Matrjoschka! - Thomas Weidner - E-Book

Matrjoschka! E-Book

Thomas Weidner

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Beschreibung

Helden der Kindheit, Erlebtes auf Reisen, Gehörtes und Aufgeschnapptes in der Schweizer Heimat und der Berliner Wahlheimat. In zwölf Kurzgeschichten werden der Ex-Polizist in der kargen Klosterzelle, ein milliardenschwerer Klimaschutzaktivist auf dem Ergometer, das Wunder von Bern, ein Schwimm-Olympiasieger als Bravo-Starschnitt an der Wand hängend, ein mitten in der Nacht schrill klingelndes Wandtelefon, ein toskanischer Holzpuppen-Drechsler und ein Alligator im Hotelbadzimmer ineinander gestapelt.

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Kurzgeschichten, oder nicht?

Historias cortas, ¿o no?

Lyhyitä tarinoita, eikö olekin?

Kleine Geschichten.

Auf der ersten Seite ist eine, durch künstliche Intelligenz erzeugte, Sprachodyssee dargestellt. Wenn Algorithmen die Frage „Kurzgeschichten, oder nicht? von der deutschen Sprache ins Spanische übersetzen, das spanische Resultat ins Chinesische, das chinesische Resultat ins Finnische, das finnische Resultat ins Griechische, das griechische Resultat ins Japanische und das japanische Resultat wieder ins Deutsche zurückübersetzen, entsteht das Schlussresultat «Kleine Geschichten».

Aus einer ernstgemeinten Frage entsteht eine nüchterne Antwort. Kann es das sein? Jetzt mal angenommen, ein Mensch wäre dieser sechs Sprachen mächtig und er würde die Frage in der gleichen Reihenfolge übersetzen. Wie würde das Ergebnis lauten?

«Kurzgeschichten, oder nicht?» oder «Kleine Geschichten.»?

Oder würde er gar auf ein weiteres Ergebnis kommen? Sie können für sich entscheiden, ob sie nun Kurzgeschichten oder Romane lieber lesen und ob uns die künstliche oder die menschliche Intelligenz erklären kann, wie kurz oder klein Geschichten zu sein haben, um uns Freude zu bereiten. Und um das sollte es in diesem Buch hauptsächlich gehen.

Es gibt Leser und Leserinnen, die Kurzgeschichten nicht mögen. Ihnen empfehle ich, die letzte Geschichte als Schlusskapitel zu verstehen. So könnte man dieses Buch, gesamthaft betrachtet, als (kurzen) Roman durchgehen lassen. Alle Geschichten beruhen auf Tatsachen. Quasi. Das heisst Orte und Personennamen sind oft frei erfunden. Die Hauptaussagen der Geschichten haben sich, bevor sie teils mit einer gehörigen Portion Fiktion „ergänzt“ wurden, auf eine ähnliche Art und Weise ereignet. Sollte die Leserschaft in diesem Werk auf Namen, Orte und Ereignisse stossen, die real existierten oder immer noch existieren, wäre dies «rein zufällig» geschehen. Mit dem Vorkommen dieser Wörter erhebt der Autor keinen Anspruch auf eine dokumentarisch korrekte oder vollständige Darstellung dieser Personen, Orte und Ereignisse. Vielmehr sollte man dies als ein Stilmittel verstehen, das versucht, der Leserschaft einen Zeitgeist durch eventuelle Erinnerungen an gewisse Erlebnisse und Personen aus der Vergangenheit, zu vermitteln.

Ein Beispiel: Ein Mittelstürmer mit grossem Oberschenkelumfang, welcher in einer süddeutschen Stadt eine Ballsportart betreibt, bei der er 1974 an einem Grossanlass, bei dem das Endspiel zufälligerweise in der gleichen süddeutschen Stadt stattfand und er dort durch eine entscheidende Aktion mittels gekonnter Drehung seines Körpers es seinem Mannschaftskameraden Franz, der den Titel eines Kaisers trug, obwohl sein Heimatland schon lange keine Monarchie mehr war, ermöglichte, als Erster eine goldene Figur emporzuhalten und ihm dabei 78‘000 Menschen (abzüglich ein paar tausend Niederländer) zujubeln…. usw, usw.

Es spart viel Zeit und Papier, wenn an Stelle eines solchen Wortschwalls einfach die zwei Wörter „Gerd Müller“ verwendet werden. Denke ich.

