Natürliche Mängel - Thomas Pynchon - E-Book

Natürliche Mängel E-Book

Thomas Pynchon

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Beschreibung

Philip Marlowe in Schlaghosen. Kalifornien 1970: Der junge Hippie-Detektiv Doc Sportello erhält den Auftrag, beim Bodyguard eines Immobilienhais Schulden einzutreiben. Als Doc aus einem neongrellen Marihuana-Rausch erwacht, kreist allerdings das Gesicht von Lieutenant Bigfoot Bjornsen über ihm. Die Leiche des Bodyguards neben ihm sieht aus wie ein frisch geschlachteter Truthahn. Der Immobilienhai ist entführt, und Bigfoot, der Leuten gern seine Stacheldrahtsammlung zeigt, mag keine Hippies … Pynchon, der «Shakespeare der Popkultur» (Welt) schreibt über Verbrecher und Surfer, Manson und Nixon, über das Ende des Summer of Love und die Geburt des Internets. «Das zugänglichste Werk des größten amerikanischen Autors der Gegenwart, die perfekte Einstiegsdroge.» (Stern) «Einer der besten Pynchon-Romane.» (NZZ)

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Seitenzahl: 620

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Thomas Pynchon

Natürliche Mängel

Roman

Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl

Unter dem Pflaster liegt der Strand! 

Graffito, Paris, Mai 1968

1

SiekamdieGasseentlangund die Hintertreppe herauf, wie sie es immer getan hatte. Doc hatte sie über ein Jahr lang nicht gesehen. Und auch sonst keiner. Damals hatte sie immer Sandalen, ein blumengemustertes Bikinihöschen und ein ausgebleichtes «Country Joe & the Fish»-T-Shirt angehabt. Heute Abend war sie von Kopf bis Fuß in Flachlandklamotten gekleidet und trug das Haar erheblich kürzer, als er es in Erinnerung hatte, dabei hatte sie geschworen, dass sie nie so aussehen würde.

«Bist du das, Shasta?»

«Er glaubt, er hat Halluzinationen.»

«Liegt wohl einfach an der neuen Verpackung.»

Es war nie sonderlich sinnvoll erschienen, Vorhänge am Küchenfenster aufzuhängen, und so standen sie im hereinfallenden Straßenlicht und lauschten dem Donnern der Brandung, das vom Fuß des Hügels heraufdrang. In manchen Nächten, wenn der Wind günstig stand, konnte man die Brandung in der ganzen Stadt hören.

«Ich brauch deine Hilfe, Doc.»

«Du weißt, dass ich jetzt ein Büro habe? So was wie einen geregelten Job?»

«Ich hab im Telefonbuch nachgeschlagen, wär fast hingegangen. Aber dann hab ich gedacht, besser für alle Beteiligten, wenn das Ganze nach heimlichem Rendezvous aussieht.»

Okay, also keine Romantik heute Nacht. Mist. Aber vielleicht lief es ja auf einen bezahlten Gig hinaus. «Hat jemand ein Auge auf dich?»

«War gerade eine Stunde lang auf Landstraßen unterwegs, damit es einigermaßen echt wirkt.»

«Lust auf ein Bier?» Er ging zum Kühlschrank, zog zwei Dosen aus dem Karton, den er darin aufbewahrte, und reichte Shasta eine.

«Es gibt da so einen Typen», sagte sie.

Wie nicht anders zu erwarten, aber warum sich darüber aufregen? Einen Nickel für jedes Mal, dass er einen Klienten so hatte anfangen hören, und er könnte jetzt in Hawaii sein, sich den ganzen Tag zudröhnen und in Waimea die Wellen begucken oder noch besser, jemanden dafür bezahlen, dass er sie für ihn beguckte … «Ein Herr mit bürgerlichem Hintergrund», strahlte er.

«Okay, Doc. Er ist verheiratet.»

«Es geht … irgendwie um Geld.»

Sie warf nicht vorhandenes Haar zurück und hob die Augenbrauen, was so viel wie Na und? hieß.

Kein Problem für Doc. «Und seine Frau – die weiß über dich Bescheid?»

Shasta nickte. «Aber sie hat auch jemanden. Nur geht’s da nicht um das Übliche – die beiden ziehen zusammen ein fieses kleines Ding durch.»

«Um sich sein Vermögen unter den Nagel zu reißen, ja, ich glaube, von so was hab ich in L.A. schon ein-, zweimal gehört. Und … was genau soll ich tun?» Er fand die Papiertüte, in der er sein Abendessen nach Hause gebracht hatte, und tat so, als kritzelte er Notizen darauf, denn ob es nun an der bürgerlichen Kluft, dem Make-up, das nicht nach Make-up aussehen sollte, oder an sonst was lag, er kriegte den alten, wohlbekannten Ständer, für den Shasta früher oder später immer gut war. Hört das denn nie auf, fragte er sich. Natürlich tut es das. Und tat es auch jetzt.

Sie gingen ins Wohnzimmer, Doc legte sich aufs Sofa, Shasta dagegen bewegte sich ziellos durchs Zimmer.

«Die Sache ist die, sie wollen, dass ich mitmache», sagte sie. «Sie glauben, ich bin diejenige, die am ehesten an ihn rankommt, soweit man überhaupt an ihn rankommen kann.»

«Das heißt, wenn er schläft mit nacktem Arsch.»

«Ich wusste, dass du’s kapieren würdest.»

«Versuchst du immer noch auseinanderzuklamüsern, ob es falsch oder richtig ist, Shasta?»

«Nein, schlimmer.» Sie durchbohrte ihn mit jenem Blick, an den er sich so gut erinnerte. Wenn er sich denn erinnerte. «Wie viel Loyalität ich ihm schulde.»

«Ich hoffe, das fragst du nicht mich. Mal abgesehen von dem üblichen Schmus, den man jemandem schuldet, mit dem man regelmäßig vögelt –»

«Danke, Dear Abby hat so ungefähr das Gleiche gesagt.»

«Super. Dann lassen wir die Gefühle mal beiseite und befassen uns mit dem Geld. Wie viel von deiner Miete hat er übernommen?»

«Alles.» Eine Sekunde lang erhaschte er das alte schmaläugig trotzige Grinsen.

«Ziemlich happig?»

«Für Hancock Park schon.»

Doc pfiff Can’t Buy Me Love und ignorierte ihren Gesichtsausdruck. «Du stellst ihm natürlich für alles Schuldscheine aus.»

«Du Arsch, wenn ich gewusst hätte, dass du immer noch so sauer bist –»

«Ich? Ich versuche nur, professionell vorzugehen, mehr nicht. Wie viel haben die Gute und ihr Macker dir denn als Anteil angeboten?»

Shasta nannte eine Summe. Doc hatte auf dem Pasadena Freeway frisierte Rolls-Royce’ voll aufgebrachter Heroindealer abgehängt, einzig darauf bedacht, mit über hundertsechzig im Nebel unbeschadet durch all die simpel konstruierten Kurven zu kommen, er war östlich des L.A. River mit nichts als einem geliehenen Afrokamm als Waffe in der Tasche in irgendwelche finsteren Gassen hineinspaziert, er war bei Gericht ein und aus gegangen, während er ein kleines Vermögen in Form von vietnamesischem Gras besessen hatte, und er war mittlerweile eigentlich überzeugt, dass die ganze Ära des Leichtsinns hinter ihm lag, doch nun wurde er wieder schwer nervös. «Es …» Ganz behutsam jetzt. «Es geht also nicht um ein paar unanständige Polaroids. Oder ein bisschen untergeschobenes Dope im Handschuhfach oder so was in der Art …»

Damals war sie manchmal wochenlang mit nichts Komplizierterem als einem Schmollmund ausgekommen. Jetzt bedachte sie ihn mit einem kräftigen Gemisch von Gesichtszutaten, aus denen er überhaupt nicht schlau wurde. Vielleicht hatte sie sich das auf der Schauspielschule angeeignet. «Es ist anders, als du denkst, Doc.»

«Keine Sorge, das Denken kommt später. Was noch?»

«Ich bin mir nicht sicher, aber es hört sich so an, als wollten sie ihn in irgendeine Klapsmühle abschieben.»

«Auf legalem Weg, meinst du? Oder so was wie eine Entführung?»

«Mir sagt keiner was, Doc, ich bin bloß der Köder.» Wenn man’s recht bedachte, hatte ihre Stimme auch gar nicht so bekümmert geklungen. «Ich hab gehört, du hast downtown eine Freundin?»

Freundin. Na ja: «Ach, du meinst Penny? Nette Flachlandbraut, im Grunde einfach nur auf der Suche nach heimlichen Hippie-Liebeswonnen –»

«Und außerdem so was wie Staatsanwältin in Evelle Youngers Laden?»

Doc dachte kurz darüber nach. «Du meinst, jemand dort kann die Sache noch stoppen, bevor sie über die Bühne geht?»

«Gibt nicht allzu viele Stellen, an die ich mich damit wenden kann, Doc.»

«Okay, ich rede mal mit Penny, mal sehen, was dabei rauskommt. Dein glückliches Paar – haben die auch Namen und Adresse?»

Als er den Namen ihres älteren Knaben hörte, fragte er: «Ist das derselbe Mickey Wolfmann, der immer in der Zeitung steht? Der Immobilienheini?»

«Du darfst niemandem davon erzählen, Doc.»

«Bin taub und stumm, das gehört zum Job. Irgendwelche Telefonnummern, die du mir mitteilen möchtest?»

Sie zuckte die Achseln, verzog das Gesicht, nannte ihm eine Nummer. «Versuch, sie nie zu benutzen.»

«Super, und wie erreiche ich dich?»

«Gar nicht. Ich bin aus meiner alten Wohnung ausgezogen und versuche unterzukommen, wo es gerade geht, frag lieber nicht.»

Er hätte beinahe «Hier ist Platz genug» gesagt, was gar nicht stimmte, aber er hatte gesehen, wie sie alles, was sich nicht verändert hatte – das echte englische Pub-Dartboard oben auf dem Wagenrad, die Bordellhängelampe mit der dunkelroten psychedelischen Birne mit dem vibrierenden Glühfaden, die Sammlung von ausschließlich aus Coors-Dosen gefertigten Modell-Hot-Rods, den von Wilt Chamberlain mit Leuchtfilzstift signierten Strandvolleyball, das Samtbild und so weiter –, mit einem Ausdruck gemustert hatte, den man nur als angeekelt bezeichnen konnte.

