelte. »Weiß der Drummer, dass du ihn beinhart ersetzt?«

»Geh bitte.« Simon schnaubte. »Der kriegt das gar nicht mit. Der hört sich nachher die Scheibe an und glaubt, er wäre der Drum-Gott schlechthin.«

»Ich verstehe.« Chris nippte am heißen Kaffee, sein Blick wanderte zu Boden. Er hatte erst vor drei Tagen Staub gesaugt und schon wieder rotteten sich seine Haare zu Büscheln zusammen, um die Wohnung einzunehmen.

Du wirst halt alt, was will man machen?

Chris verschluckte sich. Hustend stellte er die Tasse ab und klopfte sich auf die Brust.

»Alles okay bei dir?«, drang es durchs Handy.

»Alles bestens«, krächzte Chris.

Jen lachte. Wenigstens sind sie blond, warf sie hinterher. Da fallen sie auf dem hellen Boden nicht so auf.

»Ich flehe dich an«, jammerte Simon. »Erlöse mich. Am besten noch heute. Du kriegst auch alles, was du willst!«

Chris hatte sich wieder gefasst, atmete durch und nahm die Tasse zur Hand. »Es ist der vierte Januar. Heute mach ich gar nichts und das weißt du.«

»Stimmt ja, dein alljährlicher Ich-klinke-mich-komplett-aus-und-stelle-mich-allein-in-die-Berge-Tag. Kannst du den nicht auf morgen verschieben? Ich schwöre, der Berg ist dann auch noch da und das Wetter soll sogar besser sein als heute. Und überhaupt, wer kommt auf die Idee, im Jänner eine Bergtour zu machen?«

»Soll mich das irgendwie umstimmen?«

»Funktioniert’s?«

»Bis jetzt nicht.«

Simon seufzte schwer. »Was muss ich tun, damit du mich erhörst?«

»Du könntest mir einen Grund nennen, warum ich dein Album meinem Berg vorziehen soll.« Chris schwenkte den Kaffee in der Tasse. »Einen guten, wenn’s recht ist.«

»Auf dem Berg … also …« Simon geriet ins Stammeln. »Da gibt es nicht so göttliche Pizzen wie bei mir im Studio?«

»Aha.«

»Jetzt sei nicht so! Du liebst meine Pizzen!«

Schon okay, beschwichtigte Jen. Traditionen sind da, um gebrochen zu werden, oder nicht? Morgen ist auch noch ein Tag.

Chris runzelte die Stirn.

Es macht für mich keinen Unterschied, setzte sie nach. Wirklich.

Für ihn schon. Irgendwann musste er mit Simon ein Gespräch über Grenzen führen, denn das war nicht das erste Mal, dass der Tontechniker sie überschritt. Am besten wäre wohl jetzt, doch ihm fehlten die Nerven – wie auch schon die Male zuvor. Es stresste ihn weitaus weniger, ins Studio zu fahren, als eine Grundsatzdiskussion vom Zaun zu brechen. Und vielleicht wäre er ja schnell genug, um die Bergtour im Anschluss zu machen.

Er seufzte ergeben. »Ich bin in einer Stunde da.«

»Bester Mann!«, jubelte Simon.

Chris legte ohne Verabschiedung auf und trank den Kaffee in einem Zug aus.

2

»Siehst du, und genau das meine ich«, sagte Simon, als Chris mit den ramponierten Sticks in der Hand aus der kleinen Aufnahmekammer kam. Er zog die Kopfhörer von den Ohren und deutete auf die Bildschirme, die die aufgenommenen Spuren zeigten. »Das hier sind durch und durch perfekte Takes. Genau so mag ich das!«

»Deine Begeisterung lässt sich bestimmt in Euro messen.« Chris fiel ächzend neben Simon auf den zerschlissenen Drehhocker. »Ich meine, Pizza schön und gut, aber du hast mich um meinen Berg gebracht.«

»Du bist mir jeden einzelnen Cent wert. Mir hat noch keiner ein Metal-Album in sechs Stunden eingespielt. Und das auch noch in dieser Qualität.« Er drehte sich schwungvoll zu Chris um. »Ich liebe dich. Ich habe zwar auch irgendwie Angst vor dir, aber ich liebe dich.« Grinsend klopfte er ihm auf die Schulter. »Du bist eine verdammte Maschine, Mann.«

»Übung.« Chris lehnte sich zur Seite und tauschte die Sticks gegen eine der Wasserflaschen vom Boden. »Nichts als Übung.«

»Erzähl das den Bands, die bei mir aufnehmen«, raunte Simon und drehte sich zurück zum Pult.

Chris grinste und setzte die Flasche an.

Es war schon einige Male passiert, dass Simon auf den letzten Drücker Ersatzspuren eingespielt haben wollte – vorzugsweise von Chris, den er gern mit Lob zu seiner Präzision und Schnelligkeit überhäufte. »Alles Übung«, pflegte Chris stets zu sagen, doch das war nur die halbe Wahrheit.

Chris nahm Schall auf mehreren Ebenen wahr. Jeder Ton, jeder Klang, jedes Instrument erzeugte vor seinem inneren Auge ein unverwechselbares Spektrum an Farben und Formen. Es war eine visuelle, manchmal auch plastische Darstellung, die er nicht nur sehen, sondern auch riechen, schmecken und fühlen konnte. Alles, was er hörte, verwandelte sich in eine einzigartige Symphonie der Sinne – und Musik brachte die schönsten Kompositionen hervor.

Die Struktur eines Liedes verankerte sich in seinem Gehirn, noch während er es hörte. Sofortiges Nachspielen und auch Eigeninterpretationen waren für ihn kein Problem. Übung brauchte er nicht, um sich ein Stück einzuprägen. Er brauchte sie, um seinen Körper für die nötigen präzisen Bewegungen fitzuhalten – was mit zunehmendem Alter anstrengender wurde, wie er zu seinem Leidwesen feststellen musste.

Jen gluckste.

»Hör mal«, sagte Simon und der Unterton klang verdächtig vorsichtig. »Ich habe da ein kleines Attentat auf dich vor.«

»Noch eines?« Chris verschloss die Wasserflasche und stellte sie vor sich ab. »Das wird teuer.«

Simon spielte mit der Lasche an seiner Coladose, vier leere standen bereits neben dem Pult. »Es geht um einen Gig.«

»Keine Chance«, platzte es aus Chris heraus.

»Es ist ein Notfall.« Ein flehender Ausdruck trat in Simons Augen. »Ich würde jemand anderen fragen, aber der Drummer der Band ist kurzfristig ausgefallen und ich kenne niemanden, der das in der Zeit noch sauber hinkriegen würde.«

Chris’ Puls stieg in ungesunde Höhen. »Ich spiele nicht mehr live.«

»Ich weiß«, beschwichtigte ihn Simon. »Und es ist ein Verlust sondergleichen, du warst nämlich gigantisch auf der Bühne, damals schon. Was glaubst du, wie du heute abgehen würdest? Ich kenne eine Menge Leute, die für einen derart guten und verlässlichen Musiker richtig was springen lassen würden. Aber hey«, er hob abwehrend die Hände, »nicht meine Baustelle.« Er beugte sich nach vorne und sah Chris eindringlich an. »Ich verspreche dir, ich werde dich nie wieder fragen, aber dieses eine Mal muss ich, weil ich die Truppe mag. Weil sie alle so hart gearbeitet haben. Weil es sauschwer für Newcomer ist und kein Mensch sie mehr als Vorband engagieren wird, wenn sie so kurzfristig absagen.«

Chris verschränkte die Arme vor der Brust. »Was ist mit ihrem Drummer?«

»Der hat es geschafft, sich ausgerechnet heute das Bein zu brechen.«

»Hervorragend.«

»Du sagst es.«

Schweiß benetzte Chris’ Handflächen. Er wollte das Nein förmlich in die Welt hinausschreien.