Thomas Weidner, Biel im Februar 2023.

Für Sybille.

INHALT

DEINE HELDEN DER 70ER JAHRE

NEUES WASCHBECKEN

FALSCH VERBUNDEN

ALIS HAUS

KAIMAN

MÖNCH

BESTSELLERAUTOR

MATRJOSCHKA!

HERBSTMORGENGEDANKEN

NICHTBERLINER

DOPPELHAUSHÄLFTE

FINALE GRANDE IN LINGOTTO

DEINE HELDEN DER 70ER JAHRE

Wer Helden hat, braucht keinen Gott.

Hast Du diesen Satz selbst kreiert oder hast du ihn anderswo aufgeschnappt? Egal. Ob diese Aussage Sinn macht oder nicht, kann jeder Mensch für sich selbst entscheiden. Für dich macht sie Sinn. Helden sind für dich plastischer und greifbarer als Götter. Sie sind da. Sie existieren. Solange sie leben.

Nach ihrem Leben werden Helden oft noch heldenafter wahrgenommen. Die negativen Eigenschaften, die ein Held zu Lebzeiten hatte, werden bei seinem Tod oft auf eine geradezu groteske Art ausgeblendet. Du wurdest zu einem Realist erzogen. Trotz oder vielleicht gerade wegen deinen unaufgeregten, behüteten und glücklichen Kinderjahren in einer Arbeiterfamilie der Siebziger Jahre tagträumst du von Grösserem, Wichtigerem, Sensationellerem. Die grössten Helden in deiner Kindheit, waren jene, die du gar nicht selber gut kanntest, sondern die du durch deine grösseren Geschwister oder Eltern wahrnahmst: Cassius Clay (seit 1965 eigentlich Muhammad Ali), ABBA, Franz Beckenbauer, Winnetou, Helmut Schmidt, Rudi Carrell, Pan Tau, Mark Spitz, Elvis Presley, Eddy Merckx, Gerd Müller, um nur Einige zu nennen.

Muhammad Ali kanntest du nicht. Du hast durch deinen Vater erfahren, dass er „der Grösste“ war. Der beste Boxer. Der Boxer, der um seine Gegner tänzelte und sie dann kaltschnäuzig und blitzschnell K.o. schlug. Viel konntest Du Dir darunter nicht vorstellen. Du hast dir keine Boxkämpfe angeschaut.

Am meisten beeindruckte dich, dass dein Vater mitten in der Woche nachts aufstand, um sich einen Boxkampf live im Fernsehen anzuschauen. Mit deiner Kinderlogik war es für dich sonnenklar, dass er deswegen am nächsten Tag völlig übermüdet zur Arbeit erschien. Er war es ja auch, der euch Kindern erklärte, dass genug Schlaf wichtig war, um den folgenden Schultag zu überstehen. Du weisst nicht mehr, ob es der Kampf 1974 in Kinshasa gegen George Foreman war. K.o-Sieg in der 8. Runde. Dieser Boxkampf ging in die Geschichte ein. Unter dem Namen Rumble in the Jungle fand er in der Hauptstadt des damaligen Zaire (heute Demokratische Republik Kongo) statt. Das hörte sich für dich mit deiner kindlichen Phantasie wild und aufregend an. Über hunderttausend frenetische Zuschauer schauen sich morgens um 3 Uhr im Dschungel an, wie zwei erwachsene Männer bei 30°C und 90% Luftfeuchtigkeit sich gegenseitig verdreschen. Viele Millionen von Zuschauer sahen sich dieses „Spektakel“ auf der gesamten Welt am Fernseher an, unter ihnen dein Vater.

Winnetou kanntest du viel besser. In den Filmen mit Pierre Brice als Winnetou und Lex Barker in der Rolle seines Blutsbruders Old Shatterhand. Das waren wahre Helden für dich. Dass der gleiche Lex Barker auch noch die Hauptrolle in Tarzan-Filmen spielte, steigerte deine Bewunderung noch mehr. Um draussen beim Indiander Spielen gut ausgerüstet zu sein, hast du dir eine Kopie von Winnetous Gewehr mit deinem Vater zusammen gebastelt.

Winnetou hatte sein Gewehr – die berühmte Silberbüchse, deren Kugel niemals ihr Ziel verfehlte – von seinem ermordeten Vater Intschu Tschuna geerbt.

