Mass Effect Andromeda, Band 3 - Catherynne M. Valente - E-Book

Mass Effect Andromeda, Band 3 E-Book

Catherynne M. Valente

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Beschreibung

Die schönen neuen Welten, die die Andromeda- Inititative ihren Siedlern versprochen hat, entpuppen sich als brandgefährliches Terrain. Schon der Weg dahin erweist sich als äußerst gefährlich als ein pathogenes Virus auf einem Kolonieschiff freigesetzt wird... Band 3 der actiongeladenen Romanserie zum neuesten großen Sci-Fi-Gamehit von Bioware/Electronic Arts!

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MASS EFFECT – DIE ROMANREIHE

MASSEFFECTAndromeda: Der Aufbruch der Nexus

Jason M. Hough, K. C. Alexander, ISBN 978-3-8332-3358-6

MASSEFFECTAndromeda: Feuertaufe

N. K. Jemisin, Mac Walters, ISBN 978-3-8332-3521-4

MASSEFFECTAndromeda: Vernichtung

Catherynne M. Valente, ISBN 978-3-8332-3618-1

MASSEFFECTSammelband 1: Die Offenbarung / Der Aufstieg

Drew Karpyshyn, ISBN 978-3-8332-3631-0

MASSEFFECTSammelband 2: Vergeltung / Blendwerk

Drew Karpyshyn / William C. Dietz, ISBN 978-3-8332-3767-6

MASSEFFECT – DIEGRAPHICNOVELS

MASSEFFECT:Discovery

Die offizielle Fortsetzung des Games Mass Effect: Andromeda

ISBN 978-3-7416-0325-9

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ISBN 978-3-86201-011-0

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ISBN 978-3-86201-076-9

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ISBN 978-3-86201-314-2

MASSEFFECTComicband 4: Heimatwelt

ISBN 978-3-86201-557-3

MASSEFFECTComicband 5: Foundation I – Im Auftrag von Cerberus

ISBN 978-3-86201-814-7

MASSEFFECTComicband 6: Foundation II – Projekt Lazarus

ISBN 978-3-86201-815-4

MASSEFFECTComicband 7: Foundation III – Shepards Klon

ISBN 978-3-95798-187-5

Weitere Info und Titel unter:

www.paninishop.de

Roman

Von Catherynne M. Valente

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Titel der Englischen Originalausgabe: „Mass Effect Andromeda: Annihilation“ by Catherynne M. Valente, published by Titan Books, UK, November 2018

© 2019 Electronic Arts Inc. Mass Effect, Mass Effect: Andromeda, BioWare, the BioWare logo, EA and the EA logo are trademarks of Electronic Arts Inc. All Rights Reserved.

Deutsche Ausgabe 2019 by Panini Verlags GmbH, Rotebühlstraße 87,

70178 Stuttgart. Alle Rechte vorbehalten.

Geschäftsführer: Hermann Paul

Head of Editorial: Jo Löffler

Head of Marketing: Holger Wiest (E-Mail: [email protected])

Presse & PR: Steffen Volkmer

Übersetzung: Andreas Kasprzak

Lektorat: Grinning Cat Productions

Umschlaggestaltung: tab indivisuell, Stuttgart

Satz und E-Book: Greiner & Reichel, Köln

YDMEAN003E

ISBN 978-3-7367-9963-9

Gedruckte Ausgabe:

1. Auflage, Februar 2019, ISBN 978-3-8332-3618-1

Findet uns im Netz:

www.paninibooks.de

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PROLOG

Hephaestus-Station: Caleston-Rift

Der Tech-Spezialist zweiter Klasse Oliver Barthes betrachtete den dunstigen, glänzenden Wirbel der Galaxie, die sich tief unter ihm ausbreitete. Sterne und rotorangene Wolken aus Sternenstaub spiegelten sich auf der glatten, polierten Oberfläche seines Universalwerkzeuges. Es war spät – 0300 –, er war noch nicht fertig mit seiner Arbeit, und für ein Stück echtes Fleisch oder ein Glas echten Gin hätte er seinen besten Freund ermordet. Wenn er einen besten Freund gehabt hätte. Oder ein Glas. Eine weitere Kalibrierungsreihe befand sich noch zwischen ihm und seinem wohlverdienten Schlaf. Doch Oliver stand einfach nur da, auf seiner winzigen silbernen Zugangsplattform und starrte die Sterne an, wie ein dummer Grünschnabel, der zum ersten Mal im Orbit war. Sein Unterarm befand sich über einem Abschnitt des galaktischen Arms, ein schwarzer, ganz und gar unhimmlischer Umriss vor dem roten Glühen – wie ein sehniger Muskel. Oder eine Narbe.

Natürlich war das nicht sein erstes Mal. Mitnichten. Wenn er seine grauen Zellen richtig anstrengte, konnte Oliver Barthes sich gerade so noch an eine Zeit erinnern, als sein Leben nicht nur aus Shuttles, Kreuzern, Raumstationen, Formularen, Verträgen, Programmiercode und winzigen Bullaugen in endlosen grauen Metallwänden bestanden hatte. Eine Zeit, als sein Leben voller Grün und Wärme und Güte gewesen war; als er noch echte Erde unter seinen Fingernägeln gehabt hatte und jede Nacht in einem echten Bett eingeschlafen war. Aber das war früher gewesen, auf Eden Prime. Jetzt war jetzt, auf der Hephaestus-Station.

Selbst um 0300 herrschte auf den Werften der Hephaestus noch rege Aktivität. Für all die Techniker war dies die Geisterstunde, wenn Maschinenführer und Ingenieure und Frachtverlader und neugierige Passagiere alle in ihre bevorzugten Bars oder Kojen verschwunden waren und sie sich endlich an die eigentliche Arbeit machen konnten. Nicht, dass irgendjemand sonst Olivers Ansicht teilte. Sie sahen den Plastahl, der sie vom Vakuum des Alls trennte; die Energie der biotischen Stöße, die besagten Plastahl innerhalb eines Wimpernschlages zerfetzen könnten. Aber den Code, der all das möglich machte, den sahen sie nicht. Denn der Code war unsichtbar und somit unbedeutsam. Und Codeschreiber waren sogar noch unsichtbarer und unbedeutsamer. Sie waren ersetzbar, übersehbar und in tragischem Maße unterbezahlt. Heutzutage konnten Kinder schon programmieren, bevor sie gehen konnten, also warum Geld für etwas ausgeben, was im Prinzip so selbstverständlich wie essen und trinken war?

So dachten die großen Tiere – bis etwas schiefging.

Zugangsplattformen hingen am titanischen Rumpf der Keelah Si’yah wie kleine Krebse am Bug alter Segelschiffe, jede an einen offenen Systemport geheftet, von wo aus sie direkt auf die Speicherbänke zugriffen. Eine sicherere Methode gab es nicht. Oliver wies sein Universalwerkzeug an, ihm seine letzte Dosis zu injizieren. Die Stims fluteten in seine Adern, entspannten ihn, und er vergaß die Sterne, die sich in seinem Universalwerkzeug widerspiegelten, das echte Fleisch und den echten Gin und die grünen Felder, die er einst bepflanzt hatte. Nun war er wieder ganz Tech-Spezialist zweiter Klasse, und er streckte die Arme nach oben aus, zur Außenhülle des quarianischen Tiefraumschiffes hin, als wollte er es umarmen. Anschließend aktivierte er die Gravitationsflexoren an seinem Anzug, und nachdem er mit eingeübter, beinahe akrobatischer Anmut auf das Schiff zugeglitten war, berührten seine Hände tatsächlich den glänzenden Plastahl. Eine ruhige, künstliche Stimme in seinem Innenohr informierte ihn über den Status seiner Anzugsysteme.

Handflächenflexoren: Kontakt hergestellt. Sohlenflexoren: aktiv. Knieflexoren: hochgefahren und bereit. Sie können mit Ihrer Außenbordaktivität beginnen, Specialist Barthes.

