Mason & Dixon - Thomas Pynchon - E-Book

Mason & Dixon E-Book

Thomas Pynchon

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Beschreibung

Die Briten Charles Mason und Jeremiah Dixon, ein Astronom und ein Landvermesser, nehmen uns mit auf eine Grand Tour durch die dunklen Gefilde der Aufklärung im 18. Jahrhundert, von ihrer ersten gemeinsamen Expedition ans Kap der Guten Hoffnung ins vorrevolutionäre Amerika und wieder zurück nach England. Wir begegnen Benjamin Franklin, George Washington, einem chinesischen Feng-Shui-Meister, einem sprechenden Hund und einem Enten-Automaten. «Man liest und liest, stößt auf Stellen, Episoden und Sentenzen, bei denen einem der Mund offen stehen bleibt.» (Die Zeit) «Ein Roman wie eine gewaltige Symphonie aus der Neuen Welt, und ein Sprachkunstwerk von einem ganz Großen der US-Literatur.» (Stern)

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Seitenzahl: 1389

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Thomas Pynchon

Mason & Dixon

Roman

Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl

Informationen zum Buch

Die Briten Charles Mason und Jeremiah Dixon, ein Astronom und ein Landvermesser, nehmen uns mit auf eine Grand Tour durch die dunklen Gefilde der Aufklärung im 18. Jahrhundert, von ihrer ersten gemeinsamen Expedition ans Kap der Guten Hoffnung ins vorrevolutionäre Amerika und wieder zurück nach England. Wir begegnen Benjamin Franklin, George Washington, einem chinesischen Feng-Shui-Meister, einem sprechenden Hund und einem Enten-Automaten.

«Man liest und liest, stößt auf Stellen, Episoden und Sentenzen, bei denen einem der Mund offen stehen bleibt.». (Die Zeit)

«Ein Roman wie eine gewaltige Symphonie aus der Neuen Welt, und ein Sprachkunstwerk von einem ganz Großen der US-Literatur.». (Stern)

Informationen zum Autor

Thomas Pynchon wurde 1937 in Long Island geboren. Sein einziger öffentlicher Auftritt fand 1953 an der Oyster Bay High School in Long Island statt. Er studierte Physik und Englisch an der Cornell University, später schrieb er für Boeing technische Handbücher und verschwand. Seit Erscheinen seines Romans «Die Enden der Parabel» gilt Thomas Pynchon als einer der bedeutendsten englischsprachigen Schriftsteller der Gegenwart.

Weitere Veröffentlichungen:

Die Enden der Parabel

Die Versteigerung von No. 49

Spätzünder

V.

Vineland

Gegen den Tag

Natürliche Mängel

Bleeding Edge

Für Melanie

und für Jackson

EINS 

Längengrade und Aufbrüche

1

Schneebälle haben ihre Bahn gezogen, die Wände von Nebengebäuden ebenso wie Vettern und Basen besternt und Hüte in den frischen Wind vom Delaware geschleudert – nun schafft man die Schlitten unter Dach, trocknet und fettet sorglich ihre Kufen, stellt Schuhe im hinteren Flur ab und fällt strümpfig in die große Küche ein, die von früh an in planvollem Aufruhr, untermalt vom Deckelgeklirr verschiedener Pfannen und Schmortöpfe, duftend von Küchengewürz, geschälten Früchten, Nierenfett, erhitztem Zucker – und nachdem die Kinder, in fortwährender Unrast, zum rhythmischen Geklatsch von Teig und Löffel, alles Erdenkliche erschmeichelt und stiebitzt, begeben sie sich, wie den ganzen verschneiten Advent lang an jedem Nachmittag, in ein behagliches Zimmer im hinteren Teil des Hauses, das schon seit Jahren ihrem unbekümmerten Ansturm überlassen. Hier sind zur Ruhe gekommen: ein langer, narbigter Tisch auf Böcken mit zwei ungleichen Sitzbänken von der Verwandtschaft aus Lancaster County – einige Chippendale-Stücke zweiter Güte, darunter eine Ausführung des berühmten chinesischen Sofas mit einem hohen Himmel aus vielen Ellen purpurroten Tuches, der sich rundum zu einem behaglichen, dämmrigen Zelt zuziehen läßt – ein paar einzelne, vor dem Kriege aus England herübergeschickte Stühle – das meiste Kiefer- und Kirschholz, auch wenig Mahagoni, ausgenommen ein unheimlicher, wundervoller Kartentisch, welcher die im Gewerbe als Wanderndes Herz bekannte, minder wertige Wellenmaserung aufweist und damit eine Illusion von Tiefe erzeugt, in die seit Jahren Kinder hineinstarren wie in die illustrierten Seiten von Büchern … dazu so viele Scharniere, Gleitzapfen, verborgene Schnäpper und Geheimfächer, daß weder die Zwillinge noch ihre Schwester behaupten können, sie seien damit zu Rande. An der Wand, wegen der mit ihm einhergehenden Erinnerungen an eine besser vergess’ne Zeit in diese Stube voller Salon-Affen verbannt und den größten Teil des Zimmers spiegelnd – Teppich und Draperien schon etwas abgewetzt, unter den Möbeln auf Pirsch Whiskers die Katze, mit hellwachen Augen auf alles spitzend, was Fressen verheißt –, hängt ein Spiegel in einem Rahmen mit Inschrift zum Gedenken an die «Mischianza», jenen denkwürdigen Abschiedsball, den die Briten, welche die Stadt besetzt hielten, im Jahre ’77, kurz vor ihrem Rückzug aus Philadelphia, veranstalteten.

In jener Weihnachtszeit des Jahres 1786, da der Krieg entschieden ist und das Land sich zerhadert, schmerzen die Wunden, körperliche wie seelische, große wie kleine, weiter, und nicht aller wird gedacht – noch auch nur allzu oft Erwähnung getan. Auf ganz Philadelphia liegt Schnee, von Fluß zu Fluß, deren fernere Ufer so vollständig hinter Vorhängen von Eisnebel verschwunden sind, daß man die Stadt heute für eine Insel in einem Ozean halten möchte. Teiche und Bäche sind zugefroren, und die Bäume gleißen bis auf den letzten, dünnsten Zweig – Nervenbahnen von konzentriertem Licht. Hämmer und Sägen sind verstummt, Backsteine liegen in schneebedeckten Haufen, Stadt-Spatzen nutzen, ein buntscheckiges Gestiebe, jede sich bietende Deckung – der abendliche Himmel, die Wolken zu Kreidegeschmier zerweht, spannt sich über den Northern Liberties, Spring Garden und Germantown, sein früher Mond so fahl wie die Schneewehen – aus Schornsteinen steigt Rauch auf, Schlittenpartien verfügen sich ins Trockene, in Wirtshäusern herrscht lärmendes Treiben – allerorten fließt frisch gebrühter Kaffee, wird in Hinter- wie Vorderzimmern aufgetragen, während der Madeira, hierzulande seit jeher Treibmittel jedweden Bündnisses, sich heutzutage wie ein uraltes Elixier im siedenden Topf der Politik entfaltet –, denn die Zeiten sind in diesem Advent so unmöglich zu kalkulieren wie die Entfernung zu einem Stern.

Es ist den Zwillingen und ihrer Schwester, und was an Freunden, alten wie jungen, den Weg hierher finden mag, zur nachmittäglichen Gewohnheit geworden, sich zu einer weiteren Geschichte ihres weitgereisten Onkels, des Revd Wicks Cherrycoke, zu versammeln, der im Oktober zur Beisetzung eines alten Freundes hier eintraf – zu spät zum Begräbnis, wie sich herausstellte – und seither als Gast im Hause seiner Schwester Elizabeth weilt, der langjährigen Gattin von Mr.Wade LeSpark, eines geachteten, in Stadtangelegenheiten aktiven Kaufmannes, wiewohl in seiner häuslichen Sphäre noch Despot genug, um dem Revd, ohne daß er dergleichen je ausbedungen hätte, zu verstehen zu geben, er dürfe bleiben, solange er die Kinder bei Laune halten könne – zu viele Bekundungen jugendlichen Mutwillens im falschen Moment indes, und Wuppdich! heißt’s zur Tür hinaus mit ihm, wo des Winters Klotz und Axt wartet.

So haben sie denn die Flucht aus Hottentotten-Land gehört, den Verwünschten Rubin von Mogok, die Schiffbrüche in Ostwie Westindien – ein herodotisches Gespinst von Abenteuern und Merkwürdigkeiten, ausgewählt, so deutet der Revd an, ihres moralischen Nutzens wegen, während er andere, für die Ohren junger Menschen weniger geeignete wegläßt. Die jungen Menschen werden hierzu wie üblich nicht befragt.

Tenebrae hat sich gesetzt und ihre Handarbeit aufgenommen, ein Stück, dessen Größe und Schwierigkeit im Hause bereits Anlaß zu Diskussionen gibt, während die Stickerin selbst sich in Schweigen hüllt – zu diesem Thema jedenfalls. Avisiert per Nasentelegraph, kommen die Zwillinge herein, in Händen die alte, zinnene Kaffeemaschine, die ihre Dampfwölkchen ausstößt, nebst einem großen, saccharomanen Gelüsten gewidmeten Korb, bis zum Rande gefüllt mit frischgebackenen, in Zucker gewendeten Schmalzkringeln, glasierten Kastanien, Korinthenbrot, Pfannkuchen, Plinsen, Pasteten. «Was ist das? Ihr Burschen könnt ja meine Gedanken lesen.»

«Der Kaffee ist für Sie, Onkel –», «– letztes Mal haben Sie im Schlaf geredet», erklären die beiden und placieren das Naschwerk näher bei sich, worauf es jedem im Zimmer selbst überlassen bleibt, nach Belieben zuzugreifen und sich einzugießen. Weil man sich nicht einig war, wer als erster das Licht der Welt erblickt hat, wurden die Zwillinge Pitt und Pliny benamt, so daß ein jeder als «der Ältere» oder «der Jüngere» durchgehen konnte, was jeden Tag aufs neue dem einen gefallen oder seinen Bruder ärgern mag.