Die Holzteile der Silberbüchse waren mit silbernen Nägel beschlagen. Deine Silberbüchse war ein gekrümmter, von der Baumrinde entledigter, dunkelbraun gebeizter Ast. Mit ein bisschen Phantasie hatte dieser Ast die Form eines Gewehres. Der Lauf des Gewehres war vorne durch eine paar Zentimeter tiefe Bohrung angedeutet. Das Wichtigste waren für dich aber die weissen Reissnägel, die ihr seitlich ins Gewehr hineingedrückt hattet. Diese weissen Reisnägel waren deine silbernen Nägel der Silberbüchse. Du warst extrem stolz auf deine Silberbüchse und die anderen Kinder aus deinem Wohnblock waren beeindruckt.

Helmut Schmidt war der fünfte Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Während seiner Amtszeit in den Siebziger Jahren waren die Terroristen der Roten-Armee-Fraktion (RAF) aktiv und entführten unter anderem ein Lufthansa-Flugzeug namens „Landshut“, um mit der Geiselnahme der Besatzung und Passagiere, inhaftierte RAF-Mitglieder freizupressen. Durch Nachrichtensendungen im Fernsehen erfuhrst du, dass das entführte Flugzeug in Palma de Mallorca startete und mit Zwischenstopps in Rom, Zypern, Dubai und Süd Jemen in Mogadischu, der Hauptstadt Somalias, landete. Dort wurden die Geiseln durch die Antiterroreinheit GSG-9 nach fünf Tagen Entführung befreit. Obwohl du in der Schweiz aufgewachsen bist, hast du das durch die „Tagesschau“ der ARD und durch die Nachrichtensendung „Heute“ im ZDF mitgekriegt. Dein Vater lebte zu dieser Zeit schon fast zwanzig Jahre in der Schweiz. Trotzdem hießen die Zeitungen, die auf eurem Wohnzimmertisch lagen „Münchner Merkur“ oder „Süddeutsche Zeitung“. Diese Zeitungen gab es nicht überall zu kaufen.

Sie wurden beim Kiosk der Supermarkt-Filiale im Quartier auf euren Namen reserviert. Deine Mutter brachte sie von ihrem allmorgendlichen Einkauf mit.

Als Bundeskanzler war Helmut Schmidt mitverantwortlich für diesen Erfolg am 18. Oktober 1977 nach anderen schwierigen Momenten in diesem mit „Deutschem Herbst“ bezeichneten Zeitraum. Es war für dich das erste Mal, dass du aktuelle weltpolitische Ereignisse durch die Medien wahrgenommen hast. Diese Ereignisse haben dich mit Sorge und Angst erfüllt. Es kam dir manchmal so vor, als ob du dir einen Film anschaust, der nicht für Kinder in deinem Alter geeignet war. So ähnlich wie an dem Abend, als du mit deinem grossen Bruder alleine zuhause warst. Deine Eltern waren bei Freunden zum Kartenspielen eingeladen. Ihr habt euch entschieden, im Geheimen den Film „Die Vögel“ von Alfred Hitchcock zu schauen. Als dann mehrere Menschen mit dem Rücken an die Wand gelehnt am Boden saßen und ihre Augen von Vögeln ausgepickt waren und an ihren Stellen nur blutige Wunden klafften, habt ihr den Fernseher freiwillig ausgeschaltet und euch etwas verängstigt ins Bett verkrochen. Da war noch ein entscheidender Unterschied zwischen „Mogadischu“ und „Die Vögel“. Die Flugzeugentführung war Realität und Hitchcock war ein Meister im Erzählen von nicht realen Geschichten.

Rudi Carrell als Helden zu bezeichnen wirkt im Vergleich zu den weiteren Persönlichkeiten in dieser Geschichte etwas grotesk. Und doch hat dieser Mensch einen Bereich deines Lebens mitgeprägt. Siebziger Jahre. Samstagabend. Farbfernsehen. 20Uhr15, nach der Tagesschau, dem Wetterbericht und der Ziehung der Lottozahlen: „Am laufenden Band!“ Der Showmaster dieser Unterhaltungsshow war Rudy Carrel, der mit holländischem Akzent versuchte, deutsch zu sprechen. Acht Kandidaten nahmen bei diesem Gewinnspiel teil. Der Gewinner sass am Schluss in einem asiatischen Korbstuhl und durfte die Gegenstände betrachten, die auf einem Förderband vor ihm passierten. Anschließend hatte er dreissig Sekunden Zeit, möglichst viele der Gegenstände aufzuzählen, welche dann sein Gewinn waren. Der Inhalt der Sendung und die Art des Humors zu jener Zeit, wirken aus heutiger Sicht erbärmlich. Das waren nicht die Dinge, die dir geblieben sind.