Seine Füße und Knie hefteten sich mit einem vertrauten, befriedigenden Klacken an der Schiffshülle fest.

„Danke, Helen“, sagte er mit einem Grinsen. Nicht, dass Helen sich darum scherte, wie er sie nannte. Sie war keine voll ausgereifte VI – sie war ebenso wenig zu eigenem Denken imstande wie eine Bratpfanne. Sie war nicht mal eine Sie. Aber diese kühle, gefasste, zufallsgenerierte Stimme war während dieser langen Schichten seine einzige Freundin, und man ignorierte seine einzige Freundin nicht, nur weil sie ein Universalwerkzeug war.

Oliver konnte sich glücklich schätzen, dass er diesen Job bekommen hatte, und das wusste er auch. Die Initiative zahlte besser als sonst irgendjemand, sogar besser als die Allianz, und was noch wichtiger war: Sie zahlten pünktlich. Das war notwendig. Oliver brauchte das Geld, und er brauchte es regelmäßig. Sein Blick wanderte erneut nach unten zu den dunstigen Sternen auf Helens glänzender Oberfläche. Einer von ihnen war Sahrabarik, und irgendwo in der Nähe von Sahrabarik befand sich die Omega-Station. Und irgendwo auf der Omega-Station befand sich eine Asari namens Aria T’Loak. Ihr schickte Oliver jeden Credit, den er nicht unbedingt brauchte, um seinen Körper und seine Seele bei Kräften zu halten. Er schauderte, als er an ihre kalten blauen Augen dachte, an ihr kaltes blaues Lächeln. An den Ausdruck auf dem Gesicht seines Vaters, als Aria verkündet hatte, dass sie seinen einzigen Sohn an eine mobile Arbeitseinheit in Sigurds Cradle verkauft hatte. Es war keine beispiellose Tragödie; tatsächlich geschah so etwas jeden Tag. Tausende Flüchtlinge, die dem Angriff auf Eden Prime entkommen waren (oder dem auf Noveria, Virmire oder einen der zahllosen anderen), fanden sich in einer solchen Situation wieder: heimatlos und bankrott, gekauft und verkauft. Das Einzige, was Oliver Barthes’ Fall besonders machte, war die Tatsache, dass seine Arbeitseinheit von einem halbwegs gnädigen Elcor namens Lumm geleitet worden war, und Lumm erlaubte es seinen Arbeitern, sich ihre Freiheit zurückzukaufen. Oliver glaubte aber, dass die wenigsten dieses Angebot tatsächlich in Anspruch nahmen; die meisten gaben ihre mickrigen Löhne für batarianischen Scherbenwein oder Mädchen oder Quasar oder – falls sie verzweifelt genug waren – für Roten Sand aus. Aber nicht Oliver. Er hatte gespart und gehungert. Er hatte sich die Mädchen nicht einmal angesehen, auch wenn sie ihn oft ansahen – auch, wenn er gern hinsehen wollte. Er hatte Wasser getrunken und nur dann einen Fuß in eine Bar gesetzt, wenn Lumm ihn hinschickte, um einen defekten Quasar-Automaten zu reparieren, der zu oft Gewinne ausspuckte. Oliver war gut darin, zu sparen und zu hungern. Er hatte ein Talent dafür, beinahe ebenso groß wie sein Talent für das Programmieren von Raumschiffen. Und als Lumm Oliver das Angebot gemacht hatte, ihm seine Freiheit zurückzugeben, hatte er seinen Preis gezahlt und sich eine Quittung ausstellen lassen.

Denn Oliver arbeitete und hungerte nicht länger für sich selbst. Zumindest nicht nur. Nein, er war dabei, seinen Eltern die Freiheit zu erkaufen, und er durfte keine Rate verpassen. Er bezahlte Aria, damit sie die beiden nicht zu schwerer körperlicher Arbeit einteilte, und er bezahlte sie, damit sie seine Eltern eines Tages gehen lassen würde.

Es war nicht leicht, die Raten zusammenzukratzen. Codieraufträge waren in der Regel zeitlich befristet, und man wusste nie, wo sich eine neue Gelegenheit ergeben würde oder wann. Dies war der längste Job, den er je ergattert hatte. Seine Arbeit für die Initiative war größtenteils simpel und minimalistisch: die Systeme eines Langstreckenkreuzers an die Passagiere anpassen – Asari oder Menschen oder Turianer oder Salarianer –, damit diese sechshundert Jahre in Tiefschlaf versetzt werden konnten, um dann in der Andromeda-Galaxie wieder aufzutauen, wo viel bessere Einrichtungen und ein gesundes, ausgewogenes Frühstück auf sie warteten. Schnell, effizient, sauber.

Aber das hier war ein quarianisches Schiff, und Quarianer hatten immer Sonderwünsche. Sie würden niemals mit einem Kreuzer reisen, der einfach nur gebaut war, um von Punkt A nach Punkt B zu fliegen. Ihre gesamte Spezies lebte in einer Flotte, die von System zu System zog, während die Quarianer darauf warteten, dass die Geth von ihrer Heimatwelt verschwanden – ein Ort, den die meisten von ihnen noch nie auch nur gesehen hatten. Schiffe waren ihre Mütter und ihre Kinder. Schiffe waren ihr Zuhause. Und sie würden kein Schiff betreten, es sei denn, sie konnten sicher sein, dass sie im Notfall für alle Zeit darin leben könnten. Dementsprechend war die Liste der angeforderten Änderungen so lang wie der Rift selbst. Und sie wurde beständig länger, seit die vogelartigen Quarianer auf Drängen der Initiative zugestimmt hatten, andere Spezies an dieser Reise teilnehmen zu lassen, die sich über sechshundert Lichtjahre erstreckte. Folglich mussten die Bedingungen auf diesem Schiff für alle Wesen akzeptabel sein, die sich einen Platz an Bord erkauft oder erhandelt hatten, seien es nun reptilische Drell, elefantenartige Elcor, wasserbewohnende Hanar, ammoniakatmende Volus oder vieräugige Batarianer – alles in allem zwanzigtausend Seelen, zusammengedrängt in dieser Blechkiste wie Schrauben in einem Werkzeugkasten. Und sie hatten sogar ihren eigenen Namen für das Schiff, eine Abänderung von Keelah Se’lai, jenem alten, quarianischen Spruch, der so viel bedeutete wie „Bei der Heimatwelt, die ich eines Tages zu sehen hoffe“. Sie nannten es Keelah Si’yah.

„Bei der Heimatwelt, die ich eines Tages zu finden hoffe.“

Oliver Barthes fuhr mit den Fingern über den Bauch der Si’yah und fragte sich, was das wohl für Quarianer waren, die freiwillig die Mission aufgaben, für die ihre gesamte Spezies lebte und atmete: nach Rannoch, auf ihren Heimatplaneten zurückzukehren. Quarianer, denen ihre Heimat nicht länger wichtig war? Das war in etwa so selten wie Menschen, die sich in keinster Weise fürs All interessierten. Oder wie Salarianer, die noch nie einen Gedanken an die Wissenschaft verschwendet hatten. Oder ein roter Asari. Oliver hatte versucht, in den Bars der Hephaestus-Station ein wenig Konversation mit ihnen zu machen, aber Small Talk war noch nie seine Stärke gewesen, und davon einmal ganz abgesehen: Warum sollten diese wunderschönen Außerirdischen ihre Zeit mit jemandem wie ihm vergeuden, der schon lange tot sein würde, ehe sie ihr Ziel erreichten. Es waren sechshundert Jahre bis nach Andromeda. Für sie war er jetzt schon ein Geist.