Jen fasste seine Angst in Worte. Du glaubst, dass du auf der Bühne das Rauschen nicht unter Kontrolle hast.

Ich weiß, dass ich es live nicht kontrollieren kann, korrigierte er sie.

Wann hast du das letzte Mal live gespielt?

Mit zwanzig.

Also vor elf Jahren, rechnete Jen. Wie lange hattest du das Rauschen da schon unter Kontrolle? Wirklich unter Kontrolle, so wie jetzt?

Chris überlegte. Zwei Monate, vielleicht.

Kein Wunder, dass es dir da nicht gelungen ist. Jetzt bist du Profi, möchtest du es nicht noch mal versuchen?

Chris antwortete nicht. Er dachte an den Gig, bei dem Simon ihn damals entdeckt und in sein erstes kleines Studio eingeladen hatte. Er hatte es ihm zu verdanken, dass er in der Welt der Studiomusik Fuß gefasst hatte. Ein Umstand, der es ihm erschwerte, dem Tontechniker etwas abzuschlagen.

»Chris.« Simon faltete flehend die Hände. »Bitte.«

Versuch es. Jen klang aufgeregt. Ich wünsch es mir zum Geburtstag.

Chris seufzte und fuhr sich resigniert übers Gesicht. »Fein«, hörte er sich wie aus weiter Ferne sagen und bereute es sofort. »Ich mach’s.«

»Yes!« Simon ballte die Fäuste und sprang begeistert auf. »Sie werden dich genauso lieben wie ich, mach dir da keinen Kopf.«

Chris ignorierte Simons Motivationsversuch und fragte: »Wann ist der Gig?«

»In …« Simon sah auf seine Armbanduhr. »In zwei Stunden.«

Chris blinzelte. »Bitte wie?«

»Ich fahr dich.« Simon klopfte ihm enthusiastisch auf die Schulter. »Du musst dich auch um nichts weiter kümmern. Es ist alles vorbereitet und den Soundcheck kriegen sie locker ohne dich hin. Die Hiobsbotschaft kam ja erst vor einer halben Stunde und die gesamte Truppe ist gerade super verzweifelt.«

Nicht nur die, dachte Chris.

Simon fischte nach seinem Autoschlüssel und lief voraus. »Ich ruf sie an, sobald wir unterwegs sind, da spiel ich dir dann auch gleich die Songs vor. Die werden dir die Füße küssen!«

3

Chris sah aus dem Autofenster und wippte mit den Beinen. Die Hände auf den Oberschenkeln abgelegt, trommelte er zu den Songs, die aus den Boxen dröhnten, doch seine Konzentration galt nicht der Setlist. Die hatte er ohnehin längst verinnerlicht. Das weiße Rauschen lag auf der Lauer, er konnte es spüren. Und es machte ihn nervös.

Es begleitete ihn seit sechzehn Jahren. Seit er nach der Flucht und dem dreiwöchigen Koma im Krankenhaus aufgewacht war. Für einen kurzen Moment war es wieder, als würde er in diesem Bett liegen. Schnell verbannte er die Erinnerung, ehe sie ihn mitreißen konnte.

»Du hast nicht zufällig ein Tuch, das du mir leihen kannst?«, fragte er mit Blick aus dem Fenster.

»Ein Tuch? Was für ein Tuch?«

»Irgendeines. Oder irgendwas anderes, womit ich mir die Augen zubinden kann.«

»Ich habe Panzertape«, antwortete Simon grinsend.

Chris zuckte mit den Schultern. »Auch okay.«

»Nicht dein Ernst.« Der Tontechniker lachte. »Ich weiß, die verbundenen Augen waren dein Markenzeichen damals, aber das kannst du nicht bringen. Das zieht die Aufmerksamkeit auf dich und du stehst heute nicht im Fokus.«

Das war kein Markenzeichen, stellte Chris innerlich richtig. Das war Verzweiflung.

»Du machst dir wirklich Sorgen, hm?« Simon klopfte ihm ermutigend auf den Oberschenkel. »Völlig grundlos. Du rockst das.«

Bevor er etwas erwidern konnte, fuhr Simon auf das Veranstaltungsgelände, bremste unsanft ab und sprang aus dem Wagen. Mit polterndem Herzen stieg Chris aus, den Blick auf den beleuchteten alten Schornstein gerichtet, der hinter dem graffitibesprühten Ziegelgebäude in den Abendhimmel ragte.

Simon ließ ihm keine Zeit, in Ruhe anzukommen. Er schob ihn über das Gelände und schließlich durch eine offene schwarze Tür.

»Ich bitte um eure Aufmerksamkeit!«, brüllte er viel zu nah an Chris’ Ohr in das Vorbereitungschaos hinein. »Ich bringe euch den Retter des Abends!«

»Simon!«, quiekte eine Frau Anfang zwanzig und hüpfte auf den Tontechniker zu, die Stimme klar wie Bleikristall. Weißes Bühnen-Make-up bedeckte ihr rundes Gesicht, violette Haare lockten sich über ihre nackten blassrosa Schultern. »Du bist der Beste. Der Beste!« Jauchzend fiel sie Simon um den Hals.

»Du bedankst dich beim Falschen, Hera.« Simon nickte zu Chris. »Der Typ da wird euch den Arsch retten. Und ich verlange von euch, dass ihr ihm weder auf den Sack geht noch sonst irgendwie das Leben schwer macht, haben wir uns verstanden?«

»So was von!« Hera ließ von Simon ab und strahlte Chris an. »Du bist also Chris, ja? Simon hat erzählt, dass du jede Nummer nachspielen kannst, wenn du sie einmal gehört hast, das ist so krass! Und einfach der Hammer, dass du so spontan zugesagt hast!«

»Kein Ding.« Es faszinierte ihn, mit welcher Leichtigkeit er diese astreine Lüge über die Lippen brachte.

»Die Setlist hast du?«, erkundigte sie sich.

»Inklusive Zugabe.«

»Nice! Brauchst du noch irgendwas? Ah, Frank!« Hera winkte einen Typen Mitte zwanzig heran, kohleumrandete Augen auf lehmfarbener Haut, Piercings im Gesicht, Gitarre in der Hand. »Das ist Chris.«

Frank schüttelte ihm die Hand. »Ich feiere dich, echt! Feine Sache, dass du einspringst. Du hast was gut bei uns.«

Chris zwang sich zu einem Lächeln. Es wurde viel zu schnell viel zu anstrengend, seine Maske der Unbeschwertheit aufrechtzuerhalten. Er brauchte dringend einen Moment für sich. Erleichtert stellte er fest, dass Hera und Frank sich von ihm abwandten und sich wieder ihrer Vorbereitung widmeten.

»Es wird ein Fest, dich endlich wieder auf der Bühne zu sehen«, raunte Simon ihm ins Ohr. »Du wirst gar nicht mehr zurück ins Studio wollen.« Damit klopfte er Chris auf die Schulter und verschwand in der noch leeren Halle, deren Tore sich jede Minute öffnen würden.

Chris sah ihm nach, ballte die Fäuste, öffnete sie wieder und zog ein Paar seiner Lieblingssticks aus dem Rucksack.

Endlich allein.

Er verzog sich in einen Winkel hinter der Bühne, der kaum ausgeleuchtet war, hockte sich auf den Boden und trommelte mit geschlossenen Augen vor sich hin.

Er brauchte Ruhe. Er brauchte Konzentration. Er brauchte auf keinen Fall die Panik, die schon die ganze Zeit hinter seiner Fassade auf den Ausbruch wartete.