Er begleitete sie den Hügel hinunter bis zu der Stelle, wo ihr Wagen stand. Hier draußen waren die Nächte unter der Woche nicht viel anders als am Wochenende, deshalb lärmte dieser Teil der Stadt bereits von Vergnügungssüchtigen, Trinkern und Surfern, die in den Gassen johlten, Usern auf Nahrungsbeschaffung, Flachlandtypen, die es auf Stewardessen abgesehen hatten, und Flachlandladys mit ziemlich erdgebundenen Jobs, die hofften, als Stewardessen durchzugehen. Hügelaufwärts und unsichtbar gab der vom Freeway kommende und zum Freeway strömende Verkehr auf dem Boulevard melodische Auspuffphrasen von sich, die aufs Meer hinaushallten, wo die Besatzungen dahingleitender Öltanker, wenn sie sie hörten, an eine Tierwelt hätten denken können, die an einer exotischen Küste ihrem nächtlichen Treiben nachging.

Im letzten Tümpel von Dunkelheit vor dem Gleißen des Beachfront Drive blieben sie stehen, in dieser Gegend ein zeitloses Fußgängerverhalten, das normalerweise einen Kuss oder wenigstens ein Hinterngrapschen ankündigte. Aber sie sagte: «Nicht weiter, vielleicht werde ich inzwischen schon beobachtet.»

«Ruf mich an oder so.»

«Du hast mich nie hängenlassen, Doc.»

«Keine Sorge, ich –»

«Nein, ich meine, wirklich nie.»

«Ach was … klar hab ich das.»

«Du warst immer ehrlich.»

Am Strand war es schon seit Stunden dunkel, er hatte nicht viel geraucht, und Autoscheinwerfer waren es nicht – doch er hätte schwören können, dass er Licht auf ihr Gesicht fallen sah, bevor sie sich abwandte, den orangefarbenen Widerschein kurz nach Sonnenuntergang, der das nach Westen gewandte Gesicht eines Menschen erfasst, wenn er den Ozean nach jemandem absucht, der mit der letzten Welle des Tages hereinkommt, ans Ufer und in Sicherheit.

Wenigstens hatte sie noch denselben Wagen, das Cadillac-Cabrio, das sie schon ewig fuhr, einen 59er Eldorado Biarritz, den sie gebraucht bei einem der Händler an der Western gekauft hatte, die nahe am Verkehr standen, damit der Geruch des Stoffs verwehte, den sie rauchten. Nachdem Shasta weggefahren war, setzte sich Doc auf eine Bank unten an der Esplanade, einer langgezogenen, hinter ihm ansteigenden Schräge voller erleuchteter Fenster, und betrachtete die fluoreszierenden Schaumkronen der Brandung und den späten Pendlerverkehr, der sich im Zickzack die fernen Hänge von Palos Verdes hinaufschob. Er ging die Punkte durch, nach denen er nicht gefragt hatte – zum Beispiel, wie sehr sie von dem Grad der Sorglosigkeit und Macht abhängig geworden war, den Wolfmann garantierte, wie sehr sie bereit war, zum Bikini-und-T-Shirt-Lebensstil zurückzukehren, und wie wenig sie es bedauern würde. Und, was sich natürlich am schlechtesten fragen ließ, wie leidenschaftlich eigentlich ihre Gefühle für den alten Mickey waren. Doc kannte die wahrscheinliche Antwort – «Ich liebe ihn», was sonst? Mit der unausgesprochenen Anmerkung, dass das Wort heutzutage erheblich überstrapaziert wurde. Jeder, der irgendwie als hip gelten wollte, «liebte» jeden, zu schweigen von anderen nützlichen Anwendungsmöglichkeiten wie etwa der, dass sich Leute damit zu sexuellen Aktivitäten drängen ließen, zu denen sie vielleicht keine allzu große Lust hätten, wenn man ihnen die Wahl ließe.

In seine Wohnung zurückgekehrt, betrachtete Doc eine Zeitlang ein Samtbild von einer der mexikanischen Familien, die am Wochenende entlang der Boulevards durch das grüne Flachland zwischen Gordita und dem Freeway, wo die Leute noch auf Pferden ritten, ihre Stände aufbauten. Aus den Kastenwagen hinein in die ruhige Morgenfrühe gelangten dann sofabreite Kreuzigungen und Letzte Abendmähler, Rocker auf detailliert ausgeführten Harleys, mit Schnellfeuergewehren bewaffnete, beinharte Superhelden in Spezialtruppenkluft und so weiter. Das Bild von Doc zeigte einen südkalifornischen Strand, den es so nie gegeben hatte – Palmen, Bikini-Bräute, Surfbretter, die ganze Leier. Er sah es als Fenster, durch das er hinausschauen konnte, wenn es ihn überforderte, durch das herkömmliche aus Glas im anderen Zimmer hinauszuschauen. Manchmal – normalerweise wenn er Gras rauchte – erhellte sich die Szenerie in den Schatten, als hätte jemand nur gerade so viel am Kontrastknopf der Schöpfung gefummelt, dass alles einen Unterschimmer, einen leuchtenden Rand bekam und die Nacht demnächst irgendwie einmalig zu werden versprach.

Außer heute Nacht, da sah es eher nach Arbeit aus. Er hängte sich ans Telefon und versuchte, Penny anzurufen, aber sie war nicht da – hatte wahrscheinlich irgendeinen Anwalt mit Kurzhaarschnitt und vielversprechender Karriere aufgetan, mit dem sie sich beim Watusi austobte. Für Doc kein Problem. Als Nächstes rief er seine Tante Reet an, die ein Stück weiter den Boulevard runter auf der anderen Seite der Dünen wohnte, in einem eher vorstädtischen Viertel mit Einfamilienhäusern, Gärten und Bäumen, denen es den Namen Tree Section verdankte. Vor ein paar Jahren, nach der Scheidung von einem abtrünnigen Lutheraner der Synode Missouri mit einer T-Bird-Vertretung und einer fatalen Schwäche für die ruhelosen Hausfrauen, die man auf Kegelbahnen kennenlernt, war Reet mit den Kindern aus dem San Joaquin Valley dorthin gezogen, hatte angefangen, Immobilien zu verkaufen, und nicht lange danach ihr eigenes Geschäft gehabt, das sie nun in einem Bungalow auf demselben übergroßen Grundstück betrieb, auf dem auch ihr Haus stand. Jedes Mal, wenn Doc etwas wissen wollte, was mit der Welt des Grundbesitzes zu tun hatte, wandte er sich an Tante Reet mit ihrer phänomenalen, parzellengenauen Kenntnis der Landnutzung von der Wüste bis ans Meer, wie man in den Abendnachrichten gern sagte. «Eines Tages», prophezeite sie, «wird es dafür Rechner geben, und man muss nur noch eintippen, was man sucht, oder noch besser, es einfach hineinsprechen – so wie bei HAL in 2001: Odyssee im Weltraum –, und ruck, zuck liefert er dir mehr Informationen, als du je haben wolltest, und zwar über jedes Grundstück im L.A. Basin, bis zurück zu den spanischen Landschenkungen – Wasserrechte, dingliche Belastungen, Hypothekenverläufe, was du willst, glaub mir, das kommt.» Bis dahin gab es, in der wirklichen Nicht-Science-Fiction-Welt, Tante Reets ans Übernatürliche grenzendes Gespür für Land, die Geschichten, die selten in Urkunden oder Verträgen, schon gar nicht Eheverträgen, auftauchten, die Generationen umfassenden großen und kleinen Familienfehden und die Art, wie das Wasser floss oder einmal geflossen war.

Sie nahm beim sechsten Läuten ab. Im Hintergrund dröhnte der Fernseher.

«Fass dich kurz, Doc, ich hab für heute Abend einen an der Angel und muss noch eine Vierteltonne Make-up auflegen.»

«Was kannst du mir über Mickey Wolfmann erzählen?»

Falls sie auch nur eine Sekunde zum Atemholen brauchte, kriegte Doc nichts davon mit. «Deutsche Westside-Mafia, der Größte der Großen, Baugewerbe, Spar- und Darlehensbank, unversteuerte Milliarden, die er irgendwo in den Alpen gebunkert hat, strenggenommen Jude, möchte aber Nazi sein, regt sich oft bis zur Gewalttätigkeit auf, wenn jemand aus Versehen seinen Namen nicht mit zwei n schreibt. Was willst du von ihm?»

Doc fasste Shastas Besuch und ihre Schilderung des Komplotts gegen das Wolfmann’sche Vermögen zusammen.

«In der Immobilienbranche», bemerkte Reet, «ist moralische Zweifelhaftigkeit weiß Gott nur wenigen von uns fremd. Aber es gibt Baulanderschließungsfirmen, neben denen wirkt Godzilla wie ein Umweltschützer, und da hältst du dich lieber raus, Larry. Wer löhnt dich?»

«Na ja …»

«Alles auf gut Glück, wie? Na, so eine Überraschung. Hör zu, wenn Shasta dich nicht löhnen kann, dann heißt das vielleicht, dass Mickey sie in den Wind geschossen hat, und sie gibt seiner Frau die Schuld und will sich rächen.»

«Möglich. Aber mal angenommen, ich wollte einfach nur ein paar Takte mit diesem Wolfmann quatschen?»

War das ein entnervtes Seufzen? «Deine übliche Art der Kontaktaufnahme würde ich in dem Fall nicht empfehlen. Er läuft mit einem Dutzend Rockern rum, hauptsächlich Ehemalige von der Arischen Bruderschaft, die ihm den Rücken decken, allesamt beinharte Typen, amtlich beglaubigt. Versuch ausnahmsweise mal, einen Termin zu machen.»

«Moment, ich hab Gemeinschaftskunde zwar oft geschwänzt, aber … Juden und die AB … war da nicht mal irgendwas von wegen, gleich hab ich’s … Hass?»