Aber manchmal … manchmal träumte er nachts davon, dass er mit ihnen fliegen würde. Dass eine der zwanzigtausend identischen, gemütlichen Kryokapseln für ihn bestimmt war. Dass auch er in sechshundert Jahren aufwachen und eine neue Welt unter sich erblicken würde. Eine Welt, die noch niemand ruiniert hatte; eine Welt, die er gemeinsam mit den anderen in ein Paradies verwandeln könnte. Aber dann wachte er auf und sah nur die verbeulte Decke seiner Kabine auf der Hephaestus-Station. Weil er für immer hier festsitzen würde. Weil er an Eden Prime und seine Eltern und Helen und diese verfluchte Aria T’Loak gebunden war. Weil die neue Welt nicht für Oliver Barthes bestimmt war. Weil er zu einem trostlosen Dasein verdammt war, und zwar schon seit seiner Geburt.

Also hatte er sich langsam durch seinen Teil der endlosen Checkliste gearbeitet, und ehe er sichs versah, war ein Jahr seines Lebens verstrichen. Allmählich begann er sogar, die Hephaestus-Station zu mögen, mitsamt all ihrer undichten Leitungen und nicht richtig funktionierenden Türen und ihrem nicht existenten architektonischen Charakter. Das Leben hier war nicht angenehm; das war es auf keiner entlegenen Raumstation. Falls sich die Bewohner der Kabine nebenan stritten, wenn man ins Bett ging, wurde nicht selten eine Leiche weggeräumt, wenn man aufwachte. Und die kulinarische Bandbreite reichte gerade einmal von tiefgefrorenen Nudeln zu Soyatabletten. Aber um 0300 sah es fast wie ein Zuhause aus – wenn man ein Auge ganz fest zudrückte. Du klingst wie eine alte Oma, dachte er angewidert. Als Nächstes fängst du an, Zierdecken in deiner Koje auszubreiten.

Oliver öffnete den nächsten Systemport auf Höhe des Kryodecks der Keelah Si’yah und verband Helen mit den schlummernden Systemen des Schiffes, dann seufzte er. Es gab nichts Schlimmeres als den Code anderer Leute. Er tat sein Bestes, wirklich, aber alles Praktische oder halbwegs Elegante, was er programmierte, ging einfach in dem hässlichen, grauen Blockcode der tausend anderen Techniker unter, die hier die Hand im Spiel hatten. Eines Tages, dachte Oliver. Eines Tages werde ich ein Schiff von Grund auf programmieren. Nur ich, sonst niemand. Es wird ein VI-Interface haben, alle Prozesse werden voll automatisiert und reibungslos ablaufen, und es wird perfekt gesichert sein. Niemand hat je ein perfekt gesichertes Schiff gebaut, aber das wird das erste sein. Selbst ein Elcor wird weinen, wenn er es sieht. Und mit diesem Monster in meinen Referenzen wird es nicht lange dauern, bis sie mich auch nach Andromeda einladen.

Oliver blickte nach unten. Man sollte nicht nach unten sehen. Die Hephaestus war kaum mehr als eine Orbitalplattform, und ihre Werften befanden sich an den Enden schmaler Sektionen, die wie die Strahlen einer besonders hässlichen Sonne vom Mittelteil der Station abstanden. Hier nach unten zu blicken, bedeutete, direkt in die nackten Tiefen des Alls zu schauen. Da war nichts zwischen ihm und der endlosen Schwärze als der bläuliche Film der künstlichen Atmosphäre. Die Gravitationsflexoren verhinderten, dass er hinabstürzen konnte, aber man konnte sich trotzdem übergeben oder ohnmächtig werden oder durchdrehen, und wenn das passierte, konnte man sich von seinem Job verabschieden. Zum Glück hatte die gähnende, leere Finsternis des endlosen Raums Oliver nie sonderlich beunruhigt. Er war ein Mann, und da draußen war das All; sie kannten einander inzwischen ziemlich gut. Sein Blick wanderte vom schwarzen Nichts zu dem Netz silberner Rampen und Plattformen, in die das quarianische Schiff eingewoben war, und kurz suchte er nach … nach was? Nach jemandem, der sehen konnte, was er vorhatte? Warum machte er sich überhaupt die Mühe? Was er tun würde, war nichts Verbotenes. Im Gegenteil, es war sogar etwas sehr Nettes, wenn man genauer darüber nachdachte. Und daran änderte auch der Umstand nichts, dass Oliver Barthes für diese Nettigkeit großzügig bezahlt werden würde. So großzügig, dass er seine Eltern von Aria T’Loak freikaufen und ihnen ein neues, besseres Leben ermöglichen könnte. Und vielleicht – nur vielleicht – würde es sogar reichen, um danach seinen eigenen Traum zu erfüllen und ein Ticket in die sechshundert Jahre entfernte Zukunft zu lösen.

Techniker in schmucklosen Arbeitsanzügen wuselten auf den Rampen und Treppen hin und her, und ein paar Nachtschwärmer standen an den Geländern, um zu rauchen oder einen Flachmann herumgehen zu lassen oder einfach nur die schiere Größe des Schiffes zu bewundern – das pure Ausmaß dessen, was es symbolisierte. Wer dieses Schiff bestieg, würde nie wieder seine Heimat zu Gesicht bekommen, es sei denn auf einem Langstrecken-Scan. Er würde nie wieder vertraute Pflanzen, Tiere oder Gesichter sehen.

Sie waren schon ein komischer Haufen, diese Si’yah-Kolonisten. Keiner von ihnen ließ sich als normaler Vertreter seiner Spezies beschreiben. Wie auch? Der Gedanke, dass auch nur ein Quarianer die Migrantenflotte auf Nimmerwiedersehen verlassen würde, war vollkommen untypisch für ihre Art. Und es befanden sich viertausend von ihnen an Bord. Es war ein Schiff voller Narren. Und Vagabunden. Und Idealisten. Und Radikaler, Exilanten, Krimineller, Künstler und Intriganten. Die Quarianer hatten jedem einen Platz gewährt, der für eine Kryokapsel zahlen oder beweisen konnte, dass er in einer neuen Kolonie von Nutzen sein würde. Ganz gleich, wo sie herkamen. Ganz gleich, was sie zuvor getan hatten. Die Si’yah war für sie alle ein Neuanfang.

Ein sicheres Rezept für Chaos. Oliver wünschte nur, er könnte dabei sein und es mit ansehen.

Sein Blick huschte über die Gestalten auf dem Gerüst. Da war eine weibliche Drell mit hellen Markierungen, die einen Rauchring von ihren dunkelgrünen Lippen in die Nacht blies. Ein vieräugiger Batarianer diskutierte mit einem Volus, der ihn aus den traurigen Dachsaugen seines Schutzanzugs anstarrte. Zwei Quarianer schlenderten auf einem nächtlichen Spaziergang dahin, um das Beste aus ihrer Schlaflosigkeit zu machen, und die Arbeitsbeleuchtung der Keelah Si’yah spiegelte sich auf den Gesichtsmasken ihrer eigenen Anzüge. Ein paar Techniker unterhielten sich darüber, wie Quarianerinnen wohl unter ihrer Rüstung aussahen, wie man eine dazu kriegen könnte, sich auszuziehen, und wie sie besagte Quarianerin verführen würden, ehe sie für immer von hier verschwand. Oliver hatte sich diese Frage nie gestellt. Er wusste, wie quarianische Schiffe aussahen. Er wusste, wie quarianischer Code aussah. Er wusste alles, was er über Quarianer wissen musste.