«Warum haben wir noch keine Geschichte über Amerika gehört?» Pitt leckt sich Brocken Philadelphia-Puddings von seinem besten Jabot.

«Mit Indianern drin, und Franzmännern», fügt Pliny an, dessen letzte Gebärde Kuchenkrümel überallhin schleudert.

«Und Franzweibern, wenn schon», murmelt Pitt.

«Fromm zu sein, fällt uns beiden nämlich nicht leicht», gibt Pliny zu bedenken.

«Zwanzig Jahre sind es jetzt», erinnert sich der Revd, «daß wir alle zusammen die Allegheny Ridge gewannen und auf das Ohio-Land hinausblickten – so schön, eine Offenbarung, Wiesen bis zum Horizont –, Mason und Dixon und all die McCleans, Darby und Cope, nein, Darby kann ’sechsundsechzig nicht dabeigewesen sein – wie dem auch sei, der alte Mr.Barnes und der junge Tom Hynes, der Spitzbube … weiß nicht, was aus ihnen geworden ist – mancher hat im Kriege gefochten, mancher, komme, was da wolle, den Frieden gewählt, mancher Gewinnst gemacht, mancher alles verloren, mancher ist nach Kentucky und mancher – so mittlerweile auch der arme Mason – zum Staube zurückgekehrt.

«Es waren nicht allzu viele Jahre vor dem Krieg – und was wir dort draußen in jenem Lande taten, war kühn, eine über meine Begriffe gehende Wissenschaft und letzten Endes sinnlos –, da zogen wir eine Linie, acht Ellen breit und immer nach Westen, mitten durch das Herz der Wildnis, um zwei Besitztitel zu trennen, gewährt, als die Welt noch feudal war, und schon acht Jahre später vom Unabhängigkeitskrieg null und nichtig gemacht.»

Und nun ist Mason tot und dahin, und der Revd, der nur in die Stadt gekommen, um seine Ehrerbietung zu erweisen, hat sich über den ersten Kälteeinbruch, die ersten Rückzüge an den Herd, die ersten, in den nächst-besten Schüsseln aufgetragenen Erntemähler hinaus verweilt. Schon vor Wochen wollte er reisen, aber er kann sich nicht lösen. Zu seinen täglichen Devoirs zählt ein Besuch am Grabe Masons, und sei er noch so kurz. Der Küster hat sich angewöhnt, ihm zuzunicken. Unlängst ist er mitten in der Nacht erwacht, überzeugt, er sei es gewesen, der Mason verfolgt – er habe, einer abgeschiedenen, unerlösten Seele gleich, von Mason, der doch selbst erst kürzlich zu Tode gekommen, erwartet, dieser könne ihm irgendwie helfen.

«Nachdem ich Jahre», hebt der Revd an, «mit der Vervollkommnung einer geistlichen Mummerei vergeudet – altgeworden im Dienste einer Personifikation, zu der es nie mehr als einer Handvoll Schauspielerkniffe bedurfte –, und hinaus war über alle Erinnerung an jenes Verlangen nach Gefahr, hinaus über alles, was hätte sein sollen, aber niemals Aussicht hatte zu werden, bin ich an diesen republikanischen Ufern gestrandet – geborsten, mastlos, vom Alter blödsinnig – ein unzuverlässiger Mahner, für den die wenigen Ereignisse, die noch in seinem entzweigegangenen Gedächtnis klappern, den einzigen Trost bieten, der ihm geblieben –»

«Onkel», erheuchelt Tenebrae Überraschung, «– dabei haben Sie noch diesen Morgen so viel jünger ausgesehen – ich hatte ja keine Ahnung.»

«Freundliche Brae. Das stammt natürlich aus meinem geheimen Bericht. Ich weiß nicht, ob ich es in anwesender Gesellschaft ganz so ausdrücken würde.»

«Sondern …?» Tenebrae erwidert auf das Blinzeln ihres Onkels mit dem gewohnten Wimperngetändel.

«Es beginnt mit einer Hinrichtung.»

«Vortrefflich», rufen die Zwillinge.

Der Revd zieht ein in billiges Leder gebundenes, narbigtes altes Notizbuch hervor und beginnt zu lesen. «Wäre ich der erste Kirchenmann der Neuzeit gewesen, den man an Tyburn Tree aufgeknüpft – hätte man mich für tot erachtet, während ich doch in Wirklichkeit nur eine der letzten Schale Ale geschuldete Pause auf den ereignislosen Korridoren jäher Ohnmacht verbracht – hätte ein wilder Haufe Medizinstudenten, was sie für meinen Leichnam hielten, unter die düsteren Gratbögen ihres College entführt – und wäre ich dann zu einer ganz neuen Kenntnis der Bedingungen des Seins ‹wiederauferstanden›, in welcher Unser Erlöser – seltsam auszusprechen in dieser Ära eines Wesley und eines Whitefield –, wiewohl gegenwärtig, nicht so herausragend figuriert hätte wie bei den meisten Sektierern – sei dem, wie ihm wolle –, so hätte ich große Ähnlichkeit mit dem nomadischen Pfarrer, den ihr heute vor euch seht …»

«Mutter sagt, die Familie hat Sie verstoßen», bemerkt Pitt.

«Sie bezahlen Ihnen Geld fürs Davonbleiben», sagt Pliny.

«Euer Großvater Cherrycoke, Ihr Burschen, hat stets sein Versprechen gehalten, mir über gewisse Handelskompagnien, auf den Farthing genau und pünktlich wie der Mond, eine Summe Geldes an jede Adresse in der Welt zu übersenden, eine britische ausgenommen. Britannien ist seine Welt, und er beharrt noch heute darauf, er müsse wegen bestimmter Verbrechen meiner fernen Jugend beschämt vor ihr stehen.»

«Verbrechen!» rufen die Knaben wie aus einem Munde.

«Je nun, schlechte Menschen haben sie dazu erklärt … vor Gott, das ist eine andere Geschichte …»

«Was hat man Ihnen angehängt?» möchte Onkel Ives wissen, «rein berufliches Interesse, selbstverständlich.» Die grüne Advokatenmappe am Schulterriemen, jedoch erst kürzlich von einer Zusammenkunft im Kaffeehaus zurückgekehrt, hat er später am Abend eine etwas förmlichere Version des eben Gehörten zu gewärtigen – und fühlt sich hier mit den Kindern ganz ähnlich wie ein mit der Postkutsche Reisender, den man bei Einbruch der Nacht unter fremdem Volk abgesetzt, damit er auf den Anschlußwagen warte, und der, allein und zu Fuß, die Zeit mit Ertrag, wenn nicht Gewinnst, hinzubringen wünscht.

«Neben einigen geringeren Klagepunkten», erwidert der Revd, «handelte es sich um eine der in jener Zeit unerträglichsten Missetaten, neben der sich die ärgsten Bubenstücke eines Dick Turpin wie jugendlicher Übermut ausnahmen – das Verbrechen, das man ‹Anonymität› betitelte. Will sagen, ich hinterließ öffentlich angeschlagene Mitteilungen, die ich jedoch nicht unterschrieb. Ich kannte im Bezirk ein paar Nachtläufer, deren Druckerpresse ich benutzen durfte – und irgendwie gewöhnte ich mir an, Berichte über gewisse Verbrechen zu drucken, die ich beobachtet, begangen von den Stärkeren an den Schwächeren – Einhegungen, Entsetzungen aus dem Besitze, Urteilssprüche, Aktivitäten des Militärs –, und dabei nannte ich die Namen aller der Übeltäter, deren ich sicher war, verschwieg jedoch, was ich törichter Weise für meinen eigenen hielt, bis ich eines Nachts verraten, in Ketten nach London geschafft und in den Tower geworfen wurde.»

«Den Tower!»

«Ziehen Sie sie nicht gar so auf», bittet ihn Tenebrae.

«Ludgate also? Wie auch immer, ’s war ein Gefängnis. Und erst als ich unter den Ratten und dem Ungeziefer lag, am gefrierenden Rande einer unsichtbaren Zukunft, da begriff ich, daß mein Name niemals mein gewesen –, sondern die ganze Zeit der Obrigkeit gehört hatte, die mir verbot, ihn zu ändern oder für mich zu behalten, als wäre er ein Band um den Hals eines Tieres, das immerzu darauf wartet, an die Leine gelegt zu werden … Einer jener Momente, wie sie Hindus und Chinesen nachgesagt, gänzliches Erlöschen des Ich, vollkommene Einheit mit allem, und dergleichen. Seltsame Lichter, Feuerbrände, unerklärbare Stimmen – fürwahr, Kinder, nun kommt der Teil der Geschichte, worin euer Onkel irre wird – so jedenfalls beliebte es allen, jedem in seinem Interesse, mich zu bezeichnen. Und da Seereisen in jenen Tagen die klassische Behandlung für Irrsinn, sollte mein Exil aus triftigsten medizinischen Gründen beginnen.»

Obzwar es ursprünglich meine Neigung gewesen, mich auf einem Ostindienfahrer einzuschiffen (fährt der Revd fort), da diese Ostroute notorisch eine lebhafte, jugendfrische Welt voller Bord-Liebeshändel, stürmischer Aufeinandertreffen und Duelle zu Lande durchmaß, auf welcher die französische Flotte eine ständige – für manchen romantische – Gefahr darstellte, «Wie Piraten, nur höflicher», wie die Damen mir häufig versicherten –, richteten es jene, die mein Schicksal beherrschten, als sie von meiner Vorliebe Wind bekamen, rasch so ein, daß ich auf eine kleine britische Fregatte verlegt wurde, welche in Kriegszeiten zu einer langen Reise in See stach – die Seahorse, vierundzwanzig Geschütze, Captain Smith. Ich eilte in die Leadenhall Street, um Erkundigungen einzuziehen.

