MATTHEW CORBETT und der Fluss der Seelen - Robert McCammon - E-Book

MATTHEW CORBETT und der Fluss der Seelen E-Book

Robert McCammon

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Beschreibung

Robert McCammons einzigartige historische Kriminalreihe um den ›Problemlöser‹ Matthew Corbett im noch jungen Amerika des 17. Jahrhunderts. Matthew Corbett hat einen lukrativen, wenn auch ungewöhnlichen Fall angenommen: Er soll eine schöne Frau zu einem Kostümball eskortieren. Was als angenehme Abwechslung beginnt, verwandelt sich jedoch schnell zu einem Mordfall. Ein sechzehnjähriges Mädchen wurde auf einer der örtlichen Plantagen erstochen, und ihr mutmaßlicher Mörder – ein Sklave – ist in den Schutz der nahe gelegenen trügerischen Sümpfe geflohen … Von einigen Widersprüchen geplagt und entschlossen, der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen, schließt sich Matthew Corbett der Jagd nach dem entflohenen Sklaven an. Die Reise führt ihn den "Fluss der Seelen" hinauf, wo etwas aus dem Sumpf beginnt, Jagd auf die Jäger zu machen. Und auch mit Schlangen, Alligatoren, verstoßenen Wilden, mythischen Kreaturen und dem beinahe schon zur Gewohnheit gewordenem menschlichen Verrat muss sich Matthew herumschlagen, bis eine albtraumhafte Konfrontation sein Leben für immer verändern soll. "Geschickt gelingt McCammon der Spagat zwischen dem Erklärbaren und dem Übernatürlichen." - Publishers Weekly Robert McCammons "Matthew Corbett"-Reihe sind nicht nur sprachgewaltige, historisch umfangreich recherchierte Kriminalromane, sondern ein in ihrer Form beispielloses Experiment – versucht Robert McCammon doch mit jeder Erzählung in ein anderes literarisches Genre abzutauchen, von Mystery über Serienmörderhatz, Abenteuerroman und Thriller bis hin zu Elementen des Pulp-Romans. In Kombination mit einem erfrischend unverbrauchten Setting in den noch jungen amerikanischen Kolonien des 17. Jahrhunderts schuf McCammon ein fesselndes und einzigartiges Leseabenteuer, das in den USA Leser wie Kritiker zu beeindrucken wusste und nun endlich auch in deutscher Sprache miterlebt werden kann. ★★★★★ »Die Fans der phantastischen Literatur finden in McCammons Kriminalreihe, die im noch jungen Amerika des 17. Jahrhunderts angesiedelt ist, genügend Mysteriöses und Übernatürliches, um voll und ganz auf ihre Kosten zu kommen. Den vollständigen Lesegenuss erhält man allerdings erst mit dem Lesen der kompletten Reihe, welche das Prädikat "besonders empfehlenswert" tragen sollte. Bei Robert McCammon stimmt einfach alles.« - Daniel Bauerfeld, Nautilus - Fantasymagazin

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Matthew Corbett und der Fluss der Seelen

Robert McCammon

Copyright © 2006 by Robert McCammon Published by Arrangement with THE MCCAMMON CORPORATION

This Work was negotiated through Literary Agency Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover

Impressum

Deutsche Erstausgabe Originaltitel: THE RIVER OF SOULS Copyright Gesamtausgabe © 2021 LUZIFER Verlag Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Cover: Michael Schubert Übersetzung: Nicole Lischewski

Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2021) lektoriert.

ISBN E-Book: 978-3-95835-602-3

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

Inhaltsverzeichnis

Matthew Corbett und der Fluss der Seelen
Impressum
Ein beharrlicher Spieler
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Ich bin nicht Daniel
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kugel oder Klinge?
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Über den Autor

EINS

Kapitel 1

Der Mann war gewaltig wie ein Berg. Seine Schultern glichen zwei über einem Steilhang aufragenden Felsbrocken. Sein Gesicht war ein sonnengebräuntes Stück Fleisch über einem wilden, tintenschwarzen Bartgestrüpp, das bis zur Mitte seines tabakbefleckten Hemds hinunterhing. Seinen verbeulten grauen Dreispitz hatte er aus Höflichkeit vor der im Ballsaal versammelten Gesellschaft abgenommen. Seine schwarzen Haare waren der mit Bärenfett pomadisierte Schopf eines Verrückten. Der Gestank längst verstorbener Bären dünstete davon aus und hatte ein halbes Dutzend große, grüne Fliegen angelockt, die sein schmierig glänzendes Haupt umschwirrten und umsummten.

Kurz nachdem er das Haus durch die Vorhänge vom Garten her betreten hatte, wo Kerzen in Tontöpfen flackerten und Zikaden melodisch in den Birnbäumen zirpten, war die den Tanz anspornende Musik verstummt. Plötzlich gaben Geige, Cello, Cembalo und das Geklapper der Rhythmusstäbe weder Takt noch Ton von sich, und auch die Pirouetten der Tänzer auf den blankpolierten Bohlen des kerzenbeleuchteten Raums kamen zum Stillstand. Alle Blicke richteten sich auf den riesigen schwarzgekleideten Mann, der gerade mit seinen festen, dreckigen Stiefeln auf eben jene Holzplanken getreten war – und die, die wussten, was sich vermutlich gleich ereignen würde, holten zum Flüstern und mit dem Finger zeigen Luft. Sie zeigten auf einen jungen Mann namens Matthew Corbett, der fast genau in der Mitte des Ballsaals neben der schönsten Frau stand, die es je gegeben hatte.

Der Berg von einem Mann ließ seinen Blick im flackernden Kerzenschein durch den Raum schweifen. Rote und weiße Papiergirlanden hingen von der Decke. Unweit von ihm war eine lange Tafel mit dem Festschmaus des Abends aufgebaut: zwei mit Austern gefüllte, gebratene Truthähne, ein mit Pilzen und Speck gestopftes Spanferkel, gegrillter, mit Krabbenfleisch gefüllter Barsch, und eine Auswahl von Kartoffeln, die mit diversem Gemüse, Eingelegtem und Eingewecktem gefüllt waren. Auf Tabletts standen Flaschen mit Wein aus Frankreich und Karaffen voller Bier aus der Carolina-Kolonie. Gläser glitzerten. Die Musik war leicht und lebhaft gewesen, die Konversation geschliffen und geistreich, und die Tanzenden hatten flinken Fußes präzise Pirouetten gedreht. Alles in allem war es ein famoses Fest gewesen – bis dieser schwarzbärtige, finsterhaarige Stier des Waldes durch die duftigen Vorhänge hereingetrampelt kam. Jetzt, wo die Musik nicht mehr spielte und das Flüstern erstarb, war nur noch das Summen der Fliegen übriggeblieben, die hungrig die glänzenden, stinkig verfilzten Haarsträhnen umschwirrten.

»Oh nein«, sagte die schöne Frau, die sich an Matthews rechten Arm klammerte. Und dann noch einmal, als wollte sie das Untier von sich fernhalten: »Oh nein!«

Das Untier jedoch grunzte nur wie ein furzendes Pferdegespann. Seine eisengrauen Augen hatten sich auf ihr Ziel gerichtet.