Oliver glaubte nicht, dass jemand ihn beobachtete. Er war sich sogar ziemlich sicher. Alle waren vollauf mit ihren eigenen Problemchen beschäftigt. Verdammt, Barthes, es ist nur eine Audio-Subroutine, dachte er. Hör auf, paranoid zu sein. Trotzdem, etwas fühlte sich nicht richtig an. Oliver war nicht dumm; er hatte viel von Lumm gelernt. Er wusste, wenn ein Job, den er gesichtslos über seinen Datenblock erhielt, so obszön gut bezahlt wurde, dann war er vermutlich weit, weit von ehrlicher Arbeit entfernt. Aber er hatte die Codeschleife selbst überprüft. Mehrmals. Es schien wirklich nur das zu sein, was seine Kontaktperson behauptete: ein altes quarianisches Schlaflied namens „Ich und mein Anzug“. Dieses Lied sollte den schlafenden Kolonisten in ihren Kapseln einmal pro Jahrhundert vorgespielt werden, bis sie ihr Ziel erreichten. Vollkommen harmlos. Höchstens sentimental. Und Sentimentalität war ein weitverbreitetes Phänomen bei neuen Schiffen, insbesondere den Tiefraumtransportern wie der Si’yah. Das begann mit Fotos, die an die Innenseite von Kryokapseln geklebt wurden, und reichte bis hin zu kleinen Päckchen echten Tees, die ein Kolonist an Bord schmuggelte, um seinem Heimweh vorzubeugen. Einer der Techniker, der in derselben Schicht arbeitete wie Oliver, war von irgendeinem reichen Narren bezahlt worden, um eine winzige Parfümkapsel in alle Drell-Kapseln einzubauen, so programmiert, dass sie den Geruch der Usharet-Blume kurz vor der großen Schneeschmelze freisetzte. Usharets waren auf Rakhana gewachsen, der armen, nunmehr toten Heimatwelt der Drell. All diese Mühe, nur damit die Kolonisten einen vertrauten Duft in der Nase hatten, wenn sie die andere Seite des Universums erreichten. Als ob es wichtig wäre, was sie beim Auftauen rochen! Andererseits war es wohl immer so, überlegte Oliver. Sentimentalität ließ einen die seltsamsten Dinge tun. Er hatte seinen Wohltäter gefragt, warum etwas so Unbedeutendes all diese Geheimniskrämerei wert war, und ihm war gesagt worden, dass es eine gut gemeinte Überraschung sein sollte, eine Geste der Einheit und des Friedens für dieses buntgemischte Schiff von Narren. Sie waren jetzt alle Quarianer. Sie gehörten alle zur selben Familie.

Und was tat man nicht alles für seine Familie? Was tat man nicht alles, um ein Lächeln auf ihr Gesicht zu zaubern?

Oliver Barthes konnte nicht mit nach Andromeda fliegen, ganz gleich, wie oft er auch davon träumte. Aber er konnte das hier tun – für all jene, die diese Reise unternahmen und in die Fremde zwischen den Sternen hinausflogen, um eine neue Zivilisation zu begründen. Er konnte sie im Schlaf zum Lächeln bringen. Das war vielleicht nicht gerade etwas, wovon man stolz seinen Enkelkindern erzählte, aber es war besser als gar nichts.

Er spreizte die Zehen in seinem Anzug, um das taube Prickeln daraus zu vertreiben, während er Helen anwies, die Subroutine in die Wartungsmatrix für die Kryokapseln hochzuladen, dann löschte er jegliche Spuren dieses Eingriffs. Für jemanden wie ihn war das ganz einfach. So einfach, wie das Licht auszumachen oder die Tür abzuschließen, wenn man ausging.

„Schlaft gut“, wisperte Oliver diesem großen, dummen, verrückten, wunderschönen Schiff zu. „Und gute Reise!“

Alle Flexoren sind im Sicherheitsmodus. Sie haben Erlaubnis, in die Hephaestus-Station zurückzukehren, Specialist Barthes. Viel Vergnügen nach Ende Ihrer Schicht!

„Dir auch, Helen. Dir auch. Bei was immer gestutzte VI-Programme nach Ende ihrer Schicht so treiben.“

Vorsichtig deaktivierte Oliver seine Flexoren und kletterte wieder auf seine Arbeitsplattform hinab. Sobald seine Füße erneut das Metall berührten, zog er seinen Datenblock hervor und schickte eine Bestätigung an die Adresse, die man ihm gegeben hatte. Anschließend rief er sein Konto auf und wartete. Und wartete. Und dann verschwanden die vertrauten, bescheidenen Zahlen plötzlich, und neue Zahlen blinkten auf. Unglaubliche, erstaunliche Zahlen. Wunderschöne Zahlen. Oliver Barthes starrte seinen Datenblock an wie ein Kind, das vor dem Schaufenster eines Süßigkeitenladens stand. Oh ja, ein neues Leben erwartete ihn, genauso wie die Kolonisten. Ein Leben mit seiner Familie. Ein Leben voller Sicherheit. Ein Leben, in dem das Schicksal von Eden Prime keine Rolle mehr spielte.

Oliver stapfte beinahe beschwingt über den Laufsteg. Dabei nahm er seinen Helm ab und fuhr sich mit der Hand durch sein kurzes braunes Haar. Seine Bartstoppeln juckten; es war Zeit für eine Rasur. Aber er hatte es getan. Er hatte es getan, und wisst ihr was? Es fühlte sich toll an, dass zwanzigtausend Seelen durch die kalte Leere zwischen den Galaxien fliegen und dabei alle einhundert Jahre Freies Radio Barthes hören würden. Er hatte nie geglaubt, dass er irgendwann einmal etwas Besonderes erreichen würde, aber vielleicht war es das hier. Natürlich war es nicht allzu besonders, aber doch ein bisschen. Während er die Hand auf die Bedientafel legte, stellte er sich das Gesicht seiner Mutter vor, wenn er ihr alles erzählte: das Funkeln der Freude, das er noch von früher kannte. Der Aufzug kam, aber die Türen öffneten sich nicht. Oliver verdrehte die Augen und schlug ein paarmal mit der Faust dagegen. Es würde vermutlich nicht mal einen Tag dauern, die Programmierung dieses dummen Dings in Ordnung zu bringen, aber niemand machte sich die Mühe. Er beschloss, sich gleich morgen früh freiwillig dafür zu melden – sozusagen sein Abschiedsgeschenk für die gute, alte Heph. Von mir für euch, Freunde.

Erneut berührte er die Bedientafel, und diesmal glitt die Tür mit einem Ächzen auf. Die Kabine war leer, also trat er ein. Natürlich würde er seiner Mutter nicht sofort die ganze Geschichte erzählen. Erst würde er mit ihnen zur Citadel fliegen, damit sie die grünen Bäume im Präsidium und die Lichter der andockenden Schiffe und die Steaksandwiches bei Apollos genießen konnten. Und dann würde er ihnen das Apartment im Zakara-Bezirk zeigen, dass er bis dahin für sie gekauft hätte. Er konnte die Stimme seiner Mutter fast schon hören, selbst hier, in diesem schmutzigen Aufzug. Oh, Ollie, wie ist das nur möglich? Sie würden so froh sein. Ganz sicher würden sie weinen. Er selbst vermutlich auch. Und dann, wenn sie alle am Esstisch saßen, mit vollen Mägen und voller Pläne für die Zukunft – dann würde er ihnen davon erzählen, dass seinetwegen ein Schiff voller Nichtmenschen sechshundert Jahre lang mit Gutenachtliedern beschallt wurde. Ich frage mich, ob man in der Kryostase wohl träumt? Vielleicht werden wir es eines Tages ja herausfinden. Gemeinsam.

Tech-Spezialist zweiter Klasse Oliver Barthes trat aus dem Aufzug auf den langen Korridor hinaus, der die Hauptsäule der Hephaestus-Station mit den Unterkünften für die Arbeiter verband. Mit schnellen Schritten ging er dahin; er konnte es kaum erwarten, sich schlafen zu legen und seiner Zukunft einen Tag näher zu kommen. Den Zakara-Bezirk und den grünen Bäumen und dem Fett an den schwieligen Fingern seines Vaters, wenn er ein echtes Steaksandwich aß.

Oliver stellte sich noch immer das lachende Gesicht seiner Mutter vor, als eine Gestalt in einem dunkelgrauen Mantel aus einem Seitengang trat und ihm zweimal in den Kopf schoss.