Fünf nach sieben winkte ein Techniker sie auf die Bühne, Chris war der Erste. Er atmete tief durch, dann trat er ins Rampenlicht. Applaus und Gejohle schlugen ihm entgegen und begleiteten ihn auf seinem Weg zum Schlagzeug, wo er mit rasendem Herzen auf den Drehhocker sank. Er streifte die Kopfhörer über die Ohren und blendete damit die Umgebungsgeräusche aus. Übrig blieb das drängende Wogen des unterdrückten Rauschens, das penetrant um seine Aufmerksamkeit buhlte. Chris schluckte schwer.

Nach und nach kamen alle Bandmitglieder auf die Bühne, zuletzt und mit in die Höhe geworfenen Armen Hera. Er sah ihr dabei zu, wie sie sich mit gestrafften Schultern vor ihrem Mikrofon platzierte, und griff nach den Sticks.

Die Halle verdunkelte sich, das Publikum wurde zu einer wogenden schwarzen Masse. Ein Spot richtete sich auf ihn. Er starrte direkt hinein, darum bemüht, alles andere auszublenden, und für einen Moment gelang ihm das sogar. Dann nickte Hera ihm über die Schulter hinweg zu, er hob die Sticks für den Einsatz und wusste mit plötzlicher Klarheit, dass er verlieren würde.

Die Energie des Publikums überwältigte ihn, der Geschmack der Bühnenluft, die Musik. Er hörte den Live-Mix in seinen Ohren, extrahierte jede Spur, folgte der Melodie, die im Moment entstand. Arme und Beine verselbstständigten sich, schufen einen Rhythmus, der sich an die Klänge der anderen Instrumente schmiegte; eine Komposition, die die Welt in tanzende, warme Farben und pfeffrig-süße Gewürzmischungen tunkte. Alles war so groß und bunt und vereinnahmend, dass er zwei euphorisierende Takte lang vergaß, dass unter all den prächtigen Sinnesblüten das unterdrückte Rauschen lag.

Und wie befürchtet brach es aus.

Innerhalb eines Augenblicks steigerte es sich zu einem tosenden Orkan, raste auf ihn zu und riss ihn mit sich. Ein gigantisches Cluster an blau glühenden Zahlen flutete sein Gehirn mit Informationen zu jedem Kubikzentimeter des Veranstaltungsraumes – Milliarden an Daten, laut, grell und schmerzhaft intensiv.

Seine Muskeln verkrampften sich, sein Schädel schien zu bersten, der Schweiß tropfte auf die Becken und Felle des Schlagzeugs. Keuchend kämpfte er gegen die Lähmung an und spielte den restlichen Gig mit panisch zugekniffenen Augen.

Dass die Show vorbei war, begriff er erst, als Hera ihn hinter dem Schlagzeug hervorholte und mit sich zur Bühnenmitte zog. Sie griff seine Hand und hielt sie in die Höhe, als wäre er ein Boxchampion.

»Unser Held an den Drums: Chris!«, rief sie ins Publikum und frenetischer Jubel war die Antwort.

Automatisiert verbeugte er sich und deutete zurück zu Hera und ihrer Band. Dann setzte er sich wieder hinter das Schlagzeug, wo er die zitternden Finger in seine Oberschenkel krallte und sich bemühte, nicht ohnmächtig zu werden.

Wow, hörte er Jen erstaunt flüstern. Was war das alles?

»Es interessiert mich nicht«, hauchte er, den Blick starr auf die Snaredrum vor sich gerichtet. »Es soll einfach nur weggehen.« Es soll endlich weggehen.

4

Chris rannte. Er hatte Simons Angebot, ihn nach Hause zu fahren, ausgeschlagen. Er musste sich bewegen, laufen, den Kopf frei kriegen. Er musste sich wieder unter Kontrolle bringen.

Also durchquerte er die Stadt im Sprint. Während der letzten Stunden war Schnee gefallen, dessen Frische allerdings nicht mehr zu erahnen war. Das Schmatzen vorbeifahrender Autos im Matsch porträtierte den klassischen Winter in der Großstadt und auch der nicht geräumte Gehweg war alles andere als trittsicher.

Chris war das nur recht. Es half ihm zu fokussieren, wenn er auf jeden einzelnen Schritt achten musste.

Das waren Umgebungsinformationen, nicht wahr? Jen klang aufgeregt. Temperatur und Raumgröße und Entfernung zum nächsten Objekt und –

Hör auf. Chris presste die Fäuste gegen die Schläfen und lief im letzten grünen Blinken der Fußgängerampel auf die Straße.

Aber das ist fantastisch!

Nichts daran ist fantastisch! Es ist zu viel! Es lähmt mich! Chris sprang auf den gegenüberliegenden Gehsteig. Für einen Moment verlor er den Halt und schlitterte, fing sich aber sofort wieder und rannte weiter, in Gedanken bei dem Tag, an dem er vor sechzehn Jahren das Krankenhaus verlassen hatte.

Damals hatten all die zusätzlichen Informationen sein Gehirn derart überlastet, dass er nicht einmal fähig gewesen war, ein Bein vor das andere zu setzen. Monatelang hatte er versucht, dem Chaos in seinem Kopf Einhalt zu gebieten, und war gescheitert. Bis er herausgefunden hatte, dass er die Eindrücke eindämmen konnte, wenn er das Rauschen ausblendete. Wenn er es schaffte, es so weit aus seiner Wahrnehmung zu drängen, dass er es kaum noch hören konnte. Dann lief alles wieder halbwegs normal.

Die Erleichterung, die auf diese Erkenntnis gefolgt war, war enorm. Der Kraftaufwand der Umsetzung ebenso. Es hatte ihn Jahre gekostet, das Rauschen unter Kontrolle zu bringen, und alles, was den Verlust dieser Kontrolle bedeuten konnte, vermied er seither konsequent.

Ganz oben auf dieser Liste standen Gigs.

Es tut mir leid, sagte Jen.

Chris legte noch einen Zahn zu, sein hastiger Atem bildete kleine Wolken im Winter der Stadt. »Winter«. Chris schüttelte den Kopf. Das war kein Winter. Das war ein Witz. Er hätte alles für Außentemperaturen im zweistelligen Minusbereich gegeben. Er brauchte Abkühlung.

Bleib doch mal stehen, drängte Jen.

Nein. Ich muss mich bewegen.

Das macht dich nur noch nervöser.

»Nein!«, schrie Chris. Der Taxifahrer, der fünf Meter weiter mit einer Zigarette in der Hand an sein Auto gelehnt eine Pause einlegte, fuhr erschrocken herum. Chris hob die Hand zur Entschuldigung, ohne stehen zu bleiben. Nein, wiederholte er im Geiste. Ich muss laufen. Ich will wieder klar denken.

Er bog in die nächste Seitenstraße ein und prallte mit voller Wucht in eine Person, die ihm knapp bis zum Schlüsselbein reichte. Schlagartig in die Realität katapultiert, griff er nach ihrem Arm und zog sie zu sich, ehe sie fallen konnte.

»Gott«, entkam es ihm keuchend, »es tut mir leid, ich habe nicht aufgepasst. Sind Sie okay?«

Sie löste sich von ihm, strich ihren Mantel glatt, hob den Kopf und sah ihn an.

Braune Haut in kühlem Ton. Schulterlange schwarze Korkenzieherlocken unter einer gelben Strickhaube. Bernsteinfarbene Augen in einem Gesicht, dessen Mimik ihm so vertraut war, dass all seine Züge wie ein Daumenkino vor ihm abliefen.