«Soll das ein Einwand sein, was wir da hören?» wurde ich begrüßt. «Wollen Sie sagen, ein Schiff sechster Klasse sei unter Ihrer Würde? Wäre es Ihnen lieber, an Land zu bleiben und in Bedlam Quartier zu nehmen? Es hat viele in Ihrer Lage zum Manne gemacht. So mancher hat sich dort schließlich eines recht bedeutungsvollen Lebens erfreut. Wenn es freilich ein Bedürfnis nach dem Exotischen ist, könnten wir für einen Aufenthalt in einem der französischen Hospitäler sorgen …»

«Wüßte einer in meinem Zustande denn, wie man Einwände erhebt, Mylord? Ich verdanke Euch alles.»

«Der Wahnsinn hat Ihr Gedächtnis also nicht beeinträchtigt. Gut. Meiden Sie schädliche Substanzen, vorzüglich Kaffee, Tabak und indischen Hanf. Wenn Sie letzteres unbedingt nehmen müssen, so inhalieren Sie nicht. Halten Sie Ihr Gedächtnis in Schuß, junger Mann! Gute Reise.»

Also fuhr ich, während dieser fraglos wohlmeinende Rat sich zur Hundewache in die Wellengeräusche neben meinem Schlafplatz mischte, auf einer Zerstörungsmaschine aus, in der Hoffnung, ostwärts möchte noch einiges an Frieden und Gottheit vorhanden sein, was die britische Zivilisation auf ihrem Zuge westwärts zurückgelassen – und so war Bestürzung noch das geringste meiner Gefühle, als plötzlich, statt übernatürlicher Unterweisung von Lamas, so alt wie die Zeit, Jean Crapaud in Sicht kam – ein vierunddreißig Geschütze starkes Unheil, und nur eine Lektion.

2

An Mr.Mason, Gehülfe des Königlichen Astronomen

Zu Greenwich

Werter Herr, –

Da ich die Ehre habe, bei der in Aussicht genommenen Expedition nach Sumatra zur Beobachtung des Durchgangs der Venus zu Ihrem Helfer ernannt worden zu sein, hoffe ich, nicht fehlzugehen, wenn ich mich auf diese Weise vorstelle. Ungeachtet etwaiger Versicherungen in Rücksicht auf meine Eignung, die Sie von Mr.Bird, Mr.Emerson und hoffentlich auch von anderen empfangen haben mögen, wäre es, insofern Sie selbst Adjunkt des Ersten Astronomen des Königreichs sind, seltsam – beileibe nicht verwunderlich, sondern vielmehr überraschend –, wenn Sie nicht den einen oder anderen Zweifel hinsichtlich meiner Befähigung hegten.

So nehme ich zwar bei meiner Arbeit viel häufiger zur Magnetnadel als zu den Sternen Zuflucht, doch was mir an himmlischer Erfahrung fehlt, glaube ich wohl durch Sorgfalt und eine rasche Auffassungsgabe wettmachen zu können – da ich indes auf Ihre Höhe der Kunst fraglos keinen Anspruch machen kann, Sir, würde ich etwelche Vorschläge, die Sie zur Hebung der meinen vorzubringen hätten, ebenso dankbar willkommen heißen, wie umgehend Nutzen daraus ziehen.

Ich bin, hierin wie in allem anderen,

Ihr ergebenster Diener

Jeremiah Dixon. –

Ein paar Monate später, als es nicht mehr nötig ist, sich so zu verstellen, wie sie es anfänglich tun zu müssen glaubten, offenbart Dixon, er habe sich bei Abfassung des Schreibens bewußt des Trunkes enthalten. «Hab es an die zwanzig Mal umgeschrieben und dabei die ganze Zeit von dem Halben geträumt, der mich im Jolly Pitman erwartet. Und natürlich auch von dem Halben danach und so fort … hat sich mit jeder gestrichenen Phrase begehrenswerter ausgenommen, wenn Sie mir folgen können.»

Mason seinerseits bekennt, er hätte den Brief um ein Haar weggeworfen, nachdem er als Ursprungsort die Grafschaft Durham vermerkt und nur wieder einen jener wohlfeilen Ratschläge aus der Provinz darin vermutet habe, die zu lesen und zu beantworten zu seinen Pflichten im Dienste des Königlichen Astronomen zählte. «Doch er klang so aufrichtig, daß ich mich sogleich beschämt fühlte – unwürdig –, daß dieses redliche Bauerngemüt mich für gelehrt hielt. – Ah! Bitt’rer Trug …»

An Mr.Jeremiah Dixon

Bishop Auckland, Grafsch. Durham

Sir, –

Ich habe das Ihrige vom 26ten Ultimi richtig erhalten und bin Ihnen für Ihre freundlichen Worte sehr verbunden. Doch ich fürchte, die Zweifel müßten von Rechts wegen eher auf Ihrer Seite liegen, denn ich habe noch niemals jemanden in irgendeinem Gegenstande unterrichtet, noch dürfte ich mich darin als sonderlich geschickt erweisen. Wie dem auch sei – Wollen Sie bitte nicht zögern, mich ganz nach Ihrem Gefallen zu befragen, und werde ich mich stets bemühen, ehrlich zu antworten – wenn auch wahrscheinlich nicht in toto.

Jeder von uns wird sein eigenes Zwillingsfernrohr von Mr.Dollond, ausgestattet mit seinen neuesten achromatischen Linsen, erhalten, unsere Uhr kommt von Mr.Ellicott und der Zenitsektor natürlich von Ihrem Mr.Bird – für unser Unternehmen nur das Beste, möchte ich meinen!

In dem Wunsche, daß Ihre Reise in den Süden bei aller Unerforschlichkeit Seiner Wege sicher vonstatten gehen möge, erwarte ich Ihre Ankunft in einer Gemütsstimmung, welche Ihr durchgehends guter Name von allen Dämonen der Besorgnis glücklich befreit hat – eine höchst willkommene Ausnahme im allgemein beschwerlichen Leben

Ihres ergebensten Dieners

Charles Mason

3

Ich war nicht dabei, als sie zusammentrafen – jedenfalls nicht im herkömmlichen Verstande. Ich hörte später von ihnen, wie sie sich ihres Zusammentreffens erinnerten. Was ich mir von ihren Worten ins Gedächtnis zurückrufen konnte, versuchte ich, in einer Art spirituellem Tagebuch, das ich damals erwog, festzuhalten – allein es wurde nur allzu oft von des Tages Mühsal verkürzt.

(«Im Schlaf geschrieben haben Sie auch!» rufen die Zwillinge.)

Ach Kinder, sogar geträumt habe ich in jenen Tagen – freilich erst lange, nachdem die Tagesstrecke bewältigt war.

Wie dem auch sei – kaum sind sie einander im Schankraum von Mason’s Inn zu Portsmouth begegnet, da spielt Mason angesichts von Dixons offenkundiger Verblüffung ob dieser Stadt auch schon den alten Londoner Praktikus.

«Wie! Einer spuckt mir auf die Schuhe …? Ein anderer stößt reihenweis Leute in die Gosse, nicht wenige davon gefährlich anzuschauen …? Wie können sie nur Tag für Tag so eng beieinander hausen, ohne daß sie die Mordlust ankommt?»

«Ach, wenn man will, kann man auf Schritt und Tritt Insulten finden – von unverschämten Blicken bis zum tätlichen Angriff eine einzige Orgie von Insulten –, doch wie soll man’s anstellen, einen Beleidiger nach dem anderen zu fordern oder unter ihnen auszuwählen, und nach welchem Kodex? Also begreift man’s bald als eine unter vielen Bestimmungen des Kontrakts zwischen der Stadt und einem selbst – eine Funktion schlichter Beengtheit, welche verbürgt, daß niemals genug Zeit bleibt, eine so unmäßige Vielfalt zugefügter Kränkungen zuzugeben, geschweige denn übelzunehmen.»

«Ganz recht – daheim in Bishop möchte es wohl die halbe Nacht dauern, bis man einen Vorwand findet, jemanden ins Gesicht zu schlagen, während London doch geradehin das Paradies der Händelsüchtigen ist …?»

«Dann würden Sie gewiß die Wapping High Street zu ästimieren wissen – und, und Tyburn, natürlich! Setzen Sie das unbedingt auf Ihre Liste.»

«Verlockend dort, wie?»

Mason erklärt, wenn auch ohne genauen Grund dafür anzugeben, es sei ihm seit etwas über einem Jahr feste Übung, den Freitags-Hinrichtungen an jenem düst’ren Ort beizuwohnen, wo er alsbald Henker und ihre Gehilfen, für die er in ihrem Lokal, dem Bridport Dagger, die Zeche auf sich genommen, beredet und so eine gewisse grausige Vertrautheit mit ihrer Kunst gewonnen habe. Mason ist zu Zeiten in Tumulten umhergestoßen und mitgerissen worden, worin Seeleute versuchten, Rotten von Medizinstudenten die Leichen von Schiffskameraden zu entreißen, welche an Land, zu weit weg von der Sicherheit des Meeres, Malheur gehabt – und seine Börse wie seine Person waren das Ziel von Angriffen staatlicher und privater Agenten – dennoch, «Es hat nicht seinesgleichen, es ist reinstes London», ruft er. «Sie müssen mich dorthin begleiten, sobald sich Gelegenheit findet.»

Dixon nimmt es für den Scherz, der es fraglos sein muß, und lacht: «Ha, ha, ha! Ausgezeichnet, wirklich.»