Kurz blickte die Gestalt auf seine Leiche hinab. Sie stieß ihn mit der Fußspitze an, um auf Nummer sicher zu gehen, dann ging sie davon, wobei sie leise ein Schlaflied vor sich hin summte.

Ich und mein Anzug im Sternenmeer

Singen ein Lied, kommen Träume daher …

Die schmutzige, nackte Metalldecke der Hephaestus-Station spiegelte sich dumpf auf der Oberfläche eines deaktivierten Universalwerkzeuges.

Die Kälte des Alls, die stört mich nicht

Und auch nicht die Hitze der Sonnen Licht

Ich hab meinen Anzug, mein Anzug hat mich

Und wir träumen gemeinsam ewiglich …

1. TEIL

KEELAH SI’YAH

1. KAPITEL

Oberflächenrezeptoren

Senna’Nir vas Keelah Si’yah, Leiter des Sleepwalker-Teams, Ihre Anwesenheit ist erforderlich.

Senna stöhnte. Eine Woge von Muntermacher-Drogen schwappte durch das System des Quarianers, und der stellvertretende Kommandant versuchte, seine Augen zur Seite zu rollen und die optischen Systeme seines Anzugs zu dämpfen, wie er es immer tat, wenn er verschlafen hatte. Nichts war so wichtig, dass er nicht noch fünf Minuten weiterschlafen konnte, ehe er sich darum kümmerte. Sein Anzug reagierte nicht auf die Anweisung.

Als Senna versuchte, sich aufzusetzen, stieß er erst mit dem Ellbogen und dann mit der Stirnplatte seines Helms gegen hartes Isoglas, dann kippte er zurück auf sein schmales Bett. Stecknadelköpfe aus greller Helligkeit stachen in seine Augen, und einen Moment später loderte der ultraviolett glühende Text mehrerer Anzeigen auf seinem Frontsichtdisplay auf.

Flugstatus: Schiff Keelah Si’yah der Initiative operiert innerhalb der normalen Parameter

Position: 1,26 % hinter dem Reiseplan

Kardiovaskulärer Zustand: Gut

Abweichungen von endokrinen/neurologischen Normen: Innerhalb der standardmäßigen Parameter

Chemische Aktivität: Intravenöse Stimulantien, Injektion zur Steigerung der Muskeldichte, Schmerzmittel #4 (doppelte Dosis)

Status Anzug (ganzheitlich): Alle Systeme funktionieren, keine undichten Stellen

Lagebericht Sleepwalker-Team: Keine neuen Meldungen

Antriebsleistung: Eezo-Konvertierung 0,7 % über erwartetem Effizienzwert

Kurzstreckenscan: Binärer brauner Zwergstern 44N81/44N82 wird in zwei Wochen und zwei Tagen passiert

Kommunikation: Empfänger intakt, Signal klar, Download des Relais-Kommunikationspakets ohne Informationsverlust abgeschlossen; nächster geplanter Download in neunzehn Monaten und sechzehn Tagen

Selbstdiagnose der virtuellen Intelligenz des Schiffes: Alle Systeme bei optimaler Leistung

Außerdem war da ein hilfreiches Diagramm, das ihm anzeigte, in welchem Maß seine Knochendichte abgenommen hatte (4 %) und mit welchen Substanzen er diesem Effekt entgegenwirken konnte. Und da war eine ungelesene Nachricht von seiner Großmutter, Liat’Nir vas Achaz, die in der Ecke seines Blickfelds blinkte; Liat hatte sie vor ihrem Abflug aufgezeichnet, aber so programmiert, dass sie ihm erst nach seinem Erwachen übermittelt wurde. Kleine Details wie dieses waren es, die eine Familie ausmachten.

Nach seiner Ankunft …

Dann mussten sie angekommen sein. Hier. In ihrer neuen Heimat.

Senna’Nirs Herz schlug ein wenig schneller, wie immer, wenn er an seine Großmutter dachte, und so auch jetzt, als ihn die altbekannte Sorge um ihr Wohl überkam – eine Sorge, die ihn seit seiner Kindheit begleitete. Sie war so klein und zerbrechlich. Andererseits: Waren sie das nicht alle? Er atmete durch und saugte die übersättigte Luft seines Anzugs tief in die Lungen. Liat ging es gut. Sie lag gemeinsam mit all den anderen Quarianern im Kälteschlaf. Ihr konnte nichts geschehen. Senna formte mit seinem Sprechapparat den lautlosen Befehl, die Nachricht zu archivieren, die vor so langer Zeit an einem so fernen Ort aufgenommen worden war. Das konnte warten. Er war froh, dass er seine Großmutter mit in die Andromeda-Galaxie genommen hatte, aber er war noch nicht wach genug, um ihre Stimme zu hören. Sie war so … durchdringend.

Alles ist gut, dachte er. Ein kräftiger Wind und eine starke Strömung tragen das Schiff über die See. Verschwommen sah Senna seinen Atem als Wolke vor seinem Gesicht. Gut. Jetzt leg dich wieder hin. Schlaf mit Wärme und Wohlempfinden ein und erwache in Kälte und Unbehagen. Er blinzelte den Ansturm interstellarer und anatomischer Informationen fort und sank zurück. Ein paar Minuten mehr würden niemandem schaden. Der schwierige Teil lag bereits hinter ihnen, und sie würden schon bald an die Nexus andocken, sofern sie es nicht bereits getan hatten. Und sobald der Captain das Kommando gab, die Luftschleusen zu öffnen und das wundervolle Zischen frischer, hereinströmender Atmosphäre erklang, wäre seine Aufgabe endlich beendet.

Da meldete sich erneut diese förmliche, geschlechtslose Stimme zu Wort:

Es tut mir leid, Teamleiter Senna’Nir vas Keelah Si’yah, aber ich kann nicht erlauben, dass Sie Ihre sensorische Wahrnehmung wieder herunterfahren. Ihre Anwesenheit ist erforderlich.

„Hmpf“, brummte Sleepwalker-Anführer Senna’Nir vas Keelah Si’yah, als helles weißes Licht in seine Kryokapsel flutete. „Nein! Was? Du hast doch gesagt, alles ist in Ordnung!“

Drell-Sleepwalker Anax Therion, Ihre Anwesenheit ist erforderlich.

Anax wachte ruckartig auf, und ihre durchsichtigen, reptilischen Nickhäute klappten mehrmals über ihren großen, schwarzen Augen auf und zu. In Sekundenschnelle hatten sich ihre Gedanken aus dem narkotischen Dunst befreit, der ihren Körper erfüllte, und sie erfasste die Situation mit völliger Klarheit. Das war einer der Vorteile, wenn man niemals den Luxus gehabt hatte, einfach auszuschlafen. Anax blickte zu der Notiz hoch, die ein paar Zentimeter über ihrer Nase in ihrer eigenen Handschrift auf dem Display glühte:

Hallo, Anax! Du bist in einer Kryokapsel auf dem quarianischen Schiff Keelah Si’yah, unterwegs in die Andromeda-Galaxie. Du bist einunddreißig Jahre alt, 1,84 Meter groß, 77,1 Kilo schwer und Linkshänder. Du bist ein Mitglied von Sleepwalker-Team Blau-7. Dein Lieblingsessen sind Ataulfo-Mangos, die auf der Heimatwelt der Menschen wachsen. Der letzte Film, der dir gefallen hat, war Blasto 8: Die Qualle sticht immer zweimal zu. Denk an diese Dinge. Erinnere dich daran, bis du fühlst, dass sie wahr sind. Die gute Nachricht: Du bist nicht tot! Die Stimme in deinem Ohr gehört dem Computer des Schiffes. Alle nennen ihn K, wegen Keelah Si’yah, aber er ist keine echte Person, nicht mal eine echte virtuelle Intelligenz, du musst dich also nicht mit Nettigkeiten aufhalten, wenn du mit ihm sprichst. Beschimpf ihn, falls du möchtest. Beleidige seine Mutter. Er wird dich morgen früh trotzdem pünktlich wecken. Dein vergangenes Ich hat dir diese Nachricht geschrieben, um uns beiden zwei Stunden und zweiunddreißig Komma fünf Minuten Desorientierung und Identitätsverwirrung zu ersparen. Du musst dich nicht bedanken. Ich wünsche dir einen fröhlichen Reisetag 219 706. Willkommen in der Andromeda-Galaxie!