»Ich bin okay«, sagte die jugendliche Jen und ihre Stimme füllte die Winternacht mit glühendem Jadestaub und dem Geschmack von Rosmarin und Zirbe. »Im Gegensatz zu dir. Du musst dich beruhigen, Zane.«

Alles in Chris wurde still. Er konnte seinen Blick nicht von dem Mädchen lösen, das aussah wie Jen, redete wie Jen, genauso alt wirkte wie Jen, als er sie vor sechzehn Jahren verloren hatte. Und ehe er begriff, was er sah, drehte sie sich um und ging die Straße hinab, aus der sie gekommen war.

Chris war mit dem Asphalt verwachsen. Unfähig, sich zu rühren, starrte er ihr nach, bis sie am Ende der Straße abbog und aus seinem Blickfeld verschwand. Erst, als das Rauschen seine nächste Chance witterte und aus dem zugewiesenen Platz gekrochen kam, riss es ihn aus der Starre.

Er keuchte, wankte, drängte es zurück und sprintete los. Den Herzschlag im Hals, sprang er in die Straße, in die Jen verschwunden war, und sah sich nach Luft ringend um. Schummrige Straßenbeleuchtung fiel auf die menschenleeren Fußwege. Kahle Bäume, parkende Autos, aufkommender Nebel. Aber keine Jen.

Chris zwang sein Herz zur Ruhe. Hatte er wirklich geglaubt, in dieser Straße seine um keine Minute gealterte Freundin zu finden?

Er sollte diesen Tag beenden. So rasch wie möglich.

Leise Schlagermusik wehte aus einem kleinen Café keine zehn Meter vor ihm. Dicke Schneeflocken begannen zu fallen. Chris schüttelte seine zitternden Hände aus, hörte immer noch den Nachhall von Jens Worten: »Du musst dich beruhigen.«

Durchatmend schloss er die Augen und zählte langsam bis zehn.

Gut, sagte die Jen in seinem Kopf. Und jetzt ab nach Hause.

5

5. Januar 2016

»Was ist los mit dir? Willst du sterben?«

»Es ist ein Trauerspiel, wie schnell du aufgibst.«

»Du musst nicht so schreien, Junge. Ich kann dich hören, wenn du nur denkst.«

»Niemand geht. Und Jenesis am allerwenigsten.«

»Sollte ich dich eines Tages wiedersehen, Cyan Zane Veil, bist du entweder tot oder wünschst dir, es zu sein.«

Schweißgebadet fuhr Chris hoch. »Jen?«

Guten Morgen!

Erleichtert stieß er die Luft aus. Guten Morgen. Der kalte Blick des Mannes mit der Aschestimme fixierte ihn noch immer – zwar nur in Gedanken, doch das reichte, um ihn schaudern zu lassen.

Alles okay?

Chris wischte den Albtraum beiseite und wies das Rauschen in seine Schranken. Die Erinnerungen an den gestrigen Tag tauchten auf, mit klopfendem Herzen überflog er sie. Alles wirkte konfus und weit weg. Ich denke schon.

Jen lachte. Überzeugung klingt anders.

Chris schwang die Beine aus dem Bett und seufzte. Überzeugender wird’s nicht vor dem ersten Kaffee. Er stand auf, streckte sich, schlurfte zum Schrank und öffnete ihn.

Tut mir leid wegen gestern.

Chris sank in die Hocke und pflückte ein frisches Handtuch aus dem vorletzten Fach. War was?

Sehr witzig.

Chris grinste. Schnee von gestern. Apropos. Er richtete sich auf und warf sich auf dem Weg ins Bad das Handtuch über die Schulter. Zeit für den Berg, was meinst du?

Vor dem Fenster zogen in der anbrechenden Morgendämmerung die sanften Hügel mit ihren kahlen Weinreben vorbei. Die Fahrt nach Puchberg führte durch Baden und jedes Mal stieg sein Puls aufs Neue an, wenn er die Gegend passierte. Er betrachtete seine Reflexion im Fensterglas des Schnellzugs, die Augenringe, die tiefer geworden waren.

Er war sich seiner Veränderungen bewusst. Abgesehen von denen, die für andere nicht sichtbar waren, weil sie sich allein in seinem Kopf abspielten, war er seit damals achtzehn Zentimeter gewachsen, hatte gute fünfzehn Kilo zugenommen und seine Schultern waren breiter; vor allem aber war er trainierter. Er legte keinen Wert auf extremen Muskelaufbau, aber auf Kondition. Ausdauer. Schnelligkeit. Er war getrieben davon, leistungsfähig zu sein.

Insgeheim hast du nie aufgehört, dich vorzubereiten, sagte Jen.

Chris antwortete nicht. Stattdessen kreisten in seinem Kopf dieselben wiederkehrenden Fragen, die er nicht beantworten konnte. Wie sah Jen jetzt aus? Wie klang sie jetzt? Wie drückte sie sich aus? War sie ernst, war sie zynisch? Wie hatte sie die letzten sechzehn Jahre gelebt?

Hatte sie überlebt?

Chris verschränkte die Arme vor der Brust und presste sie an sich. In fünfundvierzig Minuten musste er umsteigen. Dann noch eine weitere Stunde und er war da. Was folgte, war die ausgiebige Wanderung auf dem Schneeberg.

Eine Wanderung, von der er überzeugt war, dass sie irgendwo in einem Paralleluniversum stattgefunden hatte, damals, am 4. Januar 2000. In einer dieser Welten war er mit Jen zum Schneeberg gefahren, anstatt in die Weinberge zu gehen. In einer dieser Welten war Jen bei ihm und alles noch in Ordnung.

Unter seinen Stiefelsohlen knirschte der Neuschnee. Vor seinem inneren Auge wurde das Geräusch von zartrosa Fraktalen begleitet, der Gesang der Vögel sprenkelte sie mit kräftigen Grüntönen und der Wind, der durch die kahlen Äste pfiff, sorgte für hellblaue Wellen, mal weich, mal hart, die das gesamte Bild durchwoben. Hier schmeckte die Welt nach süßsaurer Zuckerwatte.

Chris trat aus dem kahlen Mischwald, hob den Blick und sah über die schneebedeckten Weideflächen in Richtung der Almhütte, die erst in sein Blickfeld treten würde, wenn er den Kamm erklommen hatte. Vielleicht würde er heute eine Weile bleiben und sich etwas zu Essen bestellen. Das hatte er noch nie getan, aber heute war ihm danach. Im Gehen drehte er sich hin zum Tal. Alles war ruhig und weiß. Er war eindeutig ein Freund des Winters.

Dabei macht dir die Hitze genauso wenig aus, meldete sich Jen und es klang, als würde sie nebenbei essen.

Chris sah hoch zur Sonne. Eine dünne Wolkenschicht filterte ihr Licht, schwächte ihre Kraft und ließ einen ungeschützten Blick auf sie zu. Es war noch Vormittag, nicht später als elf.

Schon, antwortete er und konzentrierte sich wieder auf den Pfad. Sein Schuhwerk war gut, was jedoch nicht hieß, dass er nicht darauf achten musste, wo er hintrat. Aber deswegen muss ich sie noch lange nicht mögen.

Jen lachte. Ja, da ist was dran. Sie schwieg einen Moment. Ich bin mir nicht sicher, was ich am liebsten mag. Was, wenn ich nichts davon leiden kann?

Diesmal war Chris es, der lachte. Nicht sonderlich hilfreich, aber durchaus nachvollziehbar.

Eine Weile war es still.

Ich will da nicht hin.

Chris steckte die Hände in die Manteltaschen. Was meinst du?

Die Zonen, antwortete Jen. Ich will da nicht hin.