«Die Sache mit Mickey ist die, er ist unberechenbar. Wird in letzter Zeit immer schlimmer. Manche würden sagen, er ist exzentrisch. Ich würde sagen, er hat sich die Birne weichgekifft, das ist nicht persönlich gemeint.»

«Und diese Schlägertruppe, die ist ihm treu ergeben, obwohl die Jungs damals, als sie noch aktiv waren, einen Eid abgelegt haben, der vielleicht die eine oder andere antisemitische Klausel enthält?»

«Komm näher als zehn Häuserblocks an ihn ran, und sie legen sich vor deinen Wagen. Bleibst du dann immer noch nicht stehen, schmeißen sie eine Granate. Wenn du mit Mickey reden willst, dann sei nicht spontan und erst recht nicht superschlau. Halt schön den Dienstweg ein.»

«Ja, aber ich will auch Shasta nicht in Schwierigkeiten bringen. Was meinst du, wo könnte ich ihm gewissermaßen zufällig über den Weg laufen?»

«Ich habe meiner kleinen Schwester versprochen, dass ich ihren Kleinen nie in Gefahr bringe.»

«Mit der Bruderschaft hab ich keine Probleme, Tante Reet, ich kenne den Händedruck und alles.»

«Na schön, es ist dein Hintern, Kleiner, ich habe hier größere Eyelinerprobleme zu bewältigen, aber soviel ich gehört habe, ist Mickey öfter bei seinem neuesten Anschlag auf die Umwelt anzutreffen – irgendein Spanplattenhorror mit Namen Channel View Estates.»

«Ach ja, das. Für die macht Bigfoot Bjornsen Werbespots. Die unterbrechen dann seltsame Filme, von denen du noch nie gehört hast.»

«Na ja, vielleicht sollte sich dein alter Kumpel von der Polizei mal um die Sache kümmern. Hast du dich mit dem LAPD in Verbindung gesetzt?»

«Ich hab tatsächlich daran gedacht, mich an Bigfoot zu wenden», sagte Doc, «aber als ich gerade nach dem Hörer gegriffen habe, ist mir eingefallen, dass er, so wie er gestrickt ist, wahrscheinlich versuchen würde, mir die ganze Sache anzuhängen.»

«Vielleicht bist du mit den Nazis ja wirklich besser dran, ich beneide dich nicht um die Alternative. Sei vorsichtig, Larry. Melde dich ab und zu, damit ich Elmina bestätigen kann, dass du immer noch am Leben bist.»

Scheiß Bigfoot. Das musste ja so kommen. Irgendeinem außersinnlichen Impuls folgend, streckte Doc die Hand nach der Glotze aus, schaltete sie ein und wechselte zu einem der netzunabhängigen Sender, die sich uralten Fernsehfilmen und nicht verkauften Pilotfilmen widmeten, und tatsächlich, da war der alte durchgeknallte Hippiehasser höchstpersönlich und betätigte sich nach einem arbeitsreichen Tag voller Bürgerrechtsverletzungen als Marktschreier für Channel View Estates. Ein Michael Wolfmann Konzept stand unter dem Logo.

Bigfoot, so benannt wegen der von ihm bevorzugten Methode, sich Zutritt zu verschaffen, hegte wie so viele Cops in Los Angeles Showbusiness-Sehnsüchte und hatte, von komischen Mexikanern in The Flying Nun bis zu Hilfspsychopathen in Die Seaview – In geheimer Mission, auch schon genügend Charakterrollen gespielt, um Beiträge an die Schauspielergewerkschaft zu zahlen und Tantiemen zu kassieren. Vielleicht waren die Produzenten dieser Channel-View-Spots verzweifelt genug, um auf einen gewissen Wiedererkennungseffekt beim Publikum zu setzen – vielleicht, wie Doc argwöhnte, war Bigfoot auch irgendwie an dem dahintersteckenden Immobiliendeal beteiligt, wie auch immer der aussah. Egal, mit persönlicher Würde hatte das Ganze jedenfalls herzlich wenig zu tun. Vor der Kamera trug Bigfoot Aufmachungen, die selbst einem von keinerlei Ironie beleckten kalifornischen Hippie peinlich gewesen wären, heute Abend zum Beispiel ein knöchellanges Samtcape mit Paisleymuster in so vielen einander beißenden «psychedelischen» Farben, dass Docs Glotze, ein Billiggerät, das er vor ein paar Jahren bei einem nächtlichen Sonderverkauf auf dem Parkplatz von Zody’s erstanden hatte, nicht mehr richtig mitkam. Bigfoot hatte seine Kluft zusätzlich mit Liebesperlen ausgestattet, einer Sonnenbrille mit Peace-Symbol auf den Gläsern und einer gigantischen Afroperücke mit Streifen in Chinesischrot, Chartreusegrün und Indigoblau. Bigfoot erinnerte die Zuschauer häufig an den legendären Gebrauchtwagenverkäufer Cal Worthington – doch wo Cal dafür berühmt war, dass er lebende Tiere in seine Masche einbezog, sahen Bigfoots Drehbücher eine nicht tot zu kriegende Terrortruppe kleiner Kinder vor, die über die Musterhausmöbel kletterten, Arschbomben in die Gartenpools machten, johlten, kreischten, so taten, als würden sie Bigfoot niederschießen, und dazu «Freak Power!» und «Tod den Schweinen!» schrien. Die Zuschauer waren begeistert. «Diese kleinen Kinder», riefen sie, «wow, die sind wirklich toll, was?» Kein überfütterter Leopard ging Cal Worthington jemals so auf den Geist, wie diese Kinder Bigfoot auf den Geist gingen, aber bei Gott, er würde sich durchbeißen, denn er war schließlich Profi, und er studierte eingehend alte W.-C.-Fields- und Bette-Davis-Filme, wenn welche im Fernsehen kamen, weil er sich davon Tipps erhoffte, wie man sich den Bildschirm mit Kindern teilt, deren Niedlichkeit für ihn bestenfalls problematisch war. «Wir werden schon noch Freunde», krächzte er jedes Mal, wie an sich selbst gerichtet, während er so tat, als zöge er zwanghaft an einer Zigarette, «wir werden schon noch Freunde.»

Nun hämmerte es plötzlich an die Wohnungstür, und Doc hatte ganz kurz die Vorstellung, dass es Bigfoot persönlich sein musste, der gleich wie in alten Zeiten die Tür eintreten würde. Stattdessen war es Denis, der am Fuß des Hügels wohnte und dessen Namen jeder so aussprach, dass er sich auf «Penis» reimte. Er wirkte noch desorientierter als sonst.

«Also, Doc, ich bin oben auf der Dunecrest, du kennst doch den Drugstore dort, und da fällt mir auf einmal das Ladenschild auf, ‹Drug›? ‹Store›? Okay? Bin bestimmt schon tausendmal dran vorbeigekommen, und nie hab ich’s richtig gesehen – Drug, Store! Total abgefahren, Mann, ich also rein, und Smilin Steve steht hinterm Tresen, und ich sag: ‹Ja, Tag, ich hätte gern paar Drogen, bitte.› – Ach so, hier, kannst du fertig rauchen, wenn du willst.»

«Danke, da kann ich mir doch höchstens noch die Lippen dran verbrennen.»

Denis war mittlerweile in die Küche gewandert und begann, den Kühlschrank zu inspizieren.

«Hast du Hunger, Denis?»

«Klar doch. Hey, wie Godzilla immer zu Mothra sagt – gehen wir irgendwas essen.»

Sie gingen hinauf zur Dunecrest und bogen links ins Kneipenviertel der Stadt ab. Im Pipeline Pizza herrschte Hochbetrieb, und der Qualm drinnen war so dicht, dass man nicht von einem Ende der Theke zum anderen sehen konnte. Auf der Musikbox, die bis El Porto und darüber hinaus zu hören war, lief Sugar, Sugar von den Archies. Denis schlängelte sich zwischen den Gästen hindurch bis zur Küche, um sich eine Pizza zu besorgen, und Doc sah Ensenada Slim zu, der an einem Flipperautomaten in der Ecke spielte. Slim besaß und betrieb ein Stück weiter die Straße hinauf einen Head Shop namens Screaming Ultraviolet Brain und war hier in der Gegend so etwas wie der Dorfälteste. Nachdem er ein Dutzend Freispiele gewonnen hatte, machte er Pause, bemerkte Doc und nickte.

«Kann ich dir ein Bier spendieren, Slim?»

«War das Shastas Auto, was ich unten am Drive gesehen habe? Dieses große alte Cabrio?»

«Sie hat kurz bei mir vorbeigeschaut», sagte Doc. «Irgendwie komisch, sie wiederzusehen. Hab immer gedacht, wenn das mal passiert, dann in der Glotze, nicht in echt.»

«Ehrlich. Manchmal denk ich, ich seh sie am Rand des Bildschirms, aber es ist immer nur eine Doppelgängerin. Die natürlich längst nicht so gut aussieht.»

Traurig, aber wahr, wie Dion immer sagte. Auf der Playa Vista High School hatte es Shasta vier Jahre hintereinander zur Jahrgangsschönsten gebracht, in Schultheateraufführungen immer die Naive spielen dürfen, wie jeder andere darüber phantasiert, zum Film zu gehen, und sich bei erster Gelegenheit über den Freeway davongemacht und in Hollywood nach einer billigen Bleibe umgetan. Mal abgesehen davon, dass Doc der einzige User in ihrer Bekanntschaft war, der kein Heroin nahm, was sie beide zeitlich stark entlastete, war er nie dahintergekommen, was sie vielleicht sonst noch an ihm fand. Nicht dass sie überhaupt allzu lange zusammen gewesen wären. Sie wurde bald regelmäßig von Besetzungsbüros angerufen und bekam Theaterengagements, auf und hinter der Bühne, Doc trat seine Lehrzeit als privater Zielfahnder an, und so hatten sie, während jeder von ihnen allmählich eine andere karmische Thermik über der Megalopole ausmachte, einander in unterschiedliche Schicksale entschweben sehen.