Die Handteller nach oben gekehrt, zuckt Mason die Achseln. «Ich spaße nicht. Und was schlimmer ist, ich bin vollständig nüchtern. Ist einer zum ersten Male in der Stadt, darf er sich keinenfalls eine Hinrichtung entgehen lassen. Traun, Sir – Was wird man Sie nach Ihrer Rückkehr in die Grafschaft Durham als erstes fragen? Wie? ‹Hevt ju in Taahburn ook welk bummeln seh’n?›»

Sind es die allzu vielen, allein auf jenem berühmten Hügel zu Greenwich verbrachten Nächte? Kann es sein, daß dieser Mann, ob er gleich in einer der großen Städte der Christenheit wohnt, sich unter Menschen nicht zu benehmen weiß? – Dixon beschließt, nur leichten Verdruß merken zu lassen. «Nein, als erstes wird man fragen, ‹Hevt ju denn de Lüüt overhaupt verstahn, so wie de doar snakt …?›»

«Ach, verwünscht, ich wollte Sie doch nicht –»

Und so sieht sich Dixon zum zweiten Male in zwei Minuten ohne die Motrix echter Heiterkeit lachen – diesmal ein Mr.Mason sanft zurechtweisendes Lachen, nachsichtig und von der Seite, das Lachen eines gedungenen Stichwortgebers. Doch da er es für seine Pflicht hält, ihnen beiden die Befangenheit zu benehmen, beginnt er: «Nun gut! Fahren einmal ein Jesuit, ein Korse und ein Chines’ zusammen in einer großen Kutsche nach Bath … und der vierte Reisende ist eine sehr stattliche Engländerin, die sie fortwährend mit entrüsteten Blicken mißt … endlich kann der Korse, als der Hitzköpfigste von den dreien, nicht länger an sich halten und platzt heraus – und hier werden Sie mir hoffentlich meinen korsischen Akzent nachsehen –, der Korse also sagt, ‹’eh! Verehrteste! Was ’aben Sie denn so zu äugeln?› Und sie sagt –»

Mason ist unmerklich von ihm fortgerückt. «Sind Sie von Sinnen?» flüstert er. «Man starrt schon her. Seeleute starren her.»

«Ei wie?» Dixons Nase erzittert rötlich. «Sie kennen ihn also schon. Vergebung», und er sucht Masons Arm zu ergreifen, eine Geste, der sich jener mit einem Zurückschrecken entzieht, dem so wenig Überlegung eignet wie einem Niesen. In Schweiß ausgebrochen, weicht Dixon zurück. «Ich freilich mußte wochenlang studieren, um ihn zu ergründen, doch wie ich sehe, haben Sie einen flinken Verstand in Ihrem Kürbis sitzen, und es freut mich, mit einem solchen arbeiten zu dürfen …» Dies mit resolutem Strahlen und sorgfältiger Artikulation der Anredeform, als ob er sie einer anderen Sprache entlehnte.

Die beiden starren einander an, jeder mit einem durchaus irrigen Eindruck – und in einiger Ungewißheit darüber, welches Machtverhältnis sich wohl zwischen ihnen einstellen wird. Dixon ist ein paar Zoll größer, eher geneigt als turmhoch ragend, angetan mit einem roten Rock von militärischem Schnitt mit Brokat und Silberknöpfen und dazu passendem roten Dreispitz, an dem eine bunte North-Road-Kokarde prangt. Er wird der erste sein, der den gewöhnlichen Blick auf sich zieht, so daß Fremde das Paar inskünftig oft als Dixon und Mason im Gedächtnis bewahren. Doch die Uniform ist weder mit seinem Quäkerstand noch mit seiner gegenwärtigen Haltung im Einklang – einer schief geratenen Schlotterigkeit, wie man sie leider nur zu oft bei Habitués der Schankstube beobachtet.

Was Dixon anlangt, so scheint er von Mason enttäuscht – das jedenfalls die Befürchtung des stets zum Argwohn neigenden Astronomen. «Was ist denn? Was sehen Sie mich so an? Es ist meine Perücke, nicht wahr?»

«Sie tragen doch gar keine Perücke …?»

«Ei freilich! Sie haben es bemerkt – Sie beobachten mich schon seit geraumer Weile mit seltsamem und doch, so muß ich folgern, angelegentlichem Blick.»

«Weiß nicht … vielleicht daß ich jemanden erwartet habe, der ein klein wenig … sonderbarer ist …?»

Mason, scheeläugig: «Ich bin Ihnen nicht sonderbar genug?»

«Je nun, es ist doch gewiß eine besondere Stellung im Leben? Wie viele Königliche Astronomen gibt es denn? Und wie viele Gehülfen von Königlichen Astronomen kann es demzufolge geben? Es braucht doch von vornherein einen seltsamen Kauz, um die ganze Nacht aufzubleiben und Sterne anzugucken …? Feldmesser andererseits wimmeln so viele umher wie Wanzen, wenngleich sie doppelt so billig kommen, und Arbeit gibt’s jedenfalls in Durham derzeit genug für alle, Einhegungen überall in der Grafschaft und North Yorkshire – ei! Zäune, Hecken, Grenzgräben in der gewöhnlichen und in der versenkten Manier, und alle wollen sie abgesteckt sein … Ich hätte können zu Hause bleiben und ein schönes Auskommen haben …»

«Es war wohl die Rede von einer Ausbildung in der Feldmeßkunst», so Mason mit einiger Verwunderung, «aber, aber das verbirgt sich dahinter? Hecken? Versenkte Gräben?»

«Je nun, in Durham hat die Konjunktur in versenkten Gräben ein wenig abgenommen, nachdem Lord Lambton in den seinen hineingefallen, ihn verwünscht und mit Kohlen-Abraum hat auffüllen lassen. Sie dachten doch nicht gar, ich wäre auch ein Linsengucker? Gott bewahre – zwar beigebracht hat man mir das Ganze schon, die Himmelsmechanik, sämtliche bedeutenden Köpfe, Laplace und Kepler, Aristarch und diesen anderen, wie heißt er noch – aber das ist ja alles nur Trigonometrie, nicht wahr …?»

«Aber Sie haben –» wie soll er es taktvoll ausdrücken? – «Sie haben doch gewiß schon einmal … ähm … durch ein … ähm …»

Dixon schenkt ihm ein ermutigendes Lächeln. «Aber ja doch – mein alter Lehrer, Mr.Emerson, hat ein treffliches Teleskop, so heißt es wohl, wenn auch von Faßdauben umkleidet, und ich habe so manchen Abend die Phasen der Venus bewundert, sie und auch die Monde des Jupiter, die Berge und Krater unseres eigenen Mondes – haben Sie übrigens die jüngste Verfinsterung gesehen …? Hübsch – ja … Mr.Bird hat mich ebenfalls an seinen Instrumenten Teil haben lassen – er war sogar so freundlich, mir in den verwichenen vierzehn Tagen dabei zu helfen, meine Fähigkeiten im Beobachten und Berechnen zu üben – wenngleich so unbarmherzig, daß ich mich tagelang in einigem Zweifel befand, ob wir als Freunde geschieden sind …»

Mason, der einen linkischen Bauerntölpel gewärtigt hat, verharrt angesichts des hier präsentierten, adretten Dixon in liebenswürdiger Verwirrung – jener seinerseits hat bei allem Gerede von Sonderbarkeit nur wieder mit einem übermäßig geputzten Londoner Emporkömmling gerechnet und ergötzt sich an Masons fast unsichtbarer, ganz in braun und grau daherkommender äußerer Erscheinung.

Mason nickt düster. «Ich muß Ihnen wie ein Esel scheinen.»

«Wenn’s weiter nichts ist, das kann ich ertragen. Solange es nur nicht an Geistigkeit mangelt.»

«Noch an Wein.»

«Wein.»

Nun ist es an Dixon, scheel zu blicken. Mason fragt sich, was er diesmal getan hat. «‹Korn und Wein geh’n niemals zu zwei’n, wie mein Großonkel George mir mehrmals zu bemerken pflegte – ‹Schnaps und Wein, das laß hübsch sein.› Von den beiden so bezeichneten Sorten von Trinkern, als Traubenleute und Kornleute, wollen Sie mich nun von Ihrer Zugehörigkeit zur Bruderschaft der, äh, Traube unterrichten …? Und daß Sie selten, wenn überhaupt, Ale oder Geistiges anrühren, habe ich recht?»

«Und das trifft sich gut, denn bei begrenztem Vorrat gibt’s für jeden von uns mehr und wir kommen uns gegenseitig nicht ins Gehege, nicht wahr?»

«Ach, ich trinke auch Wein, wenn es sein muß – womit wir beim Thema wären –»

«– und da wir uns in Portsmouth befinden, dürfte es nicht allzu ferne eine Räumlichkeit geben, worin jeder von uns sich beratschlagen kann, welches Gewächs ihm zusagt.»

Dixon blickt hinaus in das schwindende Winterlicht. «Und zu frühe ist es wohl auch nicht …?»

«Wir fahren nach Indien – Der Himmel weiß, was an Bord oder dort in der Fremde zu Gebote steht. Mag sein, es ist unsere letzte Gelegenheit zum civilisierten Trinken.»

«In diesem Falle ist es, je eher wir aufbrechen, desto besser …»

Während der Tag verlischt und die ersten, zuweilen auch in Fensterscheiben gespiegelten Flammen erscheinen, werden die Geräusche von Ställen und Gassen lauter, und Schornsteinrauch durchzieht die Weihnachtsluft. Das Zimmer legt sein Abendgewand aus unstetem Bernsteinlicht und verwickelten Schattenfalten an. Mason und Dixon werden ein drängend erwartungsfrohes Murmeln gewahr.

Mit einem Mal haben sich in der Finsternis zugleich ein Dutzend Spiegellampen entzündet, und in ihr Gleißen strolcht ein etwas zerzauster Norfolk-Terrier mit einem liederlichen Schimmer im Auge – während von einer anderen, weniger beleuchteten Stelle her eine lebhafte, auf Horn, Klarinette und Cello angestimmte Ouvertüre ertönt, zu deren Takt der Hund in seinem hellen Umkreis sich hin und her bewegt.

Könnt’ mich fragen, was genehm,

Bin der Gelahrte Hund, gar wohl-

bewandert allerseits, von Flöh’n

Bis zur royalen Monoga-mie,

Persische Prinzen, polnische Blintzen,

Chinesische Geoman-tie –

Beduinen, Flugmaschinen,

Ganz nach Eu’rer Phanta-sie.

Kann so viel Klassisches zitier’n,

Daß Euch die Ohren kling-en,

Den Sinus versus logarithmier’n

Tät’ mir wohl auch geling-en.