Matthew spürte das Erschrecken der schönen Frau und berührte sie beruhigend am Arm. »Na, na, ist doch gut«, sagte er. In seinem weinroten Anzug und weißem Hemd mit dem hohen Kragen und Rüschen aus spanischer Spitze sah er geradezu prunkvoll aus. »Äh … wer ist er denn?«

Ohne den Blick ihrer bezaubernden leuchtenden Augen von der sofortige Gewaltanwendung androhenden Visage abzuwenden, flüsterte sie ihm zu: »Er ist der Mann, der Euch umbringen wird.«

»Wie bitte?«, entgegnete Matthew. Er glaubte, sie hatte gerade etwas gesagt, das er lieber nicht hören wollte.

Der monströse Berg regte sich. Seine Bewegung belebte die Beine der erstarrten Tänzer, die sich aus dem Weg retteten. Die Stiefel hämmerten auf die Planken wie ein Trommelwirbel, der einem Verblichenen die letzte Ehre erweist. Obwohl die Musikanten auf ihrer Bühne in Sicherheit waren, zogen sie sich vorsichtshalber bis an die Wand zurück, auf deren Webteppich die Komödie und Drama symbolisierenden Masken abgebildet waren; denn üblicherweise wurde die Bühne von den redlichen Charles Town Players benutzt.

Das Stiefelstampfen setzte sich über die Fußbodenbohlen fort, Schritt um unheilverkündenden Schritt, bis der Neuankömmling drohend vor Matthew Corbett aufragte.

»Nicht schon wieder!«, sagte Pandora Prisskitt. Ihre roten Lippen verzogen sich. In den dunkelblauen Augen ihres herzförmigen Gesichts blitzte Wut auf, aber auch so etwas wie Anbetteln. »Bitte! Ich flehe Euch an!«

Mit der Endgültigkeit eines Dämons am Jüngsten Tag schüttelte der Mann den Kopf. »Betteln hilft nicht«, antwortete er mit einer Stimme, die abgrundtief wie ein Höllenloch und so rau wie eine holprige Straße war. »Es muss erledigt werden.«

Matthew gefiel nicht, wie das klang. »Es muss erledigt werden?«, fragte er Pandora und hörte seine Stimme zu seinem Verdruss leicht zittern.

»Ihr«, sagte der riesige schwarzgekleidete Mann, der Matthew seinen schmierigen Wurstfinger mit dreckigem Fingernagel gegen die Brust stieß, »müsst sterben.«

»Ist das denn notwendig?«

»Es ist unumgänglich«, sagte das Untier. »So. Nun lasst uns die Details klären.« Der Mann griff in die Tasche seines langen Mantels – welcher Matthew an diesem schwülen Freitagabend Ende Juni alles andere als jahreszeitgemäß vorkam – und holte einen schwarzen Lederhandschuh heraus, der aussah, als hätte er den Großteil seiner Existenz auf dem Fußboden eines Schweinestalls und vollgeäpfelten Pferdeunterstands verbracht. Ohne Zeit zu verlieren, ohrfeigte er Matthew damit erst die linke und dann die rechte Wange. Im gesamten Ballsaal wurde nach Luft geschnappt, erschaudernd und auch erwartungsfroh die eine oder andere Lippe geleckt, denn selbst die vornehmsten Gentlemen und Ladys liebten ein leidenschaftliches Duell.

»Ich fordere Euch heraus!«, knurrte der Mann in einem Ton, der die sauberen Gläser auf dem Tisch klimpern und die Saiten des Cembalos summen ließ.

»Magnus Muldoon!«, rief Pandora Prisskitt, deren Wangen sich röteten. Ihre langen Haare von der Farbe eines geschmeidigen Nerzpelzes waren mit einer Goldspange zusammengerafft, die wie ein P geformt war. Sie war in ein französisches Gewand gekleidet, das so rot wie die roteste Rose im Colleton Park war und am Hals und den Ärmeln von hellrosa Spitzen betont wurde. »Ich werde es nicht dulden! Nicht noch einer!«

»Nicht noch ein was?«, fragte Matthew wie vor den Kopf geschlagen.

»Nicht noch ein toter Mann, den ich auf dem Gewissen habe«, sagte sie, ohne das Untier aus dem Blick zu lassen. »Hört mich an, Magnus! Das muss aufhören!«

»Hört auch auf. Wenn sie alle tot sind.«

»Ihr könnt nicht jeden einzelnen von ihnen umbringen!«

»Doch«, entgegnete Magnus Muldoon, der Matthew mit Blicken aus seinen eisengrauen Augen über der spitzen Nase und dem grausigen Bart durchbohrte. »Kann ich.«

»Ich habe das Gefühl«, sagte der junge Problemlöser aus New York, »dass ich im zweiten Akt dieser Aufführung dazugestoßen bin.« Dann sah er zufällig nach oben und entdeckte zu seinem Erschrecken, dass an Lederkordeln direkt über seinem Kopf das Emblem der abendlichen Festivitäten hing, ein bemaltes Holzschwert. Denn es handelte sich schließlich um den berühmten alljährlichen Damokles Ball von Charles Town.

»Also gut!«, knurrte Magnus Muldoon, ohne Pandoras flehende Miene und ihre Hand zu beachten, die sie auf Matthews Brust gelegt hatte, als wollte sie sein Herz davor bewahren, herausgerissen zu werden. »Wie wollt Ihr …?«

»Jetzt reicht es mir aber«, sagte der ältliche Gentleman, der soeben herangetreten war, unter der Weste seines dunkelblauen Anzugs eine Pistole hervorgezogen und die gefährlich aussehende Waffe gespannt hatte, unter deren Lauf ein kleines Bajonett angebracht war. Er hielt sie neben Muldoons fliegenumschwärmtes Haupt. »Ihr werdet Euch aus dem Gesichtsfeld meiner Tochter entfernen, Sir, sonst fließt Blut!«

Matthew kam sich vor wie ein loser Knopf an einer engen Jacke. Er entwickelte sich in diesem zweiten Akt zu einem der Hauptdarsteller, ohne auch nur den Hauch einer Ahnung des Skripts zu haben. Er hatte das Gefühl, sich, ohne es zu wissen, eine Rolle der Charles Town Players angeeignet zu haben. Und er war nicht darüber im Bilde, ob es sich hier um eine Komödie oder eine Tragödie handelte.

Matthew Corbett war im holden Monat Mai dieses Jahres 1703, in dem seine Welt zwischen Pistolenlauf und Prügelbruder zum Stillstand kam, gerade erst vierundzwanzig Jahre alt geworden. Manchmal, üblicherweise wenn er sich in der spätabendlichen Stille von New York in seinem Häuschen bettfertig machte, fragte er sich, wie man zugleich jung und alt sein konnte. Denn einige der Dinge, die ihn sowohl verwirrten, herausforderten, als auch sein Leben unlösbar durchwirkten, besaßen die Macht, jugendlicher Überschwänglichkeit das Kerzenlicht auszublasen und seine Zukunftsaussichten garantiert zu trüben. Er war älter als seine Jahre auf dieser Welt, und erfahrener als das, was er erlebt hatte.

