Gegen den Tag - Thomas Pynchon - E-Book

Gegen den Tag E-Book

Thomas Pynchon

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Beschreibung

Dieser Roman umspannt den Zeitraum zwischen der Weltausstellung in Chicago 1893 und den Jahren kurz nach dem Ersten Weltkrieg; er führt von Colorado über London und Göttingen, Venedig und Wien, den Balkan, Sibirien bis zum Hollywood der Stummfilmära sowie an ein, zwei Orte, die auf keiner Landkarte zu finden sind. Mit schrankenloser Phantasie und mit kauzigem Witz erzählt Thomas Pynchon von Macht, Dynamit und zügelloser Geldgier: «Vielleicht ist dies nicht die Welt, aber mit ein, zwei kleinen Änderungen könnte sie es sein.» «Das einzige Buch dieser Jahre, das die Welt, wie sie ist, tatsächlich herausfordert.» (Süddeutsche Zeitung) «Ein Meisterwerk, wie man es als Literaturkritiker vielleicht nur einmal in seinem Leben annoncieren darf … aktueller als hier hat Pynchon nie geschrieben.» (Denis Scheck)

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Seitenzahl: 2310

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Thomas Pynchon

Gegen den Tag

Roman

Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl und Dirk van Gunsteren

It´s alway night, or we wouldn´t need light.

THELONIOUS MONK

EINS

Das Licht über den Weiten

Vorspring und Achterleine loswerfen!»

«Frischauf jetzt … langsam und vorsichtig … sehr schön! Fertig machen zum Ablegen!»

«Windy City, wir kommen!»

«Hurra! Wir fliegen!»

Unter derlei lebhaften Ausrufen stieg das wasserstoffbetriebene Luftschiff Inconvenience, seine Gondel mit patriotischen Fähnchen geschmückt, an Bord eine fünfköpfige Besatzung – allesamt Mitglieder jenes berühmten, unter dem Namen Freunde der Fährnis bekannten aeronautischen Clubs –, zügig in den Morgen auf und wurde alsbald vom Südwind erfasst.

Nachdem das Schiff Reiseflughöhe erreicht hatte und alles, was an Erscheinungen auf dem Boden zurückgeblieben, auf beinahe mikroskopische Größe zusammengeschrumpft war, verkündete Randolph St. Cosmo, der Schiffskommandant: «Wegtreten von Manöverstation», und die Jungs, jeder in der schmucken, aus rotweiß gestreiftem Blazer und himmelblauer Hose bestehenden Sommeruniform, gehorchten munter.

Ihr Ziel an diesem Tag war die Stadt Chicago und die jüngst dort eröffnete Weltausstellung. Seit ihre Befehle eingegangen waren, hatte das «Gemunkel» unter den aufgeregten und neugierigen Mannschaften wenig anderes zum Gegenstand gehabt als die sagenhafte «Weiße Stadt», ihr gewaltiges Riesenrad, ihre alabasternen Tempel des Handels und der Industrie, ihre funkelnden Lagunen und die tausend anderen vergleichbaren Wunder wissenschaftlicher wie künstlerischer Art, die ihrer dort harrten.

«Junge, Junge!», rief Darby Suckling, während er sich über die Halteleinen beugte und zusah, wie sich der weite Bogen des amerikanischen Herzlandes tief unten in einem verschwimmenden Wirbel von Grün hinzog, sodass seine flachsblonden Locken im Wind an der Gondel entlangflogen wie ein leewärts flatterndes Banner. (Darby war, wie meine getreuen Leser sich erinnern werden, das «Nesthäkchen» der Mannschaft, diente zugleich als Maskottchen und Faktotum und übernahm außerdem die schwierigen Sopranstellen, wann immer es die jugendlichen Aeronauten zu Gesängen irgendwelcher Art drängte.) «Ich kann es überhaupt gar nicht erwarten!», rief er aus.

«Was dir soeben weitere fünf Tadel eingebracht hat!», beschied ihn eine strenge Stimme dicht an seinem Ohr, während er jäh von hinten gepackt und von den Halteleinen weggezogen wurde. «Oder sagen wir zehn? Wie oft», fuhr Lindsay Noseworth, stellvertretender Kommandant und bekannt für seine Unduldsamkeit gegen jederlei Zurschaustellung von Laxheit, fort, «hat man dich wegen regelwidriger Redeweise verwarnt?» Mit der Gewandtheit, die sich langer Übung verdankte, stellte er Darby auf den Kopf und hielt das Fliegengewicht an den Knöcheln in den leeren Raum hinaus – «terra firma» lag mittlerweile gut und gern einen Kilometer tiefer –, um ihm sodann einen Vortrag über die vielen Übel einer nachlässigen Ausdrucksweise zu halten, deren nicht geringstes darin zu sehen sei, dass sie unschwer zum Fluchen und zu noch Schlimmerem führen könne. Da jedoch Darby die ganze Zeit vor Entsetzen schrie, bleibt zweifelhaft, wie viele dieser nützlichen Anregungen tatsächlich ihren Adressaten fanden.

«Nun reicht es, Lindsay», meinte Randolph St. Cosmo. «Der Bursche hat zu tun, und wenn du ihn so erschreckst, wird er bestimmt nicht zu viel nütze sein.»

«Na schön, Kleiner, mach dich an die Arbeit», brummte Lindsay und stellte den verängstigten Darby widerwillig wieder auf die Füße. Als Schiffsprofoss, der für die Disziplin an Bord zuständig war, versah er sein Amt mit einer humorlosen Strenge, die den unbefangenen Beobachter leicht an eine Form von Monomanie hätte denken lassen können. Doch angesichts der Unbedenklichkeit, mit der die temperamentvolle Mannschaft dazu neigte, Vorwände für allerlei halsbrecherischen Unsinn zu finden – was mehr als einmal zu «brenzligen» Situationen von der Art geführt hatte, die einen Aeronauten vor Entsetzen erstarren lassen –, erlaubte Randolph seinem Stellvertreter normalerweise, schärfer als eigentlich notwendig durchzugreifen.

Vom anderen Ende der Gondel war ein längeres Scheppern zu hören, gefolgt von einem unbeherrschten Gebrummel, das Randolph, wie stets, veranlasste, die Stirn zu runzeln und sich an den Magen zu fassen. «Ich bin bloß über einen der Picknickkörbe gestolpert», rief Miles Blundell, Handlanger und Lehrling, «so, wie es aussieht, den, in dem das ganze Geschirr drin war … ich hab ihn wohl nicht gesehen, Professor.»

«Vielleicht hat ihn seine Vertrautheit», gab Randolph in klagendem Ton zu bedenken, «vorübergehend unsichtbar für dich gemacht.» Sein Tadel, wiewohl am Rande des Sarkasmus, war wohlbegründet, denn Miles hatte zwar nur die besten Absichten und besaß von allen in der kleinen Schar das freundlichste Herz, litt zuweilen jedoch unter einer Störung seiner motorischen Prozesse, die oft kurzweilige Folgen zeitigte, doch ebenso häufig auch die Sicherheit der Mannschaft aufs Spiel setzte. Während er nun umherging und die Scherben des zu Bruch gegangenen Porzellans aufhob, erregte er die Heiterkeit eines gewissen Chick Counterfly, des neuesten Mitgliedes der Mannschaft, das ihm, an ein Stag gelehnt, zusah.

«Haha», rief der junge Counterfly, «also wirklich, du bist der größte Trampel, den ich je gesehen habe! Hahaha!» Eine wütende Entgegnung drängte sich Miles auf die Lippen. Doch er verkniff sie sich, indem er sich in Erinnerung rief, dass Beleidigung und Kränkung der Gesellschaftsklasse, welcher der Neuling entsprang, ganz selbstverständlich waren und man seine Redeweise daher auf Rechnung seiner unzuträglichen Vergangenheit schreiben musste.

«Warum gibst du mir nicht was von dem feinen Silberzeug, Blundell?», fuhr der junge Counterfly nun fort. «Und wenn wir nach Chicago kommen, suchen wir uns eine Pfandleihe, u-und dann –»

«Darf ich dich darauf aufmerksam machen», erwiderte Miles höflich, «dass alles Tischgeschirr, welches das Zeichen der Freunde der Fährnis trägt, Eigentum der Organisation ist und zum Gebrauch während offizieller Mahlzeiten an Bord vorgehalten wird.»

«Ist ja wie in der Sonntagsschule hier», brummelte der unverschämte Bursche.

An einem Ende der Gondel lag, ohne das Hin und Her auf Deck groß zu beachten, mit dann und wann ausdrucksvoll auf die Planken klopfendem Schwanz und die Nase zwischen die Seiten eines Werkes von Mr.Henry James gesteckt, ein Hund von unbestimmter Rasse, allem Anschein nach von dem Text vor ihm ganz und gar gefangen genommen. Seit die Freunde Pugnax – damals noch ein Welpe – im Zuge eines Geheimauftrages in unserer Landeshauptstadt (vgl. Die Freunde der Fährnis und der böse Kretin) aus einem wütenden Scharmützel rivalisierender Rudel wilder Hunde des Bezirks im Schatten des Washington Monument gerettet, hatte dieser es sich angewöhnt, die Seiten alles Gedruckten zu durchforschen, das an Bord der Inconvenience gelangte, von theoretischen Abhandlungen zur Luftfahrtkunst bis hin zu oft auch weniger angemessenem Lesestoff wie etwa «Groschenromanen» – obgleich seine Vorliebe eher sentimentalen Geschichten über seine eigene Spezies zu gelten schien als solchen, die Extreme menschlichen Verhaltens darstellten, das er offenbar etwas unheimlich fand. Mit der schnellen Auffassungsgabe, die Hunden eigen ist, hatte er gelernt, mittels Nase oder Pfoten äußerst behutsam umzublättern, und wer ihm bei dieser Beschäftigung zusah, konnte nicht umhin, sein Mienenspiel zu bemerken, insbesondere die ungemein ausdrucksvollen Augenbrauen, die zu einem Gesamteindruck von Interesse, Mitgefühl und – die Schlussfolgerung war schwerlich von der Hand zu weisen – Verständnis beitrugen.