– Von Geistlichem nur schweigt, ich bitt’,

Das könnt’ um mein Amt mich bring-en,

Als Gelahrter Hund heut na-a-acht!

Es kommen die üblichen Nachfragen. Kann der Hund «Wo die Bien’, saug ich mich ein»? Weiß er, wann der Hase über die meisten Löcher läuft? Ist er verheiratet? Dixon vermerkt, wie sein künftiger Co-Adjutor in eine Art magnetischen Stupor, so der Begriff, den ein Mesmerianer wählen würde, verfallen scheint. Mehr als einmal sieht es so aus, als wäre Mason drauf und dran, aufzuspringen und etwas hervorzusprudeln, was er bis auf weiteres besser für sich behält. Endlich nimmt ihn der Hund zur Kenntnis, obgleich Mason mittlerweile zu erregt ist, um einigermaßen zusammenhängend zu reden. Nachdem das Tier ihn eine volle Minute hat plappern lassen, seufzt es tief. «Auf demnächst, im Hinterhof.»

«Es dürfte nur einen Moment dauern», sagt Mason zu Dixon. «Ich komme allein zurecht, wenn Sie lieber etwas anderes täten …»

Ohne Appetit auf das vor ihm abkühlende, gewaltige Hammelkotelette, schlägt Mason es nun gedankenschwer ein und verstaut es in seinem Rock. Im Aufblicken bemerkt er, wie Dixon mit fröhlich gefülltem Munde so nachsichtig strahlt, daß ihm davon unbehaglich wird.

«Aber nein – doch nicht für mich – dachten Sie etwa, ich nähme es für mich mit? – Es ist vielmehr für den Gelahrten Hund – wie etwa, ich weiß nicht, ein Bouquet, das man einer bewunderten Schauspielerin schickt, so kann auch ein schönes Kotelette niemals ganz verkehrt sein.»

Dixon, einen Takt zu spät: «Aber ja doch, die Welt ist groß, nicht wahr …? Die Gewohnheiten variieren, und der eine darf sich nicht unterfangen, über den anderen –»

«Was … wollen Sie damit sagen?»

Dixon, die Augen rund wie Pistolen, schwenkt unbefangen sein Bratenstück. «Nichts für ungut, Sir.» Er verdreht genau in dem Augenblick die Augen, da Mason den Blick von ihm ab- und nicht rasch genug wieder hinwendet, um sie auch nur am Rande zu betreffen.

«Dixon. Warum mag es denn nicht auch für uns, in unserer Zeit, Orakel geben? Pforten in die Zukunft? Das kann doch nicht alles mit den antiken Völkern vergangen sein. Verlohnt es nicht, sich lächerlich zu machen, zum wenigsten um diesen Hund zu erforschen, und sei es nur seiner offenkundigen Bedeutung für die Metempsychose wegen –»

Es ist noch etwas anderes im Gange – etwas, womit Mason noch hinterm Berge hält. Vielleicht hat er einen nahe stehenden Menschen verloren? Und das unlängst, so daß es noch etwas ausmacht – denn er hat eine Art, unbedacht die Zeit zu verläppern, wie Dixon es von sich selbst in Erinnerung hat, nachdem sein Vater heimgegangen … «Ich komme mit, wenn es recht ist …»

«Wenn’s Ihnen beleibt, wie der Ausgehungerte zu sagen pflegt.»

Durch eine Hintertür betreten sie den Hof der Gastwirtschaft. Ein kahler Baum wölbt sich im Schummer einer einzigen Laterne, aufgehängt über einer dichten Traube von Kartenspielern, deren heimlicher Atem für jeden sichtbar, der sich an seiner Deutung versuchen mag, während dann und wann Perücken, weiß wie der Schnee auf dem Dachschiefer, aus den Schatten hervornicken.

Auf den Gassen trotten Seeleute mit halboffenen Mündern vorüber. Seeleute mit Schlapphüten, bezopfte Seeleute, die an Pfeifen paffen und Kartoffeln essen, manche, die aufs Schiff zurückkehren, und manche, die an Land bleiben werden, von alten Teerjacken, die zu viele Explosionen erlebt, bis hin zu Kinder-Kadetten, die ihre erste noch vor sich haben – sie alle gehen ein und aus bei Ale-Verkäufern, Marineschneidern, Zuckerbäckern, Spielhöhlen, Parvenü-Kirchen, schreien, singen Rundgesänge, pfeifen, als ob der Wind ihnen nie einen Besuch abgestattet, und erbrechen sich, wie sie’s auf See nie haben tun müssen.

«Vielleicht ist seine Garderobe ja ganz in der Nähe», meint Dixon, «– bei den Pferden, möglicherweise …»

«Kein Mensch würde einen sprechenden Hund mit Pferden zusammengeben, es machte sie in kurzem toll.»

«Das gibt es wohl häufiger, da wo Sie herkommen.»

«Gentlemen», dies im Flüsterton aus einer dunklen Ecke, «wenn Sie Ihre Stimmen etwas dämpfen wollen, bin ich im Handumdrehen bei Ihnen.» Langsam, mit hängender Zunge, tritt in den ungewissen Schimmer ihrer Laterne der Hund, der gähnend innehält, nickt, «Einen guten Abend wünsch ich», und sie im Trab aus den Stallungen, vom Hof und die Straße entlangführt, wobei er dann und wann innehält, um mit der Nase Erkundigungen einzuziehen.

«Wohin gehen wir?» fragt Mason.

«Hier scheint es ganz in Ordnung zu sein.» Der Gelahrte Hund bleibt stehen und pißt.

«Dieser Hund», singt Mason sotto voce, «verursacht mir Be-klem-mun-gen – und Wundertiere dürften das doch eigentlich nicht, denken Sie nur an … Fliegende Pferde? Kein einziges hat mir jemals –»

«Oder die Sphinx …?» fügt Dixon an.

«Sie nehmen mir die Worte aus dem Munde.»

«Heda, meine Herren!» Ein plötzlich aufgetauchter, korpulenter Neptunssohn, den Rücken gedeckt von einer ungewissen Anzahl vergleichbar trunkener Schiffskameraden. «Interessieren Sie sich für den Hund hier?»

«Wollt’ mich nur kurz mit ihm unterreden», versichert Mason ihnen rasch.

«He! Sie beide kenn’ ich doch – Sie sind die mit all den sonderbaren Apparaten, die auf der Seahorse mitfahren. Tja – Sie haben Glück, denn wir hier sind allesamt von der Seahorse, ich bin Fender-Bauch Bodine, Quartiermeister der Back, und das hier sind meine Kameraden.» Gejohle. «Aber Sie können mich Fender nennen. Alsdann – wir haben die Absicht, uns dieses Tier zu schnappen, und Sie, meine Herren, sollen es dann, vom Schiffsprofoß unvermerkt, bei Ihrer schwer bewachten Ladung in Gewahrsam halten, bis wir eine geeignete Insel erreichen –»

«Insel …» «Schnappen …» Beide Landmesser leicht verwirrt.

«Ich war mehr als einmal in Indien – es gibt dort Tausende von Inseln, eine geeigneter als die andere, und ich sage Ihnen, mit einer Handvoll Matrosen, die nicht auf den Kopf gefallen sind, und diesem sprechenden Hund, um die Wilden bei Laune zu halten, wären wir die reinsten Könige.»

«Lang leben die Könige!» rufen mehrere Seeleute.

«Jawohl, und die schwarzen Tanzmenscher!»

«– und das Kokosnuß-Ale!»

«Gemach», mahnt Mason. «Ich habe gehört, man ißt dort Hunde.»

«Wickelt sie in Palmblätter», so Dixon ernst, «und bäckt sie am Strand …»

«Kaum wendet ihr das erste Mal den Rücken», warnt Mason, «wird dieser Hund zum Gabelfrühstück irgendeines Wilden.»

«Rrrrrraahff! Um Vergebung», sagt der Gelahrte H., «da es hier offenbar um mich geht, sehe ich mich doch genötigt, eine Bemerkung anzubringen.»

«Nur ruhig, Fiffi» – Bodine deutet Streichelbewegungen an – «vertrau uns, so ist’s ein braves Hundchen …»

Eine kleine, geräuschvolle Gruppe von Stutzern, Elégants oder Lunariern – was genau, ist schwer zu auszumachen –, hat sich die Straße entlang bis auf Hörweite herangedrängelt. In mehreren Fensterscheiben erscheint sich bewegendes Kerzenlicht. Stallknechte wälzen sich verstimmt auf Futtersackkissen und -betten. Unbeschäftigte Fackelträger schauen herein, ob sie Licht in die Sache bringen können.

Der Hund stupst Mason mit dem Kopf ans Bein. «Wir finden vielleicht keine Gelegenheit mehr zum Plaudern, nicht einmal zwischen Tür und Angel.»

«Es gibt da etwas, was ich unbedingt wissen muß», flüstert Mason heiser, im Ton eines von Zweifeln gequälten Liebenden, «– hast du eine Seele, das heißt, bist du ein in einem Hunde wiedergeborenes, menschliches Wesen?»

Der G. H. zwinkert, schaudert, nickt resigniert. «Sie sind schwerlich der erste, der danach fragt. Reisende, die von den Japanischen Inseln zurückgekehrt, berichten von bestimmten, unter dem Namen Koan bekannten, religiösen Rätseln, deren vielleicht berühmtestes gerade Ihre Frage betrifft – ob nämlich ein Hund die Beschaffenheit des göttlichen Buddha besitzt. Eine Antwort, die ein gewisser, höchst erleuchteter Meister darauf gegeben, lautet: ‹Mu!›»

«‹Mu›», wiederholt Mason gedankenvoll.

«Der Suchende muß über das Koan meditieren, bis er in einen Zustand heiligen Wahnsinns getrieben wird – und vorzüglich Ihnen würde ich das auch empfehlen. Doch bitte wenden Sie sich nicht an den Gelahrten Hund, wenn Ihnen an religiösem Trost gelegen ist. Ich mag zwar unnatürlich sein, doch übernatürlich bin ich nicht. Wir leben schließlich im Zeitalter der Vernunft, rrrf? Da ist stets eine Erklärung zur Hand, und so etwas wie Sprechende Hunde gibt es nicht – Sprechende Hunde fallen in die Rubrik der Drachen und Einhörner. Was es indes gibt, sind Vorkehrungen zum Überleben in einer weniger phantastischen Welt.