Anax Therions Blick wanderte zu der Zeit/Datums-Anzeige links unter der Nachricht. Da stand: 02:00 Uhr, Reisetag 207 133.

„Ich bin wach, K“, sagte sie. „Sind wir früher angekommen als geplant?“

Nein, System-Analytikerin Anax Therion. Unsere gegenwärtige Position ist 110 804,77 Lichtjahre vom Zielort entfernt. Vorausgesetzt, wir behalten Geschwindigkeit und Kurs bei, beträgt die geschätzte Zeit bis zur Ankunft dreißig Jahre, fünf Monate, zwölf Tage, sechzehn Stunden und vier Minuten.

Anax streckte ihre langen, oliv-schwarzen Finger und faltete sie über ihrer Brust. „Warum wurde ich dann geweckt?“

Ihre Anwesenheit ist erforderlich.

Die Drell atmete tief ein und schmeckte einen schalen, medizinischen, silbrigen Geschmack in ihrem Mund. Anschließend zupfte sie mit den Fingern an ihren orangefarbenen Wangenrillen – das Äquivalent eines Menschen, der sich ohrfeigte, um wach zu werden. In Gedanken versuchte sie, die vorhandenen Informationen in der richtigen Konstellation anzuordnen, und selbst halb aufgetaut war ihr Gehirn schneller als das der meisten anderen. Schneller – und pessimistischer.

„Wie tief stecken wir in der Scheiße, K?“, seufzte sie.

Elcor-Sleepwalker Yorrik, Ihre Anwesenheit ist erforderlich.

In einem Gebilde auf Deck 8 sprang die bläuliche Innenbeleuchtung an. Man konnte es nicht wirklich eine Kryokapsel nennen; Kapseln waren klein, ergonomisch, modular. Das hier war eher eine Kryogarage, und gemeinsam mit Tausenden anderen – 3311, um genau zu sein – stand sie in einem umfunktionierten Hangar des Schiffes. Unter den Schichten aus Isoglas, Metall und Frost bewegte sich etwas Gewaltiges, Graues. Es schüttelte seinen Kopf von einer Seite auf die andere, dann sagte es mit nasaler Stimme, die vollkommen flach und monoton klang:

„Mit großer Abneigung: Geh weg!“

Ich kann nicht weggehen, Facharzt Yorrik. Ich bin fest im Speicherkern des Schiffes installiert. Falls Sie mich deinstallieren möchten, geben Sie bitte das Kommandopasswort ein.

Yorrik rammte sein elefantenartiges Vorderbein gegen die Wand seiner riesigen Kryokapsel. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass es eine Kryokapsel war oder dass sein Name Yorrik war, und erst recht erinnerte er sich nicht daran, was ein Speicherkern sein sollte oder was deinstallieren bedeutete – aber es klang großartig. Da war ein Schmerz in seinem Kopf. Zwischen seinem … seinem … Riechknochen und seinem Denkfleisch. Ja, das klang richtig. Yorriks Denkfleisch pulsierte dumpf, als wäre es wütend. Eine Sturmwoge aus Stimulantien brandete auf sein Nervensystem ein, aber sein Stoffwechsel war zu träge und zu alt, um das bereits zu registrieren.

Mit dem Knie aktivierte Yorrik die Verschlussplatte seiner titanischen Schlafkapsel, woraufhin ein lautes Zischen erklang. Anschließend versuchte die riesige Kreatur, aus der Kapsel zu steigen, aber sie stolperte über den vorstehenden Rand des Gebildes und landete mit einem lauten Knall auf dem Boden. Nicht, dass irgendjemand es hören konnte. Die anderen Kapseln waren noch immer verschlossen und blinkten friedlich vor sich hin, wie Yorrik benommen feststellte. Seine tiefe, summende Stimme unterbrach das fröhliche Zirpen des Schiffscomputers.

„Mit trockenem Sarkasmus: Und auch dir einen guten Morgen!“

Sleepwalker Yorrik, ich habe die Dosis Ihrer Muntermacher erhöht und außerdem Enzyme zur Stimulation Ihrer sensorischen Wahrnehmung und Antidepressiva hinzugefügt. Außerdem habe ich Ihren Stoffwechsel beschleunigt, wofür ich mich im Voraus entschuldige. Das wird eine höchst unangenehme Erfahrung für Sie, aber leider ist es notwendig. Die normale Aufwachphase eines Elcor dauert zu lange, und die aktuelle Situation erlaubt keinen Aufschub. Ihre medizinischen Kenntnisse werden benötigt. Bitte melden Sie sich umgehend in der Radialsektion. Ihre medizinischen Fähigkeiten werden benötigt. Bitte melden …

Yorrik stöhnte, ein lautes Geräusch wie von einer Posaune. Sein Denkfleisch wollte nichts sehnlicher, als etwas zu zertrampeln, vorzugsweise diese verfluchte Stimme. Aber sein Riechknochen war bereits in Aktion, und als er das Gesicht zusammenzog und schnüffelte, brandete eine Woge von Informationen auf ihn ein: abgestandene Luft, antibakterieller Dunst, tauender Frost. Sofort fühlte er sich wacher, ruhiger, mehr als Herr der Lage. Plastahl, säuerlich und herb. Sein eigener Schweiß, heiß und sauer. Der Duft des tiefen Raums, wie ein kalter Wald, erfüllt vom bitteren Rauch von einhundert Millionen Lagerfeuern draußen in der Dunkelheit. Aber unter alldem war noch etwas anderes. Etwas weit Entferntes; nicht auf diesem Deck oder dem darüber, aber an Bord. Etwas Süßes und Fleischiges und Geschwollenes, wie Milch, kurz bevor sie schlecht wurde.

Tod.

2. KAPITEL

Durchdringung

Es heißt, in der Kryostase träumt man nicht. Schließlich schläft man nicht wirklich. Die Leute nennen es nur Schlaf, weil niemand sagen will, was es technisch gesehen eigentlich ist, nämlich ein zeitlich begrenzter Tod. Und Tote haben eben keine Träume. Anax Therion wusste das alles. Sie wusste genau, wie die Kryokapseln funktionierten, bis hin zum letzten Frostpartikel. Welche Person würde ihren Körper auch so einer Maschine anvertrauen, ohne sich das Handbuch nicht genau durchzulesen? Und zwar mehr als einmal. Trotzdem: Als sie sich bei der Hephaestus-Station in diesen gläsernen Sarg gelegt hatte und der kühle Windhauch des atomisierten Tiefkühlmittels ihre grüne Haut blau verfärbt hatte, da war sie sich sicher gewesen, dass sie es tun würde. Träumen. Vielleicht war es für sie ja anders, hatte Anax überlegt. Schließlich war vieles anders für Drell, rein medizinisch betrachtet. Außerdem unternahmen nur wenige Mitglieder ihrer Spezies so lange Reisen, und wenn, dann war es in der Regel eine Reise ohne Rückfahrkarte. So wie diese hier auch. Also, wer konnte schon sagen, ob sie träumen würde? Oder ob vielleicht nur sie allein eine Fehlfunktion wahrnehmen würde, irgendwann während der sechshundert Jahre zwischen ihrer alten und ihrer neuen Heimat, gefangen in ihren Erinnerungen in diesem tiefgefrorenen Körper?