Was dir blieb, war das Gefühl, als gesamte Familie zusammen diese Samstagabende zu erleben. Live-Fernsehen und alles war bunt. Es war eine Mischung aus Faszination und Heile Welt, die viele Menschen an diesen Samstagabenden glücklich machten. Du siehst dich in deinem braun und gelb gemusterten Pyjama bereits bettfein auf dem blauen, stoffbezogenem Sofa mit den schwarzen Lederlehnen sitzen. Das Motiv auf deinem Pyjama war ein Äffchen, das eine Banane in der Hand hält. Dieses Motiv war ungefähr anderthalb Zentimeter hoch und zweihundert Mal auf deinem Pyjama, regelmässig wiederholend, abgebildet.

Nach der Sendung durftest du manchmal auch zu später Stunde noch „Das aktuelle Sportstudio“ mitanschauen. Moderatoren waren charismatische Typen wie Harry Valérien oder Dieter Kürten. Jazzig swingende Erkennungsmelodie seit mittlerweile fast sechzig Jahren. Torwandschiessen, drei unten drei oben. Doch meistens bist du dabei eingeschlafen und wurdest in dein Bett getragen. Deshalb der bettfeine Auftritt bereits am Anfang des Abends.

Mark Spitz schwamm an den Olympischen Spielen 1972 in München sieben Weltrekorde und gewann sieben Goldmedaillen. Du weisst nicht mehr, ob du das als Vierjähriger am Rande mitbekommen hast. Der Bravo-Starschnitt des amerikanischen Superstars blieb dir aber in Erinnerung. Lebensgross hing er an der Wand deines Kinderzimmers. Er bestand aus 15 Teilen:

Nr. 1: Die knappe Badehose mit Stars-and-Stripes-Muster

Nr. 2: Bauchpartie mit den 7 umgehängten Goldmedaillen

Nr. 3: Brustpartie

Nr. 4: Linker und rechter Oberschenkel

Nr. 5: Rechtes Schienbein

Nr. 6: Linkes Schienbein, usw…

Obwohl sorgfältig ausgeschnitten und von deinem Vater passgenau zusammengefügt, waren die Übergänge von einem Teil zum nächsten klar sichtbar. Da die Teile aus unterschiedlichen Ausgaben der Bravo stammten (Ausgabe 47/1972 bis 03/1973) waren die Farbunterschiede der unterschiedlichen Druckvorgänge nicht zu vermeiden.

Das fandest du extrem schade. Wie noch oft in deinem späteren Leben, musstest du lernen, mit „Etwas nicht Perfektem“ klarzukommen. Das Streben nach Perfektion ist grundsätzlich positiv. Du merkst aber, dass du manchmal in Situationen kommst, die du selber nicht mehr beeinflussen kannst. Du lernst, keine weitere Energie dafür zu verschwenden, sondern diese in neue Projekte zu stecken, die noch beeinflussbar sind.

Elvis Presley, genannt der „King of Rock’n Roll“, kanntest du als Kind kaum. Was dir aber blieb, war die Sondersendung am Radio im August 1977 als Elvis verstarb. Er starb im Alter von 42 Jahren offiziell an einem plötzlichen Herztod. Über seine Todesursache gab es und gibt es weiterhin wilde Spekulationen. Dein Vater kannte Elvis schon aus seinen noch erfolgreicheren Fünfzigerjahren. Er mochte seine Musik sehr, hatte aber aus dir nicht bekannten Gründen keine Langspielplatten von ihm. So kam er auf die Idee, die Radio-Sondersendung auf Südwestfunk 3 aufzunehmen. Der Sender brachte den ganzen Tag nonstop Musik des verstorbenen Superstars. Die technische Ausrüstung deines Vaters für diese Aktion war bescheiden. Ein Radio, der Kassettenrecorder deiner grossen Schwester und ein Multipack blauer Tonbandkassetten Typ Agfa Super Color 90. Man konnte mit jeder Kassette 90 Minuten Musik aufnehmen, heisst 45 Minuten auf der A-Seite und 45 Minuten auf der B-Seite. Das Radio war ein ITT SCHAUBLORENZ POLO automatic. Herrliches Design. Der Ton kam durch eine farblos eloxierte, gelochte Aluminiumplatte hindurch. Den Sender wählte man durch Bewegen eines rechtekkigen Aluminium-Schiebers mit einem kreisförmigen Glaseinsatz, der einer Lupe gleicht.