Item: Einst hielt der Mensch Hunde nur aus einem Grund, nämlich um sie zu essen. Als der Hund feststellte, daß unter den Menschen kein Verbrechen für abscheulicher galt, als das Fleisch eines Mitmenschen zu essen, lernte er rasch, sich so menschlich wie möglich zu geben – und diese Fähigkeit von Eltern auf Welpen zu vererben. Somit verstehen wir uns darauf, einmal am Tage bei euch, den Menschen, zum wenigsten genügend Mitleid für einen weiteren Lebenstag hervorzurufen. Doch bei aller darin erreichten Vollendung kommt unser Leben nie in ruhige Bahnen – wir bleiben schweifwedelnde Scheherazaden, die, stets nur einen Schritt vom gefürchteten Palmblatt entfernt, nächtens die Klingen unserer Herren in Schach halten, indem wir ihnen Geschichten von ihrer Menschlichkeit erzählen. Ich bin nur ein extremer Ausdruck dieses Vorgangs –»

«Ach was, Hund in Palmblatt, Unsinn», meint einer der Lunarier, «was nicht gar, also wirklich, Hund? In Palmblatt? Civilisierte Menschen haben Besseres zu tun, als umherzulaufen und nach Hund in Palmblatt oder sonst was zu geifern, nicht wahr, Algernon?»

«Wäre es Ihnen wohl möglich», fragt der Hund mit verärgert emporgerecktem Kopf, «nicht unentwegt diese Worte zu sagen? Ich sage ja auch nicht Dinge wie ‹Stutzer-Fricassée› oder ‹Elégant nach französischer Art› –»

«Wie, du garstiges, kleines –»

«Grrrr! Und daß Sie absichtlich den Begriff ‹geifern› gebraucht haben, Sir, ist niederträchtig.»

Der Lunarier greift nach seinem Seitengewehr. «Vielleicht können wir die Angelegenheit gleich an Ort und Stelle regeln, Sir.»

«Derek? Du sprichst mit einem H-U-N-D!»

«Ob Ihre Waffe mir gleich einen gewissen Nachteil verschafft», gibt der Hund zu bedenken, «sollte ich ehrlicherweise meine seit kurzem aufgetretene Abneigung gegen Wasser erwähnen. Die, wie Sie wissen, den Beginn einer Hydrophobie anzeigen kann. Und sollte ich an Ihrer Klinge vorbei zu ein paar spielerischen Knippen kommen und dabei, nun ja, ihre Haut ritzen können –, tja, dann dürften Sie sich bald das nämliche Leiden zugezogen haben, wie?» Sogleich bildet sich um den Hund herum ein menschenleerer Kreis von etwa einem Faden Durchmesser, dessen sich beide Astronomen später als von äußerst regelmäßiger Gestalt erinnern. «Braves Hundchen!» – «Hier – mein letzter Zuckerkuchen, den mir meine Mutter von Bath geschickt hat. Kannst ihn haben.» – «Was meint ihr? Zwei zu eins, daß wir zuerst das Blut des Stutzers sehen.»

«Hört sich fair an», sagt Fender Bodine. «Ich setze auf den Hund – sonst noch jemand?»

«Sollten wir nicht die Besitzer rufen?» schlägt Mr.Dixon vor.

Der Hund hat angefangen, hin und her zu gehen. «Ich bin ein britischer Hund, Sir. Mich besitzt niemand.»

«Wer sind dann der Herr und die Dame, die mit dir im Gesellschaftszimmer waren?» will Mason wissen.

«Sie meinen die Fabelhaften Jellows? Da kommen sie schon.»

«Dich vor Seeleuten beschützen?» heult Mrs.Jellow, die in strammem Laufschritt auf den tückischen Pflastersteinen herannaht, «O nein, vielen Dank, das steht nicht in unserem Vertrag.» An seinen Hosen zerrend, folgt mit schief sitzender Perücke in schläfrigem Schlenderschritt ihr Mann. «Jetzt entschuldigst du dich für das, was du getan hast, und dann gehst du in den Stall zurück, in dein schönes Strohbettchen.»

«Wir haben uns gefragt, Ma’am», dies Bodine mit gelüftetem Hut und englischem Tremolo, «ob das Hündchen wohl zum Verkauf steht?»

«Um keinen Preis, Topgast, und nun schert euch weg, und nehmt euren Pöbelhaufen gleich mit.» Ob ihrer Stimme sieht man eine Anzahl Seeleute, in deren Beweglichkeit ihre Rettung vor den Gefahren des Trinkens liegt, erstarren.

«Widersprecht ihr nicht», rät Jellow, «denn sie ist ein Linienschiff mit hundert Geschützen, und ihre Breitseite bedeutet Vernichtung.»

«Danke, Jellow – mal wieder verspätet, wie ich sehe.»

«Ach Gott», Bodine setzt seinen Hut wieder auf und seufzt. «Ich bitte um Entschuldigung, meine Herrschaften, und viel Glück mit Ihrem Hund.»

«Sie sind die Besitzer dieses Wundertiers?» fragt Mason.

«Wir bevorzugen den Begriff ‹Aussteller›», sagt Mr.Jellow.

«Das möcht’ ich ihnen auch geraten haben», brummelt der Hund wie zu sich selbst.

«Sieh an, da ist ja Die Perle von Sumatra!» ruft Dixon, den es schon seit geraumer Weile immer verzweifelter nach etwas zu trinken verlangt, «und es scheint sich um einen angenehmen Ort zu handeln.»

«Fender-Bauch zahlt!» brüllt irgendein mutwilliger Matrose, für immer unerkannt im heftigen Ansturm auf den Eingang dieser fünft- oder sechstnotorischsten Seemannskaschemme auf dem Point, in dessen Klima allgemeiner Lasterhaftigkeit selbst Die Perle ganz ähnlich hervorsticht wie eine ihrer schimmernden Namensgeberinnen aus dem verfallenden Fleische einer aus der Südsee gefischten Auster.

«Wie wär’s mit einem Schluck in dein Brotdepot, Fiffi?»

«Bitte, nennen Sie mich Packan … doch, ja, dann und wann mag ich ein Tröpfchen Schüttelzwinger recht gern …»

Im Innern quirlen Seeleute aller Ränge und Kategorien langsam durch einen Nebel aus Pfeifenrauch und Ruß von billigen Kerzen, dazu in gegenläufigem Wirbel ein erlesenes Sortiment von Portsmouth-Pollys in gestreiften und geblümten Kleidern, deren kühne Rot-, Orange- und Purpurtöne in diesem Licht herabgedämpft werden, erdrückt, ölig und abgetragen wirken, und allem mischt sich Schwarz bei, so daß jegliche Farbe zur Nacht tendiert. Nach einer Weile bemerken beide Herrn, daß die Bewegung der Gesellschaft im großen und ganzen von den Straßentüren weg zum hinteren Teil des Etablissements geht, wo auf einem mit dem Blut und den Exkrementen von Generationen von männlichem Federvieh gedüngten Stück Rasen, unter einem hellen, umgekehrten Kegel von Laternenlicht, der ein großes, unaufhörlich waberndes Rauchknäuel und einen über die Grenzen der Hahnenkampfetikette hinaus fröhlichen, in einem Korb über dem Kampfplatz aufgehängten Delinquenten blau färbt, eine Walisische Partie im Gange ist. Dahinter ist eine Galerie von Spieltischen auszumachen, und noch weiter hinten ein baufälliges Labyrinth von Zimmern, die zum Schlafen oder zur Ausschweifung dienen und allesamt wie Landzungen im Nebel verschwinden.

Von dem Blutgeruch in der Hahnenkampfarena angezogen, versucht der Gelahrte H., sich nonchalant zu geben, aber was kann man von ihm erwarten? Wie soll er die schiere Heftigkeit dieser Blutliebe ignorieren? Gähnen, aber ja, gewiß doch, alles schon erlebt, Vögel, die einander tothacken, sechzehn treten an, einer bleibt am Leben, ei freilich mm-hmm, und dazwischen amüsiert man sich prächtig, während der Stoff, den wir nicht zur Kenntnis nehmen sollen, überallhin tropft und spritzt …

«Na na, Gelahrter!» ruft Mrs.Jellow barsch, «wir müssen die Tiere ihrer Arbeit überlassen.» Unter dem baumelnden Spaßvogel ist das allgemeine Tempo im Raum weiterhin von einträglicher Hektik. Aus dem Labyrinth hinten dringen allerlei Laute größerer oder minderer Ekstase, dazu ein Klatschen auf Fleisch, mehr und minder geheucheltes Lachen, Möbel-Gepolter, irgendein Duett von Viole und chinesischer Flöte, das verrückte Gekräh von Kampfhähnen, die warten, bis die Reihe an ihnen ist, vielstimmige Schreie ob einer unhörbar aufgedeckten Karte oder eines hohen und niedrigen Wurfs der falschen Würfel, Rufe nach Bier und Dreischäftern, die sich immerzu hoffnungsvoll wie Arietten in der schattigen Wildnis der Zimmer erheben, weit hinten, wo die Lampen weniger werden und die Bewegungen um mindestens einen Grad von Entschiedenheit schwerer … Schließlich bleibt der Hund stehen, nachdem er sie zu einer Stelle geführt hat, wo, halb im Freien hausend, eingerahmt von verlaschten, vor langer Zeit von einem Schiffbruch angespülten Balken, zwischen sich und dem Himmel mit seiner mannigfaltigen Drohung ein altes, von einem zerfressenen, gespaltenen, ehrwürdigen Jungfernblock gehaltenes Stück Sonnensegel, die Finstere Hepsie, die Pythia des Point, sitzt.