Mittlerweile selbst ein alter Hase der Luftschifffahrt, hatte Pugnax wie der Rest der Mannschaft gelernt, einem «menschlichen Rühren» dergestalt nachzugeben, dass er sich an die dem Wind abgekehrte Seite der Gondel verfügte, was Überraschungen unter der Bevölkerung am Boden zur Folge hatte, freilich nicht oft oder auch nur auffällig genug, als dass irgendwer den Versuch unternommen hätte, Berichte über diese urinalen Angriffe aus der Luft aufzuzeichnen oder gar zu koordinieren. Sie gingen vielmehr in das Reich der Folklore, des Aberglaubens oder vielleicht auch – wenn man den Begriff nur entsprechend weit fasst – des Religiösen ein.

Nachdem sich Darby Suckling von seinem jüngsten Abstecher in die Atmosphäre erholt hatte, wandte er sich an den lernbegierigen Caniden. «Sag mal, Pugnax – was liest du denn gerade, mein Alter?»

«Rr Rff-rff Rr-rr-rff-rrf-rrf», entgegnete Pugnax, ohne aufzublicken, was Darby, der sich wie der Rest der Mannschaft an Pugnax’ Stimme gewöhnt hatte – und das im Grunde leichter als an so manchen regionalen amerikanischen Akzent, den die Jungen auf ihren Fahrten zu hören bekamen –, nun als «Prinzessin Casamassima» interpretierte.

«Aha. Eine Art … italienischer Liebesroman, möchte ich wetten?»

«Thema des Werkes», wurde er von dem allzeit wachsamen Lindsay Noseworth, der das Gespräch zufällig mit angehört hatte, prompt belehrt, «ist die unerbittlich ansteigende Flut des weltweiten Anarchismus, der an unserem derzeitigen Reiseziel besonders üppig grassiert – ein unheilvolles Leiden, dem wir, so will ich hoffen, nicht unmittelbarer ausgesetzt sein werden, als es Pugnax im Augenblick widerfährt, nämlich gefahrlos auf den Seiten eines Buches.» Wobei er dem Wort «Buch» eine Betonung verlieh, an deren Grad von Verachtung wahrscheinlich nur höhere Ränge annähernd heranreichen. Pugnax schnupperte kurz in Lindsays Richtung, bemüht, jene Verbindung olfaktorischer «Noten» zu entdecken, die er bei Menschen festzustellen gewohnt war. Doch wie immer entging ihm dieser Geruch. Dafür mochte es eine Erklärung geben, obgleich er nicht recht wusste, ob er auf einer solchen bestehen sollte. Erklärungen schienen, soweit er es beurteilen konnte, nichts zu sein, worauf Hunde bedacht waren, geschweige denn Anspruch hatten. Zumal Hunde, die so viel Zeit wie er, Pugnax, hier oben verbrachten, am Himmel, weit über dem unerschöpflichen Komplex von Düften, der sich unten an der Oberfläche des Planeten fand.

Der Wind, der bislang stetig von Steuerbord geweht hatte, begann zu drehen. Da sie Befehl erhalten hatten, sich unverzüglich nach Chicago zu verfügen, rief Randolph, nachdem er eine aeronautische Karte des unter ihnen liegenden Landes zu Rate gezogen: «Auf, Suckling – zum Anemometer aufentern –, Blundell und Counterfly, an die Schraube», womit er ein Vortriebsmittel zur Erhöhung der Reisegeschwindigkeit der Inconvenience meinte, das meinen eher wissenschaftlich veranlagten Lesern aus den früheren Abenteuern der Jungs (Die Freunde der Fährnis auf Krakatau, Die Freunde der Fährnis und die Suche nach Atlantis) erinnerlich sein dürfte – erfunden von ihrem langjährigen Freund Professor Heino Vanderjuice aus New Haven und angetrieben von einer sinnreichen Turbine, deren Kessel durch Verbrennung von überschüssigem, über eine spezielle Anordnung von Ventilen aus der Hülle gewonnenem Wasserstoff angeheizt wurde – wiewohl die Erfindung, wie vorauszusehen, von Dr.Vanderjuice’ zahlreichen Rivalen als ein Unding geschmäht worden war, das einem Perpetuum mobile gleichkomme und in eindeutigem Widerspruch zu den Gesetzen der Thermodynamik stehe.

Miles mit seinen marginalen Koordinationsfähigkeiten und Chick mit einem ebenso deutlich wahrnehmbaren Mangel an Eifer nahmen ihren Posten am Steuerpult der Vorrichtung ein, während Darby Suckling unterdessen die Webeleinen und Wanten der riesigen ellipsoidischen Hülle, an der die Gondel hing, bis ganz nach oben emporkletterte, wo die Luft ungehindert strömte, um sodann von einem Anemometer Robinson’scher Bauart genaue Windmessungen als Indikator für die Fortbewegungsgeschwindigkeit des Schiffes abzulesen und sie als schriftliche, in einem Tennisball an einer Leine herabgelassene Mitteilung an die Brücke weiterzuleiten. Man wird sich erinnern, dass sich die Mannschaft diese Methode der Informationsübermittlung während ihres kurzen, jedoch ergebnislosen Aufenthaltes «südlich der Grenze» von den niedrigen Elementen abgeschaut hatte, die ihr Leben vergeuden, indem sie auf den Ausgang von pelota-Spielen wetten. (Für Leser, die erst an dieser Stelle mit unserer Schar junger Abenteurer Bekanntschaft schließen, muss sogleich betont werden, dass sich – vielleicht mit Ausnahme des noch unzureichend bekannten Chick Counterfly – keiner jemals der moralisch verderblichen Atmosphäre des «frontón», wie derlei Orte dort genannt werden, ausgesetzt hätte, wenn dies nicht im Zuge der Nachrichtenbeschaffung für das Innenministerium des Präsidenten Porfirio Díaz, zu der sich die Freunde seinerzeit kontraktlich verpflichtet hatten, unabdingbar gewesen wäre. Näheres zu ihren dortigen Taten findet sich in Die Freunde der Fährnis in Mexiko.)

Obwohl das äußerst Gefährliche seines Tuns für alle ersichtlich war, hüllte Darbys Begeisterung für die anstehende Aufgabe seine Elfengestalt wie stets in einen Zaubermantel, der ihn zu beschützen schien, allerdings nicht vor dem Sarkasmus von Chick Counterfly, der dem emporkletternden Maskottchen nun nachrief: «Hey! Suckling! Nur ein Trottel würde sein Leben riskieren, um festzustellen, wie schnell der Wind weht!»

Lindsay Noseworth, als er dies hörte, runzelte peinlich berührt die Stirn. Auch unter Berücksichtigung seiner schwierigen Lebensgeschichte – die Mutter dem Vernehmen nach verschwunden, als er noch ein Säugling war, der Vater eine zwielichtig haltlose Existenz irgendwo in der ehemaligen Konföderation – stellte Counterflys Neigung zu willkürlichen Beleidigungen allmählich eine Bedrohung für seinen Status als Probekandidat bei den Freunden der Fährnis, wenn nicht gar für die Gruppenmoral dar.

Zwei Wochen zuvor an einem Schwarzwasserfluss im tiefen Süden, als die Freunde gerade in einem noch schwebenden, schmerzhaften «Handel» aus der dreißig Jahre zurückliegenden Rebellion zu schlichten versuchten – einem Handel, über den man auch heute tunlichst noch nichts zu Papier bringt –, war Chick eines Abends in einem Zustand äußerster Angst in ihrem Lager aufgetaucht, verfolgt von einem Trupp Reiter in weißen Kutten und unheimlichen spitzen Kapuzen, welche die Jungs sogleich als Mitglieder des gefürchteten «Ku-Klux-Klan» erkannten.

Seine Geschichte, soweit sie sich angesichts der jähen, durch das Gefährliche der Situation noch verstärkten Registerwechsel, welche die Stimme des Heranwachsenden charakterisieren, verstehen ließ, lautete wie folgt: Chicks Vater Richard, ursprünglich aus dem Norden stammend und gemeinhin unter dem Namen «Dick» bekannt, hatte sich seit mehreren Jahren in der ehemaligen Konföderation betätigt und an einer Reihe geschäftlicher Projekte versucht, die sich leider durchweg als erfolglos erwiesen und ihn in nicht wenigen Fällen sogar, wie die Redewendung lautet, bis knapp vors Tor des Zuchthauses gebracht hatte. Schließlich hatte sich «Dick» Counterfly angesichts der unmittelbar bevorstehenden Ankunft eines Polizeiaufgebots, das von seinem Vorhaben erfahren hatte, den Staat Mississippi an ein mysteriöses chinesisches Konsortium mit Sitz in Tijuana, Mexiko, zu verkaufen, rasch in die Nacht abgesetzt und seinem Sohn nichts weiter hinterlassen als eine Hosentasche voll Münzen und die wohlgemeinte Ermahnung: «Muss mich verdünnisieren, Junge – schreib mir, wenn du Arbeit hast.» Seither hatte Chick von der Hand in den Mund gelebt, bis ihn in dem Städtchen Thick Bush, unweit des Lagers der Freunde, jemand als Sohn eines notorischen und weithin gesuchten Bauernfängers erkannt und vorgeschlagen hatte, ihm umgehend eine Behandlung mit Teer und Federn angedeihen zu lassen.

«Sosehr wir auch geneigt wären, dir unseren Schutz anzubieten», hatte Lindsay dem verstörten Jungen mitgeteilt, «hier am Boden sind wir an unsere Charta gebunden, die uns vorschreibt, uns niemals gegen das Gewohnheitsrecht einer Örtlichkeit zu stellen, auf die wir zufällig niedergegangen sein mögen.»

«Sie sind nicht von hier», erwiderte Chick in etwas scharfem Ton. «Wenn die hier hinter einem her sind, hat das nicht die Bohne mit Recht zu tun – dann heißt’s nur noch, lauf, Yankee, lauf, und Katie, leg den Riegel vor.»

«In höflicher Rede», beeilte sich Lindsay ihn zu korrigieren, «sagt man besser ‹gar nichts› anstatt ‹nicht die Bohne›.»

«Noseworth, um der Liebe Christi willen!», rief Randolph St. Cosmo, der die mit Kutten und Kapuzen angetanen Gestalten im Umkreis des Lagers schon seit geraumer Weile besorgt beäugte, indes die lodernden Fackeln, die sie mit sich führten, sämtliche Falten und Knitter ihrer primitiven Verkleidung mit geradezu bühnenhafter Präzision ausleuchteten und unheimliche Schatten auf Tupelo, Zypresse und Hickory warfen. «Hier gibt es nichts weiter zu diskutieren – dem Burschen wird Asyl und, wenn er es wünscht, die vorläufige Mitgliedschaft in unserer Einheit gewährt. Hier unten hat er ganz gewiss keine Zukunft mehr.»