Er blieb stehen, den Blick zu Boden gerichtet, in den Schnee, auf dessen strahlendem Weiß sich tanzende graue Flecken bildeten.

Ich habe Angst, fuhr Jen fort. Ich weiß nicht, ob ich durchhalte.

Dir geschieht nichts, beruhigte er sie. Du bist bei mir, du bist in Sicherheit. Hörst du? Alles ist in Ordnung.

Jen schluckte hörbar. Ich möchte dich noch einmal sehen, sagte sie und Chris wurde mit einem Mal heiß und kalt zugleich.

Etwas stimmte nicht.

Jen hatte noch nie Angst gehabt. Nicht die Jen in seinem Kopf. Warum auch? Sie entsprang den Tiefen seiner Seele, war das Resultat eines Wunschtraums, die Version einer besseren Welt. Verzweiflung existierte hier nicht.

Leise sagte sie: Wenn du nach Hause kommst, dann werde ich da sein.

Chris’ Herz stolperte. Du bist doch da, erwiderte er, Blutrauschen im Ohr.

Ich meine, so wie gestern. Jen hielt kurz inne. Ich will dich ein letztes Mal sehen.

Von der Kälte um sich herum spürte er nichts mehr. Was soll das heißen?

Willst du das nicht?, fragte sie zaghaft.

»Doch!« Chris zuckte zusammen, erschrocken von seiner eigenen lauten Stimme. Doch, wiederholte er im Stillen, aber mit Nachdruck. Sein Puls raste.

Jen atmete tief durch. Okay. Dann noch einmal, leiser, endgültiger: Okay. Und plötzlich waren die Hütte, die Aussicht auf eine Rast, der Blick über die Landschaft und die gesamte Wanderung nicht mehr relevant.

Jen?

Keine Antwort.

Chris machte auf dem Absatz kehrt. Er schlitterte mehr, als dass er lief. Hinunter ins Tal, hinein in den Bus, in den ersten und dann in den zweiten Zug, bis er nach Stunden des Schweigens in seinem Kopf endlich zurück in Meidling war und ihn keine zwanzig Minuten mehr von dem trennten, was auch immer zu Hause auf ihn wartete.

6

Als er in seine Straße einbog, sah er sie schon von Weitem und blieb abrupt stehen. Er hörte lautes Fluchen, wurde von einer Person überholt, die ihm offenbar gerade noch hatte ausweichen können, doch es interessierte ihn nicht. Er hatte nur Augen für die jugendliche Jen, die vor seiner Haustür stand und ihn abwartend ansah.

Chris schluckte schwer, legte die letzten Meter mit weichen Knien zurück und ließ sie dabei nicht aus den Augen.

Jen bewegte sich nicht und löste sich auch nicht in Luft auf. Sie stand einfach nur da, in wadenhohen braunen Schnürstiefeln und einem knielangen schwarzen Stoffmantel, der sich täuschend echt im leichten Wind wiegte.

Chris stoppte eine Armlänge von ihr entfernt und sah auf sie hinab. Das tat er normalerweise nie. In seiner Vorstellung waren sie noch immer gleich groß.

»Gehen wir rein?«, fragte sie.

Chris nickte, fischte fahrig seine Schlüssel aus der Manteltasche, sperrte auf und ging voraus. Im vierten Stock angekommen, schaffte er es erst beim zweiten Mal, den Schlüssel ins Schloss zu stecken, so sehr zitterten seine Hände.

»Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte Jen leise hinter ihm. »Ich will nur mit dir reden.«

Ein Satz, der ihm grundsätzlich die Nackenhaare zu Berge stehen ließ, vollkommen egal, von wem er kam.

Nervös stieß Chris die Luft aus und betrat die Wohnung. Er schälte sich aus seinem Mantel, drehte sich um, um ihn aufzuhängen, und sah in das sandbraune Gesicht eines hageren Jungen, der ihn argwöhnisch musterte.

Chris erstarrte, den Mantel in der erhobenen Hand.

Jen schloss die Tür.

Wie konnte eine Halluzination Türen schließen? Und wieso zum Teufel stand er seinem pubertären Ich gegenüber?

Schlagartig begriff er, dass etwas in ihm kaputt gegangen war. Irgendetwas war gestern mit ihm passiert. Irgendetwas, um das er sich sofort hätte kümmern müssen, anstatt wie ein Kleinkind darauf zuzulaufen.

Jen stellte sich neben sein junges Ich und sah zerknirscht zu ihm hoch. »Ich kann dir das erklären.«

»Du hast es ihm noch gar nicht gesagt?«, raunte sein junges Abbild und Chris zuckte bei dessen Stimme zusammen.

Kleine petrolfarbene Dreiecke, die sich wie im Kaleidoskop drehten, Tannenzweige, durch die harscher Wind fuhr, der Geruch von verbranntem Holz. Hatte er damals wirklich so geklungen? Er kannte seine Stimme nur von innen.

»Ich wollte den passenden Moment abwarten«, murmelte Jen.

Der Junge schüttelte den Kopf und sah Chris dabei fest in die Augen. In seinem Blick lag Verachtung. »Viele Momente bleiben dir jetzt nicht mehr.«

Chris versuchte zu begreifen, was sein Unterbewusstsein ihm mit dieser Show mitteilen wollte, und scheiterte.

Sein junges Ich lachte abschätzig auf, sagte aber nichts.

Jen atmete angespannt durch. »Also«, begann sie und nahm ihm vorsichtig den Mantel aus der Hand. »Vielleicht sollte ich damit beginnen, dass wir keine Halluzinationen sind.«

Chris sah ihr dabei zu, wie sie seinen Mantel an den Haken an der Tür hängte, sich wieder zu ihm umdrehte und nervös mit ihren Fingern spielte. Wie war das möglich? Wie konnten Halluzinationen Gegenstände bewegen? Wie um alles in der Welt konnten sie derart echt wirken?

»Du willst es einfach nicht sehen, oder?« Mit zwei Schritten war sein junges Ebenbild bei ihm, packte ihn am Arm und zog ihn zu sich heran. »Kannst du das spüren? Ja? Wir sind echt, Scheiße noch mal!«

Chris riss sich keuchend los, taumelte zurück und krachte gegen die Wand.

Noch nie hatte eine seiner Wahrnehmungen nach ihm gegriffen. Wäre er mit Jen allein gewesen, hätte er sich vielleicht sogar damit anfreunden können, aber den jahrelang gezüchteten Hass, den er gegen sich selbst hegte, wollte er nicht manifestiert wissen. Schon gar nicht in Form seines pubertären Ichs.

Chris wirbelte herum, riss die Tür auf und stürmte hinaus. Er ignorierte die Rufe hinter sich, rannte die Stufen hinab und stieß die Haustür auf. Dann sprintete er zur U-Bahn, die ihn zum zweiten Mal heute zum Meidlinger Bahnhof bringen sollte.

Der Gedanke an die bevorstehende Reise verschaffte ihm Schnappatmung und Schweißausbrüche, aber es war der einzige Ausweg, den er sah. Er brauchte dringend Hilfe und es gab nur einen Ort, an dem er sich sicher genug fühlte, um darum zu bitten.

7: Vor sechzehn Jahren

17. Juli 2000

Sechs Wochen nach der Flucht

»Möchtest du etwas trinken?«

Der Mann von der Kriminalpolizei, der sich mit dem Namen Schachner vorgestellt hatte, musterte ihn mit ernstem Blick. Die Furchen in seinem beigefarbenen Gesicht sprachen Bände, die ergrauten Haare an seinen Schläfen ebenso.