Denis kam mit seiner Pizza zurück. «Ich hab vergessen, was ich als Belag bestellt hatte.» Das passierte im Pipeline jeden Dienstag, am Billigpizza-Abend, wenn jede Pizza beliebiger Größe mit beliebigem Belag pauschal einen Dollar fünfunddreißig kostete. Denis musterte seine nun eingehend, als würde sie gleich irgendwas tun.

«Das da ist ein Stück Papaya», vermutete Slim, «und das da … sind das etwa Speckschwarten?»

«Und Boysenbeerenjoghurt auf Pizza, Denis? Also ehrlich, igitt.» Das war Sortilège, die in Docs Büro gearbeitet hatte, ehe ihr Freund Spike aus Vietnam zurückgekommen war und sie beschlossen hatte, dass Liebe wichtiger war als eine geregelte Arbeit – so jedenfalls, meinte Doc sich zu erinnern, hatte sie es erklärt. Ihre Talente lagen ohnehin woanders. Sie stand in Verbindung mit unsichtbaren Kräften und konnte alle möglichen Probleme emotionaler und körperlicher Art diagnostizieren und lösen, was sie meistens gratis tat, in einigen Fällen aber auch für Gras oder LSD anstelle von Bargeld. Soweit Doc wusste, hatte sie sich noch nie geirrt. Im Augenblick betrachtete sie prüfend sein Haar, und er bekam wie üblich einen Anfall von Abwehrpanik. Schließlich, mit energischem Nicken: «Da unternimmst du mal besser was.»

«Schon wieder?»

«Ich kann es gar nicht oft genug wiederholen – ändere deine Frisur und du änderst dein Leben.»

«Was empfiehlst du?»

«Liegt ganz bei dir. Folge deiner Intuition. Ach, Denis, hättest du was dagegen, wenn ich mir das Stück Tofu da nehme?»

«Das ist ein Marshmallow», sagte Denis.

Erneut in seine Wohnung zurückgekehrt,drehtesichDoc einen Joint, schaltete einen Spätfilm ein, suchte sich ein altes T-Shirt, das er in kurze, knapp anderthalb Zentimeter breite Streifen riss, bis er vielleicht hundert davon zusammenhatte, stellte sich dann eine Zeitlang unter die Dusche, wickelte dünne Strähnen seines noch feuchten Haars um einen T-Shirt-Streifen, fixierte sie mit einem einfachen Knoten, wiederholte diesen Vorgang nach südstaatlicher Plantagenart überall auf seinem Kopf, und nach etwa einer halben Stunde unterm Haartrockner, in der er eingeschlafen sein mochte oder auch nicht, löste er die Knoten wieder und toupierte das Ganze zu einem in seinen Augen ziemlich annehmbaren Weißenafro von knapp fünfzig Zentimeter Durchmesser. Dann steckte er den Kopf vorsichtig in einen leeren Schnapskarton, um die Form zu schützen, legte sich aufs Sofa, schlief diesmal tatsächlich ein und träumte gegen Morgen von Shasta. Nicht dass sie direkt miteinander vögelten, aber es war so was Ähnliches. Wie man in frühmorgendlichen Träumen manchmal fliegt, waren sie beide aus ihrem anderen Leben geflogen, um sich in einem seltsamen Motel zu treffen, das außerdem ein Frisiersalon zu sein schien. Sie behauptete beharrlich, dass sie einen anderen «liebte», dessen Namen sie nicht nannte, doch als Doc aufwachte, nahm er an, dass es sich um Mickey Wolfmann handeln musste.

Sinnlos, weiterzuschlafen. Er wankte den Hügel hinauf zum Wavos und frühstückte mit dem harten Kern von Surfern, die sich immer dort aufhielten. Flaco the Bad kam zu ihm herüber. «Hey, Mann, dieser Cop war schon wieder da und hat nach dir gesucht. Was hast du denn da auf dem Kopf?»

«Cop? Wann war das?»

«Gestern Abend. Er war auch bei dir, aber du warst nicht zu Hause. Detective von der Mordkommission downtown, mit einem schwer aufgemotzten El Camino, dem mit der Sechseinhalb-Liter-Maschine.»

«Das war Bigfoot Bjornsen. Warum hat er nicht einfach wie üblich meine Tür eingetreten?»

«Dran gedacht hat er ja vielleicht, aber dann hat er was gesagt von wegen morgen wär auch noch ein Tag … das wär ja dann heute, stimmt’s?»

«Nicht, wenn’s nach mir geht.»

DocsBüro lag in der Nähe des Flughafens, in einer Seitenstraße des East Imperial. Er teilte sich die Räumlichkeiten mit einem Dr.Buddy Tubeside, dessen Praxis hauptsächlich darin bestand, Leuten «Vitamin B12» zu injizieren, ein Euphemismus für die selbsterfundene Amphetaminmischung des Arztes. Trotz der frühen Stunde musste sich Doc an einer Schlange von Patienten mit «B12»-Mangel vorbeidrängeln, die bereits bis zum Parkplatz reichte: in Strandnähe wohnende Hausfrauen mit einem gewissen Hang zur Melancholie, Schauspieler, die zu Vorsprechterminen erscheinen mussten, tiefgebräunte alte Knacker, die einem aktiven Tag voller Gelaber an der Sonne entgegensahen, Stewards, die gerade einen stressigen Nachtflug hinter sich hatten, und sogar ein paar echte Fälle von perniziöser Anämie oder Vegetarierschwangerschaft, und sie alle schlurften im Halbschlaf vorwärts, rauchten Kette, redeten mit sich selbst und schoben sich einer nach dem anderen in die Eingangshalle des kleinen Hohlblockgebäudes und durch ein Drehkreuz, neben dem, in der Hand ein Klemmbrett, auf dem sie sie abhakte, Petunia Leeway stand, eine Wahnsinnsfrau in gestärkter Haube und einem Kittel von Mikrolänge, nicht so sehr eine richtige Schwesternkluft als vielmehr ein lasziver Kommentar zu einer solchen, ein Kleidungsstück, von dem Dr.Tubeside laut eigener Behauptung bei Fredericks’s of Hollywood eine ganze Lastwagenladung in einer Vielzahl modischer Pastelltöne – der heutige war Aquamarin – praktisch zum Großhandelspreis gekauft hatte.

«Morgen, Doc.» Petunia schaffte es, das Timbre einer Barsängerin in die Begrüßung zu legen, das stimmliche Äquivalent eines Klimperns mit Nerzwimpern. «Schicker Afro.»

«Tag, Petunia. Immer noch mit Wie-heißt-er-doch-gleich verheiratet?»

«Ach, Doc …»

Bei Unterzeichnung des Mietvertrages hatten die beiden Mieter wie Zimmergenossen in einem Feriencamp eine Münze geworfen, um zu entscheiden, wer die obere Suite bekam, und Doc hatte verloren oder, wie er sich gern einbildete, gewonnen. Auf dem Schild an seiner Tür stand LSD ERMITTLUNGEN, wobei LSD, wie er auf die nicht eben häufigen Nachfragen erklärte, für «Lokalisierung, Sicherheitschecks, Detektei» stand. Darunter prangte die Darstellung eines riesigen, blutunterlaufenen Augapfels mit buchstäblich Tausenden von durchgeknallten Kapillaren in den psychedelischen Lieblingsfarben Grün und Magenta, mit deren detaillierter Wiedergabe Doc eine Kommune von Speedfreaks beauftragt hatte, die längst nach Sonoma abgewandert waren. Es war schon vorgekommen, dass potenzielle Klienten das Augenlabyrinth stundenlang betrachtet und darüber vergessen hatten, weshalb sie eigentlich gekommen waren.

Auch jetzt wartete schon ein Besucher auf Doc. Ungewöhnlich an ihm war, dass es sich um einen Schwarzen handelte. Zwar sah man durchaus auch westlich des Harbor Freeway gelegentlich Schwarze, doch dass einer so weit außerhalb des üblichen Bereichs, nämlich praktisch am Ozean auftauchte, kam eher selten vor. So war, als man in Gordita Beach das letzte Mal seit Menschengedenken einen schwarzen Autofahrer gesichtet hatte, auf sämtlichen Polizeifrequenzen hektisch Verstärkung angefordert worden, und man hatte eine kleine Sondereinheit von Polizeifahrzeugen gebildet und überall auf dem Pacific Coast Highway Straßensperren errichtet – ein alter Gordita-Reflex, der auf die Zeit kurz nach dem Zweiten Weltkrieg zurückging. Damals hatte eine schwarze Familie wirklich und wahrhaftig versucht, sich in der Stadt niederzulassen, und die Bürger hatten, vom Ku Klux Klan einschlägig beraten, das Haus bis auf die Grundmauern niedergebrannt und dann, als wäre irgendein uralter Fluch wirksam geworden, verhindert, dass dort jemals wieder ein Haus gebaut wurde. Das Grundstück stand leer, bis die Stadt es schließlich enteignete und in einen Park verwandelte, wo sich bald nachts die Jugend von Gordita Beach versammelte, um zu trinken, Drogen zu konsumieren und zu vögeln, ein Umstand, der zwar aufs Gemüt ihrer Eltern, aber nicht sonderlich auf die Grundstückspreise drückte.

«Hi», begrüßte Doc seinen Besucher, «was liegt an, Brother?»

«Sparen Sie sich den Scheiß», erwiderte der Schwarze, der sich als Tariq Khalil vorstellte und eine Zeitlang mit einem Blick, der unter anderen Umständen beleidigend gewesen wäre, Docs Afro anstarrte.

«Na schön. Kommen Sie rein.»

In Docs Büro standen zwei Bänke mit fuchsienroten Plastikpolstern und hoher Lehne zu beiden Seiten eines Resopaltischs in freundlich tropischem Grün. Tatsächlich handelte es sich um ein Café-Sitzmodul, das Doc bei einer Renovierung in Hawthorne ergattet hatte. Er bedeutete Tariq, auf einer der Bänke Platz zu nehmen, und setzte sich ihm gegenüber. Es war gemütlich. Die Tischplatte zwischen ihnen war übersät mit Telefonbüchern, Stiften, losen und noch verpackten Karteikarten, Straßenkarten, Zigarettenasche, einem Transistorradio, Kippenklemmen, Kaffeetassen und einer Olivetti Lettera 22, in die Doc mit einem hingenuschelten «Leg mal eben einen Vorgang an» ein Blatt Papier einspannte, das offensichtlich mehrfach für irgendein seltsam zwanghaftes Origami verwendet worden war.