Aus Furcht, dass Funken von den Fackeln des Pöbels in die Nähe des wasserstofferzeugenden Apparats fliegen und eine Katastrophe auslösen könnten, hatten sie die Nacht in schlafloser Achtsamkeit verbracht. Irgendwann jedoch hatten sich die ominös gewandeten Landbewohner, vielleicht aus Angst vor ebenjener Maschinerie, zu ihren Behausungen und Schlupfwinkeln getrollt. Und Chick Counterfly war, auf Glück und Unglück, bei ihnen geblieben …

Der Schraubenmechanismus beschleunigte das Schiff bald auf eine Geschwindigkeit, die es zusammen mit der des achterlichen Windes vom Boden aus nahezu unsichtbar machte. «Wir fliegen um einiges schneller als anderthalb Kilometer pro Minute», bemerkte vom Steuerpult aus Chick Counterfly, außerstande, seine Stimme von einer gewissen Ehrfurcht frei zu halten.

«Damit könnten wir bis Einbruch der Nacht in Chicago sein», kalkulierte Randolph St. Cosmo. «Alles in Ordnung, Counterfly?»

«Bestens!», rief Chick aus.

Wie die meisten «Rekruten» der Organisation hatte Chick festgestellt, dass seine anfänglichen Schwierigkeiten nicht so sehr der Geschwindigkeit als vielmehr der Höhe und der damit einhergehenden Veränderung von Luftdruck und Temperatur geschuldet waren. Auf den ersten Flügen tat er ohne zu klagen seine Pflicht, wurde eines Tages jedoch dabei ertappt, wie er unerlaubterweise einen Spind durchstöberte, der verschiedene Stücke arktischer Kleidung enthielt. Von Lindsay Noseworth zur Rede gestellt, konnte der Bursche zu seiner Verteidigung nur zähneklappernd «K-k-kalt!» stammeln.

«Glaube ja nicht», belehrte ihn Lindsay, «du seist mit deiner Aufnahme an Bord der Inconvenience in ein Reich des Kontrafaktischen entkommen. Es mag hier oben keine Mangrovensümpfe und keine Lynchjustiz geben, aber wir müssen gleichwohl mit den Zwängen der gegebenen Welt leben, zu deren denkwürdigen der Temperaturabfall mit zunehmender Höhe zählt. Irgendwann dürften deine Empfindlichkeiten in dieser Hinsicht nachlassen, und in der Zwischenzeit» – und damit warf er ihm einen Schlechtwettermantel aus schwarzem japanischem Ziegenleder zu, auf dessen Rücken in gelber Schablonenschrift EIGENTUM DER FREUNDE DER FÄHRNIS stand – «soll das hier nur als Übergangskleidung gelten, bis du dich an diese Höhen gewöhnt und mit etwas Glück die Lektionen gelernt hast, die sich aus dem selbstverständlichen Aufenthalt hier oben ergeben.»

«Die Sache lässt sich mit wenigen Worten zusammenfassen», vertraute Randolph ihm später an. «Aufzusteigen ist, wie nach Norden zu fahren.» Er verharrte blinzelnd, als rechnete er mit einem Kommentar.

«Aber», fiel es Chick ein, «wenn man nur weit genug nach Norden fährt, überfliegt man irgendwann den Pol, und dann bewegt man sich wieder Richtung Süden.»

«Ja.» Der Kommandant des Himmelsschiffes rührte unbehaglich die Schultern.

«Wenn man also … nur hoch genug steigt, kommt man irgendwann wieder herunter?»

«Pst!», warnte Randolph St. Cosmo.

«Man nähert sich vielleicht der Oberfläche eines anderen Planeten?», hakte Chick nach.

«Nicht direkt. Nein. Einer anderen ‹Oberfläche›, aber einer irdischen. Zu unserem Leidwesen oft nur allzu irdisch. Mehr als das möchte ich im Augenblick lieber nicht –»

«Es sind Berufsgeheimnisse», mutmaßte Chick.

«Du wirst schon sehen. Zu gegebener Zeit, versteht sich.»

Während sie im Tiefflug über den Schlachthöfen einschwebten, drang der Geruch zu ihnen, der Geruch und der Aufruhr von Fleisch, das seiner Sterblichkeit innewird – wie die dunkle Unterseite irgendeiner taghellen Fiktion, der, so hatte es zunehmend den Anschein, Vorschub zu leisten sie hierhergeflogen waren. Irgendwo dort unten lag die in den Broschüren der Weltausstellung verheißene Weiße Stadt, irgendwo zwischen den hohen Schornsteinen, die unablässig schwarzen Fettrauch spien, die Ausdünstungen unaufhörlicher Schlächterei, in denen die Gebäude der über Meilen leewärts liegenden Stadt sich verloren wie Kinder in einem Traum, der keine Gnadenfrist vom Tage gewährt. In den Schlachthöfen blickten Arbeiter, die, in überwältigender Mehrheit katholischen Glaubens, von der Schicht kamen und sich ein paar kostbare Sekunden lang von Erde und Blut distanzieren konnten, verwundert zu dem Luftschiff auf, in dem sie wohl eine Abordnung nicht unbedingt hilfreicher Engel vermuteten.

Unter den die Hälse reckenden Freunden der Fährnis zogen sich als kartesisches Gitter in Sepia Meile um Meile Straßen und Gassen hin. «Die große Rinderstadt der Welt», hauchte Lindsay ehrfürchtig. In der Tat sah man weit mehr Rinderrücken als Menschenhüte. Aus dieser Höhe war es, als sähen die Freunde, die früher oft beobachtet hatten, wie die riesigen Rinderherden in wechselnden, wolkenartigen Mustern über die westlichen Ebenen zogen, diese ungeformte Freiheit nun zu einer Bewegung rationalisiert, die sich nur in geraden Linien, rechten Winkeln und einer fortschreitenden Reduktion von Alternativen vollzog, um schließlich in das letzte Tor einzumünden, das zur eigentlichen Schlachtstätte führte.

Kurz vor Sonnenuntergang, während die Inconvenience in unsteten Winden über einem ausgedehnten Stück Prärie dahinhüpfte, das diese Woche zum Schauplatz der großen, internationalen Zusammenkunft von Aeronauten ausersehen war, die in Zusammenhang mit der Weltausstellung stattfand, hatte «Professor» St. Cosmo, als er in der gewaltigen Ansammlung von Luftschiffen, die unten bereits festgemacht hatten, endlich ein freies Stück Wiese erspäht, den Befehl «Fertig machen zur Landung» gegeben. Der Zustand verminderter Aufmerksamkeit, in den er sodann verfallen zu sein schien, wurde bald genug von Lindsay unterbrochen, der gereizt zu bedenken gab: «Wie deiner Aufmerksamkeit sicherlich nicht entgangen ist, hat Blundells leider zur Gewohnheit gewordene Unbeholfenheit mit dem Hauptventil unsere Landegeschwindigkeit in deutlichem, wenn nicht gar alarmierendem Maße erhöht.»

Tatsächlich hatte es der wohlmeinende, aber alles andere als geschickte Miles Blundell irgendwie fertiggebracht, sich das zu dem Ventilmechanismus führende Zugseil um den Fuß zu wickeln, und nun konnte man ihn dabei beobachten, wie er, einen Ausdruck der Verwirrung auf dem breiten, ehrlichen Gesicht, besagte Extremität hin- und herbewegte, in der Hoffnung, das mit Federdruck arbeitende Ventil werde sich so irgendwie wieder schließen – denn es hatte bereits in jähem Schwall eine ungeheure Menge Wasserstoffgas aus der Hülle entweichen lassen, sodass das Schiff auf das Seeufer zustürzte wie ein von irgendeinem kosmischen Bengel fallen gelassenes Spielzeug.

«Herr des Himmels, Blundell!», rief Randolph aus. «Du wirst uns noch alle umbringen!»

«Es hat sich einfach verheddert, Professor», erklärte Miles und zupfte dabei fruchtlos an den Hanfschlingen, die sich ob seiner Bemühungen nur noch mehr verwirrten.

Mit einer unwillkürlichen, aber harmlosen Verwünschung war Lindsay an die Seite des jungen Blundell geeilt und hatte ihn um die stattliche Taille gepackt, um ihn hochzuheben, in der Hoffnung, dies werde das straff gespannte Zugseil lockern und dazu führen, dass das Ventil sich schloss. «Heda, Counterfly», blaffte der stellvertretende Kommandant Chick an, der höhnisch belustigt an einem Gerätespind lungerte, «raff dich einen Moment lang auf und geh mir bei Blundell zur Hand», jenem tollpatschigen, zur Kitzligkeit neigenden Burschen, der in seinen Bemühungen, sich aus Lindsays Griff zu befreien, unterdessen begonnen hatte, zu schreien und herumzustrampeln. Chick Counterfly erhob sich träge und näherte sich dem schwankenden Paar mit einer gewissen Vorsicht, unsicher, an welchem Körperteil er Miles ergreifen konnte, ohne dessen Aufgeregtheit noch zu steigern.

Während das lebenswichtige Gas weiter mit beunruhigendem Heulen dem Ventil zu ihren Häupten entströmte und das Himmelsschiff immer schneller erdwärts stürzte, begriff Randolph, der die hilflosen Bemühungen seiner Mannschaft mit ansehen musste, nur allzu gut, dass die Verantwortung für die unmittelbar drohende Katastrophe wie stets ganz allein bei ihm lag, diesmal, weil er Aufgaben an dafür völlig Ungeeignete delegiert hatte …

Seine Grübeleien wurden von Darby unterbrochen, der herübergeeilt kam und ihn am Blazerärmel zupfte. «Professor, Professor! Lindsay hat gerade eine abfällige Bemerkung über Miles’ Mutter gemacht, dabei triezt er mich ständig von wegen ‹Slang› – ist das vielleicht fair, frage ich Sie?»

«Aufsässiges Geschwätz», erklärte Lindsay streng, «wird dir eines Tages einen ‹Liverpool-Kuss› eintragen, wie man das unter niederen seefahrenden Elementen nennt, und zwar lange bevor du je einen von herkömmlicher Art bekommen wirst, ausgenommen vielleicht jene seltenen Gelegenheiten, bei denen sich deine Mutter, fraglos in irgendeiner Anwandlung von Geistesabwesenheit, imstande gesehen hat, dir dieses erstaunliche, doch, wie ich fürchte (die arme Frau), unangebrachte Zeichen der Zuneigung zuteil werden zu lassen.»