Die billige Kunststoffuhr hinter dem Ermittler füllte den kleinen Raum mit einem penetranten Ticken. Hinter der geschlossenen Tür klingelte ein Telefon, die Luft war zum Schneiden dick. Der kalte Zigarettenrauch, der sich an Schachner festgesetzt hatte, wehte mit jeder seiner Bewegungen auf Chris zu. Unter normalen Umständen hätte er dem nicht einmal Beachtung geschenkt, doch es herrschten keine normalen Umstände. Alles war zu viel. Er wollte weg von hier, irgendwohin, wo er frische Luft atmen konnte.

Am besten zurück in die Weinberge.

Schachner schob einen Stapel Heftordner zur Seite und verschränkte die Hände auf dem Tisch. »Wenn du lieber woanders reden möchtest – wir können auch gern zu euch nach Hause fahren.« Er sah über Chris hinweg zu seinem Vater, der in dem engen Raum auf und ab lief. »Es ist zwar sehr zuvorkommend, dass Sie Christopher hergebracht haben, aber es wäre nicht nötig gewesen. Ich wollte ohnehin morgen vorbeischauen.«

Schachners Stimme schmeckte nach Harz und erzeugte in Chris das Bild einer groben Raspel auf morschem Holz. Chris zog die trockene Zunge vom Gaumen, um für eine Antwort anzusetzen, doch sein Vater kam ihm zuvor.

»Hier ist es besser. Hier ist er nicht abgelenkt. Hier nimmt er das Ganze vielleicht … ernster.«

Chris hielt den Kopf gesenkt. Er wollte den Blick, den er auf sich spürte, nicht auch noch sehen.

»Du nimmst die Sache nicht ernst?«, hakte Schachner nach. Unangenehme Sekunden des Schweigens verstrichen. »Möchtest du lieber allein mit mir reden?«

»Ich habe nichts damit zu tun!«, brauste sein Vater auf.

»Das habe ich auch nicht behauptet«, stellte Schachner ruhig fest.

»Schon okay.« Wenn Chris etwas gar nicht brauchen konnte, dann war es ein Wutausbruch seines Vaters.

Schachner warf seinem Vater einen prüfenden Blick zu und griff nach dem obersten Heftordner des Stapels auf seinem Tisch. Er legte ihn vor sich ab und sah Chris an. »Wenn es dir an irgendeinem Punkt zu viel wird, sag es bitte. Ich bin nicht hier, um dir das Leben schwer zu machen. Ich bin hier, um die Person zu finden, die dir das angetan hat. Ich bin hier, um Jenesis zu finden. In Ordnung?«

Chris schossen die Tränen in die Augen. Er sagte nichts.

»Ich war im Krankenhaus, als du aufgewacht bist. Erinnerst du dich?«

An den Moment des Aufwachens würde er sich auf ewig erinnern. An den schneidenden, rauschenden Lärm in seinem Kopf, der die bunten Wahrnehmungen überlagert hatte, die ihn von Geburt an begleiteten. Er hatte sich nicht rühren können, war paralysiert gewesen von der Masse an blau glühenden Zahlen, die wie eine tosende Flut über ihn hereingebrochen war. Schachners kalte Rauchfahne war durch das Zahlenrauschen hindurchgedrungen. Er hatte sich an dem Geruch festgehalten wie an einem Rettungsanker.

Knapp drei Wochen war das jetzt her.

Schachner öffnete den Ordner und strich sich mit Daumen und Zeigefinger über den Schnauzer. »Alles, was ich dich von nun an frage, frage ich, um zu verstehen. Denn im Moment, das sage ich ganz ehrlich, verstehe ich nichts von dem, was ich vor mir habe.«

Ich auch nicht, dachte Chris, ein Schluchzen in der Kehle, das dort steckenblieb.

Schachner nahm ein paar Fotos zur Hand und fächerte sie vor Chris auf. Bilder, die unterschiedliche Partien von Chris’ Körper zeigten.

Chris erinnerte sich nicht daran, fotografiert worden zu sein. Es musste passiert sein, als er im Koma gelegen hatte. Die Verletzungen so klar dokumentiert vor sich zu sehen, ließ ihn frösteln.

Schachner musterte ihn. »Geht’s?«

Chris nickte knapp, den Blick auf die Bilder geheftet. Sie bedeuteten ihm mehr, als irgendjemand verstehen konnte. Sie belegten seine Erinnerungen. Nichts und niemand sonst konnte das und er hatte bereits begonnen, an sich zu zweifeln. Er wollte vor Dankbarkeit weinen, doch er konnte nicht.

»Gut. Dann sag ich dir, was ich hier sehe.« Schachner verschränkte die Hände. »Ich sehe Vernarbungen an deinen Armen und Beinen, die von Klingen stammen könnten. Ich sehe eine faustgroße Fleischwunde an der Hüfte, ebenfalls vernarbt. Und ich sehe Blutergüsse, die viel zu gleichmäßig sind, um von einem Sturz oder Schlägen zu kommen.« Er tippte auf eines der Fotos. »Die Blutergüsse sind bei beiden Armen und Beinen an derselben Stelle, sie ziehen sich außerdem quer über die Brust. Wovon ich also ausgehe, ist eine Art Ganzkörperfixierung. Mit Leder vielleicht. Oder Metall.«

Chris krallte sich an der Sitzfläche seines Stuhls fest. In seinem Kopf rasten die Erinnerungen.

»Dann war da noch ein älterer ringförmiger Bluterguss an deiner Schläfe und ein frischer Nadeleinstich an deinem Hals. Du wurdest gründlich untersucht, aber eine Ursache für deinen Zustand wurde nicht gefunden. Eines war allerdings auffällig: Man konnte förmlich dabei zusehen, wie deine Verletzungen verschwanden. Innerhalb von wenigen Tagen war deine Haut wie neu. Am Koma hat das nichts geändert, es hat zwei weitere Wochen gedauert, bis du aufgewacht bist. Sobald du wieder sprechen konntest, hast du von dem Rauschen in deinem Kopf erzählt. Auch das wurde untersucht, jedoch ohne Ergebnis. Den Ärzten nach bist du kerngesund.«

Schachner knetete die verschränkten Hände, ließ sich einen Moment Zeit.

»Ich für meinen Teil interessiere mich weniger für die medizinischen Wunder als für das, was in den fünf Monaten davor passiert ist und zu deinem Koma geführt hat. Das, was nur du mir erzählen kannst.«

Chris spürte den Blick seines Vaters im Nacken, den er interpretieren konnte, ohne ihn zu sehen: »Sag die Wahrheit, Christopher. Erzähl keine Geschichte.«

»Wirst du bedroht?«, fragte Schachner, als Chris keine Anstalten machte, zu reden.

»Falls du das hier überlebst, sehen wir uns irgendwann wieder.« Der Mann mit der Aschestimme schlich sich in seine Erinnerung und stach ihm eine Nadel in den Hals.

»Ich kann dich beschützen«, sagte Schachner jetzt.

Chris entkam ein verzweifeltes Lachen.

»Denkst du, dass ich das nicht kann?«

Chris schlug die Hände vors Gesicht. Er hielt es hier nicht mehr aus. »Ist mir egal.«

»Christopher«, hauchte sein Vater und es klang ungewohnt entsetzt.

»Dir ist egal, ob du in Sicherheit bist?«, hakte Schachner vorsichtig nach.

»Ich muss zurück.« Chris stieß sich vom Tisch ab und stand auf.

»Wohin zurück?«, fragte Schachner.