«Hier», der Hund stößt Mason an, «an sie müssen Sie sich wenden.»

Sogleich kommt Mason (wie er Dixon Monate später gestehen wird) zu dem Schluß, dies alles habe mit Rebekah, seiner Frau zu tun, die kommenden Februar vor zwei Jahren gestorben ist. Außerstande, sie zu verlassen, ist Mason gleichwohl darauf bedacht, auf ein Schiff mit ausgefallenem Bestimmungsort zu kommen – denn lange Seereisen gelten in seinem Zustand, den man ihm als Hyperthrenie, das heißt «übermäßige Trauer», beschrieben hat, für hilfreich. Irgendwie hat der Gelahrte Hund ihn zu der Annahme vermocht, es gäbe Prozeduren des sicheren Geleits in das Reich der Toten –, er werde dank dieses hund-entdeckten alten Weibes endlich hinübergehen, sie finden und besuchen, und mit wiedererwecktem Glauben zurückkehren dürfen. Ein größerer Sprung ist von einem melancholischen Herzen schwerlich zu erwarten. Zugleich wittert er, daß der Gelahrte H. – oder Packan, wie er mittlerweile offenbar genannt zu werden wünscht – ein ganz persönliches Ziel damit verfolgt, daß er sie beide miteinander bekannt macht.

«Angelo hat gesagt, es sei ein Paket für mich da?»

«Was Sie nicht sagen! Bin ich vielleicht die Abendpost?» Die beiden stöbern im Schatten herum. «Paß auf, ich sehe ihn später, und dann frage ich ihn ganz bestimmt –»

«Genau das haben Sie beim letzten Mal auch gesagt.» Der Hund schüttelt tadelnd den Kopf.

«Nun gut, hier – ein Opfer, direkt aus meiner eigenen dürftigen Messe, ein Stück geschmortes Huhn – mehr vermag ich heute nicht für dich.»

«Stille, Mütterchen – behalten Sie Ihren schäbigen Rest. So tief ist der Gelahrte denn doch noch nicht gesunken.» Mit ausdrucksvollem Herumwerfen des Kopfes und nicht mehr als einem Schweifwedeln pro Schritt tritt der Hund würdevoll ab.

«Ihr Schiff wird an einem Freitag in See stechen», begrüßt Hepsie Mason und Dixon, «– klingt das einem der Herren wie eine Bootsmannspfeife im Ohr?»

«Nun ja, die Kohlenschiffer glauben, daß es Unglück bringt …», erwidert Dixon, als stünde er wieder zu Woolwich vor seinen Examinatoren, «denn es handelt sich um den Tag von Christi Hinrichtung.»

«Brav, Sir. Somit mißachtet Ihr Captain Smith Christus, das Schicksal, St. Peter und den Gott Neptun – und im übrigen gibt es, bei Lloyd’s angefangen, im ganzen Königreich keinen Versicherer, der mit Ihrer Sache zu schaffen haben will, es sei denn für eine Summe, die Sie als Astronomen unmöglich aufbringen können.»

«Aber was für weitere Ausgaben», gibt Dixon zu bedenken, «sollten im Falle unseres Todes denn entstehen, da doch die Royal Navy für die Kosten einer Seebestattung aufkommt?»

«Sie haben keine Familie, Sir.»

«Unglaublich! Sie müssen die reinste Kristallseherin sein …» Unter ihren zahlreichen Schichten wohlinszenierter Abgelebtheit hat Dixon bereits eine unerhört junge, sich schwer ins Zeug legende Frau erspäht –, mit der zu schäkern er, Bauernlümmel, der er ist, nicht umhin kann.

Doch Mason wird nun bange. «Wir sind also in Gefahr? Was haben Sie gehört?»

Stumm reicht sie ihm ein fleckiges Blatt, auf dem Beschreibungen diverser Dienstleistungen und die dafür erhobenen Honorare gedruckt sind. «Was denn? Flüche machen Sie nicht?»

«Meine Versicherung? Unerschwinglich», keckert sie, wie die Jungen sich das Gekecker der Alten vorstellen. «Was Sie suchen, steht, glaube ich, unter ‹Nachrichten, Schiffahrt›.»

«Eine halbe Krone?»

«Wenn Sie darauf bestehen.»

«Ähm … Dixon?»

«Was? Sie wollen, daß ich die Hälfte davon übernehme?»

«Wir können … so etwas … wohl schwerlich der Society in Rechnung stellen, wie?»

«Schämen Sie sich meiner, Sir?» Hepsie um Jahrzehnte zu schnippisch.

«Schon gut.» Mason wühlt sich mühsam in seine Börse, sortiert Münzen aus und murmelt Beträge.

Dixon sieht beifällig zu. «Sie geben Geld aus, als stammten Sie aus Northumbrien. Er meint’s nicht bös, Mädchen …» Strahlend stupst er Mason angelegentlich mit dem großen Zeh an, während im Dunkeln allerlei Finsterlinge umherstreifen und Boote mit umwickelten Riemen darauf warten, sie gegen ihren Willen zu einem Leben überzusetzen, von dem sie vielleicht nicht zurückkehren. Dann und wann weht der Geruch der großen Reede – Rauch, Pech, Salz und Verwesung – herüber.

«Geben Sie mir Gehör, meine Herren» – die Münzen sind lautlos verschwunden. «Seit verwichenem Jahr, dem Jahr der Wunder, als Hawke in der Bucht von Quiberon Conflans auf das Leeufer trieb, fehlt es den Überresten der Flotte von Brest verständlicherweise an Elan oder Esprit, oder wie man das Ding dort nennt – ausgenommen, dann und wann, unter den Kapitänen kleinerer Fregatten, Menschen, die ebenso rastlos darauf bedacht, sich in persönlicher Taktik zu versuchen, wie dazu geneigt, über die nationale Strategie die Nase zu rümpfen. Mortmain, Le Chisel, St.-Foux – tolle Hunde allesamt –, ein jeder von ihnen, und andere, jederzeit imstande, von Brest aus in See zu stechen, gleichgültig gegen Gefahren, wie nur je tête-à-tête mit dem Ende der Welt und stets auf der Suche nach neuen Zielen eines unerschöpflichen Grolls.»

«O Gott.» Mason faßt sich an den Kopf. «Und gesetzt … wir gehen an einem anderen Tag unter Segel?»

«Mason, ich bitte Sie – wir leben im Zeitalter der Vernunft», mahnt Dixon ihn, «wir sind Männer der Wissenschaft. Uns muß ein jeglicher Tag wie der andere sein, mit derselben Anzahl identischer Sekunden, und ein jeder schreitet, unwiederbringlich, nur in eine Richtung fort … Wenn schon Omen, so wollen wir uns daran erinnern, daß das astronomische Symbol für den Freitag zugleich das des Planeten Venus höchstpersönlich ist – gewiß ein durchaus gutes Omen, nicht wahr?»

«Ich sage Ihnen» – die junge Hochstaplerin hebt fröhlich den Finger – «französische Fregatten sind, wo sie sind, und scheren sich nicht um den Wochentag – zumal St.-Foux mit La Changhaienne. Sie wissen von der Ecole de Piraterie zu Toulon? Ausgezeichnet. Er ist dort unlängst auf den Kidd’schen Katheder berufen worden.»

Mason und Dixon würden sich gern noch verweilen, der eine, um zu zagen, der andere, um zu schäkern, doch wie sie nun bemerken, hat sich hinter ihnen eine beträchtliche Schlange gebildet. Da sind

Untreue Liebchen, Spieler in Not,

Matrosen, denen nie ein Adieu wer bot,

Lärmende Stutzer und Schiffszimmerleut’, alles

will Rat von der sibyllinischen Maid, drum

Geh’n wir zu Hepsie, zu Hepsie heut’ nacht,

Vielleicht daß heut’ nacht unser Glück uns lacht,

Vielleicht daß sie kichert, vielleicht daß sie schreit,

Doch die zwei Shilling sechs ha’m noch keinen gereut.

Ramillies-Matrosenhat vor Bold Head sie gewarnt,

Auf Korsika Paolis Revolte geahnt,

Von Lotterie-Losen bis ans End’ der Geschicht’

Nie läßt sie den armen Matrosen im Stich, drum

Gehn wir zu Hepsie, &c.

«Schön, mit euch Geschäfte zu machen, Jungs, ich hoffe, wir sehen uns wieder», dies mit liebenswürdigem Nicken zu Dixon hin.

Bei der Hahnenkampfarena kommt ihnen neugierig Fender-Bauch Bodine vor den Bug geschlingert. «Und, was hat sie gesagt?»

Etwas von verrückten Fregattenkapitänen mit Heimathafen Brest, an weiteres kann sich mittlerweile keiner von beiden mehr erinnern.

«Genau, was sie meiner Mauve erzählt hat, und das gratis. Gut. Wir bekommen also ein Gefecht. Und wenn es sich um Le Chisel handelt, bekommen wir obendrein eine Spiegeljagd. Damals, auf H. M. S. Inconvenience, haben wir so manchen Tag und manche Nacht damit vergeudet, zuzusehen, wie diese reichverzierte Gillung mit jeder Minute kleiner wurde. Und wenn er sich weit genug freigesegelt hatte, gefiel es ihm, die Laterne in seiner Kajüte zu löschen, als wollte er sagen: ‹Tuh finieh, Zeit, sich zu frappeh in la Falle.› Wenn der Skipper dieses Licht ausgehen sah, knurrte er jedesmal das gleiche – ‹Die Nacht soll dich verschlingen, Le Chisel, und daß du genauso schnell aus meinem Leben verschwindest› –, und dann machten wir die Segel lose, gingen über Stag, und die eigentliche Arbeit begann – einmal mehr unbefriedigt, kreuzten wir luvwärts von dannen.» Vormarsgast Bodine hält inne, um die zunächst kommenden Rundungen einer jungen Polly zu drücken, die von irgendeinem Opiumtraum in der Nachbarschaft hereingeflattert ist. Wie Hepsie, so ist auch Mauve alles andere als das, was sie zu sein vorgibt. Die meisten Männer lassen sich dazu verleiten, eine schwermütige Verstoßene in ihr zu sehen, wo sie in Wirklichkeit der fröhlichste kleine Butterstriezel ist und nur dank der fortwährenden Anstrengung, welche die Gesellschaft von Seeleuten ihr abfordert, von der Matronenhaftigkeit verschont blieb. Sie und Hepsie teilen sogar ein Quartier in Portsea, und desgleichen eine Garderobe, die selbst hier auf dem Point wegen ihrer unbedachten Verwendung bedruckter Stoffe Beachtung findet.