Tariq sah ihm skeptisch zu. «Hat Ihre Sekretärin heute frei?»

«So ungefähr. Aber ich mach mir ein paar Notizen, und später wird dann alles ins Reine getippt.»

«Okay, es gibt da einen Typ, mit dem ich zusammen im Bau war. Ein Weißer. Von der Arischen Bruderschaft, um genau zu sein. Wir haben Geschäfte miteinander gemacht, jetzt sind wir beide draußen, und er schuldet mir noch Geld. Und zwar eine ganze Menge. Einzelheiten kann ich Ihnen nicht sagen, ich hab geschworen, dass ich nichts erzähle.»

«Und einfach nur seinen Namen, wie wär das?»

«Glen Charlock.»

Manchmal schwingt schon in der Art, wie jemand einen Namen sagt, etwas Bestimmtes mit. Tariq redete wie jemand, dem es das Herz gebrochen hat. «Wissen Sie, wo er sich im Augenblick aufhält?»

«Nur, für wen er arbeitet. Er ist Bodyguard für einen Bauunternehmer namens Wolfmann.»

Doc erlebte einen zweifellos drogenbedingten Moment von Schwummrigkeit. Er fand sich im Zustand paranoider Alarmbereitschaft wieder, allerdings, wie er hoffte, nicht so sehr, dass es Tariq auffiel. Er tat so, als studierte er den Vorgang, den er gerade anlegte. «Wie haben Sie von meiner Agentur erfahren, Mr.Khalil, wenn ich fragen darf?»

«Von Sledge Poteet.»

«Wow. Lang, lang ist’s her.»

«Er hat gesagt, Sie hätten ihm ’67 aus einer Klemme geholfen.»

«Das erste Mal, dass man auf mich geschossen hat. Und Sie kennen sich aus dem Bau?»

«Die haben uns beiden dort das Kochen beigebracht. Sledge hat noch ungefähr ein Jahr abzureißen.»

«So wie ich ihn in Erinnerung habe, konnte er nicht mal Wasser kochen.»

«Müssten ihn heute sehen, der kocht Ihnen Leitungswasser, Arrowhead-Springs-Wasser, Club Soda, Perrier, was Sie wollen. Das reinste Kochgenie.»

«Verzeihen Sie die naheliegende Frage – Sie wissen, wo Glen Charlock jetzt arbeitet, warum gehen Sie also nicht einfach hin und wenden sich direkt an ihn, anstatt einen Mittelsmann anzuheuern?»

«Weil sich dieser Wolfmann Tag und Nacht mit einer Armee von Arischen Brüdern umgibt, und ich hab noch nie besonders herzliche Beziehungen zu diesen Nazi-Motherfuckern gehabt, abgesehen von Glen.»

«Ach so – Sie wollen einen Weißen vorschicken, damit der den Schädel eingeschlagen kriegt.»

«So ungefähr. Allerdings hätte ich lieber jemanden, der ein bisschen überzeugender rüberkommt.»

«Ich bin vielleicht nicht der Größte», erklärte Doc zum sicher einmillionsten Mal in seiner Karriere, «aber auf den Kopf scheißen lasse ich mir deswegen noch lange nicht.»

«Okay … möglich ist es ja … im Knast hab ich’s ab und zu auch erlebt.»

«Als Sie gesessen haben – waren Sie da in einer Gang?»

«Black Guerilla Family.»

«George Jacksons Verein. Und mit wem haben Sie gleich nochmal Geschäfte gemacht, mit der Arischen Bruderschaft?»

«Wir waren in vielem einer Meinung, was die U. S. Regierung angeht.»

«Mmm, Harmonie zwischen den Rassen, kann ich gut nachvollziehen.»

Tariq sah Doc mit eigenartiger Intensität an, und seine Augen waren gelb und scharf geworden.

«Da ist noch was», vermutete Doc.

«Meine alte Straßengang. Artesia Crips. Als ich aus Chino rausgekommen bin, hab ich nach ein paar von ihnen gesucht und festgestellt, nicht nur sie sind weg, sondern das Revier gleich mit.»

«Wahnsinn. Was genau meinen Sie mit weg?»

«Nicht mehr da. In kleine Stückchen zerlegt. Fraß für die Möwen. Ich denk, ich bin auf Trip, dreh erst mal eine Runde, komm wieder, und es ist immer noch alles weg.»

«Verstehe.» Halluziniert nicht, tippte Doc.

«Nichts und niemand mehr. Eine Geisterstadt. Bis auf so ein großes Schild, ‹Demnächst auf diesem Gelände›, Häuser, die sich nur Weißbacken leisten können, Einkaufszentrum, schöne Scheiße. Raten Sie mal, wer der Bauunternehmer ist.»

«Schon wieder Wolfmann.»

«Genau.»

An der Wand hatte Doc eine Karte der Region. «Zeigen Sie mal.» Die Gegend, auf die Tariq deutete, sah so aus, als läge sie ziemlich genau östlich von hier den Artesia Boulevard runter, und nach anderthalb Minuten Kartenstudium ging Doc auf, dass es sich um das Gelände der Channel View Estates handeln musste. Er tat so, als musterte er Tariq auf seine ethnische Abstammung. «Und was sind Sie gleich nochmal, Japaner?»

«Äh, wie lang sind Sie schon in dem Beruf?»

«Sieht aus, als wäre es näher an Gardena als an Compton, mehr sage ich nicht.»

«Zweiter Weltkrieg», sagte Tariq. «Davor war South Central größtenteils noch ein japanisches Viertel. Dann hat man diese Leute in Lager gesteckt, und wir sind da hingezogen und waren die nächsten Japaner.»

«Und jetzt hat man euch dort rausgedrängt.»

«Mal wieder die Rache des weißen Mannes. Der Freeway am Flughafen hat noch nicht gereicht.»

«Rache für …?»

«Watts.»

«Die Unruhen.»

«Manche von uns sagen auch ‹Aufstand›. Die Bullen warten einfach auf den passenden Moment.»

Die lange, traurige Geschichte der Landnutzung in L.A., wie Tante Reet hervorzuheben niemals müde wurde. Man hatte mexikanische Familien aus Chavez Ravine rausgeschmissen, um das Dodger Stadium bauen zu können, für das Music Center hatte man Indianer aus Bunker Hill rausgeworfen und für Channel View Estates Tariqs Viertel platt gewalzt.

«Wenn ich Ihren Gefängniskumpel zu fassen kriege, wird er seine Schulden bei Ihnen dann begleichen?»

«Ich kann Ihnen nicht sagen, worin sie bestehen.»

«Ist auch nicht nötig.»

«Ach so, noch was, einen Vorschuss kann ich Ihnen nicht zahlen.»

«Geht in Ordnung.»

«Sledge hatte recht, Sie sind schon ein verrückter weißer Motherfucker.»

«Woher wollen Sie das wissen?»

«Ich seh hier nur den einen.»

2

Doc nahm den Freeway stadtauswärts.AufdennachOsten führenden Fahrspuren wimmelte es von VW-Bussen in tanzenden Paisleymustern, mit Grundierung gespachtelten Rostlauben, Holzkisten aus echter Dearborn-Kiefer, Porsches mit Fernsehstars am Steuer, Cadillacs, die Zahnärzte zu außerehelichen Rendezvous beförderten, fensterlosen Kleinbussen, in denen sich Teenagerdramen abspielten, Pick-ups mit Matratzen voller Cousins aus dem San Joaquin Valley, und alle zusammen rollten sie, sämtliche Radios auf dieselben wenigen UKW-Sender eingestellt, unter den Hochspannungsleitungen hindurch hinab in dieses große, horizontlose Häusermeer, unter einem Himmel wie wässrige Milch und dem weißen Bombardement einer Sonne, die der Smog zu einem bloß zu ahnenden Fleck verwischte und in deren Licht man sich zu fragen begann, ob hier jemals etwas passieren könnte, was man psychedelisch nennen würde, oder ob sich das in Wirklichkeit – Mist! – vielleicht die ganze Zeit oben im Norden abgespielt hatte.

Vom Artesia Boulevard aus führten Schilder Doc zu den Channel View Estates, Ein Michael Wolfmann Konzept. Er sah die üblichen ortsansässigen Paare, die es gar nicht erwarten konnten, einen Blick auf die nächsten Schnäppchen zu werfen, wie Tante Reet die meisten Einfamilienhäuser ihrer Bekanntschaft zu nennen pflegte. Ab und zu erspähte Doc an den Rändern der Windschutzscheibe schwarze Fußgänger, die ebenso verwirrt waren, wie es Tariq gewesen sein musste, die vielleicht auch nach dem alten Viertel suchten, nach Tag für Tag bewohnten Orten, verlässlich wie die Achsen des Raums und nun weggemacht in Aufruhr und Zerstörung.

Die Siedlung erstreckte sich in den Dunst und den zarten Geruch des im Smog wahrnehmbaren Nebels und der Wüste unter dem Pflaster – in Straßennähe Musterhäuser, weiter entfernt schon fertige Häuser und dahinter, eben noch sichtbar, die Skelette neuer Bauten, die sich bis in das gemeindefreie Ödland ausdehnten. Doc fuhr durch das Tor und weiter bis zu einem leeren Abschnitt mit fester Tragschicht, in dem die Straßen schon beschildert, aber noch nicht asphaltiert waren. Er parkte an der künftigen Ecke Kaufman und Broad und ging zu Fuß zurück.

Die Häuser boten einen beschränkten Ausblick auf einen fast völlig verwahrlosten Arm des Dominguez-Hochwasserschutzkanals – längst vergessen und abgetrennt durch Kilometer von Aufschüttungen, Verfüllungen und Industriemüll erfolgreicher wie erfolgloser Unternehmen – und waren mehr oder weniger im spanischen Kolonialstil gehalten, mit nicht unbedingt tragfähigen kleinen Balkonen und roten Ziegeldächern, die an teurere Städte wie San Clemente oder Santa Barbara denken lassen sollten, obwohl bislang kein einziger schattenspendender Baum zu sehen war.