Aus dem Aluminiumschieber springt ein schwarzes, gerilltes Kunststoffrad heraus. Mit diesem Rad konnte man die Feineinstellung der Sender vornehmen. Auf dem kreisrunden Glaseinsatz war mittig eine rote, vertikale Linie, welche die genaue Position des Suchers angab. Das, für dich, Spannendste war oberhalb der Lochblechverkleidung. Die internationalen Namen der Radiosender, die weiss auf einen schwarzen Hintergrund mit grünem Gitter gedruckt waren: BBC, Oslo, Luxembourg, Kalundborg, AFN, Budapest, Strasbourg, Paris, Wien, Hilversum, Rias. Es war für dich wie ein Blick aus dem Fenster deiner beschaulichen Schweizer Agglomerations-Perspektive in die grosse Welt.

Das Radio lief an diesem Samstag nonstop im geschlossenen Schlafzimmer deiner Eltern. Alle 45 Minuten ging dein Vater hinein und wechselte die Seite der Tonband-Kassette. Die restliche Familie musste, vor allem bei diesem heiklen Moment des Seitenwechselns, möglichst leise sein, damit keine ungewollten Geräusche die Aufnahme störten. Der Kassettenrecorder stand mit etwa 30 Zentimeter Abstand zum Radio und nahm alle Töne in der näheren Umgebung auf. Unter anderem auch die Musik des Radios. Allerdings in einer sehr bescheidenen Qualität.

Die Qualität des Tons war so schlecht, dass du dich nicht erinnern kannst, dass Dein Vater diese Kassetten danach auch nur einmal angehört hatte. Die Qualität des Tons war dir egal. Du und wahrscheinlich auch dein Vater fanden die Aktion an diesem Samstag ziemlich spannend, obwohl deine Mutter und deine grösseren Geschwister dabei alle 45 Minuten die Augen verdrehten. Dich beeindruckten vor allem die technische und kreativ improvisierte Komponente sowie das Gefühl, bei einem wichtigen Moment der Musikgeschichte dabei zu sein.

Eddy Merckx ist der beste Radrennfahrer aller Zeiten. Er gewann fünf Mal die Tour de France, fünf Mal den Giro d’Italia und war drei Mal Strassenradweltmeister. Er gewann sieben Mal Mailand-Sanremo, zwei Mal die Flandern-Rundfahrt, drei Mal Paris-Roubaix, fünf Mal Lüttich-Bastogne-Lüttich, zwei Mal die Lombardei-Rundfahrt, einmal die Vuelta und einmal die Tour de Suisse. Merckx hatte den Spitznamen „Der Kannibale“, der dich als kleiner Junge tief beeindruckte. Er war ein fairer Sportsmann aber gnadenlos gegenüber seinen Gegnern. Wenn er an einem Rennen teilnahm, wollte er um jeden Preis gewinnen. Immer. Jedes Rennen. Das hatte zur Folge, dass er 1969 an der Tour de France die Gesamtwertung, die Wertung für den besten Bergfahrer, die Punktewertung für den besten Sprinter und die Auszeichnung für den kämpferischsten Fahrer gewann.

1974 gewann er den Giro d’Italia, die Tour de Suisse, die Tour de France und die Weltmeisterschaft in Montreal. Alles innerhalb von drei Monaten. Die meisten dieser Erfolge hast Du nicht live mitgekriegt. Dein Vater erzählte dir davon oder du hast in späteren Jahren in Dokumentationen davon erfahren.

Schwarzweissfoto. Merckx überquert auf seinem filigranen Stahlrahmenrennrad 1971 in Mendrisio bei der Weltmeisterschaft die Ziellinie. Die Arme in die Höhe streckend. Kein Helm, der seine dunklen, gut frisiert erscheinenden Haare verdecken würde. Im Hintergrund die ihm zujubelnden Zuschauer völlig aus dem Häuschen. Ein paar Meter hinter ihm der Italiener Felice Gimondi, den er im Spurt geschlagen hatte.

Filmaufnahmen vom Giro d’Italia und der Tour de France. Merckx fährt im „Maglia Rosa“ und im „Maillot Jaune“