«Eine wunderbare alte Frau, die gute Hepsie», sagt Mauve. «Auf ihren Rat hin sind Vermögen gewonnen wie durch seine Nichtachtung verspielt worden. Mahnt sie einen zur Vorsicht, so hat sie die Aussichten berechnet und für schlecht befunden … Sie ist Lloyd’s von Portsmouth. Glauben Sie ihr.»

Später, im Morgengrauen, als er dringend eines weiteren Wortes mit Hepsie oder dem Hund bedarf, kann Mason keine Spur von ihnen finden, so gründlich er auch sucht. Und niemand gibt zu, überhaupt von ihnen, geschweige denn von ihrem Aufenthalt, zu wissen. Er wird weitersuchen und das Ufer auch dann noch mit Blicken überfliegen, als die Seahorse am Freitag, den 9. Januar 1761 endlich unter Segel geht.

4

Hatte es sich als irgend hilfreich erwiesen, daß der Revd, dem Rat des Epiktet folgend, bemüht war, sich jeden Tag Tod, Exil und Verlust vorzuhalten, weil er das für eine Bedingung seines spirituellen Kontrakts mit der gegebenen Welt hielt? Was, so fragte er sich nun, als das französische Segel aufblinkte – da vorn wie achtern, unterm Soprangekreisch der Pulverjungen, dem Gerucht von verkohltem Holz, dem Eisenhauch der Mündungen, der nie ganz unsichtbare Tod heranschwirrte, da es keinerlei sich’ren Ort mehr gab und als Zuflucht nur die wenig hilfreiche See blieb –, was hatten die täglichen Andachtsübungen letzten Endes je genützt, und was nützten sie im kompakten Schlachthaus der Seahorse?

Den Kindern gegenüber bemerkt er laut: «Überstanden haben wir es natürlich nur dank unserer Gebete.»

«Ich hätte auch gebetet», murmelt Vetter Ethelmer zu Tenebraes gelindem Erstaunen. Seit er, vom College in den Jerseys zurückgekehrt, vor zwei Tagen während einer schwierigen Musterfüllung im doppelten Steppstich in der Tür erschien, ist er ansonsten ganz Verwegenheit.

«Keine Lunte ergriffen? Nicht schreiend die Decks auf und ab gelaufen und dabei Geschütze gezündet? Aber Vetter.» Die Zwillinge sehen einander ins Gesicht und heucheln Verblüffung.

Ethelmer lächelt und deutet mit dem Daumen liebenswürdig auf den Reverend, und etwas unsicherer auch auf Mr.LeSpark, seinen Onkel, als wollte er sagen: «Wir sind umgeben von Gottesfürchtigen und ihrem wohlbekannten Wunsch, niemals etwas zu hören, was das Blut in Wallung bringt.»

Tenebrae wendet den Blick, behält ihren Vetter jedoch im Augenwinkel, wie um zu erwidern: «Blut kann so still ‹in Wallung› sein, wie es muß, mein Kleiner …»

Mr.LeSpark hat sein Vermögen Jahre vor dem Kriege gemacht, indem er Franzosen und Briten, Siedlern und Indianern gleichermaßen Waffen verkaufte – Messer, Tomahawks, Gewehre, Handmörser im alten holländischen Stil, Granaten, kleine Bomben. «Beunruhigen Sie sich nicht», versicherte er seinen Kunden gern, «über den Durchmesser.» Wenn es Kontobücher gibt, in denen Tote und Verwundete die Tauscheinheiten sind, dann, so scheint es Ethelmer, ist sein Onkel schwer im Rückstand. Ethelmer hat Geschichten von früheren Verbrechen gehört, kann seinen Gastgeber indes schwerlich mit Vorwürfen bestürmen. Jeder «weiß Bescheid» – das heißt, sofern man Onkel Wade als eine Sammlung von Familiengeschichten betrachtet, jeder erinnert sich. Einige Abenteuer sind zu einer Saga verschmolzen, welche mit dem lebenden Onkel nur schwer in Einklang zu bringen ist, dem Onkel, der ihm aus unerforschlichen Launen heraus Bankwechsel schickt, die den Neffen jedesmal überrumpeln, dem Onkel, der die Pferderennen in Maryland frequentiert, einmal sogar den großen Selim mit Äpfeln gefüttert und dieser Tage auch nichts dagegen hat, wenn Ethelmer mit ihm zusammen die Ställe besucht. Auf dem letzten Herbst-Meeting hatten lebhaft gekleidete junge Frauen, eleganter, als er’s für möglich gehalten hätte, gewunken und gelächelt und waren sogar, keck wie Stadtkatzen, herübergekommen, um Ethelmer ins Gespräch zu ziehen. Trotz seiner Jugend war er schlau genug, zu wittern, daß sie es auf seine Schlichtheit abgesehen hatten, wozu auch eine Vorstellung von seiner Unschuld zählte, welche freilich, ihnen verborgen, längst und auch vergnüglich dahingegangen.

«Er will was?»

Mason nickt mit säuerlichem Lächeln.

«Von unserem Spesengeld? Läßt uns das denn genug für Kerzen und Seife, was meinen Sie?»

«Das weiß keiner so recht, denn Captain Smith ist nicht persönlich vor dem Rat erschienen – vielmehr kam sein Bruder und hat den Brief des Captain verlesen.»

«Hundert Pfund – auf den Kopf …?»

«Hundert Guineen.»

«Aha … das läßt darauf schließen, daß sie von jemandem ein Gegenangebot erwarten … Und wer wäre das wohl, da wir’s nicht sind?»

«Es läuft auf die Royal Society oder die Royal Navy hinaus.» Nach dem, was Mason gehört hat, quirlte der Rat wie kopfloses Hausgeflügel durcheinander und wiederholte in einem fort in empörtem Ton: «Anteiliger Beitrag!» – «An-teiliger? Bei-trag?»

«Damit bleibt es diesem, diesem Kapitän anheimgestellt, es nach eigenem Gutdünken zu verausgaben, wie er das nennt.»

«Schöner Kapitän! – nur einen Schritt vom Kaperfahrer entfernt, bei G--t.» Gekränkte Stimmen durchhallen das große Treppenhaus, Silber klingelt auf Silber – Zuckerhüte und ein Sortiment von Biskuits, französischer Cognac in Kaffee – Stockgefuchtel und Perückenpuderstäubchen, die zu Tausenden im Kerzenlicht tanzen.

«Das wirft natürlich sofort einen bestimmten Verdacht auf – den dieser Kapitän selbstredend nicht verdient, und dennoch –»

«… nicht so ohne weiteres von einer kleinen Erpressung zu unterscheiden.»

«Genau die Art von Verhalten, die es laut Lord Ansons ständiger Rede auszurotten gilt …»

«… und was dergleichen Bemerkungen mehr sind», berichtet Mason. «Am Ende waren sie bloß imstande, ein aus zwei Mitgliedern bestehendes Komitee zu berufen, um bei Lord Anson höchstpersönlich vorzusprechen, der sich die Zeit nahm, sie davon zu unterrichten, daß der Kapitän eines Kriegsschiffes der Royal Navy selbst für seine Verproviantierung aufzukommen hat.»

«Nein, wirklich», sagte Mr.Mead, «das wußte ich nicht, Mylord – sind Sie denn da auch ganz – um Vergebung – natürlich sind Sie sicher – gleichwohl –»

«Er will damit sagen», mühte sich Mr.White, «daß wir eigentlich die ganze Zeit glaubten, daß die Navy –»

«Leider, meine Herren, nur eines von vielen Opfern, welche für dieses seltsame Amt, das wir ‹Commando› nennen, gebracht werden müssen», erwiderte der Erste Lord. «Es wird indessen weitgehend darauf ankommen, wieviel Ihr Kapitän zu trinken beabsichtigt und unter wieviel lebendem Inventar er behaglich leben zu können glaubt – es ginge schwerlich an, in Ziegenscheiße auszugleiten, während man versucht, zehn oder zwölf Geschütze in der gehörigen Reihenfolge feuern zu lassen, und so weiter. Andererseits können wir nicht dulden, daß unsere Kapitäne sich das Benehmen von Straßenlumpen aneignen, und ein solches Ansinnen gegenüber Gästen, mhm, erscheint doch ein wenig sonderbar. Wir werden Captain Smith durch Stephens oder sonst wen eine Note zukommen lassen, was meinen Sie – worin selbstverständlich zart auf meinen drohend erhobenen Donnerkeil verwiesen wird.»

«O Gott», dies Capt. Smith auf dem Achterdeck, im spärlich bemessenen Wintersonnenlicht, mit dem in der Brise flatternden Brief – dazu von London her, aus einem hochgetürmten Wolkenkonvoi, ein beständiges Grollen wie von Allerhöchstem Mißvergnügen, «dabei wußte ich es. Und ob ich es wußte. Ach – mißverstanden!»

Von jeglichem Erpressungsversuch weit entfernt, hatte der Captain vielmehr die Erwartung gehegt – die Vorstellung eines in Arglist ungeschulten Herzens –, man werde, da die Reise lang, selbstredend Tag für Tag in seinem Quartier gemeinsamen Tisch halten, Madeira trinken, Rundgesänge zum besten geben und witzige Einfälle und Theorien über die Sterne austauschen – wie anders? –, hatte er doch selbst eine solche philosophische Neigung und hungerte derart nach Gesprächen, daß es ihm gar nicht in den Sinn kam, es könnten auch andere Anordnungen möglich sein …