«Sehen Sie, sehen Sie?», kreischte Darby. «Einem so die Mutter schlechtzumachen –»

«Jetzt nicht!», schrie Randolph, schüttelte den zudringlichen Griff des jungen Maskottchens ab und erschreckte ihn fast zu Tode. «Counterfly, der Ballast, Mann! Lass diesen zappelnden Dummkopf los und wirf unsere Sandsäcke ab, sonst sind wir alle erledigt!»

Chick zuckte die Achseln, ließ Miles los und verfügte sich lustlos zum nächstgelegenen Dollbord, um die Ballastsäcke dort loszumachen, wodurch Lindsay, dem keine Zeit blieb, sich auf das erhöhte Gewicht einzustellen, mit einem panischen Schrei auf das Deck hinschlug und der inzwischen nahezu hysterische Miles Blundell auf ihm landete. Mit einem lauten Knall, bei dem es sich ebenso gut um den Donner des Jüngsten Gerichts hätte handeln können, wurde die um seinen Fuß gewickelte Leine von ihrer Befestigung am Hauptventil losgerissen, allerdings nicht ohne zuvor die Feder, die es in eine sicher geschlossene Position hätte zurückführen sollen, über ihre Verformungsgrenze hinaus zu belasten. Das Ventil klaffte nun weit auf – geradezu der Rachen der Hölle!

«Suckling! Aufentern, aber schnell!»

Der allzeit bereite kleine Bursche wuselte die Leinen hoch, während Randolph, ganz von der Krise in Anspruch genommen und über das Deck wankend, irgendwie über Lindsay Noseworth, der bemüht war, unter der sich windenden Masse von Miles Blundell hervorzukommen, stolperte und sich jäh seinen horizontalen Schiffskameraden zugesellte. Im Aufblicken gewahrte er Darby Suckling, der mit fragendem Gesicht zu ihm herunterblickte.

«Was soll ich denn jetzt hier oben tun, Professor?», rief das treuherzige Maskottchen.

Während Randolph Tränen der Frustration in die Augen traten, sprang oder, genauer gesagt, kroch Lindsay, der bei seinem Vorgesetzten eine vertraute Trägheit spürte, die Stimme nur vorübergehend von Miles’ Ellbogen gedämpft, in das Autoritätsvakuum. «Stelle das Ventil von Hand», schrie er zu Darby hinauf, «auf die ‹Geschlossen›-Position», und fügte mit kaum hörbarer Stimme «Du kleiner Narr» hinzu. Darby, dessen Uniform im ausströmenden Gas flatterte, beeilte sich tapfer, dem Befehl nachzukommen.

«Soll ich welche von den Fallschirmausrüstungen klarmachen, Noseworth?», fragte Chick gedehnt.

«Mr. Noseworth», verbesserte ihn Lindsay. «Nein, Counterfly, ich denke nicht, denn dafür wird kaum Zeit sein – außerdem würden die komplexen Vorgänge, die damit einhergingen, Blundell die notwendigen Gerätschaften anzulegen, selbst das topologische Genie eines Herrn Riemann überfordern.» Diese Ironie indes entging Chick ebenso wie ihrem Adressaten, der, nachdem er sich endlich irgendwie aufgerappelt, nun mit heiterer Unbekümmertheit zur Reling hinüberstolperte, offenbar in der Absicht, die Landschaft zu betrachten. Über ihm gelang es Darby mit einem triumphierenden «Hurra!» das Ventil zu schließen, worauf sich das gewaltige Luftschiff in seinem Fall auf eine Geschwindigkeit verlangsamte, welche nicht unheilvoller war als die eines Blattes im Herbst.

«Ich wette, mit den ganzen abgeworfenen Sandsäcken», kommentierte Miles mit einem Blick über die Bordwand, «haben wir den Leutchen da unten einen ganz schönen Schrecken eingejagt.»

«Wie?» Randolph gewann allmählich seine phlegmatisch kompetente Miene wieder. «Wieso das?»

«Na, weil sie Hals über Kopf flüchten», fuhr Miles fort, «u-und einer hat noch nicht mal Kleider an, so sieht’s jedenfalls aus!» Er entnahm einem Gerätespind in seiner Nähe ein starkes Fernrohr und richtete es auf die Gegenstände seiner Neugier.

«Schluss jetzt, Blundell», so Randolph, während er sich vom Boden erhob, «es gibt im Augenblick auch ohne weitere Alfanzereien genug zu tun –» Ein entsetztes Nach-Luft-Schnappen von Miles unterbrach ihn.

«Professor!», rief der Bursche, während er ungläubig durch den brünierten Zylinder spähte, «bei der unbekleideten Gestalt, die ich gemeldet habe – handelt es sich nicht um einen Mann, sondern vielmehr … um eine Frau!»

Es folgte ein «gieriger Ansturm» auf die Reling und ein gemeinsamer Versuch, Miles das Teleskop zu entreißen, der jedoch hartnäckig daran festhielt. Unterdessen starrten oder spähten alle eifrig, um das gemeldete Phänomen zu verifizieren.

Über die Grasnarbe unter ihnen eilte im schwindenden Licht zwischen den helleren Sternformen geplatzter Ballastsäcke hindurch wie über ein irdisches Firmament in unbesonnenem Tempo ein stämmiger Herr in loser Jacke mit Gürtel und Knickerbockern, der sich mit der einen Hand eine «Kreissäge» an den Hinterkopf drückte, während die andere einen photographischen Apparat nebst Dreibein auf seiner Schulter im Gleichgewicht hielt. Ihm auf den Fersen folgte die Begleiterin, die Blundell bemerkt hatte, in den Armen ein Bündel Damenkleidung, wiewohl im Augenblick mit kaum mehr als einer Art Blütendiadem bekleidet, das in einer Fülle blonden Haars auf bezaubernde Weise schief saß. Die beiden schienen einem nahe gelegenen Gehölz zuzustreben und warfen immer wieder furchtsame Blicke nach oben auf die gewaltige Gashülle der niedergehenden Inconvenience, ganz so, als wäre sie ein riesiger Augapfel, vielleicht derjenige der Gesellschaft selbst, der im Geiste konstruktiven Tadels allzeit von oben achtgab. Bis Lindsay das optische Instrument den feuchten Händen von Miles Blundell entwinden und den darob verstimmten Knaben dazu bewegen konnte, Dreggen auszuwerfen und Darby beim Festmachen des großen Luftschiffes an «Mutter Erde» zu helfen, war das unzüchtige Paar im Laubwerk verschwunden, so wie gleich darauf auch dieser Abschnitt der Republik in der hereinbrechenden Dunkelheit.

DARBY HANGELTE SICH wie ein richtiger kleiner Affe Hand über Hand am Ankertau hinab und fing, während er rasch unter der Inconvenience umhertrippelte, geschickt jede der Festmacherleinen auf, die Miles Blundell ihm zuwarf. Indem er mit einem Hammer, einen nach dem anderen, kräftige Holzpflöcke durch die Augsplissungen am Ende der Hanfstränge einschlug, hatte er das riesige Vehikel bald reglos über sich fixiert wie ein von einem kleinen Viehbändiger gefügig gemachtes Tier.

Nun kam klappernd die Jakobsleiter am Rumpf herab und auf dieser gleich darauf in unsicherem Abstieg Miles, überragt von einem gewaltigen Sack schmutziger Wäsche. Im Westen war nur ein tief purpurroter Nachglanz geblieben, vor dem sich Miles’ Silhouette ebenso wie die der Köpfe der anderen Jungen über dem geschwungenen Rand der Gondel abzeichnete.

Schon seit dem Morgen, vor Tagesanbruch, war den ganzen Tag lang eine ausgelassene, mit Picknickutensilien versehene Schar von Aeromanen der einen oder anderen Art eingeschwebt, und dies noch bis weit nach Sonnenuntergang und in den Sommerabend hinein, dessen schwindendes Licht eine Melancholie besaß, die wahrzunehmen die meisten zu beschäftigt waren, die Flügel ihrer Gefährte starr oder flatternd, Flügel nach Möwen-, Albatross- oder Fledermausart, Flügel aus Goldschlägerhaut und Bambus, in Zelluloidfedern detailreich ausgeführte Flügel, ein einziges, himmelweites Geglitzer, das Luftschiffer jeder Couleur, vom Laboratoriumsskeptiker bis zum jesusseligen Himmelsfahrer, trug, oft von Himmelhunden begleitet, die gelernt hatten, still zu sitzen, während sie, neben den Luftschiffern in die Steuerkabinen ihrer kleinen Luftschiffe gezwängt, die Instrumentenkonsolen im Auge behielten und bellten, wenn sie etwas bemerkten, was dem Piloten entgangen war – andere wiederum waren an Dollborden und auf Schiffsbrücken zu beobachten, wie sie den Kopf in den vorüberziehenden Luftstrom hielten, im Gesicht einen Ausdruck reiner Wonne. Ab und zu riefen die Aeronauten einander durch Megaphone an, und so durchschwirrten, wie Vogelgezwitscher die Bäume so mancher Straße in der nahegelegenen Stadt, Luftfahrerscherze den Abend.

Binnen kurzem hatten die Jungs ihr Messezelt aufgebaut, Holz gesammelt und ein gutes Stück leewärts der Inconvenience und ihres wasserstofferzeugenden Apparats im Kombüsenofen ein kleines Feuer entfacht. Miles machte sich in der Miniaturkombüse zu schaffen und hatte ihnen bald einen «Happen» aus Katzenfisch zusammengebrutzelt, den sie am Morgen gefangen und den ganzen Tag auf Eis, dessen Schmelzgeschwindigkeit von der Höhenkälte verzögert worden war, aufbewahrt hatten. Um sie herum waren die anderen Gruppen von Himmelsbrüdern mit ihren eigenen kulinarischen Anstalten beschäftigt, und röstendes Fleisch, bratende Zwiebeln und backendes Brot durchzogen den großen Lagerplatz mit köstlichen Düften.