Während jener für seinen Arbeitgeber, der in London gegründeten Herrald-Vermittlung, durchgeführten Nachforschungen war er immer wieder fasziniert, auf der Hut, von Verzweiflung übermannt, unerträglich froh und einfach zu Tode geängstigt. Und, so muss man auch sagen, öfter, als er sich erinnern mochte, fast zu Tode gepeinigt worden. Aber er musste sich erinnern, denn so arbeitete sein Gehirn nun mal. Er war ein beharrlicher Spieler, selbst wenn er nicht an einem Schachbrett saß und keine Figuren in der Hand hielt. Ihm schien es, als spielte er auch ständig um sein Überleben; in einem Schachspiel, das er ahnungslos mit dem unheimlichen und mächtigen Mann begonnen hatte, der als Professor Fell bekannt war, ein Schachspiel, das Tag und Nacht weiterging, ob er nun mit am Spieltisch saß oder nicht.

Matthew fühlte sich immer noch von seinem Zusammentreffen mit Professor Fell verfolgt, dem Kaiser der Verbrecherwelt, dessen Blick und Gier sich jetzt neben der Alten Welt auch auf die Neue gerichtet hatten. Im März hatte Matthews Leben auf Pendulum Island auf den Bahamas fast ein Ende gefunden. Noch immer trug er viele schlechte Erinnerungen an jenen Ausflug in die Verbrecherwelt mit sich herum, auf dem er vorgetäuscht hatte, ein Schurke zu sein, um seine Rolle als Spion zu kaschieren. Er hatte sich für eine Weile aus New York zurückziehen wollen, aus dieser anscheinend nie schlafenden noch ruhenden Stadt, um sich erholen, wieder zu Kräften zu kommen und gelassen die lauen Lüfte des Atlantiks genießen zu können, die in Charles Towns Palmen raschelten und den Duft von Zitronen und Zimt durch die lampenbeleuchteten Straßen trieben.

Doch jetzt stand leider Magnus Muldoon vor ihm, der weder nach Zitronen noch nach Zimt roch, und obwohl eine Pistole auf die Schädeldecke des monströsen Mannes gerichtet war, vermutete Matthew, dass dies nicht das Ende einer Geschichte war, sondern lediglich der Anfang.

»Vater Prisskitt«, knurrte Muldoon, dem ein schiefes Grinsen an den Barthaaren zupfte, »Ihr werdet mich nicht töten. Nicht den Mann, der Eure Tochter ehelichen wird.«

»Schweigt, Ihr dreckiger Hundsfott!«, kam die Antwort von Sedgeworth Prisskitt, der schlank und groß war, grauhaarig, und für seine dreiundfünfzig Jahre gut aussah. Seine Nase und Kinn waren wie aus adeligem Stein gemeißelt, Falten des Nachdenkens zierten seine Stirn und seine Augen waren von einem helleren Blau als die betörende Schattierung der seiner Tochter. Jetzt allerdings schauten sie genauso wütend drein. »Lieber habe ich einen Esel als Schwiegersohn als Euresgleichen!«

»Viele Esel haben schon an gleicher Stelle wie er gestanden«, sagte Muldoon mit einem Blick auf Matthew. »Überlegt doch, wie viel Ausmisten ich Euch erspart habe.«

Matthew setzte Vertrauen in die Pistole, aber nicht in den, der sie hielt. Der Lauf zitterte. Ein schlechtes Zeichen.

»Warum quält Ihr uns so? Was haben wir Euch getan?«

Muldoons schmale Augen wurden noch schmäler. Er grübelte über die Frage nach, als hinge die gesamte Last von Gottes Königreich daran. »Ihr und Eure geliebte verblichene Gemahlin«, grollte er wie eine Lawine, »habt diesen Engel erschaffen, der neben diesem geckenhaft aufgemachten Esel steht. Ihr habt die einzige Frau auf diese Erde gebracht, die ich haben sollte … haben muss … und haben werde. Das einzige weibliche Geschöpf, das nachts durch meine Träume wandelt und mir den Schlaf raubt. Aber will sie am helllichten Tag etwas mit mir zu tun haben? Nein, Sir! Ich bin der Staub unter ihren lieblichen Füßen … so wie ich der Staub unter all Euren Füßen bin!« Dies verkündete er der versammelten gebannten Zuhörermenge hörbar laut. »Tja-ha … Magnus Muldoon ist niemandes Staub! Und wenn aufgrund dieser Vision engelhafter Schönheit, von welcher der Himmel sich wünscht, andere Engel kämen ihr gleich, Magnus Muldoons Liebe zu einem Flächenbrand entflammt, dann wird er nicht ruhen, bis er sie in seinen Armen ins Hochzeitsbett trägt … egal, wie viele Männer er töten muss, um ihr Herz zu gewinnen.«

»Ihr seid des Wahnsinns!«, zischte Sedgeworth. »Ich sollte Euch noch in dieser Sekunde eine Musketenkugel zwischen die Ohren jagen!«

»Sollte«, antwortete der berggroße Mann, »ist ein himmelweiter Unterschied zu werde. Ich habe diesen … dieses … was es auch ist … zu einem Duell herausgefordert. Ein ehrlicher und gerechter Kampf bis auf den Tod – den ich natürlich zu gewinnen gedenke. Ihr wisst, dass Duelle gesetzlich erlaubte Kämpfe sind. Aber … wenn Ihr mich erschießt, ist das kaltblütiger Mord. Ich glaube, ich sehe hier unter den feinen Perücken ein paar Wachtmeister. Die würden Euch in Eisen legen und ein Henkerseil knüpfen, Vater Prisskitt. Also … was Ihr tun solltet … ist, den kleinen Knaller wegzustecken, bevor er losgeht und Euch an den Galgen bringt, denke ich.«

Zu Matthews großem Entsetzen wurde der kleine Knaller gesenkt. Sedgeworth Prisskitt bedachte Matthew mit einem traurigen Blick, der besagte: Tut mir leid, dass Ihr sterben müsst.

Und niemandem tat es mehr leid als Matthew, dass er überhaupt an diesem Abend zu dieser Zeit hierhergekommen war. Wie sehr wünschte er sich, über den Broad Way zu spazieren – trotz all der Pferdeäpfel, die darauf lagen! Wie innig wünschte er sich, jetzt im Trot Then Gallop ein Glas Wein zu trinken und mit seinem Freund Effrem Owles eine Partie Schach zu spielen. Er wünschte sich sogar in die Stone Street Nr. 7 zurück auf die Arbeit, wo Hudson Greathouse kein Ende fand, die vielen Vorzüge seiner geliebten lustigen Witwe Abby Donovan zu schildern. Oder – sein schlimmster Wunsch und zugleich der, an dem er am liebsten etwas ändern würde – dass Berry Grigsby ihm die kalte Schulter zeigen würde. Die rothaarige Enkelin des Zeitungsherausgebers, die – um ganz ehrlich zu sein – eine Abenteurerin war, hatte Matthew mehr als einmal in die Bredouille gebracht. Aber Matthew wusste auch, dass er sie mehr als einmal in Schwierigkeiten gebracht hatte, und wünschte sich, sie im Moment von allen verzwickten Situationen fernzuhalten. Daran nahm sie jedoch Anstoß, missverstand seine Absichten und ließ ihn über jeden Stolperstein der Verständigung fallen. Jetzt waren sie wie zwei Eisberge, die in der Nacht aneinander vorübertrieben.

Nun gut, so war es eben.