Stattdessen stapfte sie nun durch den langen, dunklen Korridor, der von ihrem Kryodeck zum Radial führte. Der Gang neigte sich leicht vor ihr, der Form des Schiffes folgend, und er bestand ganz aus glänzendem Glas, weißem Metall und hellen Lichtern – oder zumindest tat er das normalerweise. Jetzt war die Beleuchtung der Keelah Si’yah heruntergefahren, um Energie zu sparen, während ihre Passagiere durch die Jahrhunderte schlummerten. Und so waren es nur die dumpfblauen Leuchtstreifen entlang des Bodens, die ihr den Weg zu ihrem Ziel wiesen. Mit anderen Worten: Es war so dunkel und fremd wie eine Gasse in einer fremden Stadt. Anax Therion lehnte sich gegen die unbeleuchtete Wand, als eine Woge unerwünschter Erinnerungen auf sie einprasselte, und sie presste die milchigen, inneren Augenlider zu. Wolken hängen wie Pulverrauch über den Glaskuppeln und biolumineszenten Straßen der Stadt Cnidaria. Meine keuchenden Atemzüge sind wie Schritte, die vor mir durch die Dunkelheit eilen. Er glaubt, er ist entwischt. Die Krill sehen kein Muster in ihren Bewegungen, wenn sie unter den Wellen dahinjagen. Aber der Wal schon. Ich bin der Wal. Ein Schuss, und Funken stieben von der Schulter ihres Ziels, so hoch wie ein Schwarm Glühwürmchen.

Anax riss sich von ihrer Vergangenheit los – einer Vergangenheit, die sie sicher zweieinhalb Millionen Lichtjahre entfernt weggesperrt hatte. Doch ihre Drell-Erinnerungen waren ebenso vollständig wie gefährlich, und so klar, so pulstreibend, so unmittelbar wie damals, als sie sie erlebt hatte. Als wäre sie wirklich dort. Eine Million Meilen entfernt, auf Kahje, als junge Datenhändlerin, die nie auch nur einen Gedanken an die Andromeda-Galaxie verschwendet hatte und einen Attentäter durch die Gassen einer Hanar-Stadt verfolgte, mit nur einem Ziel vor Augen: die Informationen in seinem Gehirn zu erbeuten und sie dem Shadow Broker zu bringen. Tatsächlich lag das alles natürlich weit in der Vergangenheit. In einer anderen Zeit, in einem anderen Leben. Aber falls Anax sich nicht zusammenriss, könnte die Erinnerung sie wieder überwältigen, ohne Vorwarnung, ohne Gnade. Und so kurz nach dem Erwachen aus dem Kryoschlaf war es alles andere als einfach, sich zusammenzureißen.

Ach ja, und Drell-Träume? Die waren so intensiv und realistisch, da konnte kein Vid der Galaxie mithalten.

Nur hatte sie nicht geträumt. Ihre Augen waren auf der Hephaestus-Station zugeklappt und zu Beginn ihrer Sleepwalker-Wachzyklen wieder aufgeklappt, und jedes Mal war es gewesen, als hätte sie nur geblinzelt – so unmittelbar, so übergangslos. Das Einzige, was sich verändert hatte, war, dass ihre Glieder und ihr Kopf plötzlich wehtaten und das Innere ihres Mundes schmeckte, als hätte ein Vorcah einen Haufen hineingemacht. Aber jetzt waren ihre Wachzyklen vorbei. Team Blau-7, ihr Team, hatte seine letzte Schicht beendet – eine mehrwöchige Wachphase, während der sie die Bordsysteme überprüft und dafür gesorgt hatten, dass alles für das Andockmanöver an der Nexus bereit wäre, sobald sie die Andromeda-Galaxie erreichten. Sie sollten eigentlich nicht mehr geweckt werden, bis alle an Bord aus der Kryostase geholt wurden. Eigentlich sollte sie jetzt genauso vorübergehend tot sein wie die anderen Passagiere der KeelahSi’yah.

„Was immer passiert ist, es wird bestimmt nicht besser davon, dass du hier herumstehst und Zeit vergeudest“, tadelte sie sich, und ihre Stimme hallte durch das leere Deck. Gerade als sie losjoggte, durch den Korridor auf das Radial zu, stieg ein seltsamer, desorientierender Gedanke in ihrem Kopf hoch wie ein Kohlensäurebläschen in einem Glas.

Der Shadow Broker war tot – ihr bester Kunde; der einzige, den sie nie getroffen, dessen Stimme sie nie gehört hatte. Wer immer er wirklich gewesen war, wo immer er wirklich gelebt hatte, wen immer er wirklich geliebt hatte, er lag jetzt ein halbes Jahrtausend entfernt in seinem Grab. Und sie, die nervöse, kleine Anax Therion, die während ihrer Jugend darum hatte kämpfen müssen, mindestens eine Mahlzeit am Tag zu ergattern … sie lebte noch. Wer hätte das vor all diesen Jahren gedacht, als sich der Regen und die Neonlichter von Cnidaria wie Farbe auf der Straße vermischt hatten?

Das Radial war auf ganz eigene Weise beeindruckend: ein industrieller Zen-Garten tief im Kern des Schiffes, ein weitläufiges, blauschwarzes Sechseck, umgeben von dicken Wänden aus durchsichtigem Glas, wo die sechs Lebensräume der Keelah Si’yah aufeinandertrafen. Jedes Mitglied jeder Spezies an Bord konnte sich hier mit allen anderen treffen, ohne dabei die zeitaufwendigen und lästigen Prozeduren über sich ergehen zu lassen, die nötig waren, damit ein Hanar in der Ammoniakluft der Volus-Sektion nicht schmolz oder die Lungen eines Drell nicht in den feuchten Korridoren der Batarianer-Decks kollabierten. Oder dass ein Quarianer nicht von den bevorzugten Schwerkrafteinstellungen der Elcor zerquetscht wurde. Die sechs Glasscheiben fungierten gleichzeitig als Luftschleusen; Autorisierung und Vorbereitung vorausgesetzt, konnte man durch die Radialsektion jede Zone des Schiffes betreten und verlassen. Die nötigen Materialien für besagte Vorbereitungen – Hyposprays, Grav-Armreife, Luftfilter, Schmerzmittel, Schutzanzüge und Atemmasken – wurden in breiten, niedrigen Zylindern in der Mitte des sechseckigen Raums aufbewahrt.

Kein anderes Schiff der Initiative verfügte über ein so sorgfältig durchgeplantes System – und wozu auch, schließlich beherbergten sie alle jeweils nur eine Spezies. Es wäre natürlich möglich gewesen, Bedingungen wie auf der Citadel zu schaffen, wo alle Spezies ein oder zwei Jahre gemeinsam leben können, solange sie bereit sind, Injektionen und Druckausgleiche über sich ergehen zu lassen oder Schutzanzüge zu tragen. Aber die Quarianer weigerten sich beharrlich, sechs Spezies während ihrer jahrhundertelangen Reise in eine neue Galaxie in eine Mischatmosphäre zu sperren, die für keine von ihnen sonderlich angenehm wäre. Andromeda war der Traum, dem sie alle entgegenstrebten, aber bis er in Erfüllung ging, war die Si’yah ihr Zuhause. Praktisch, solide, zuverlässig, von dem Moment an, seit sie außerhalb der Hephaestus-Station ihre Antriebsdüsen gezündet hatte. Und ein Zuhause sollte seinen Bewohnern keine Schwerkraftmigräne oder Blutvergiftung bescheren, und sie sollten dort auch nicht am Kepral-Syndrom erkranken. Nein, ein Zuhause war ein Ort, wo man seine Tentakel hochlegen und sich entspannen konnte. Davon abgesehen, falls es schiefging, würde dieses Schiff vielleicht dauerhaft als ihr neues Zuhause herhalten müssen.

Die Quarianer stellten sich immer darauf ein, dass etwas schiefging. Und oft genug hatten sie damit recht.