Nach dem Essen und dem Abendappell widmeten die Jungen einige Augenblicke dem Gesang, so wie sich eine andersgeartete Gruppe etwa dem Gebet gewidmet haben würde. Seit ihren hawaiianischen Eskapaden vor einigen Jahren (Die Freunde der Fährnis und der Fluch des Kahuna) war Miles ein begeisterter Ukulelespieler geworden, und an diesem Abend holte er, nachdem er den Abwasch erledigt und die Messe in ihren gewohnt makellosen Zustand zurückversetzt hatte, eines von vielen der viersaitigen Instrumente hervor, die er in seiner Himmelstruhe aufbewahrte, zupfte eine kurze Einleitung und begleitete dann die Jungen, während sie sangen:

’s gibt Leute, die wohnen in der Stadt

Und and’re auf dem Land,

Die werden, wie es scheint, niemals

Vom Fernweh übermannt –

Sie wissen immer, wer sie sind

Und wie es weitergeht –

Und dann gibt es noch Jungs wie uns,

Die sagen alldem Valet.

Denn wir sind die

Herr’n der großen Höhen

Vagabunden im Raum …

Was andern Angst und Bange macht,

beunruhigt uns kaum.

Soll der Wind ruhig mit Stärke dreizehn weh’n

Und die Nacht pechfinster sein,

Soll Nebel wall’n

Oder Donner knall’n,

Das lässt uns bloß juchhei’n!

Denn …

Der Freund der Fährnis ist ein ech-ter Kerl,

Dem nichts auf der Welt den Spaß ver-gällt,

Denn sein Blut ist rot und seine Seele rein

Und er selbst wie aus dem Ei ge-pellt!

An diesem Abend hatten Chick und Darby, als Backbordabteilung der Mannschaft, Wachdienst, während Miles und Lindsay «Bodenurlaub» in Chicago bekamen. Jeder auf seine Weise von der Aussicht begeistert, die Ausstellung zu besuchen, warfen sich die beiden Burschen in Ausgehuniform, obgleich Miles derartige Schwierigkeiten damit hatte, seine Ledergamaschen zu schnüren, sein Halstuch mit der erforderlichen Symmetrie zu schlingen und die vierundvierzig Knöpfe seiner Hemdenbrust – einen für jeden Staat der Union – korrekt zu schließen, dass sich Lindsay, nachdem er seinen Locken ein paar Tropfen Macassaröl appliziert und sie sorgfältig gekämmt hatte, gezwungen sah, seinem ungeschickten Mannschaftskameraden zur Hand zu gehen.

Als Miles so präsentabel gemacht war, wie er es für die Bevölkerung der «Windy City» jemals sein würde, richteten sich die beiden Jungen im Kreis des Feuerscheins, dicht nebeneinanderstehend, gerade aus und nahmen zackig Haltung an, um sich inspizieren zu lassen. Mit reglosem Schwanz und erwartungsvollem Blick gesellte sich Pugnax zu ihnen. Randolph trat in Zivil aus seinem Zelt, in jeder Hinsicht so adrett wie seine Landgänger, denn auch ihm standen irdische Pflichten bevor, und er hatte seine Freunde-der-Fährnis-Fluguniform gegen einen geschmackvoll karierten Anzug aus Kentucky-Hanf nebst breiter Krawatte vertauscht und dieses Ensemble mit einem flotten Filzhut abgerundet.

«Mein lieber Mann, Randolph», rief Darby, «Sie sehen ja aus, als wollten Sie sich mit einem Mädchen treffen!»

Da seinem neckenden Ton jedoch eine gewisse männliche Bewunderung beigemischt war, beschloss Randolph, die Anspielung nicht mit der Pikiertheit zu erwidern, die sie verdient gehabt hätte, sondern gab stattdessen zurück: «Ich wusste gar nicht, dass Burschen deines Alters sich schon irgendeines Unterschiedes zwischen den Geschlechtern bewusst sind», und entlockte Lindsay damit ein anerkennendes Schmunzeln, ehe er umgehend wieder zu moralischer Ernsthaftigkeit zurückfand.

«An den Rändern», ermahnte Randolph die Landgänger, «einer jeden Menschenansammlung von der Größenordnung dieser Ausstellung lauern in aller Regel verderbte, minderwertige Elemente, deren einziges Ziel darin besteht, den Arglosen zu übervorteilen. Ich werde das sinistre Viertel, in dem man am ehesten auf derlei Gefahren trifft, nicht dadurch ehren, dass ich es beim Namen nenne. Allein schon die Vulgarität, mit der es sich, besonders bei Nacht, dem Blick darbietet, spricht für sich selbst und macht nur die um ihr Wohlergehen Allerunbekümmertsten nicht abgeneigt, die dort offerierten, unnützen Freuden länger zu erwägen oder ihnen gar tatsächlich nachzugehen. Wer Ohren hat zu hören … oder in diesem Falle … hrrmph, hmmm, wie auch immer … schönen Landgang, Jungs, sage ich, und viel Glück.» Worauf Randolph salutierte, kehrtmachte und geräuschlos in der großen, duftenden Dunkelheit verschwand.

«Du hast die Wache, Suckling», teilte Lindsay vor seinem Weggang mit. «Du kennst die Strafen fürs Einschlafen – mache sie unbedingt auch deinem Wachkameraden Counterfly klar, der, so vermute ich, zur Faulheit neigt. Einmal pro Stunde Rundgang um das Gelände, desgleichen eine Ablesung des Gasdrucks innerhalb der Hülle, um die niedrigeren Nachttemperaturen berichtigt, wie ich wohl kaum hinzufügen muss.» Er machte kehrt und schritt von dannen, um sich Miles anzuschließen, während Pugnax, dessen Schwanz zur üblichen Animiertheit zurückgefunden hatte, zurückblieb, um die Lagergrenzen daraufhin abzupatrouillieren, ob sich andere Hunde und die dazugehörigen Menschen unberechtigt Zutritt zu verschaffen suchten.

Darby, der allein im Schein des Wachfeuers zurückblieb, widmete sich mit gewohnter Lebhaftigkeit der Reparatur des Hauptwasserstoffventils, dessen mechanisches Versagen vordem fast ihren Untergang bedeutet hätte. Die unschöne Erinnerung würde, wie der Schaden, unter Darbys flinken Fingern bald vollständig beseitigt sein … als wäre sie etwas, wovon der Grünschnabel nur in irgendeinem Abenteuerbuch für Knaben gelesen … als wäre diese Seite ihrer Chronik umgeblättert und abgetan, als hätte irgendein mächtiger, wenngleich unsichtbarer Kommandant Irdischer Tage «Kehrt marsch!» befohlen, und Darby hätte sich ihm in liebenswürdigem Gehorsam wieder zugewandt.

Er hatte seine Reparaturarbeit gerade beendet, als er im Aufblicken Chick Counterfly gewahrte, der am Wachfeuer eine Kanne Kaffee kochte.

«Möchtest du welchen?», bot Chick an. «Oder lassen sie dich das Zeug noch nicht trinken?»

Irgendetwas in seinem Ton ließ vermuten, dass dies lediglich eine freundschaftliche Neckerei war, mit der ein Bursche in Darbys Alter rechnen und sich abfinden musste. «Danke, könnte gut eine Tasse vertragen.»

Eine Zeitlang saßen sie stumm am Feuer wie Viehtreiber, die auf der westlichen Prärie kampieren. Schließlich, zu Darbys Überraschung, vertraute Chick ihm unvermittelt an: «Mein Pop fehlt mir mächtig.»

«Das muss furchtbar hart für dich sein, Chick. Ich glaube, an meinen erinnere ich mich noch nicht einmal.»

Chick starrte tieftraurig ins Feuer. Gleich darauf: «Die Sache ist die, ich glaube, er hätte durchgehalten. Wenn er gekonnt hätte. Wir waren nämlich Partner, verstehst du? Hatten immer irgendetwas am Laufen. Irgendeine hübsche einträgliche Sache. Nicht immer nach dem Geschmack des Sheriffs, aber so viel, dass wir was zum Beißen hatten. Die vielen Umzüge um Mitternacht haben mir nichts ausgemacht, aber diese Kleinstadt-Gerichtssäle, an die konnte ich mich nie gewöhnen. Der Richter brauchte nur einen Blick auf uns zu werfen, und schon ging der Hammer hoch, und bevor er wieder runterkam, waren wir zack! normalerweise schon zur Tür hinaus und die Hauptstraße runter.»

«Gute Übung, möchte ich wetten.»

«Tja, es kam mir so vor, als würde Pop allmählich ein bisschen langsamer. Hab mich gefragt, ob es irgendwie an mir liegt. Du weißt schon, die zusätzlichen Umstände oder so was.»

«Hört sich eher so an, als hätte es an dem chinesischen Kuddelmuddel gelegen, von dem du erzählt hast», sagte Darby, «und wäre nicht deine Schuld gewesen. Hier, rauchst du die?» Mit diesen Worten entzündete er eine bestimmte Art von Zigarette und bot Chick eine an.

«Heiliger Strohsack!», rief Chick aus. «Was ist das für ein Geruch?»

«Das sind Kubebenzigaretten. Nur zum medizinischen Gebrauch. An Bord ist kein Tabak erlaubt, wie dir vielleicht noch von deinem Eid anlässlich deiner Aufnahme bei den Freunden der Fährnis erinnerlich ist.»

«Habe ich abgeschworen? Da muss ich geistig völlig verwirrt gewesen sein. Kein Tabak! Das ist ja die reinste Keeley-Kur hier. Wie kommt ihr bloß durch den Tag?»

Plötzlich begann, was sich nach einem ganzen Zwinger voll Hunde anhörte, zu bellen. «Pugnax», erklärte Darby, der Chicks beunruhigtes Gesicht bemerkte.

«Er und wer noch?»

«Bloß der gute alte Pugnax. Eines seiner vielen Talente. Wir sehen wohl besser mal nach.»

Sie fanden Pugnax auf den Beinen, angespannt und wachsam, wie er konzentriert in die äußere Dunkelheit spähte – soweit die Jungen es beurteilen konnten, bereit zu einem massiven Gegenangriff gegen das, was immer sich da ihrem Lagerplatz näherte.

«Schau mal, was ich für dich habe», rief eine unsichtbare Stimme, «braves Hundchen!» Pugnax wich nicht von der Stelle, hatte jedoch zu bellen aufgehört, da er die Besucher offenbar für olfaktorisch akzeptabel hielt. Von Darby und Chick beobachtet, kam aus dem Abend ein riesiges Beefsteak, das sich langsam um die eigene Achse drehte, im Bogen durch die Luft geflogen und landete fast genau zwischen Pugnax’ Vorderpfoten auf dem Boden, wo dieser es eine Zeitlang betrachtete, eine Augenbraue, wie man wohl würde sagen müssen, verächtlich gehoben.