Ungerührt und würdevoll stellte Matthew sich seinem gigantischen Feind. Er hob das Kinn nicht aus Trotz, sondern weil der Mann so hochgewachsen war. Matthew war selbst groß; er war schlank und hatte ein hageres Gesicht mit einem langen Kinn und kühlen grauen Augen, in denen ein Hauch von blauer Abenddämmerung lag. Seine feinen schwarzen Haare waren ordentlich gekämmt, wie es sich für einen solch vornehmen Abend gehörte. Und der vornehmen Gesellschaft gemäß konnte man seinem blassen, kerzenbeleuchteten Gesicht seinen Intellekt ablesen, seine Vorliebe für das Lesen und Schachspiel, mit denen er viele Stunden verbrachte. Ihm war in einem New Yorker Waisenhaus eine gute Erziehung und Ausbildung zuteilgeworden, die durch seine Erfahrungen in der rauen, herzlosen Welt geschliffen worden war. Von Beruf war er Problemlöser und von Unbilden hart gemacht worden, die er sich früher als Gerichtsdiener niemals hätte träumen lassen – selbst in Albträumen nicht. Ein bleibendes Andenken an seine Reise durchs ungewisse und gewiss schwierige Leben war eine halbmondförmige Narbe, die sich von kurz über seiner rechten Augenbraue bis hoch in den Haaransatz zog: Ein Präsent, das Magnus Muldoon jetzt mit offensichtlichem Interesse betrachtete.

»Hat Euch ein Bär erwischt?«, fragte der Berg.

»Nicht alles von mir«, lautete Matthews gelassene Antwort. Die Risswunde, die Jack One Eye ihm mit der Pranke verpasst hatte, als Matthew versuchte, Rachel Howarth davor zu bewahren, unweit von Charles Town als Hexe verbrannt zu werden, tat weh, wenn er daran dachte. Aber immerhin … es war nur die Erinnerung daran.

»Hm«, sagte Muldoon. »Wenn Ihr eine solche Narbe tragt, seid Ihr vielleicht nicht durch und durch ein Geck. Aber auch egal. Dafür, dass Ihr es wagt, meinen Engel zu diesem Fest zu geleiten, müsst Ihr sterben.«

»Das lasse ich nicht zu!«, sprach der dunkelblauäugige Engel mit teuflischer Wut. »Ich bin nicht Euer Besitztum, Magnus Muldoon! Ihr könnt doch nicht versuchen, das Herz einer Frau durch Blutvergießen zu gewinnen! Das ist … es ist …« Sie zögerte; kämpfte darum, die richtigen Worte zu finden.

»Widernatürlich. Und christlich ist es auch nicht«, schlug Matthew vor.

»Ah, da irrt Ihr Euch!«, antwortete die knurrige Stimme im Bartgebüsch. Die Augen über dem schwarzen Gestrüpp funkelten mit fieberhaftem Wollen. »Es ist natürlich, dass ein Mann Blut vergießt, wenn er die Frau gesehen hat, die er mehr liebt als die Sterne die Nacht; mehr als ein Fluss das Meer liebt. Mehr als ein Vogel den Wind der Freiheit liebt. Es ist natürlich, wenn das der einzige Weg ist, sie zu gewinnen – indem man jeden einzelnen verdammten Anwärter auf ihr Herz umlegt, der es wagt, mit ihr an seinem Arm herumzustolzieren wie mit einer Silbermanschette an seinem Hemd. Und es ist christlich, denn selbst Jesus hat im Namen der Liebe Blut vergossen, Ihr dickärschiger Heide, Ihr …«

»Sein eigenes Blut«, sagte Matthew erfolglos.

»… und ich säubere diese Welt von Männern, die neben ihrer Schönheit ein Schandfleck sind und sich auftakeln wie Vogelscheuchen und von einem Fuß auf den anderen hüpfen und versuchen zu beweisen, dass Mumm in ihnen steckt, obwohl ein Mann aus Eisen vor ihnen steht!«

»Leicht angerostet, glaube ich«, sagte Matthew. Er betrachtete die kreisenden Fliegen und rümpfte seine Nase angesichts des Grunds dafür. »Und auch anrüchig.«

»Er wird nicht der Letzte sein«, erklärte Pandora ihrem überdimensionalen Galan. Matthew gefiel das nicht, aber er sagte trotzdem nichts. »Niemals würde ich ein solches Biest wie Euch heiraten! Ich will einen zivilisierten und gebildeten Mann … einen Mann, auf den man stolz sein kann, nicht einen … einen …«

»Mann, auf den man nicht stolz sein kann«, schob Matthew ein.

»Genau«, sagte die schönste Frau der Welt.

Das grimmige Gesicht nickte. »Ich werde jeden lebendigen Mann umbringen, der mir im Wege steht, Pandora Prisskitt! Früher oder später … werde ich als Letzter übrig sein.«

»Und wenn Ihr der letzte Mensch oder das letzte Stück Gold auf Erden wärt! Ich kann es nicht einmal ertragen, Euch anzusehen, und schon gar nicht, Euch zu riechen!« Sie griff sich an den Hals und nestelte nach einem Taschentuch. »Vater!«, rief sie und taumelte auf ihn zu. »Mir wird schlecht!«

»Eure letzte Stunde hat geschlagen«, sagte das bärtige Untier zu Matthew Corbett. »Ich habe Euch zu einem Duell herausgefordert, und wenn Ihr ein Mann seid, dann werdet Ihr diese Herausforderung annehmen. Wenn nicht, dann zieht den Schwanz ein wie der Hundsfott, der Ihr meiner Meinung nach seid, und schleicht Euch noch in dieser Minute davon wie so viele andere es vor Euch getan haben. Den Gästen hier gefällt ein Grund zum Lachen. Ich frage Euch daher: Welches ist die Waffe Eurer Wahl? Degen? Pistole? Axt? Womit wollt Ihr gegen mich kämpfen, Ihr kleines bleiches Pergamentpapierchen?«

Der bleiche Problemlöser ließ sich diese Frage durch den Kopf gehen. Erneut sah er zum Damoklesschwert hoch, das über ihm hing. Dann starrte er Magnus Muldoon in die Augen und sah dort etwas, das ihm vorher nicht aufgefallen war. Vielleicht etwas, das er zu sehen nicht erwartet hatte. In diesem Moment fällte er seine Entscheidung. Aber bevor Matthew sie verkündete, konnte er nicht umhin, daran zu denken, wieso er sich an diesem Abend hier befand und wie er Hudson Greathouse nach seiner Rückkehr einen derartigen Tritt in den Allerwertesten versetzen würde, dass die sich ewig zankenden Gespenster der Stone Street 7 mit ihrer Streiterei aufhören würden, um der schwungvollen Verwendung seiner Stiefelsohle zu applaudieren.

Kapitel 2

»Ich finde, wir sollten’s annehmen!«

»Und ich finde nein.«

»Ja, heiliger Herrgott nochmal, Matthew! Das sind leicht verdiente fünfzig Pfund! Und so, wie das Briefpapier und verschnörkelte Siegel von diesem werten Gentleman aussehen, kann ich noch weitere zwanzig Pfund verlangen und bekommen. Leicht verdientes Geld für eine leichte Aufgabe.«

»Zu leicht«, sagte Matthew und wandte sich vom Doppelfenster ab, das der warmen Juniluft offenstand und von dem man eine Aussicht über den Nordwesten von New York bis hin zum in der Sonne glänzenden Fluss und den bemoosten Klippen und leuchtend grün bewaldeten Hügeln von New Jersey hatte. Auf dem Fluss waren Fischer in ihren kleinen Booten zugange, und vom Wind geblähte Segel trieben ein mit Frachtkisten beladenes Schiff auf die Dockanlagen der Stadt zu. Die Fähre arbeitete sich mit einer Kutsche und vier Pferden an Bord ihren langen, aber meist verlässlichen Weg von Manhattan nach New Jersey hinüber. Matthew hatte interessiert entdeckt, dass auf den Klippen von Jersey zwei neue Häuser gebaut wurden, auf denen vor seiner Entführung nach Pendulum Island durch die Schergen von Professor Fell noch kein Gebäude gestanden hatte.