Chris versuchte krampfhaft, seine zitternden Hände unter Kontrolle zu bringen. »Ich hätte gern meinen Anzug wieder.«

Schachner musterte ihn. »Der wird gerade untersucht.«

»Wann kann ich ihn wiederhaben?«

»Wenn du mir sagst, wofür du ihn brauchst.« Als Chris nichts erwiderte, fuhr er fort: »Der Anzug ist interessant. Sitzt wie eine zweite Haut, hm? Scheint maßgeschneidert zu sein.« Schachner lehnte sich auf die abgestützten Ellbogen. »Wir haben Brandflecken darauf gefunden, eingetrocknete Schlammreste und Kratzer. Das Gewebe ist erstaunlich robust, wir konnten es im Test kaum beschädigen. Eine ziemlich teure Spezialanfertigung, wie es scheint. So etwas zahlt sich nur aus, wenn man sich etwas vom Träger verspricht.«

Chris spürte Hitze in sich aufsteigen.

»Ich sage dir, warum ich so darauf herumreite.« Schachner nahm eines der Fotos zur Hand. »Die Art der Fesselung, die Einstiche, die Schutzmontur – dahinter steht jemand, der genau weiß, was er tut. Bei so viel Aufwand muss ich annehmen, dass es nicht nur um dich und Jenesis geht. Dass es irgendwo jemanden gibt, dem es möglich ist, völlig unbemerkt Kinder für seine Zwecke zu missbrauchen. Ich muss mich also fragen, wie groß die Sache ist, wie viele Vermisstenfälle noch damit verknüpft sind, vielleicht sogar außerhalb Niederösterreichs.«

Chris fühlte sich fiebrig. Alles in ihm wollte hinausschreien, was passiert war, wollte Beistand, wollte Hilfe. Doch sein Hals war wie zugeschnürt.

Schachner legte das Foto zur Seite. »Ich habe gehört, du suchst nach Jenesis. Oft den ganzen Tag lang.«

Chris zuckte zusammen. Nun sah er doch zu seinem Vater, aber der wich seinem Blick aus.

Schachner beobachtete ihn. »Ich möchte, dass du damit aufhörst. Du bringst dich in Gefahr.«

Ich kann nicht aufhören!, schrie Chris in sich hinein, das Rauschen im Ohr. Ich muss die Anlage finden. Ich muss Jen finden. Ich muss zurück.

»Ich will dasselbe wie du, Christopher. Ich will Jenesis helfen.« Schachner lehnte sich nach vorne, seine nächsten Worte waren ruhig, aber eindringlich. »Wo muss ich suchen? Wohin muss ich meine Leute schicken?«

Zum ersten Mal sah Chris Schachner direkt an. Denn das war eine Frage, die er halbwegs beantworten konnte. »In die Weinberge.«

»Welche Weinberge?«

Chris schlang die Arme um seinen Körper, sein Kopf dröhnte. »Harterberg.«

Schachner griff nach dem Stift, der auf einem zurechtgelegten Block lag, notierte sich den Ort in Großbuchstaben und unterstrich ihn doppelt. »Wonach müssen wir Ausschau halten? Was erwartet uns dort?«

Chris brauchte drei Anläufe, um die nächsten Worte herauszuwürgen: »Ich will nach Hause.«

Schachner dachte sichtlich nach. Dann stand er auf und griff dabei in die Innentasche seiner Lederjacke. Er zog eine Visitenkarte heraus und reichte sie Chris’ Vater, der sie stirnrunzelnd entgegennahm. »Ich weiß, Sie haben unsere psychologische Betreuung abgelehnt, aber ich bitte Sie, gehen Sie mit Ihrem Sohn dahin.« Er öffnete ihnen die Tür, hielt Chris’ Vater aber noch einmal zurück. »Sobald Sie können. Versprechen Sie mir das.«

8

Der Weg durch die Badener Innenstadt glich einem emotionalen Spießrutenlauf. Jeder Fleck war mit Erinnerungen verbunden und sie fielen über ihn her wie Aasgeier.

Chris fuhr all seine Schilde hoch, sah nicht nach links, nicht nach rechts. Obwohl er schon seit Jahren nicht mehr hier gewesen war, kannte er den Weg auswendig. Er hätte ihn mit verbundenen Augen laufen können, wären da nicht all die Menschen, die sich durch die Gassen und Straßen bewegten und ihn zum Ausweichen zwangen.

Die Kraft, die ihm das Abwehren aller Erinnerungen und Eindrücke kostete, fehlte ihm bei der Verdrängung des Rauschens, und als er endlich bei der alten Vorstadtvilla mit ihrem frostbesetzten Vorgarten angekommen war, war es mit seiner Widerstandsfähigkeit vorbei.

Das Rauschen quoll durch die bröckelnden Mauern, rollte auf ihn zu und vergrub ihn unter seiner tosenden Gischt. Schlagartig war die Welt voll mit Daten: Umgebungstemperatur und ihre Schwankungen, Windrichtung und ihre Stärke, Luftdruck, Feuchtigkeit, Sonnenstand, Feinstaubbelastung –

»Nicht erschrecken, ich halte dir jetzt die Ohren zu.« Eine samtig graue Stimme mit dem Geschmack von rauchdurchzogener Winterluft drang durch die Informationsflut, dann wurde es angenehm still. Einzig das Rauschen pflügte noch durch seinen Kopf, alles andere war nicht mehr zu hören.

Das Aussperren der Umgebungsgeräusche legte die nötige Kapazität frei, die ihm schleichend wieder zur Konzentration verhalf. Chris schloss die Augen, fokussierte sich erst auf seine Atmung, dann auf das Rauschen, bis er es wieder in seine Schranken verwiesen hatte. Er hob die Lider und sah hinab.

Die Frau Anfang fünfzig mit dem rotblonden, zu einem lockeren Zopf geflochtenen Haar nahm die Hände von seinen Ohren und lächelte ihn an. Er war eindeutig gewachsen, seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten, denn er überragte sie nun um einen ganzen Kopf.

»Hallo, Chris«, sagte sie, als wäre nichts gewesen.

»Hallo, Coralie«, antwortete er mit belegter Stimme.

Da waren mehr Fältchen um ihre Augen, doch die Sommersprossen auf ihrer hellbeigen Haut leuchteten ihm nach wie vor entgegen, genau wie der aufmerksame Blick aus ihren graublauen Augen.

»Stehst du schon lange hier?«

»Noch keine Minute.«

»Möchtest du reinkommen?«

Sie trug ausgewaschene Bluejeans und einen weiten Strickcardigan, legere Kleidung, die er an ihr nicht kannte. Er musste sie an einem freien Tag erwischt haben.

»Ich weiß nicht, ob ich das schaffe.«

Diese Villa beherbergte so viel konzentrierte Vergangenheit, dass er nach seiner Entgleisung gerade eben keine Ahnung hatte, wie er darauf reagieren würde.

Coralie nickte. Eine Weile sahen sie Seite an Seite in die Ferne und ließen die Zeit verstreichen.

»Ich mache dir einen Vorschlag«, sagte sie schließlich. »Wir gehen direkt in die Küche, trinken einen schönen, heißen Espresso und du wärmst dich erst einmal auf. Wie klingt das?«

Chris horchte in sich hinein. »Gut«, antwortete er leise.

Im selben Moment bemerkte er, dass etwas in ihm fehlte. Jen hatte nicht mehr mit ihm gesprochen, seit er den Schneeberg verlassen hatte – wenn man von der Halluzination in seiner Wohnung mal absah. Er wusste nicht, wie er das zu deuten hatte. Aber er wusste ohnehin nicht, was mit ihm los war, deswegen war er ja hier.

Chris trat hinter seiner ehemaligen Psychiaterin durch die weiß gestrichene Tür ins Innere. Sofort umwehte ihn der vertraute Geruch von gebohnertem Parkett, altem Leder, Zitrusblüten und frisch gemahlenem Kaffee. Eine Mischung, die er mit Geborgenheit assoziierte, doch weil sie untrennbar mit seiner Vergangenheit verknüpft war, kam sie dennoch einem Schlag in die Magengrube gleich. Es fühlte sich an, als wäre er nie weg gewesen.