«Hey, jemand zu Hause?» In den Feuerschein traten zwei Jungen und ein Mädchen, in den Händen Picknickkörbe und bekleidet mit Fluguniformen aus indigofarbenem, glänzendem Mohairgewebe mit scharlachroten Nadelstreifen, dazu Kopfbedeckungen, welche die schlichtere Geometrie des wohlbekannten Shriner-Fez verfehlt hatten, da sie viel überladener und wohl auch nicht sonderlich geschmackvoll waren. So stachen beispielsweise oben eine übergroße Spitze im deutschen Stil und eine Reihe von Federn hervor, die in einem fahlen Eklipsengrün gefärbt waren. «Tag, Darb! Wie geht’s, wie steht’s?»

Darby, der die Ankömmlinge als Angehörige der Bindlestiffs of the Blue A. C. erkannte, einer Vereinigung von Himmelfahrern aus Oregon, mit denen die Freunde der Fährnis oft in gemeinsamen Manövern geflogen waren, zeigte ein breites Willkommenslächeln, besonders für Miss Penelope («Penny») Black, deren elfengleiches Äußeres einen unerschrockenen Geist und einen unbeugsamen Willen verbarg und in die er «verschossen» war, so lange er zurückdenken konnte. «Hallo Riley, Zip … Penny», fügte er schüchtern hinzu.

«Für dich ab sofort ‹Captain›.» Sie hielt einen Ärmel hoch, um vier goldene Streifen vorzuweisen, an deren Rändern Anzeichen frischer Näharbeit erkennbar waren. Die Bindlestiffs waren dafür bekannt und geachtet, dass sie dem redseligen Geschlecht die Mitgliedschaft auf der Grundlage strikter Gleichberechtigung mit den Jungen, einschließlich ungeschmälerter Beförderungsmöglichkeiten, gewährten. «Ja», grinste Penny, «sie haben mir die Tzigane gegeben – hab die alte Wanne gerade von Eugene hierhergebracht und sie hinter dem kleinen Gehölz dort vor Anker gelegt, ohne dass jemand einen Kratzer abgekriegt hat.»

«D-Donnerwetter! Dein erstes Kommando! Ist ja toll!» Er ertappte sich dabei, dass er nervös von einem Fuß auf den anderen trat und nicht recht wusste, was er mit seinen Händen anfangen sollte.

«Gib mir mal lieber einen Kuss», sagte sie, «das ist nämlich Tradition.»

Trotz des vielstimmigen Gejohles, das dies bei den anderen Jungen hervorrief, fand Darby, dass die flüchtige Berührung ihrer von Sommersprossen gesprenkelten Wange mit seinen Lippen die Unannehmlichkeit mehr als aufwog. Nachdem man sich gegenseitig vorgestellt, holten Chick und Darby Klappstühle herbei, die Bindlestiffs öffneten ihre Körbe mit Köstlichkeiten, und die Kollegen machten es sich zu einem Abend voller Klatsch, Fachsimpelei und Himmelsgeschichten gemütlich.

«Beim Anflug auf ‹Egypt›, für dich Süd-Illinois, Darb, haben wir über einem Maisfeld bei Decatur einen Aufwind erwischt, dass wir dachten, wir wären um diese Zeit schon auf dem verdammten Mond – ’zeihung» – kurzes Innehalten, um zu niesen –, «Eiszapfen aus Rotz bis zur Gürtelschnalle, die von dem Licht dieses elektrischen Fluidums, das uns um den Kopf wirbelte, ganz blau wurden – haaahh-tschi!»

«Gesundheit, Riley», sagte Zip, «aber beim letzten Mal, als du das erzählt hast, ging’s um seltsame Stimmen und so weiter –»

«Bis wir hier waren, hatten wir selbst einen kleinen galvanischen Hof bekommen», sagte Chick, «kein Wunder bei der Geschwindigkeit.»

«Ach, das ist noch gar nichts», rief Riley, «flieg du erst mal den ganzen Tag Ausweichmanöver um Tornados! Wenn ihr Jungs richtige Elektrizität wollt, müsst ihr irgendwann mal nach Oklahoma kommen, da gibt es zusätzlich noch einen Ohrenschmaus, der garantiert sämtliche seltsamen Stimmen in eurer Nachbarschaft übertönt.»

«Apropos Stimmen», sagte Penny, «was habt ihr eigentlich von diesen … Sichtungen gehört, die ständig gemeldet werden? Nicht nur von Mannschaften in der Luft, sondern manchmal sogar von Zivilisten am Boden?»

«Du meinst, abgesehen vom Üblichen», sagte Darby, «wie Fata Morganen, Nordlichtern und so fort?»

«Ja, anders», so Zip mit tiefer, ominöser Stimme. «Man sieht Lichter, hört aber auch Geräusche. Meistens in großen Höhen, wo es tagsüber ganz dunkelblau wird. Stimmen, die unisono rufen. Aus allen Richtungen gleichzeitig. Wie ein Schulchor, bloß keine Melodie, sondern nur diese –»

«Warnungen», sagte Riley.

Darby zuckte die Achseln. «Wir von der Inconvenience, wir sind nur die Kümmerlinge der Organisation, die Letzten am Futtertrog, kein Mensch erzählt uns je irgendetwas – die denken sich nur immer Befehle für uns aus, und wir befolgen sie, das ist alles.»

«Tja, wir waren damals im Frühling über dem Ätna», sagte Penny, «und du erinnerst dich wohl noch an die Garçons de 71.» Chick zuliebe erklärte Darby, dass diese Gruppe vor über zwanzig Jahren, während der Belagerung von Paris, gegründet worden sei, als bemannte Ballons häufig die einzige Möglichkeit geboten hätten, in die Stadt oder aus ihr herauszugelangen. Im Fortgang des Martyriums sei bestimmten Ballonfahrern durch die Beobachtung von oben und weil sie in beständiger Todesgefahr schwebten, klar geworden, wie sehr der moderne Staat, um zu überleben, darauf angewiesen sei, einen permanenten Belagerungszustand aufrechtzuerhalten – mittels systematischer Einkreisung von Bevölkerungsgruppen, der Aushungerung von Körper und Geist, der unaufhörlichen Schwächung der Zivilität, bis Bürger sich gegen Bürger wende und man auch vor Scheußlichkeiten wie denen der infamen pétroleurs von Paris nicht mehr zurückschrecke. Als die Belagerung geendet habe, hätten sich diese Ballonfahrer entschlossen, weiterzufliegen, nun aber frei von den politischen Illusionen, die am Boden mehr denn je herrschten, nur untereinander durch feierlichen Eid gebunden und so verfahrend, als stünden sie unter einem weltweiten, niemals endenden Belagerungszustand.

«Heutzutage», sagte Penny, «fliegen sie überall dorthin, wo sie gebraucht werden, hoch über Festungsmauern und Landesgrenzen, brechen Blockaden, versorgen die Hungernden, bieten den Kranken und Verfolgten Zuflucht … deshalb schaffen sie sich natürlich überall, wohin sie fahren, Feinde und werden ständig vom Boden aus beschossen. Aber was wir damals erlebten, war etwas anderes. Wir waren an jenem Tag zufällig mit ihnen oben, und es war das Allermerkwürdigste. Keiner hat irgendwelche Geschosse gesehen, aber da war … eine Art Kraft … Energie, die wir spüren konnten, eigens auf uns gerichtet …»

«Dort ist wer», sagte Zip feierlich. «Leerer Raum. Aber bewohnt.»

«Macht dich das nervös, Chick?», neckte Darby.

«Nein. Hab nur gerade überlegt, wer das letzte Apfelbeignet da will.»

Unterdessen waren Miles und Lindsay unterwegs zur Ausstellung. Das von Pferden gezogene Gefährt, das sie bestiegen hatten, beförderte sie durch die wimmelnden Straßen von Süd-Chicago. Miles schaute mit lebhafter Neugier hinaus, doch Lindsay betrachtete die Szenerie mit verdrießlichem Blick.

«Du wirkst irgendwie verstimmt, Lindsay.»

«Ich? Nein, gar nicht – abgesehen von einer unvermeidlichen Besorgnis bei dem Gedanken, dass Counterfly das Schiff zur freien Verfügung hat und niemand ihn beaufsichtigt, bin ich so fröhlich wie ein Buchfink.»

«Aber Darby ist doch bei ihm.»

«Ich bitte dich. Jeder Einfluss, den Suckling auf einen derart verderbten Charakter ausüben könnte, wäre bestenfalls zu vernachlässigen.»

«Ach, ich weiß nicht», meinte der gutherzige Miles, «Counterfly scheint mir doch ein guter Kerl zu sein, und ich wette mit dir, dass er den Dreh bald heraushat.»

«Als Schiffsprofoss», murmelte Lindsay, vielleicht nur an sich selbst gerichtet, «habe ich zwangsläufig eine weniger hoffnungsfrohe Ansicht von der menschlichen Natur.»

Der Wagen setzte sie schließlich an einer Straßenecke ab, von der aus es, wie der Kutscher ihnen versicherte, nur ein kurzer Fußweg bis zum Ausstellungsgelände sei – oder, so schmunzelte er, «je nachdem, wie spät am Abend es ist, ein schneller Lauf», und fuhr unter dem Klirren und Klappern von Metall auf Metall seiner Wege. In der Ferne konnten die Jungen am Himmel den elektrischen Schimmer der Ausstellung sehen, doch in ihrer unmittelbaren Umgebung war alles in Schatten getaucht. Gleich darauf fanden sie eine Lücke im Zaun und eine von einem einzigen Kerzenstummel erleuchtete Einlasspforte, die etwas Behelfsmäßiges an sich hatte und deren Hüter, ein finster dreinblickender asiatischer Knirps, wiewohl durchaus begierig, die von ihnen angebotenen Fünfzig-Cent-Stücke zu nehmen, von dem gewissenhaften Lindsay dringend um eine ordnungsgemäß ausgestellte Quittung ersucht werden musste. Der winzige Wächter hielt ihnen sodann, als erwartete er ein Trinkgeld, die Handteller hin, was die Jungen ignorierten. «Schnorrer!», schrie er ihnen zur Einführung in die Vierhundertjahrfeier von Kolumbus’ Ankunft an unseren Gestaden zu.