Die unberührte Natur der Klippen war dahin; so war nun mal der Fortschritt und würde es auf ewig sein. Direkt unterhalb des Fensters erstreckten sich die Straßen, Häuser und Geschäfte von New York, ein Durcheinander von Hafenspeichern, Ställen, Schmieden, Reepschlägereien, Sägewerken, Kerzenziehereien, Schreinereien, Seifenmanufakturen, Hühnerverkäufern und Rauchwarenläden, Bäckereien, Lackierereien, Blashornmachereien, Geldverleihern und einem guten Dutzend anderer Geschäfte. Matthew kam es vor, als seien während seiner Abwesenheit noch mehr Menschen hergezogen. An manchen Morgen wirkte der geschäftige Verkehr von Pferden, Wagen, Karren und Kutschen auf dem Broad Way wie ein Ameisenhaufen, der versehentlich von einem Stiefel aufgerissen worden war.

»Zu leicht«, wiederholte er Hudson Greathouse ins bärtige Gesicht. »Und es ist auch kein passender Auftrag für mich – für überhaupt keinen Problemlöser, der etwas auf sich hält.«

»Ich habe diesen Brief aufgehoben«, sagte der große Mann, der das Papier über seinem Pult in die Höhe hielt, »weil ich dachte, dass du es vielleicht pikant finden würdest. Und ich ging davon aus, dass es dir den Mund wässrig machen würde und du es probieren wolltest.«

»Ist das ein Brief oder ein Eintopf? Wenn du so weiterredest, ringe ich dir das Versprechen ab, mir bei Sally Almond ein Mittagessen auszugeben.«

»Pah!«, machte Hudson und ließ das Schreiben wie ein totes Herbstblatt auf seine Schreibtischplatte fallen. Seit Matthew von seiner Seereise an Bord von Captain Jerrell Falcos Nightflyer bärtig zurückgekehrt war und die Witwe Donovan erklärt hatte, wie attraktiv sie ein haariges Gesicht fand, hatte Hudson sein Rasiermesser eingemottet und seinen graumelierten Bart wachsen lassen. Auf welche Art die Witwe sich erkenntlich zeigte, wollte Matthew lieber nicht wissen. Was Captain Falco und die Nightflyer anging, so befand das Schiff sich jetzt Hunderte von Meilen entfernt auf dem Atlantik, um den ehemaligen Sklaven Zed zurück in seine angestammte Heimat zu bringen. Zusammen mit Zeds ehemaligem Besitzer, New Yorks exzentrischem Leichenbeschauer Ashton McCaggers, hatte Matthew dem Schiff eines frühen Morgens hinterhergewinkt. An jenem Morgen stand Berry Grigsby in einem aprilwiesenbunten Kleid und einem mit wilden Blumen geschmückten Strohhut an McCaggers Seite. Mehrmals hatte Matthew Berry unauffällige Blicke zugeworfen, aber kaum einen zurückbekommen. Doch was konnte er schon anderes erwarten? Er erinnerte sich daran, was er ihr vor nicht allzu langer Zeit gesagt hatte … erinnerte sich daran wie an ein in seinen Bauch gestoßenes Messer.

»Ich hätte mich dir in der Nacht auf dem Schiff nicht anvertrauen sollen. Das war ein Zeichen von Schwäche und ich bereue es. Denn Tatsache ist, dass ich dich nie gebraucht habe. Gestern nicht, heute nicht und morgen auch nicht.«

Er hatte das kleine Sterben in ihren Augen gesehen. Es tötete vor allem ihn.

»Gut«, hatte sie geantwortet. »Einen schönen Tag noch.« Sie war schnellen Schrittes davongegangen. Nach sechs Schritten hatte sie sich wieder zu ihm umgewandt. Tränen waren ihr übers Gesicht geströmt und ihre Stimme brach, als sie sagte: »Wir sind fertig miteinander.«

Vier Wörter. Jedes davon kurz und einfach. Jedes davon grausam.

Also … was hatte er erwartet?

Immer wieder hatte er diese Szene in der Stille seines winzigen Häuschens hinter den Grigsbys Revue passieren lassen. Vor seinem Spiegel hatte er sie während des Rasierens wieder vor Augen gehabt, und wenn er abends bei Kerzenlicht las, unterbrach ihn die Erinnerung daran. Sie verfolgte ihn auf seinem Weg zur Arbeit und zurück wie ein stummer Schatten, und wenn er allein in Sally Almonds Schänke oder einer anderen saß, verhöhnte sie ihn wie ein Schlag ins Gesicht.

Ich bin zu weit gegangen, dachte er. Einen gewaltigen Schritt zu weit gegangen.

Aber jetzt blieb ihm nichts anderes übrig, als auf dem eingeschlagenen Weg weiterzugehen. Er konnte Berry nicht mehr das sagen, was er ihr gern gesagt hätte. Er hätte ihr gern gesagt, dass er sich, solange Professor Fell lebte oder zumindest frei herumlief, vor dessen stets wachsamem Auge und verschlagener Hand fürchten musste, die mit dem Dolch auf sein Herz zielte. Und dass er nicht nur Angst haben musste, selbst plötzlich zu sterben, sondern dass das gleiche Schicksal die treffen würde, die es wagten, seine Freunde zu sein. Um Hudson Greathouse machte er sich nicht allzu große Sorgen, denn der hatte gewusst, worauf er sich einließ, als er bei der Herrald-Vermittlung anheuerte. Nein, Matthew befürchtete, dass es Menschen wie Berry waren – ganz besonders Berry –, auf die der Professor es aus Rache absehen würde. Matthew hatte sie bereits auf finstere Wege und in gefährliche Situationen hineingeführt, die er bedauerte. Sie in noch mehr Verschwörungen und Gefahren zu verwickeln würde bedeuten, dass sie ihm wesentlich weniger bedeutete, als sie es wirklich tat.

Und so … herrschte Stille.

Stille war allerdings nicht Hudsons Stärke.