Sobald sie die Nexus erreicht hatten, würde das Quorum hier zusammenkommen: Hinter fünf der sechs Scheiben würden dann zwei Vertreter der jeweiligen Spezies erscheinen, einer männlich, einer weiblich (sofern es keine anderen Geschlechter gab). Man hatte sie in einer offiziellen Wahl vor Flugbeginn bestimmt, und sie hatten die Aufgabe, Entscheidungen zu treffen, die das gesamte Schiff betrafen. Während die Pathfinder – speziell trainierte Jäger, denen mächtige, neue KIs (genannt SAMs oder Simulierte Adaptivmatrizen) implantiert worden waren – nach neuen Planeten für sie alle suchten, würde das Quorum dafür sorgen, dass sich die zwanzigtausend Seelen an Bord in der Zwischenzeit nicht gegenseitig an die Kehle gingen. Es waren nur einige Hundert Batarianer auf der Si’yah, weswegen sie ihre Vertretung im Quorum – und bei den Pathfindern – zähneknirschend mit den Quarianern teilten. Die Drell und die Hanar waren durch eine lange Geschichte miteinander verbunden, weswegen sie ebenfalls nur einen gemeinsam gewählten Pathfinder stellten. Als sie die Hälfte der Flugstrecke erreicht hatten, war das Quorum kurzzeitig aufgeweckt worden, um den Status des Schiffes zu beurteilen; das nächste Mal würden sie erst aufgetaut, wenn das Schiff in der Andromeda-Galaxie ankam – es sei denn, es gab einen Notfall, den die SAMs und die Wartungsdrohnen des Schiffes nicht allein bewältigen konnten.

Jetzt waren die Plattformen hinter den Glasscheiben leer und verlassen, getaucht ins dumpfe blaue Licht der Standby-Beleuchtung. Keine Pathfinder, kein Quroum, keine Kolonisten, keine Aktivität. Das Einzige, was sich hier bewegte, waren die Zeiger der Uhr.

Über den Vorratszylindern in der Mitte des Radials befand sich ein gewaltiges hydroponisches Pflanzbecken. Jede Spezies hatte Blumen von ihrer Heimatwelt an Bord der Si’yah gebracht, und eine junge Volus namens Irit Non hatte sie hier in liebevoller Detailarbeit zu einem beeindruckenden Kunstwerk zusammengefügt. Während der letzten knapp fünfhundert Jahre waren die Pflanzen durch das botanische Wartungsprogramm des Schiffes bewässert, gehegt und gestutzt worden, während sie wuchsen. Und wuchsen. Und wuchsen. Von innen heraus glühendes Lerian erhob sich neben Meeresgräsern von Kajhe, der Heimatwelt der Hanar, und beides war umgeben von scharlachroten Usharet-Blumen vom kriegszerrütteten Drell-Planeten Rakhana. Bauchige violette Onuffri-Blüten aus den Savannen von Dekuuna, wo die Elcor lebten, wanden sich um die stacheligen batarianischen Gewürzpflanzen, die Ignac genannt wurden und in den unwirtlichen Ebenen von Kar’shan wuchsen. Die silbernen Wedel duftender Kympna-Stauden spähten zwischen fleischfressenden Pflanzen aus den chemischen Wäldern von Irune hervor – der Heimatwelt der Volus. Alle Spezies hatten sich an dem Bouquet beteiligt. Die Quarianer konnten natürlich keine Blumen von ihrer Heimat beisteuern, hatten sie diese doch an ihre eigene Schöpfung verloren: die außer Kontrolle geratene mechanische Intelligenz, die sie Geth nannten.

Vielleicht hatte der Captain, Qetsi’Olam vas Keelah Si’yah, das Blumenbeet deshalb zu einer sentimentalen Dummheit erklärt.

„Wir haben das Schiff gebaut“, so seine Worte. „Das sollte doch wohl Beitrag genug sein.“

Kholai, ein Hanar-Priester, hielt das Ganze ebenfalls für töricht, denn die einzigen Personen, die sich in der Schönheit der Blumen sonnen konnten, waren die Sleepwalker-Teams – Rumpfmannschaften, bestehend aus jeweils einem technisch begabten Mitglied jeder an Bord vertretenen Spezies, die in regelmäßigem Turnus geweckt wurden, um die Systeme neu zu kalibrieren, kleinere Navigationsänderungen vorzunehmen … und die Blumen zu beschneiden. Im gedämpften Licht der Aphrodite, dem einzigen Ort an Bord der Hephaestus-Station, den man wirklich eine Bar nennen konnte, hatte Kholai seinen magentafarbenen Kopf auf die Seite gelegt und verkündet: „Dieser hier hat akzeptiert, dass nichts im Universum rein bleibt, und er möchte anmerken, dass diese Blumen vermutlich schon vor dem ersten Sleepwalker-Zyklus abgestorben sein werden – so wie wir alle eines Tages vergehen werden.“

Die Anhänger des Hanar hatten ihm lautstark zugestimmt, aber für die Hälfte der Mannschaft war der Vorschlag, auf ein riesiges Blumenbeet in der Mitte ihres Schiffes zu verzichten, wie ein kultureller Affront. Osyat Raxios, ein Drell und politischer Flüchtling, hatte Kholai gewarnt, dass er besser seine dämliche Klappe hielt, wenn er nicht wollte, dass jemand besagte Körperöffnung mit einem Büschel uralter und unanfechtbar schöner Usharet-Blüten stopfte. Borbala Ferank, die zurückgetretene Matriarchin der Ferank-Mafia, behauptete, dass sie nur deswegen nicht auch protestiert hatte, weil sie die Ignac-Pflanzen – und im weiteren Sinne auch die Batarianer selbst – für hässlich und unwürdig hielt und fand, dass sie keinen Platz in diesem „Snob-Garten“ verdient hätten.

„Mit energischem Nachdruck: Falls ihr unsere Blumen ausgraben wollt, dann nur über meine Leiche“, dröhnte Threnno, ein Elcor-Psychiater.

„Wir brauchen das hier“, intonierte Irit Non, eine Sekunde, bevor sie einem batarianischen Blumenbeetgegner in den Unterleib trat. „Wir brauchen etwas, das dem gesamten Schiff zeigt: Ja, wir können friedlich miteinander leben und zusammenwachsen!“

Schon bald führte die Blumenfrage überall auf der Hephaestus-Station zu Streit und Handgreiflichkeiten. Letztlich beendete Commander Senna’Nir, der stellvertretende Kommandant des Schiffes, das Patt zwischen den Fraktionen, indem er Irit Non sechs Keleven-Stängel überreichte, eine Art proteinreicher Sellerie, der in den Biokuppeln seines Geburtsschiffes gezüchtet wurde.

So traf die Mannschaft der Keelah Si’yah ihre erste speziesübergreifende Entscheidung. Es sollten noch viele folgen, und nur die wenigsten verliefen reibungslos.

Anax Therion entdeckte zwei weitere Gestalten, die sich schläfrig auf die gläsernen Luftschleusen zubewegten: Der Anführer ihres Sleepwalker-Teams, Senna’Nir vas Keelah Si’yah, stakste auf seinen nach hinten umgeknickten Beinen dahin, wobei sein violett-grauer Anzug die schwache Beleuchtung reflektierte. Und von der anderen Seite stampfte Yorrik, ihr Medi-Spezialist, auf allen vieren der Glasscheibe entgegen wie das ungeschickteste Kind der Galaxie, nachdem man es mit einer dreifachen Dosis chemischer Wachmacher vollgepumpt hatte. Anax starrte ihn an. Sie hatte noch nie gesehen, wie ein Elcor auf seinen baumstammdicken Beinen tänzelte, und sie vermutete, dass dies das erste und auch das letzte Mal war. Ihr Kopf pochte quälend, aber sie ignorierte es; der Schmerz hatte keinen Nutzen.