Irgendwoher vor ihnen, wo es zu dunkel war, als dass man etwas erkennen konnte, kam die ungewöhnlich synkopierte Musik einer kleinen Kapelle, die immer lauter wurde, bis die beiden eine nahezu unbeleuchtete Tanzfläche unter freiem Himmel ausmachten, auf der Paare tanzten und um die herum überallhin dichtgedrängt Menschenmassen strömten, umwabert von Düften nach Bier, Knoblauch, Tabakrauch, billigem Parfüm und, von Buffalo Bill’s Wild West Show etwas weiter weg, dem unverkennbaren Geruch zusammengepferchten Viehs.

Beobachter der Ausstellung hatten bemerkt, dass das Gezeigte, wenn man den Midway auf und ab flaniere, umso europäischer, zivilisierter und … nun ja, ehrlich gesagt, weißer anmute, je näher es dem Zentrum der «Weißen Stadt» liege, während die Zeichen kultureller Dunkel- und Wildheit umso deutlicher hervorträten, je weiter man sich von der alabasternen Metropole entferne. Den Jungen erschien es, als bahnten sie sich einen Weg durch eine eigenständige, lichtlose, jenseits einer obskuren Schwelle gelegene Welt mit eigenem Wirtschaftsleben und eigenen gesellschaftlichen Gewohnheiten und Kodizes, eine Welt, die ihrer eigenen Wahrnehmung nach wenig, wenn überhaupt etwas mit der offiziellen Ausstellung zu tun hatte. Als rühre das Halblicht, das diese vielleicht sogar auf keiner Karte verzeichnete Peripherie beherrschte, nicht von einem schlichten Mangel an Straßenlaternen her, sondern würde absichtlich erzeugt, aus Mitleid, als notwendige Verschleierung der hier anzutreffenden Gesichter, die eine Unverstelltheit besaßen, welche für den helllichten Tag und jene unschuldigen amerikanischen Besucher mit ihren Kodaks und Sonnenschirmen, die es irgendwie hierher verschlagen mochte, zu intensiv war. Hier in den Schatten lächelten, grimassierten oder starrten die vorbeiziehenden Gesichter Lindsay und Miles unverhohlen an, als kennten sie sie, als hätte sich im Laufe ihrer beider langen Abenteurerlaufbahn in exotischen Erdenwinkeln, von ihnen unbemerkt, ein Reservoir an Fehlübersetzungen, empfundenen Kränkungen, eingegangenen Schulden angesammelt, das hier als seltsames Zwischenreich wieder ausgedrückt würde, durch das sie sich hindurchmanövrieren mussten und in dem sie jeden Augenblick einen «Zusammenstoß» mit irgendeinem Feind zu gewärtigen hatten, ehe sie die Sicherheit der Lichter in der Ferne gewannen.

Bewaffnete, aus den Reihen der Chicagoer Polizei rekrutierte «Rausschmeißer» patrouillierten unaufhörlich in den Schatten. Eine Zulu-Theatertruppe spielte das Massaker an britischen Truppen bei Isandhlwana nach. Pygmäen sangen in der Pygmäensprache Kirchenlieder, jüdische Klezmer-Ensembles erfüllten die Nacht mit überirdischen Klarinettensoli, brasilianische Indianer ließen sich von riesigen Anakondas verschlingen, nur um unverdaut und offenbar ohne Unzuträglichkeit für die Schlange wieder herauszuklettern. Indische Swamis levitierten, chinesische Boxer fintierten, traten und schleuderten einander hin und her.

Versuchungen lauerten zu Lindsays Kummer auf Schritt und Tritt. Fast schienen die Pavillons hier nicht Völker der Welt, sondern Todsünden zu repräsentieren. Anpreiser packten die vorüberschlendernden Knaben bei ihren Überzeugungsversuchen fast schon am Revers.

«Exotische Rauchpraktiken aus aller Welt, von großem anthropologischem Wert!»

«Hier gibt’s Wissenschaftliches zu sehen, Jungs, die neuesten Weiterentwicklungen der Injektionsspritze und ihre vielen Verwendungsmöglichkeiten!»

Hier gab es Waziris aus Waziristan, die aneinander verschiedene Techniken der Wegelagerei demonstrierten, welche in jenem Land als wichtige Einkommensquelle galt … Tarahumara-Indianer aus Nord-Mexiko kauerten, offenbar in völliger Nacktheit, in Nachbildungen der Höhlen ihrer heimatlichen Sierra Madre, die aus Lattenwerk und Gips gefertigt waren, und taten so, als äßen sie Visionen erzeugende Kakteen und würden davon in dramatische Zuckungen versetzt, die kaum von denen des gewöhnlichen, amerikanischen Jahrmarktsbesuchern schon lange geläufigen «wilden Mannes» zu unterscheiden waren … Tungusische Rentierhirten wiesen mit ausladenden Gesten nach oben auf ein riesiges Schild, auf dem RENTIER-SONDERSCHAU stand, und schrien in ihrer Muttersprache auf die davor versammelte Menge ein, während zwei junge Frauen – die, weil blond und so fort, mit den Tungusen im Grunde nicht sehr viele Rassenmerkmale zu teilen schienen – sich in recht offenherzigen Kostümen neben einem sehr geduldigen männlichen Rentier drehten und wanden, es mit skandalöser Intimität liebkosten und Passanten mit anzüglichen Sätzen in Englisch ansprachen, wie etwa: «Hereinspaziert, und lernen Sie Dutzende von Möglichkeiten kennen, wie man sich in Sibirien vergnügt!», oder: «Erleben Sie, was in langen Winternächten wirklich vor sich geht!»

«Das scheint mir aber irgendwie», so Lindsay, zwischen Faszination und Ungläubigkeit schwankend, «nicht sehr authentisch.»

«Hier rüber, Jungs, das erste Mal ist gratis, find’st du die Rote, gibt’s Geld auf die Pfote, is’ sie schwarz, gibt’s ’n feuchten Farz», rief ein fröhlicher Neger, der einen flachen runden Hut aufhatte, nahebei hinter einem Klapptisch stand und Spielkarten aufnahm und hinlegte.

«Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, es handelt sich um eines dieser typischen Hasardspiele», murmelte Lindsay, der mit seiner Missbilligung höflich hinterm Berg hielt.

«Nein, Boss, das ist eine alte afrikanische Methode der Weissagung, damit können Sie Ihr Schicksal ändern.» Der Schwindler, der sie angesprochen hatte, begann nun, mit verwirrender Geschwindigkeit Karten umherzubewegen. Mal waren unzählbar viele, dann wieder überhaupt keine Karten mehr zu sehen, und sie schienen in eine Dimension weit jenseits der dritten verschwunden zu sein, obwohl es sich dabei auch um eine Täuschung aufgrund des spärlichen Lichts hätte handeln können.

«Okay! Vielleicht ist heute Ihre Glücksnacht, sagen Sie uns jetzt einfach, wo die Rote ist.» Drei Karten lagen mit der Bildseite nach unten vor ihnen.

Nach kurzem Schweigen war es Miles, der mit klarer, fester Stimme verkündete: «Die Karten, die Sie hingelegt haben, sind zufällig alle schwarz – Ihre ‹Rote› ist die Karoneun, der Fluch von Schottland, und sie befindet sich genau dort», und damit lüftete er den Hut des Schwindlers, um von dessen Schädelkrone die fragliche Karte zu nehmen und vorzuweisen.

«Herr des Himmels, das letzte Mal, wo mir das passiert ist, bin ich auf einen schönen langen Urlaub im Gefängnis von Cook County gelandet. Respekt vor Ihren scharfen Augen, junger Mann, und nichts für ungut», und damit hielt er ihm eine Zehndollar-Banknote hin.

«Aber das ist doch nicht …», begann Lindsay zögernd, doch Miles hatte die Gabe bereits eingesteckt und rief liebenswürdig: «Abend, Sir», während sie weiterschlenderten.

Auf Lindsays Gesicht war ein überraschter Ausdruck festzustellen. «Das war … gut gemacht, Blundell. Woher hast du gewusst, wo die Karte ist?»

«Manchmal», so Miles mit seltsam bangem Unterton, «umgeben mich so eigenartige Gefühle, Lindsay … wie von elektrischer Spannung – als ob ich alles taghell sehen kann, wie … wie alles zusammenpasst, zusammenhängt. Es hält allerdings nie lange an. Recht bald stolpere ich dann wieder über meine eigenen Füße.»

Gleich darauf waren sie in Sichtweite der Suchscheinwerferstrahlen gekommen, die den Himmel vom Dach des riesigen Manufactures and Liberal Arts Building aus bestrichen – eine Miniaturstadt, eingebettet in die Stadt innerhalb der Stadt, welche die Ausstellung selbst war –, und sahen nun immer öfter offizielle Wachen in Pelerinen auf Patrouille, ein zumindest für Lindsay beruhigender Anblick.

«Na komm, Lindsay», sagte Miles und schwenkte die Banknote, in deren Besitz sie so unerwartet gelangt waren. «Wo wir diesen unverhofften Gewinn schon einmal haben, wollen wir uns Limonade kaufen gehen, und auch etwas von diesem ‹Cracker Jack›. Wer hätte das gedacht! Wir sind hier! Wir sind auf der Ausstellung!»

UNTERDESSEN war Randolph St. Cosmo, wenngleich nicht mehr in Uniform, noch immer im Dienst. Die Detektivagentur, die er aufsuchte, hatte ihren Sitz in einem schäbigen Häuserblock im New-Levee-Viertel, zwischen einem Varietétheater und einem Hersteller von Knallzigarren. Auf dem Schild stand WHITE CITY INVESTIGATIONS. Randolph zog sich die Krempe seines Hutes etwas tiefer, blickte einmal rasch die mit Abfall übersäte, düstere Straße auf und ab und schob sich in den Eingang. Eine junge Stenotypistin, die es fertigbrachte, zugleich geziert und keck aufzutreten, blickte von ihrer mit blumigen Applikationen versehenen Maschine auf. «Du müsstest längst im Bett sein, Söhnchen.»

«Die Tür war auf –»

«Ja, aber vielleicht sind wir hier nicht bei der Methodisten-Jugend.»

«Ich wollte eigentlich zu Mr.Privett.»

«Nate!», schrie sie, dass Randolph zusammenzuckte. Ihr Lächeln war nicht ohne Bosheit. «Hast du einen Brief von deinen Eltern mitgebracht, Kleiner?»