»Da stehst du nun hier herum«, sagte der große Mann, »und hast die Möglichkeit, dich mit einem leichten Auftrag aufzumuntern – was ich ganz gewiss machen würde, wenn ich zum Tanzen in der Lage wäre, meine Verehrteste mehr Verständnis zeigte und ich so jung wie du wäre. Und du weist das ab, als hätte dir jemand ein Pferdeäpfel-Soufflee serviert. Es gibt nichts Dringendes auf deinem Arbeitsplan! Fahr nach Charles Town und spanne aus! Lass diese Pendulum-Island-Episode hinter dir! Und fülle uns die Kasse mit einem hübschen Stapel Münzen dafür, dass du nichts Gefährlicheres tust, als die Tochter eines reichen Mannes zum …« Er sah wieder auf den Brief. »Damokles Ball zu eskortieren.« Ein leises Kichern entfleuchte seinem Mundwinkel. »Na, diese Leute in Carolina haben vielleicht Fantasie! Und zu viel Geld haben sie auch, wie’s aussieht. Weiß der Himmel, warum Mr. Sedgeworth Prisskitt keinen Begleiter vor Ort finden kann.« Mit ernst gewordenem Blick starrte er Matthew an. »Möchtest du darauf keine Antwort finden?«

»Ich möchte den Sommer so genießen, wie ich Lust habe. Da gibt es diverse Bücher, die ich lesen will.« Die Wahrheit war, dass Matthew zwar vielleicht Interesse daran hegte, die Antwort zu finden, seine Reiselust jedoch von der erzwungenen Seereise auf die Bermuda-Inseln gedämpft worden war. So knapp vor dem Ball, wie der Brief sie erreicht hatte, würde Matthew das Postboot nach Charles Town nehmen müssen. Auf dem Rückweg von Pendulum hatten er und Berry auf der Nightflyer als Schiffsbesatzung gearbeitet und der geisterhafte Gongschlag der Schiffsglocke, das Brummen und Sausen des Windes in der Takelage und das Knirschen der salzfleckigen Bohlen rissen Matthew immer noch aus dem Schlaf. Manchmal kam es ihm vor, als schwankte sein Häuschen auf weiß gekrönten Wellen hin und her.

»Ich glaube, die Antwort lautet, dass Pandora Prisskitt so hässlich ist, dass sich kein Mann mit ihr in der Öffentlichkeit zeigen will. Daran will ich doch nichts ändern.« Er ging an seinen Schreibtisch zurück und setzte sich hin, ohne das spöttische Schnauben seines Freundes weiter zu beachten. Er hatte nichts zu tun, das ihn sonderlich interessierte. Auf seiner Ablage lagen drei Briefe; zwei Bitten um Geleitschutz für zwischen New York und kleineren Städten zu versendende Grundstücksdokumente, und ein Schreiben von einem Bauern in Albany, der um Hilfe bat, den Dieb zu finden, der seine Vogelscheuche gestohlen hatte. Nichts davon versetzte Matthews Fantasie in Flammen, verlockte ihn, sich heldenhaft für Gerechtigkeit einzusetzen oder die Stadt auf einer der rauen Straßen zu verlassen. Er wollte gern irgendetwas tun, dass seinen Verstand wieder zur Arbeit des Problemlösens zurückkehren lassen würde. Matthew war sich nur allzu bewusst, wie weit eine kurze Distanz sein konnte, da sein Häuschen, ein ehemaliges Kühlhaus, das New Yorks kratzbürstigem Zeitungsherausgeber Marmaduke Grigsby gehörte, nur ein paar Schritte von dessen und seiner Enkelin Berrys Tür entfernt stand. Was das Zurücklegen weiter Strecken anging, bestand die beste Nachricht des Sommers aus der Ankündigung des kleinen, zierlichen Hauptwachtmeisters Gardner Lillehorne, dass er am Ende des Monats mit seiner zänkischen Gattin Princess nach London abreisen würde, um dem Hauptwachtmeister jener aufstrebenden Stadt als Assistent zur Seite zu stehen. Überraschenderweise würde der kleine rotgesichtige Tyrann Dippen Nack Lillehorne begleiten, um wiederum dessen Assistent zu werden. Matthew schien, dass Assistenten in London wohl verzweifelt gesucht wurden.

Er schob ein paar Blätter Papier hin und her, während Hudson sich daran machte, das Schreiben einer Frau aus Huntington zu beantworten, die um Hilfe dabei bat, ein verschwundenes Pferd wiederzufinden, das mitten in der Nacht aus ihrer Scheune gestohlen worden war. Gedankenverloren fragte Matthew sich, ob der jetzige Reiter eine Vogelscheuche war.

Der Tag, an dem Zed New York an Bord von Captain Falcos Schiff verlassen hatte, stand Matthew noch lebhaft in Erinnerung. Sein Gedächtnis war von der Tatsache geschärft, dass Berry den Hafen Arm in Arm mit Ashton McCaggers verlassen hatte. Obwohl Matthew es sich vielleicht heftig gewünscht hätte, brach diesmal weder ein Absatz an McCaggers‘ Schuhen ab, noch trat der Leichenbeschauer in ein Loch oder eine schlammige Pfütze und erlitt auch sonst keines der Unglücke, die mit Berrys angeblichem Pech einhergingen. Und das verblüffte Matthew sehr; es setzte ihm zu, ohne dass er den Finger auf den Grund dafür legen konnte.

»Du bist überhaupt nicht hier«, sagte Hudson, der stirnrunzelnd von seinem Brief aufsah. Im Vergleich zu seiner gerunzelten Stirn sah jede Donnerwolke fröhlich aus. »Aber woanders bist du auch nicht. Damit stellt sich die Frage … wo bist du?«

Nachdem Matthew eine Weile darüber nachgedacht hatte, antwortete er: »Anscheinend nirgendwo.«

»Ganz genau. Weshalb du einen Zielort finden solltest. Ich würde annehmen, dass du gern …« Das Geräusch der sich öffnenden und wieder schließenden Tür unten unterbrach ihn. Es folgte der Klang von Schritten, welche die Treppe hochkamen, und dann wurde die Tür der Arbeitsstube geöffnet: Katherine Herrald, die vornehme Geschäftsführerin der Herrald-Vermittlung höchstpersönlich.

»Ich wünsche einen guten Morgen, Gentlemen«, sagte sie und hob ihr markantes Kinn. Sie trug ein blassblaues Kleid in fast derselben Schattierung ihrer Augen, deren Blick durch das Zimmer und über ihre beiden Angestellten schweifte. Sie hatte weiße Handschuhe an und trug in der rechten Hand eine Keramikvase voller gelber Blumen. Trotz ihrer ungefähr fünfzig Jahre war Katherine Herrald schlank, elegant und ging mit geradem Rücken. Ihre an den Schläfen weißmelierten dunkelgrauen Haare mit den großen Geheimratsecken wurden von einem in keckem Winkel getragenem hellblauem Hut mit roten Paspeln gekrönt. Traurigerweise war sie verwitwet; ihr Mann Richard hatte das Geschäft gegründet und war auf seiner Jagd nach dem geheimnisumwobenen und gefährlichen Professor Fell ums Leben gekommen.

»Guten Morgen, Madam«, antwortete Hudson, der gleichzeitig mit Matthew seinen Stuhl zurückschob und sich erhob. Hudson, ein breitschultriger und, so würden manche wohl sagen, übertrieben selbstbewusster Stier von einem Mann war einen Meter neunzig groß und in ein einfaches weißes Hemd mit hochgerollten Ärmeln, beigefarbene Kniehosen und weiße Strümpfe gekleidet. Seine dichten eisengrauen Haare waren mit einem schwarzen Band zu einem Zopf gebunden. Er war achtundvierzig Jahre alt und sein markant gutaussehendes Gesicht hatte schon die Herzen vieler Frauen vor der Witwe Donovan höherschlagen lassen. Seine Narben sprachen von seinem Tun in der Welt von Männern, die mit Degen, Dolchen und Musketen bewaffnet waren, aber die Narbe, die seine linke Augenbraue durchschnitt, stammte von einer an ihm zerbrochenen Teetasse, die seine dritte Gattin nach ihm geworfen hatte. Wenn Matthew von Greathouses Abenteuern hörte, fragte er sich immer wieder, wie es dem Mann gelungen war, so lange am Leben zu bleiben. In der Tat war Matthew bei einem Auftrag um den Mörder Tyranthus Slaughter fast der Grund für den Tod des großen Mannes gewesen. Danach hatte Hudson beim Gehen eine Weile die Hilfe eines Stocks benötigt; wenn einem wiederholt ein Messer in den Rücken gestochen wird und man danach fast in einem Brunnen ertrinkt, wackeln einem die Beine. Doch jetzt an diesen lauen Sommertagen zeigte Hudson glücklicherweise, aus welchem Holz er geschnitzt war: Er brauchte den Stock immer weniger und konnte die Treppenstufen der Stone Street geschmeidigeren Schrittes erklimmen.