In der Nähe des künftigen Haupteingangs der Channel View Estates stieß Doc auf eine improvisierte Miniplaza, die im Wesentlichen für die Bauarbeiter da war, und sie umfasste einen Schnapsladen, eine Sandwichbar mit Essen zum Mitnehmen, eine Bierkneipe, wo man Billard spielen konnte, und einen Massagesalon namens Chick Planet, vor dem eine Reihe sorgfältig gepflegter und mit militärischer Präzision geparkter Motorräder stand. Das schien der Ort zu sein, wo er am ehesten eine Truppe beinharter Typen finden konnte. Und wenn sie im Augenblick alle hier waren, dann höchstwahrscheinlich auch Mickey. Ausgehend von der weiteren Annahme, dass die Besitzer der Motorräder zwecks Entspannung hier waren und nicht drinnen Aufstellung genommen hatten, um Doc eine Abreibung zu verpassen, holte er tief Atem, umgab sich mit einem weißen Licht und trat ein.

«Hi, ich bin Jade.» Eine temperamentvolle junge Asiatin in türkisfarbenem Cheongsam reichte ihm eine laminierte Karte mit den angebotenen Dienstleistungen. «Und darf ich Sie auf unser heutiges Mösenleck-Sonderangebot hinweisen, das den ganzen Tag bis Ladenschluss gilt?»

«Mmm, nicht dass vierzehn Dollar fünfundneunzig kein total toller Preis wären, aber eigentlich versuche ich jemanden ausfindig zu machen, der für Mr.Wolfmann arbeitet.»

«Wahnsinn. Leckt er Mösen?»

«Na ja, Jade, das müssten Sie eigentlich besser wissen als ich, er heißt Glen.»

«Na klar, Glen kommt öfter her, das tun sie alle. Haben Sie eine Zigarette für mich?» Er klopfte ihr eine filterlose Kool aus dem Päckchen. «Ooh, wie im Knast. Da wird nicht viel Möse geleckt, oder?»

«Glen und ich, wir waren beide etwa zur gleichen Zeit in Chino. Haben Sie ihn heute schon gesehen?»

«Ja, bis vor ungefähr einer Minute, da sind sie plötzlich alle abgehauen. Läuft hier irgendwas Komisches? Sind Sie ein Bulle?»

«Mal sehen.» Doc inspizierte seine Füße. «Nein … die falschen Schuhe.»

«Ich frag nur, weil, wenn Sie ein Bulle wären, hätten Sie Anspruch auf eine Gratisvorschau von unserem Mösenleck-Sonderangebot.»

«Und als lizensierter Privatdetektiv? Würde das auch –»

«Hey, Bambi!» Hinter den Perlenvorhängen trat, wie in der Auszeit eines Strandvolleyballspiels, eine Blondine in türkisblauem und orangenem Leuchtfarbenbikini hervor.

«Jungejunge», sagte Doc. «Wo sollen wir –»

«Du doch nicht, taube Nuss», murmelte Bambi. Jade griff bereits nach dem Bikini.

«Ach so», sagte er. «Ähm … Moment mal, stimmt das, was ich denke? Dass da, wo ‹Mösenleck-Sonderangebot› steht? Dass das heißt, dass –»

Nun ja … Keine von beiden schien ihn noch groß zu beachten, obwohl Doc fand, er sollte aus Höflichkeit noch eine Zeitlang zusehen, bis sie schließlich hinter dem Empfangspult abtauchten und er in der Absicht, sich ein wenig umzuschauen, davonspazierte. Von etwas weiter vorne sickerte indigofarbenes Licht und solches von noch dunklerer Wellenlänge in den Flur, zusammen mit streicherlastiger Musik, die eine halbe Generation alt war und von LPs stammte, die als Begleitung zum Vögeln in Junggesellenbuden zusammengestellt worden waren.

Niemand war da. Doc kam es so vor, als wäre das bis zu seinem Erscheinen vielleicht anders gewesen. Außerdem stellte sich heraus, dass der Laden von drinnen größer war als von draußen. Es gab Schwarzlichtsuiten mit fluoreszierenden Rock ’n’Roll-Postern, verspiegelten Decken und vibrierenden Wasserbetten. Stroboskoplampen blinkten, Räucherkegel schickten nach Moschus duftende Rauchbänder in Richtung Decke, und es lockten, nicht immer auf Fußböden beschränkt, langflorige Teppichbeläge aus künstlichem Angora in einer Vielzahl von Farbtönen, darunter Rotbraun und Blaugrün.

Während er sich dem hinteren Teil des Etablissements näherte, hörte Doc von draußen lautes Gebrüll und ein massiertes Donnern von Harleys. «Oha. Was ist denn das?»

Er fand es nicht heraus. Vielleicht lag es an den vielen exotischen Sinnesreizen, dass Doc ungefähr zu diesem Zeitpunkt jäh in Ohnmacht fiel und ihm ein nicht zu beziffernder Anteil seines Tages abhandenkam. Vielleicht erkärte der Zusammenprall mit einem gewöhnlichen Gegenstand auf dem Weg zu Boden die schmerzhafte Beule, die er auf seinem Kopf fand, als er schließlich aufwachte. Schneller jedenfalls, als das Personal von Medical Center «subdurales Hämatom» sagen konnte, checkte Doc, dass die uncoole Musik verstummt war, Jade und Bambi sich verflüchtigt hatten und er selbst auf dem Betonboden eines Raums lag, den er nicht wiedererkannte, was allerdings nicht für das Phänomen galt, das er nun, hoch über sich wie einen Unglück bringenden Planeten im Tageshoroskop, als das bösartig funkelnde Gesicht von Detective Lieutenant Bigfoot Bjornsen vom LAPD identifizierte.

«Glückwunsch, Hippie-Abschaum», begrüßteihnBigfoot mit seiner nur allzu vertrauten Motorenölstimme, «und willkommen in einer Welt voller Unannehmlichkeiten. Ja, diesmal, scheint es, hast du es endlich geschafft, in etwas reinzusschlittern, was so real und so tief ist, dass du deinen nutzlosen Hippiearsch da nicht mehr raushalluzinieren kannst.» In der Hand hielt er die gefrorene Banane mit Kuvertüre, die sein Markenzeichen war und von der er ab und zu abbiss.

«Tag, Bigfoot. Ist für mich vielleicht auch ein Haps drin?»

«Klar doch, aber du musst dich ein bisschen gedulden, wir haben den Rottweiler im Revier gelassen.»

«Hat keine Eile. Und … wo sind wir im Augenblick gleich nochmal?»

«In Channel View Estates, auf dem Grundstück eines künftigen Eigenheims, wo sich ziemlich bald Abend für Abend Elemente einer intakten Familie versammeln werden, um in die Röhre zu glotzen, ihre nahrhaften Snacks zu mampfen, sich vielleicht sogar, wenn die Kinder im Bett sind, ein bisschen am Fortpflanzungsvorspiel zu versuchen, ohne sich recht klarzumachen, dass dereinst an eben dieser Stelle, von Drogen benebelt, ein infamer Krimineller gelegen und den seither berühmten Beamten der Mordkommission, der ihn fasste, mit konfusem Zeug vollgequasselt hat.»

Sie befanden sich noch immer in Sichtweite des Haupteingangs. Durch ein Wirrwarr von zusammengenagelten Rahmenteilen erspähte Doc im Nachmittagslicht ein verschwommenes Bild von Straßen voll frisch gegossener Fundamente, die ihrer Häuser harrten, Gräben für Kanalisation, Strom, Gas und Wasser, Absperrungen aus Sägeböcken mit auch tagsüber blinkenden Lichtern, vorfabrizierten Gullys, Haufen von Füllmaterial, Bulldozer und Bagger.

«Ich will dich ja nicht drängen», fuhr der Lieutenant fort, «aber sowie du das Gefühl hast, du wärst gern wieder bei uns, würden wir uns schrecklich gern mit dir unterhalten.» Überall krochen uniformierte Speichellecker herum, die anerkennend kicherten.

«Bigfoot, ich weiß nicht, was passiert ist. Das Letzte, woran ich mich erinnere, ist, dass ich in dem Massagesalon da drüben war. Und an eine asiatische Braut namens Jade. Und an ihre Anglofreundin Bambi.»

«Ausgeburten des Wunschdenkens eines in Cannabisdämpfen geräucherten Hirns, keine Frage», theoretisierte Detective Bjornsen.

«Aber ich war’s nicht! Ganz egal, was!»

«Na sicher.» Amüsiert an seiner gefrorenen Banane knabbernd, sah Bigfoot zu, wie sich Doc der beschwerlichen Aufgabe widmete, wieder in die Vertikale zu kommen, gefolgt von noch zu klärenden Details wie etwa dem, sie beizubehalten, sich am Gehen zu versuchen und so weiter. Ungefähr zu diesem Zeitpunkt erblickte Doc das Team eines ärztlichen Leichenbeschauers mit einer Trage, auf der, schlaff in sich zusammengesackt wie ein noch nicht zubereiteter Feiertagstruthahn, ein blutüberströmter menschlicher Körper lag, das Gesicht mit einer billigen Decke aus Polizeibeständen zugedeckt. Immer wieder fielen ihm Gegenstände aus den Hosentaschen. Bullen mussten im Dreck herumkrabbeln, um sie zu bergen. Doc ertappte sich dabei, dass er ausflippte, vom Magen her und auch sonst.

Bigfoot Bjornsen grinste. «Ja, fast habe ich Mitleid mit deinem Zivilistenelend – wenn du allerdings ein Kerl und kein eierloser Hippie-Drückeberger gewesen wärst, wer weiß, vielleicht hättest du dann drüben in Nam so viel gesehen, dass du sogar mein Gefühl von professionellem Ennui nachvollziehen könntest, wenn ich wieder mal einen Abgenippelten, wie wir das nennen, zu sehen kriege, mit dem ich mich befassen muss.»

«Wer ist das?» Doc machte eine Kopfbewegung zu der Leiche hin.