In Nates Büro befanden sich eine Kombination aus Anrichte, Bücherregal und Aktenschrank mit einem Sortiment von Whiskeyflaschen, ein Bettsofa in der hinteren Ecke, ein paar Rohrstühle, ein Rollschreibtisch mit ungefähr tausend Schub- und Zettelfächern, ein Fenster mit Blick auf die deutsche Schankwirtschaft auf der anderen Straßenseite, Auszeichnungen der örtlichen Geschäftswelt und Beglaubigungsschreiben an den dunkel vertäfelten Wänden, daneben Photographien berühmter Klienten, einige davon mit Nate persönlich posierend, so etwa Doc Holliday vor dem Occidental Saloon in Tombstone, ein Bild, auf dem Doc und Nate mit einem Colt 44 auf den Kopf des jeweils anderen zielten und dazu gespielt finstere Gesichter zogen. Es trug die Aufschrift: Ich halte es eher mit Schrotflinten, Herzlich, Doc.

«Seit der Bombe auf dem Haymarket», erklärte Nate, «haben wir mehr Arbeit, als wir bewältigen können, und wenn der Gouverneur beschließt, diese Bande von anarchistischen Mördern zu begnadigen, wird es noch hektischer zugehen. Der Himmel weiß, was dann über Chicago und besonders die Ausstellung hereinbricht. Antiterroristische Sicherheit wird hier mehr denn je großgeschrieben werden. Tja, und ihr Jungs genießt nun mal die eine Perspektive, nach der wir von der Gemeinschaft der ‹Aufklärer› uns alle sehnen – nämlich den Blick von oben. Mag sein, dass wir nicht so gut zahlen wie die Pinkertons, aber vielleicht könnten wir uns auf eine längere Zahlungsfrist einigen, auf einen kleinen Prozentsatz der späteren Gewinne anstatt Bargeld hier und jetzt. Ganz zu schweigen von den Trinkgeldern und sonstigen inoffiziellen Einnahmen, die dabei für euch herausspringen könnten.»

«Das müssen Sie mit unserer Zentrale besprechen», mutmaßte Randolph. «Denn für uns Besatzungen gilt, dass unsere Vergütung berechtigte Ausgaben nicht übersteigen darf.»

«Klingt völlig verrückt. Aber wir lassen unsere Rechtsverdreher einen Text aufsetzen, mit dem wir alle leben können, wie wäre das?» Inzwischen beäugte er Randolph mit jener Mischung aus Verachtung und Mitleid, welche die Freunde bei ihren Kontakten mit der Bodenbevölkerung früher oder später stets hervorriefen. Randolph war daran gewöhnt, jedoch fest entschlossen, eine professionelle Haltung zu wahren.

«Worin genau würden unsere Dienste bestehen?»

«Habt ihr auf eurem Schiff noch Platz für einen zusätzlichen Passagier?»

«Wir haben ohne erkennbaren Auftriebsverlust schon bis zu einem Dutzend wohlgenährter Erwachsener mitgenommen», erwiderte Randolph, der nicht umhinkonnte, den Blick auf Mr.Privetts Embonpoint verweilen zu lassen.

«Nehmt unseren Mann auf ein, zwei kurze Fahrten mit, das ist auch schon alles», so der inzwischen offenbar etwas ausweichend agierende Spürhund. «Rüber zur Ausstellung, vielleicht auch runter zu den Schlachthöfen, ein Kinderspiel.»

Als die Freunde am nächsten Tag unter einem Zirkushimmel, der sich langsam mit aufsteigenden Flugmaschinen aller Art füllte, zwischen den Luftschiffen umherspazierten und die Bekanntschaft mit vielen erneuerten, in deren Gesellschaft sie, auf Glück und Unglück, so manches Abenteuer bestanden hatten, näherte sich ihnen ein Paar, in dem sie unschwer ebenden Photographen nebst Modell erkannten, die sie am Vorabend unabsichtlich bombardiert hatten.

Der sportliche Jünger der Lichtbildkunst stellte sich als Merle Rideout vor. «Und meine schöne Begleiterin hier ist … einen Moment, gleich fällt’s mir wieder ein –»

«Du Spatzenhirn.» Die junge Frau bedachte ihn mit einem anmutigen Tritt, dem es jedoch nicht völlig an Zuneigung fehlte, und sagte: «Ich bin Chevrolette McAdoo und freue mich riesig, euch kennenzulernen, auch wenn ihr uns gestern mit euren Sandsäcken fast ins Jenseits befördert hättet.» Voll bekleidet, schien sie soeben den Seiten eines Damenjournals entstiegen zu sein und stand mit ihrem Ensemble an diesem Vormittag an vorderster Spitze der Sommermode, die mit der aktuellen Wiederbelebung des Keulenärmels für eine Fülle von Blusen mit durchscheinenden Schulterpartien, «so groß wie Ballons, überall in der Stadt» gesorgt hatte – wie Chick Counterfly, ein hingebungsvoller Beobachter der weiblichen Gestalt, es ausdrücken würde –, wobei das von Miss McAdoo getragene Stück in ein lebhaftes Magenta getaucht und von einer langen, im gleichen Ton gefärbten Straußenfederboa begleitet war. Und ihr keck schräg sitzender Hut mit den bei jeder Kopfbewegung wippenden Reiherfedern hätte selbst den eifrigsten Vogelschützer bezaubert.

«Hübsche Aufmachung», ließ sich Chick mit bewunderndem Nicken vernehmen.

«Dabei haben Sie noch gar nicht gesehen, was sie drüben im South Seas Pavillon zum Besten gibt», erklärte Merle Rideout galant. «Daneben wirkt Little Egypt wie eine Kirchgängerin.»

«Sie sind Künstlerin, Miss McAdoo?»

«Ich gebe den Tanz von Lava-Lava, der Vulkangöttin», erwiderte sie.

«Ich bin ein großer Bewunderer der dortigen Musik», sagte Miles, «insbesondere der Ukulele.»

«In meiner Begleitkapelle gibt es mehrere Ukulelespieler», sagte Miss McAdoo, «Tenor, Bariton und Sopran.»

«Und es handelt sich um authentische Eingeborenenmusik?»

«Eher um ein Potpourri, glaube ich, das hawaiianische und philippinische Motive aufgreift und mit einer sehr geschmackvollen Bearbeitung von Monsieur Saint-Saëns’ unlängst in der Pariser Oper aufgeführter ‹Bacchanale› schließt.»

«Ich bin natürlich nur ein Dilettant», meinte Miles bescheiden, obschon seit langem Mitglied der renommierten Internationalen Akademie der Ukulelespieler, «und verspiele mich ab und zu. Aber wenn ich verspräche, in diesem Fall zur Tonika zurückzukehren und zu warten, dürfte ich dann wohl einmal mittun?»

«Ich werde jedenfalls ein gutes Wort für dich einlegen», sagte Chevrolette.

Merle Rideout hatte eine Handkamera mitgebracht und machte «Schnappschüsse» von den in der Luft befindlichen und abgestellten Flugmaschinen, die weiterhin ohne erkennbare Unterbrechung eintrafen und abflogen. «Großartige Zusammenkunft, wie? Sieht ja gerade so aus, als käme jeder Professor der Fliegerei von hier bis Timbuktu angeflogen.»

Duftend durchzog der Rauch von Frühstücksfeuern die Luft. Säuglinge waren mit Klage- und Wonnelauten zu hören. Mit dem Wind kamen ferne Geräusche von Eisenbahnverkehr und Seeschifffahrt. Vor der noch tief über dem See stehenden Sonne warfen Flügel, die Ränder schimmernd von Tau, lange Schatten. Es gab Dampfer, Elektrische, Maxim’sche Schwungmaschinen, mit Schießbaumwolle betriebene Kolbenmotoren und Naphtha-Maschinen, ferner Hebeschrauben von seltsamer, hyperboloider Gestalt, mit denen man sich aufwärts durch die Luft bohren konnte, geflügelte Aerostate in Stromlinienform und flügelschlagende Wunder der Ornithurgie. Nach einer Weile wusste man gar nicht mehr, wo man hinschauen sollte.

«Pa!» Ein hübsches kleines Mädchen von vier bis fünf Jahren mit flammend rotem Haar kam in hohem Tempo auf sie zugerannt. «Hör mal, Pa! Ich brauche was zu trinken!»

«Dally, du kleiner Hänfling», wurde sie von Merle begrüßt, «der Maisschnaps ist alle, du wirst dich wieder mit dem guten alten Kuhsaft begnügen müssen, tut mir wirklich leid», während er in einem mit Eis gefüllten Patentkübel zu wühlen begann. Unterdessen hatte die Kleine die Freunde in ihren Sommeruniformen zu Gesicht bekommen und starrte sie mit weit geöffneten Augen an, als wäre sie noch unschlüssig, wie gut sie sich benehmen sollte.

«Sie haben diesen hilflosen Engel mit Spirituosen vergiftet?», rief Lindsay Noseworth. «Sir, dagegen muss man protestieren!» Dally eilte neugierig herzu, stellte sich vor ihn und blickte zu ihm auf, als wartete sie auf die Fortsetzung irgendeines umständlichen Scherzes.

Lindsay blinzelte. «Das kann nicht sein», murmelte er. «Kleine Kinder hassen mich.»

«Ein hübsches kleines Mädchen, Sir», so Randolph, von Onkelhaftigkeit geradezu überfließend. «Sie sind natürlich der stolze Großvater.»

«Ha! Hast du das gehört, Rotkopf? Er denkt, ich bin dein Großvater. Vielen Dank, mein Lieber, aber das hier ist meine Tochter, wie ich mit Stolz sagen kann. Ihre Mutter ist leider –» Er seufzte und ließ den Blick nach oben und in die Ferne gehen.

«Unser tiefstes Mitgefühl», beeilte sich Randolph zu versichern, «doch der Himmel in seiner Unerforschlichkeit –»

«Der Himmel, von wegen», krähte Merle Rideout. «Sie ist irgendwo da draußen in den USA, zusammen mit dem unwiderstehlichen Varietékünstler, mit dem sie durchgebrannt ist – nennt sich der Geheimnisvolle Zombini.»

«Mensch, den kenne ich!» Dies Chick Counterfly mit heftigem Nicken. «Lässt seine Molly in einem ganz gewöhnlichen Küchentrichter verschwinden! ‹Imbottigliata!›, stimmt’s? Und dann wirbelt er sein Cape herum. Hab’s in New Orleans mit meinen eigenen Guckern gesehen! Eine tolle Nummer, alles, was recht ist!»