»Ich habe Lady Cutter verabschiedet«, sagte Madam Herrald mit einem schnellen Blick auf Matthew. »Und ich habe etwas mitgebracht, um Euch den Tag zu versüßen.« Sie ging an den kleinen offenen Kamin aus rauen Steinen, der schon seit zwei Wochen nicht mehr benutzt worden war. Sie bückte sich, um die rote Blumenvase hineinzustellen. »So!«, sagte sie. »Das ist doch schöner als kalte Asche, meint Ihr nicht?«

»Meine ich auch«, stimmte Hudson ihr zu. »Ich hatte Matthew heute sogar vorschlagen wollen, den Kamin sauberzumachen, da er so wenig zu tun hat.« Er schob seinen Worten ein so schmieriges Lächeln hinterher, dass Matthew ihm am liebsten den Bart abgerissen und ihn aus dem Fenster geworfen hätte, damit ihn jemand als Pferdebürste verwenden konnte.

»Tatsächlich?« Die durchdringenden blauen Augen der Frau richteten sich auf den jungen Problemlöser. Es war offensichtlich, dass sie nicht bloß Matthews hellgrauen Anzug und blütenweißes Hemd musterte. »Ihr habt nichts zu tun?«

»Er ist heute Morgen ein bisschen mürrisch«, sprach Hudson weiter; für Matthews Geschmack zu fröhlich. Der Brief aus Charles Town erhob sich in der Hand des großen Mannes in die Luft wie ein wiederauferstehender Toter. »Wir haben die Anfrage eines Mister Sedgeworth Prisskitt erhalten, der einen Begleiter für seine Tochter Pandora zu einem Fest, dem Damokles Ball sucht, der in der letzten Juniwoche stattfindet.«

»Davon habe ich gehört«, sagte Mrs. Herrald. »Ein alljährliches Ereignis für die oberste Gesellschaftsschicht der Stadt, auf dem man sich zeigt, um gesehen zu werden. Es hört sich für mich mehr als nur ein bisschen affektiert an.«

»Genau das denke ich auch«, blies Matthew ins gleiche Horn, solange er noch konnte.

»Affektiert oder nicht, man bietet uns fünfzig Pfund für Arbeit, die sich an einem Abend erledigen lässt. Wenn man es überhaupt Arbeit nennen kann.« Hudson schwenkte den Brief wie eine Fahne vor versammelten Streitkräften. »Ein paar Tage auf dem Postboot für Matthew, dann geht er mit dem lieben Töchterchen auf den Ball, nimmt am nächsten Tag oder so ein Postboot zurück … und das war’s. Also, ich finde, dass Matthew eine kleine Reise zum Aufmuntern gebrauchen könnte. Seine letzte Reise war … wie soll ich sagen … abenteuerlich? Auf ganz falsche Art. Seit Matthew wieder hier ist, schleicht er herum wie ein Greis. Schaut ihn Euch nur an, er ist ja nur noch ein Schatten seiner selbst.«

Matthew dachte, dass er ohne den Mut und die Treue von drei Frauen tatsächlich zu einem Schatten geworden wäre, der durch die unsichtbare Welt der zänkischen Kaffeehändlergespenster der Stone Street 7 wankte: Minx Cutter, Prinzessin der Messer, die einsame Irokesin Hübsches Mädchen sitzt allein und die ebenso unermüdliche wie unvernünftige Berry Grigsby.

Das Schicksal hatte ihm noch eine andere bittere Medizin verabreicht: Die Tatsache, dass Minx Cutters erster Fall als Mitarbeiterin der Herrald-Vermittlung sie auf der Jagd nach einem gestohlenen Schmuckstück nach Boston führte. Der Schmuck sollte angeblich wie ein Skorpion aussehen und seinem Träger irgendeine Art von mystischen Kräften verleihen. Gern hätte Matthew ein derartiges Problem gelöst, aber diese Gelegenheit und Aussicht auf Ehre gingen an Minx. Da Minx sich noch nicht bewiesen hatte, fand er das äußerst ungerecht. Und … sie hatte noch nicht einmal bewiesen, dass sie sich nicht bei der erstbesten Gelegenheit mit dem Skorpion aus dem Staub machen würde. Er konnte nur annehmen, dass Mrs. Herrald ihr diesen beneidenswerten Auftrag gegeben hatte, weil Lady Cutter ihr Informationen über Professor Fells Verbrechervereinigung anvertraut hatte. Immerhin war Minx darin als Fälscherin aktiv gewesen und besaß außerdem ein mehr als nur oberflächliches Wissen über weitere Aspekte von Fells Verbrecherwelt. Falls man Minx vertrauen konnte, machte sie das zu einer wertvollen Informationsquelle. Vielleicht hatte Mrs. Herrald sie beauftragt, den goldenen Skorpion zu finden, um herauszufinden, ob sie vertrauenswürdig war. Da Minx sich erst an diesem Morgen auf einem Postboot auf den Weg gen Norden nach Boston gemacht hatte, würden sich sowohl ihre Vertrauenswürdigkeit als auch die Ortung des geheimnisvollen Skorpions erst noch beweisen müssen.

Matthew hatte sich auf die Zunge gebissen, als er erfuhr, dass Minx den Auftrag bekommen hatte. Dabei war er es gewesen, der Minx vor kaum zwei Wochen dazu überredet hatte, sich Mrs. Herrald vorzustellen und eine Anstellung in ihrer Vermittlung von Problemlösern in Betracht zu ziehen. Es war eine verdammte Beleidigung seiner eigenen Fähigkeiten. Und nun saß er hier und Hudson wedelte mit diesem elenden Brief! Er musste Mrs. Herrald seine Meinung sagen – jetzt oder nie.

»Ich glaube«, sagte er ruhig und konzentrierte seine gesamte Aufmerksamkeit auf Katherine Herrald, »dass diese Pandora Prisskitt eine der … wollen wir sagen … unschönsten Kreaturen der gesamten Erde sein muss. Ich erinnere mich, dass wir vor einiger Zeit schon einmal einen Brief von demselben Gentleman bekamen, in dem er einen Begleiter für seine Tochter auf den … wenn ich mich recht entsinne … Cicero Ball Ende März suchte. Warum sonst würde ihr Vater jemanden dafür anheuern? Und eine so unangebracht hohe Summe zahlen? Ich meine … überlegt doch nur! Einen Kavalier engagieren, der ganz aus New York nach Charles Town kommt? Warum sucht sich Mr. Prisskitt nicht einfach jemanden vor Ort und bezahlt ihm dieselbe Summe? Es gibt doch in Charles Town gewiss junge Männer, die man bezahlen kann, die Augen hinter der Brille zusammenzukneifen, wenn sie eine unglücklich geformte Frau, ein Schielauge oder ein dunkel behaarte Lippe sehen. Wie kann es also einen Sinn ergeben, dass dieser Gentleman einen Begleiter aus siebenhundert Meilen Entfernung kommen lassen will?«

»Ach, die Entfernung hast du also schon ausgerechnet, ja?« Hudsons linke Augenbraue, die mit der Narbe, schoss empor.