Sein Blick wanderte nach rechts in das Zimmer, in dem er als Jugendlicher mehr Zeit verbracht hatte als in seinem eigenen Zuhause. Bilder rasten an ihm vorbei, Bilder von verschiedenen Jahreszeiten und Lichteinfällen, und in allen saß er auf dem alten Chesterfield-Sofa und lauschte dem schweren Ticken der Pendeluhr.

»Zucker?«

Chris schreckte auf. »Nein, danke.«

Er folgte Coralie in die Küche, einen Teil der Villa, den er kaum kannte. Wahrscheinlich lotste die Ärztin ihn genau deshalb dorthin. Chris wurde warm ums Herz, die Anspannung ließ ein wenig nach.

»Schön, dich zu sehen.« Coralie lächelte und stellte zwei kleine Tassen unter die Espressomaschine. »Ist lange her.«

»Elf Jahre«, sagte er.

»Elf Jahre«, wiederholte sie nickend. Sie drückte einen Knopf und die Maschine begann zu mahlen. Blumiger Kaffeegeruch strömte in den Raum. »Warst du in der Zwischenzeit mal hier? In Baden, meine ich.«

»Nein. Nie.«

»Wie geht’s dir damit, wieder hier zu sein?«

»Schlecht«, gestand er ohne Umschweife.

Die Ärztin entnahm die vollen Tassen und reichte ihm eine. »Wie kann ich dir helfen?«

»Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass irgendetwas nicht stimmt.«

»Warum glaubst du das?«

Chris sah hinab zu den dunkelgrauen Bodenfliesen und suchte nach Worten.

»Du kannst offen reden«, sagte Coralie. »Du bist hier sicher. Kein Urteil, nur Hilfe.«

Die Pendeluhr im Wohnzimmer schlug zweimal. Chris holte tief Luft und nahm allen Mut zusammen. »Ich habe Jen gesehen.«

Coralies Augen weiteten sich. »Du hast Jenesis gesehen? Sie ist zurück?«

»Nein«, sagte er hastig. »Nicht die echte. Eine Art … Manifestation ihres fünfzehnjährigen Ichs. Eine Halluzination. Ich wollte gestern auf den Berg gehen, aber dann ist alles irgendwie aus dem Ruder gelaufen und am Ende habe ich einen Gig gespielt und …« Er konnte nicht mehr weiterreden, drohte, in den Erinnerungen zu ertrinken.

Coralie deutete zur Eckbank und dem Küchentisch aus massiver Eiche – ein warmer Kontrast zum grauen Boden. »Setz dich doch und trink erst einmal.«

Aufgewühlt nahm er Platz, Coralie setzte sich ihm gegenüber. Sie stellte keine Fragen, sie wartete. Es war kein ungeduldiges, drängendes Warten, es gab ihm Sicherheit und Raum.

Er versuchte seine Gedanken zu sortieren, den Blick im ungesüßten Espresso, doch er fand keine Erklärung für das, was er erlebt hatte. Also sprach er aus, was ihn am meisten beschäftigte.

»Es war, als wäre sie wirklich da. Ich konnte nach ihr greifen. Ich konnte sie halten, sie hören, mit ihr reden. Und das nicht nur in Gedanken, wie ich es sonst immer tue.« In seiner Erinnerung spürte er den Zusammenprall auf dem Gehweg, Jens Arm in seiner Hand, als er sie aufgefangen hatte. »Ich weiß nicht, was das war. Das hatte mit meinen gewöhnlichen Wahrnehmungen nichts zu tun. Und es macht mir Angst, weil …« Nervös drehte er die Tasse auf dem Tisch. »Weil Jen nicht die Einzige war, die ich gesehen habe. Ich habe auch mein fünfzehnjähriges Ich gesehen.«

Coralie legte beide Hände um ihre Tasse. »Gemeinsam mit Jen?«

Er nickte.

»Was ist passiert, als du euch gesehen hast?«

»Jen wollte bloß reden. Aber mein fünfzehnjähriges Ich hat mich am Arm gepackt und mir vorgeworfen, dass ich es nicht sehen wollen würde.« Womit es vollkommen recht gehabt hatte.

Coralie nahm sich einen Moment Zeit. Dann fragte sie: »Ist es dir davor schon einmal passiert, dass du etwas auf so plastische Weise wahrgenommen hast?«

»Ich nehme so manches plastisch wahr, aber das läuft über eine andere Ebene. Das sind abstrakte Gebilde, die durch sehr laute, intensive Geräusche entstehen. Es sind nie Personen, und nichts davon interagiert mit mir.« Chris seufzte. »Und jetzt frage ich mich, ob ich überreagiere. Ob es mich bloß kurzfristig aus der Bahn geworfen hat und der ganze Spuk schon wieder vorbei ist. Immerhin kann ich sie nicht mehr sehen, und es war auch nur eine kurze Szene.« Er fuhr sich übers Gesicht und sah auf. »Es tut mir leid, dass ich dich gestört habe.«

Coralie schüttelte den Kopf. »Du hast mich nicht gestört. Und es war richtig, dass du dir Hilfe gesucht hast.« Sie fädelte einen Finger durch den zarten Henkel der Tasse. »Du hast nach über einem Jahrzehnt wieder einen Gig gespielt, an einem schwer vorbelasteten Tag, den du dir nicht ohne Grund jedes Jahr freihältst. Das kann einiges lostreten. Ich habe es gestern am Telefon gesagt, und ich sage es gern wieder: Du kannst dich in Notfällen jederzeit an mich wenden.«

Chris schossen Tränen in die Augen. Er hatte völlig vergessen, wie es sich anfühlte, nicht so tun zu müssen, als wäre alles in Ordnung. Coralie reichte ihm ein Taschentuch. Er lachte erst, dann schluchzte er, dann nahm er das Taschentuch und vergrub sein Gesicht darin. Etwas von der Anspannung wich aus seinem Nacken, seinen Schultern, seinem Oberkörper. Es tat gut.

Vom Flur aus war das Drehen eines Schlüssels zu hören, dann das Öffnen der Haustür. Eine Stimme in kräftigem Rot mit dem Geschmack von angefachten Streichhölzern rief: »Sind wieder da!« Aufgeregtes Hecheln und das Klacken von Krallen auf Fliesenboden folgten.

Chris steckte das Taschentuch in seine Hosentasche und wandte sich den Geräuschen zu. Ein großer Hund mit glänzend grauem Fell trottete auf ihn zu, beschnüffelte ihn kurz und zog dann weiter zu Coralie, um sich von ihr kraulen zu lassen.

In der offenen Küchentür tauchte Coralies Lebensgefährtin auf. Sie trug eine ausgebeulte Trainingshose, Moonboots und einen schwarzen Parka, den sie gerade ablegte, als sie Chris bemerkte. »Ich traue meinen Augen nicht!« Lynn grinste breit. »Christopher Vallant ist zurück.«

Unter ihre glatten schwarzen Haare hatten sich graue gemischt und im Gegensatz zu damals trug sie sie nun kurz, aber das war auch schon die größte Änderung, die ihm an der Taiwanesin auffiel.

Chris stand auf und umarmte sie. Ihr weicher Parka gab etwas von der gespeicherten Winterkälte auf ihn ab und er genoss es.

»Schön, dich zu sehen«, sagte Lynn und klopfte ihm auf den Rücken. »Habe nur Gutes von dir gehört. Die Branche liebt dich.«