«War, Sportello. Hier auf Erden sagen wir war. Darf ich vorstellen: Glen Charlock, nach dem du dich erst vor wenigen Stunden namentlich erkundigt hast, wie mehrere Zeugen beschwören werden. Vergessliche Drogensüchtige sollten ein bisschen mehr darauf achten, an wem sie ihre verdrehten Phantasien ausleben. Außerdem hast du, wie es aussieht, beschlossen, einen persönlichen Bodyguard von Mickey Wolfmann kaltzumachen, der ziemlich gute Beziehungen hat. Klingelt bei dem Namen was? Oder vielmehr, rasselt ein Tamburin, wie man in deinem Fall wohl eher sagen muss? Ah, da kommt ja unser Wagen.»

«Hey – mein Auto …»

«Sichergestellt, genau wie sein Besitzer.»

«Ziemlich miese Tour, Bigfoot, sogar für deine Verhältnisse.»

«Hör schon auf, Sportello, du weißt doch, wir nehmen dich mit dem größten Vergnügen mit. Hab ein Auge auf deinen Kopf.»

«Auf meinen … Wie soll ich das denn anstellen, Mann?»

Siefuhrennichtdowntown,sondern aus bullenprotokollarischen Gründen, die Doc verborgen blieben, nur bis zum Revier Compton, wo sie auf den Parkplatz einbogen und neben einem ramponierten 68er El Camino anhielten. Bigfoot stieg aus dem Streifenwagen, ging nach hinten zum Kofferraum und öffnete ihn. «He, Sportello – fass hier mal eben mit an.»

«Ach du – Verzeihung – Scheiße, was ist denn das?», fragte Doc.

«Stacheldraht», erwiderte Bigfoot. «Eine Vierhundertmeter-Rolle galvanisierter Glidden mit Vierfachspitzen und Echtheitszertifikat. Nimmst du das Ende da?»

Das Ding wog ungefähr einen Zentner. Der Cop, der gefahren war, blieb sitzen und sah zu, wie sie es aus dem Kofferraum hoben und auf der Ladefläche des El Camino verstauten, der, wie sich Doc nun erinnerte, Bigfoots Wagen war.

«Gibt’s da, wo du wohnst, Probleme mit Lebendvieh, Bigfoot?»

«Quatsch, mit diesem Draht würde man nie einen Zaun bauen, spinnst du, der ist siebzig Jahre alt, in erstklassigem Zustand –»

«Moment mal. Du … sammelst … Stacheldraht?»

Tja, allerdings, wie sich herausstellte, und außerdem Sporen, Geschirr, Cowboy-Sombreros, Saloongemälde, Sheriffsterne, Kugelgussformen und anderen Wildwestklimbim. «Das heißt, falls du nichts dagegen hast, Sportello.»

«He, immer mit der Ruhe, Jolly Rancher, ich bin nicht scharf auf ein Duell mit einem Stacheldrahtsammler. Was sich einer in seinen Pick-up legt, ist seine Sache, oder?»

«Das will ich auch hoffen», sagte Bigfoot naserümpfend. «Na los, gehen wir rein, mal sehen, ob wir ein freies Kabuff finden.»

Docs Geschichte mit Bigfoot, die mit kleineren Drogenepisoden, Autodurchsuchungen überall am Sepulveda Boulevard und wiederholten Haustürreparaturen begonnen hatte, war vor ein paar Jahren während des Falls Lunchwater eskaliert, einer von mehreren schmutzigen Ehegeschichten, die damals Docs Zeit in Anspruch genommen hatten. Der Ehemann, ein Steuerberater, hatte sich erstklassige Überwachung für billiges Geld versprochen und Doc beauftragt, seine Frau im Auge zu behalten. Nachdem er ein paar Tage lang das Haus des Liebhabers überwacht hatte, beschloss Doc, aufs Dach zu steigen und durch ein Oberlicht einen genaueren Blick in das Schlafzimmer unten zu werfen, wo sich die Vorgänge als dermaßen alltäglich erwiesen – eher 08/​15 als 666 –, dass er beschloss, sich einen Joint anzuzünden, um sich die Zeit zu vertreiben, und er zog im Dunkeln einen aus der Tasche, der einschläfender wirkte, als er es beabsichtigt hatte. Nicht lange, und er war weggedämmert und die flache Schräge des roten Ziegeldachs halb hinuntergerollt und halb hinuntergerutscht, um mit dem Kopf in der Regenrinne liegen zu bleiben, wo er es dann fertigbrachte, die folgenden Ereignisse zu verschlafen, darunter das Eintreffen des Ehemanns, erhebliches Geschrei und mehrere Schüsse, die so laut waren, dass die Nachbarn sich veranlasst sahen, die Polizei zu rufen. Als Bigfoot, der zufällig in der Nähe Streife fuhr, auftauchte, fand er Ehemann und Liebhaber tot und die Ehefrau attraktiv zerzaust und schluchzend vor, in der Hand einen 22er, den sie anstarrte, als wäre es das erste Mal, dass sie so ein Ding zu Gesicht bekam. Oben auf dem Dach schnarchte Doc noch immer vor sich hin.

Schnellvorlauf auf Compton und den heutigen Tag. «Was uns beschäftigt», versuchte Bigfoot zu erklären, «ist dieses ‹Muster›, wie wir das bei der Mordkommission nennen. Das ist unseres Wissens jetzt schon das zweite Mal, dass man dich schlafend am Schauplatz eines größeren Verbrechens vorfindet und du außerstande – oder darf ich sagen ‹nicht bereit›? – bist, uns irgendwelche Einzelheiten zu liefern.»

«’ne Menge Laub und Zweige und so ’n Scheiß in meinem Haar», meinte sich Doc zu erinnern. Bigfoot nickte ermutigend. «Und … da war ein Feuerwehrauto mit einer Leiter. So bin ich dann wohl vom Dach runtergekommen.» Sie sahen einander eine Zeitlang an.

«Ich habe eher an vorhin gedacht», sagte Bigfoot mit einem Anflug von Ungeduld. «Channel View Estates, Chick Planet Massage, mehr so in die Richtung.»

«Ach so. Tja, da war ich bewusstlos, Mann.»

«Ja. Ja, aber davor, als du deine tödliche Begegnung mit Glen Charlock hattest … wann genau in der Ereignisfolge, würdest du sagen, spielte sich das ab?»

«Ich habe dir doch gesagt, als ich ihn zum ersten Mal gesehen habe, war er schon tot.»

«Dann also seine Kollegen. Mit wie vielen von denen warst du schon bekannt?»

«Normalerweise häng ich nicht mit solchen Typen rum, das total falsche Drogenprofil, zu viele Barbis, zu viel Speed.»

«Was seid ihr Kiffer exklusiv. Würdest du sagen, du hast Anstoß an Glens Vorliebe für Barbiturate und Amphetamine genommen?»

«Klar, ich hatte vor, ihn der User-Ethikkommission zu melden.»

«Ja, nun ist aber deine Exfreundin Shasta Fay Hepworth bekanntermaßen eine intime Freundin von Glens Brötchengeber Mickey Wolfmann. Meinst du, Glen und Shasta haben … du weißt schon …» Er ballte die Hand locker zur Faust und ließ den Mittelfinger der anderen Hand für Docs Begriffe viel zu lang darin vor- und zurückgleiten. «Was hast du dabei empfunden, wo du doch immer noch nach ihr schmachtest und sie ständig mit all diesen fiesen Nazitypen zusammensteckt?»

«Mach ruhig ein bisschen weiter, Bigfoot, ich glaube, ich kriege einen Ständer.»

«Zäher kleiner Spaghettifresser, wie mein Kumpel Fatso Judson immer sagt.»

«Falls Sie’s vergessen haben, Lieutenant, wir beide sind praktisch in derselben Branche, bloß dass ich keine Freikarte habe, ständig Leute abzuknallen und so weiter. Aber wenn ich auf Ihrem Stuhl säße, würde ich mich wahrscheinlich genauso verhalten und als Nächstes vielleicht ein paar Bemerkungen über meine Mutter vom Stapel lassen. Oder vielmehr über Ihre Mutter, weil Sie ja dann ich wären … hab ich das jetzt richtig?»

Seinen Anwalt Sauncho Smilax durfte Doc erst mitten in der Rush Hour anrufen. Eigentlich arbeitete Sauncho in einer Kanzlei für Seerecht namens Hardy, Gridley und Chatfield am Jachthafen, und in puncto Strafrecht sah sein Lebenslauf eher mau aus. Er und Doc hatten sich eines Nachts zufällig im Food Giant am Sepulveda kennengelernt. Sauncho, damals noch ein Novize in Sachen Dope, hatte gerade erfahren, dass man Samen und Stiele aussortieren musste, und stand im Begriff, sich ein Mehlsieb zu kaufen, als ihm plötzlich aufging, dass die Leute an der Kasse die Polizei rufen würden, weil ihnen sofort klar wäre, wofür er das Sieb brauchte. Er verfiel in eine Art paranoider Starre, und in diesem Augenblick kam Doc, der einen Anfall von mitternächtlichem Schokoladenmangel erlitten hatte, aus einem Gang mit Süßigkeiten gesaust und krachte mit seinem Einkaufswagen in den von Sauncho.

Mit dem Zusammenprall erwachten die juristischen Reflexe wieder zum Leben. «Hey, hätten Sie was dagegen, wenn ich das Sieb hier zwecks Tarnung zu Ihrem Zeug lege?»

«Nein», sagte Doc, «aber wenn Sie schon paranoid sind, wie sieht’s denn dann mit der ganzen Schokolade aus, Mann …?»

«Ach so. Vielleicht … legen wir dann lieber noch ein paar, na ja, unverfängliche Sachen dazu …»

Bis sie zur Kasse kamen, hatten sie irgendwie noch Waren im Wert von hundert Dollar hinzuerworben, darunter ein halbes Dutzend obligatorische Packungen Kuchenmischung, ein Viereinhalbliter-Karton Guacamole und mehrere riesige Beutel Tortillachips, ein Kasten Boysenbeerenlimonade der Hausmarke, der größte Teil des Inhalts der Sara-Lee-Desserttiefkühltruhe, Glühbirnen und Waschmittel für die Spießerfassade und, nach Stunden – so schien es ihnen jedenfalls – in der internationalen Abteilung ein Sortiment von in Frischhaltefolie eingeschweißten japanischen Pickles, die cool aussahen.

Irgendwann zwischendurch erwähnte Sauncho, dass er Anwalt war.

«Ist ja irre. Die Leute erzählen mir ständig, dass ich einen ‹Strafrechtler› brauche, und verstehen Sie mich recht, das ist jetzt nicht persönlich gemeint, aber –»

«Eigentlich bin ich Anwalt für Seerecht.»

Doc dachte darüber nach. «Sie meinen … das Recht auf freie Sicht? Und das Hör-, Riech- und Fühlrecht – damit haben Sie nichts am Hut?»

Während sich das alles aufklärte, erfuhr Doc außerdem, dass Sauncho erst kürzlich sein Examen an der SC abgelegt hatte und wie so viele Exstudenten außerstande war, sein früheres Verbindungsleben aufzugeben, weshalb er in Strandnähe wohnte – und zwar nicht weit von Doc entfernt, wie sich herausstellte.

«Vielleicht geben Sie mir mal besser Ihre Karte», sagte Doc. «Man kann nie wissen. Zoff mit Bootsbesitzern, ausgelaufenes Öl, irgendwas.»

Sauncho wurde nie offiziell mandatiert, aber nach ein paar nächtlichen Panikanrufen von Doc begann er doch, ein unerwartetes Talent für den Umgang mit Kautionsbürgen und Schreibtischhengsten in Polizeirevieren an den Tag zu legen, und eines Tages wurde beiden klar, dass er – wie es so schön heißt, de facto – Docs Anwalt geworden war.

Sauncho meldete sich nun einigermaßen aufgeregt.

«Doc! Hast du den Fernseher an?»

«Ich darf hier nur drei Minuten telefonieren, Saunch, die haben mich nach Compton gebracht, und es ist wieder mal Bigfoot.»

«Ja, gut, ich guck hier gerade Zeichentrickfilme, okay? Und der eine mit Donald Duck, da bin ich echt ins Rotieren gekommen.» In Saunchos Leben gab es nicht so viele Leute, mit denen er reden konnte, und er hatte Doc schon immer für ein leichtes Opfer gehalten.

«Hast du einen Stift, Saunch? Hier ist das Aktenzeichen, könntest du dir das notieren –» Doc begann ihm ganz langsam das Aktenzeichen vorzulesen.

«Pass auf, es geht um Donald und Goofy, ja? Und die sind in einem Rettungsfloß und treiben auf dem Meer. So wie’s aussieht, schon seit Wochen. Und nach einer Weile fällt dir bei den Nahaufnahmen von Donald auf, dass er so Bartstoppeln hat. Die ihm aus dem Schnabel wachsen. Kapierst du, was das bedeutet?»

«Wenn ich mal einen Moment Zeit finde, darüber nachzudenken, Saunch, aber hier kommt gerade Bigfoot, und der macht so ein Gesicht, wenn du also das Aktenzeichen nochmal wiederholen könntest, okay?, und –»

«Wir haben immer ein bestimmtes Bild von Donald Duck gehabt, wir sind davon ausgegangen, dass er in seinem normalen Leben ständig so aussieht, dabei hat er sich in Wirklichkeit schon immer jeden Tag den Schnabel rasieren müssen. So wie ich das sehe, muss das von Daisy ausgehen. Und das wiederum heißt, was für hygienische Anforderungen stellt die Braut sonst noch an ihn, verstehst du?»

Bigfoot stand da und pfiff irgendeinen Country-and-Western-Song, bis Doc, ohne sich große Hoffnungen zu machen, auflegte.

«Also dann, wo waren wir stehengeblieben», sagte Bigfoot und tat so, als konsultierte er irgendwelche Notizen. «Während der Verdächtige – das bist du – angeblich seinen für den Hippie-Lebensstil so unverzichtbaren Mittagsschlaf hält, kommt es in der unmittelbaren Umgebung der Channel View Estates zu einem wie auch immer gearteten Zwischenfall. Schusswaffen werden abgefeuert. Als der Staub sich setzt, finden wir einen gewissen Glen Charlock tot vor. Noch spannender für das LAPD ist aber, dass der Mann, den Charlock beschützen sollte, nämlich Michael Z. Wolfmann, verschwunden ist, sodass den hiesigen Polizeikräften weniger als vierundzwanzig Stunden bleiben, bis die Feds das Ganze als Entführung bezeichnen und angetrampelt kommen, um alles in den Sand zu setzen. Vielleicht, Sportello, könntest du dazu beitragen, das abzuwenden, indem du uns die Namen der anderen Mitglieder deines Kults nennst? Das wäre für uns hier bei der Mordkommission ungemein hilfreich und außerdem deine große Chance, wenn der Prozesstermin näherrückt.»

«Meines Kults.»

«Die L. A. Times hat mich mehr als einmal als Renaissance-Detektiv bezeichnet», sagte Bigfoot bescheiden, «und das bedeutet, dass ich vieles bin – aber eines bin ich ganz bestimmt nicht, nämlich blöd, und das, Noblesse oblige, unterstelle ich jetzt auch mal bei dir. Kein Mensch wäre jemals so blöd gewesen, das allein zu versuchen. Weshalb sich der Gedanke an eine mansonoide Verschwörung aufdrängt, meinst du nicht auch?»

Nach nicht mehr als einer Stunde dieser Art von Befragung tauchte zu Docs Überraschung tatsächlich Sauncho an der Tür auf und legte sich sofort mit Bigfoot an.

«Lieutenant, Sie wissen ganz genau, dass Sie überhaupt nichts in der Hand haben, wenn Sie ihn also offiziell beschuldigen wollen, nur zu. Ansonsten –»

«Sauncho», blaffte Doc, «halt bloß die Luft an, denk dran, wen du vor dir hast und wie empfindlich er sein kann – Bigfoot, beachte ihn einfach nicht, er guckt zu viele Gerichtsfilme –»

«So wie’s aussieht», sagte Detective Bjornsen mit dem unverwandten, sinistren Blick, mit dem er Leutseligkeit auszudrücken pflegte, «könnten wir die Sache wohl tatsächlich vor Gericht bringen, aber bei dem Pech, das wir immer haben, bestünde die Geschworenenliste wahrscheinlich zu neunzig Prozent aus Hippiefreaks plus irgendeinem langhaarigen Sympathisanten von einem Staatsanwalt, der den Fall sowieso komplett vergeigen würde.»

«Klar, außer Sie schaffen es, dass an einen anderen Gerichtsort verwiesen wird», sinnierte Sauncho. «Orange County zum Beispiel könnte –»

«Saunch, für wen von uns beiden arbeitest du gleich nochmal?»

«Arbeit würde ich das nicht nennen, Doc, für Arbeit bezahlen mich meine Mandanten nämlich.»

«Dass wir ihn festhalten, ist nur zu seinem eigenen Besten», erklärte Bigfoot. «Er ist in einen aufsehenerregenden Mord und eine mögliche Entführung verwickelt, und wer weiß, vielleicht ist er ja als Nächster dran. Vielleicht stellt sich heraus, dass wir es mit einem Täter zu tun haben, der besonders gern Hippies umbringt – obwohl, wenn er Sportello auf seiner Liste hat, gerate ich vielleicht in einen Interessenkonflikt.»

«Ach was, Bigfoot, das meinst du nicht ernst … wenn ich umgelegt werde? Überleg doch mal, wie viel Zeit und Mühe es dich kostet, jemand anderen zu finden, den du schikanieren kannst.»

«Wieso denn Mühe? Ich gehe zur Tür raus, steige in den Wagen, fahr irgendeine Straße lang, und ruck, zuck stehe ich mitten in einer Riesenherde von euch Hippiefreaks, und jeder ist ein besserer Prügelknabe als der letzte.»

«Das ist ja peinlich», sagte Sauncho. «Vielleicht sucht ihr zwei euch was anderes als ein Verhörkabuff.»

Die Lokalnachrichten fingen an, und alle gingen hinaus, um sie sich anzusehen. Der Bildschirm zeigte die Channel View Estates – eine trostlos wirkende Ansicht der Miniplaza, besetzt von Polizeifahrzeugen in Panzerdivionsstärke, kreuz und quer geparkt, mit eingeschalteter Festbeleuchtung, auf den Stoßstangen sitzend Cops, die Kaffee tranken, und in Nahaufnahme Bigfoot Bjornsen, das Haar zum Schutz gegen die Santa Anas mit Aqua Net angeklatscht, wie er gerade erklärte: «… offenbar eine Gruppe Zivilisten bei irgendeiner Übung in Antiguerillakriegführung. Vielleicht sind sie davon ausgegangen, dass dieses Baugelände mit seinen noch nicht bezugsfertigen Häusern so verlassen ist, dass es eine wirklichkeitsnahe Kulisse für ein, wie wir annehmen müssen, harmloses patriotisches Szenario abgibt.» Die japanisch-amerikanische Sahneschnitte mit dem Mikrophon wandte sich frontal zur Kamera und fuhr fort: «Tragischerweise geriet jedoch irgendwie scharfe Munition in dieses Kriegsspiel, und heute Abend fand ein ehemaliger Gefängnisinsasse den Tod, während der prominente Baulöwe Michael Wolfmann auf mysteriöse Weise verschwunden ist. Die Polizei hält zwecks Befragung mehrere Verdächtige fest.»

Werbeunterbrechung. «Moment mal», sagte Detective Bjornsen wie zu sich selbst. «Da kommt mir gerade eine Idee. Sportello, ich glaube, ich gebe dir doch einen Tritt in den Hintern.» Doc zuckte zusammen, doch dann fiel ihm ein, dass das außerdem Bullenslang für «freilassen» war. Bigfoots Überlegung war, dass er mit Docs Freilassung die Aufmerksamkeit der wirklichen Täter erregen würde. Außerdem würde ihm das einen Vorwand liefern, Doc zu beschatten, falls es etwas gab, was Doc ihm verschwieg.

«Auf geht’s, Sportello, fahren wir.»