»Ich weiß, wie weit es ist. Ich habe lange, bevor ich dich überhaupt kennengelernt habe, in Charles Town gelebt und in der Nähe ein paar wirklich unangenehme Erfahrungen gesammelt.«

»Ja, diese Nachtvogelsache«, erinnerte Hudson sich. »Na, das warst du nur ein Jungchen.«

»Ich war alt genug«, lautete Matthews Antwort. Diese Nachtvogelsache war eine unpassende Bezeichnung, aber aus dem ungehobelten Mund des großen Mannes kommend verständlich. Es bezog sich auf Matthews Bekanntschaft mit Rachel Howarth im Frühling 1699 in dem neu gegründeten Städtchen Fount Royal. Der inzwischen verstorbene und sehr betrauerte fahrende Richter Isaac Woodward, für den Matthew damals als Gerichtsdiener arbeitete, hatte Rachel als Matthews Nachtvogel bezeichnet. Damit hatte er darauf angespielt, dass sie ihn wie das Lied eines in der Nacht singenden Vogels betörte, das jeden normalen Mann sein Tageswerk vergessen lassen konnte. Matthew hatte Greathouse alles erzählt und bekam nun zur Belohnung diesen Rippenstoß.

»Interessant«, sagte Mrs. Herrald, während beiden Gentlemen bedeutete, wieder Platz zu nehmen. Sie bedachte Matthew mit einem amüsierten Lächeln. »Ich muss sagen, dass Eure Überlegungen zu dieser Anfrage interessant sind. Die sich stellenden Fragen habt Ihr korrekt erkannt, aber Ihr zieht einen vorschnellen und seltsamen Schluss. Selbst wenn die junge Dame so … abstoßend ist, wie Ihr sie darstellt, wird sich doch mit Sicherheit ein Mann finden lassen, der sie für weniger als fünfzig Pfund auf einen Ball begleitet.«

»Ich nehme an, dass die Gentlemen vor Ort ihren Ruf nicht gefährden wollen«, sagte Matthew und setzte sich wieder hin.

»Möglicherweise nicht. Aber Ihr überrascht mich, Matthew. Hier bietet sich Euch eine …« Sie hielt inne, offenbar auf der Suche nach dem richtigen Ausdruck. Als sie meinte, die passenden Worte gefunden zu haben, sprach sie weiter. »Büchse der Pandora – lauter Geheimnisse. Mir sieht es nach einem einfachen Auftrag aus, aber einem, von dem ich annehmen würde, dass Ihr ihn auf jeden Fall übernehmen wolltet – und sei es nur, um Euch selbst diese Fragen zu beantworten. Wie es scheint, habt Ihr keine anderen dringenden Aufgaben zu erledigen. Ich glaube, im Moment genießt Ihr eine Erholungspause von Professor Fells Aufmerksamkeit, denn er wird jetzt sicherlich damit beschäftigt sein, den Schaden zu beheben, den Ihr verursacht habt. Damit meine ich nicht, dass er seine Aufmerksamkeit in der Zukunft nicht wieder auf Euch richten wird, aber fürs Erste …. ich glaube, er hat in England zu tun und ist mit Schadenskontrolle beschäftigt. Wenn ich nicht geglaubt hätte, dass Lady Cutter sicher ankommen wird, hätte ich sie nicht nach Boston geschickt. Wie gesagt … fürs Erste.«

Ihre weiß behandschuhte Hand deutete auf das Fenster, hinter dem die grünen Hügel von New Jersey und Sommerwiesen zu sehen waren. »Aber Ihr solltet diese Jahreszeit genießen, Matthew! Ihr solltet Euch über diese Gelegenheit freuen, ohne Bedrohung eine Reise unternehmen zu können. Lasst es Euch nochmals durch den Kopf gehen, dem Gentleman seinen Wunsch nicht vielleicht doch zu erfüllen, ja?«

Matthew zuckte mit den Schultern. »Ich werde es mir überlegen«, entschied er, obwohl er lieber in Richtung Norden nach Boston unterwegs gewesen wäre, statt eine Reise in den Süden zu planen.

»Ihr könntet danach noch ein paar Tage in Charles Town bleiben«, fuhr Mrs. Herrald fort. »Ruht Euch aus und erholt Euch an der Seeluft. Ich weiß, was Ihr durchgemacht habt.« Sie schenkte ihm ein mildes Lächeln. »Ihr solltet nicht so hart mit Euch sein, Matthew.«

»Genau das habe ich ihm auch gesagt«, erklärte Hudson in einem Ton, als gäbe er Perlen der Weisheit von sich wie der klügste Arzt des Jahrhunderts.

Matthew ignorierte Greathouses Prahlen und konzentrierte sich auf ein wichtigeres – und ihn persönlich stärker beunruhigendes – Thema. »Ich wollte fragen, ob Ihr Neuigkeiten habt?«

»Nichts Gutes«, antwortete die Frau. »Ich habe ein Dutzend Briefe verschickt. Bisher haben mir drei meiner Kontakte in Philadelphia und Boston geantwortet. Keiner von ihnen hat jemals etwas von einem Brazio Valeriani gehört. Aber ich hoffe, dass meine Mitarbeiter in London mehr wissen.«

»Hoffentlich«, meinte Matthew. Dies war ein Problem, das sich zu lösen lohnte … und vielleicht, so dachte Matthew, gelöst werden musste, bevor Professor Fell diesen Mann mit welch bösartigen Absichten auch immer in die Finger bekam. Es konnte länger als ein Jahr dauern, bis Antworten aus London in New York ankamen, und Matthew hatte das Gefühl, dass die Zeit drängte. Während seines erzwungenen Aufenthaltes auf Pendulum Island hatte der als maskierter Roboter verkleidete Professor während eines Abendessens eine Herausforderung gestellt: Ich suche nach einem Mann. Sein Name ist Brazio Valeriani. Das letzte Mal hat man ihn vor einem Jahr in Florenz gesehen und seitdem ist er verschwunden. Ich suche diesen Mann. Mehr braucht Ihr im Moment nicht zu wissen. Der Person, die Brazio Valeriani findet, werde ich fünftausend Pfund zahlen. Zehntausend Pfund zahle ich der Person, die ihn zu mir bringt. Gewaltanwendung wird vielleicht vonnöten sein. Ihr seid meine Augen und meine Hände.

Suchet, hatte der Professor gesagt, und Ihr werdet finden.

Für Matthew hatte es sich angehört, als wollte Brazio Valeriani nicht gefunden werden. Und vielleicht war Valeriani aus verzweifelter Not heraus aus Florenz verschwunden. Aus Angst vor Professor Fell? Natürlich … aber warum genau wollte der Professor seiner habhaft werden – und zwar nicht tot, sondern lebendig und für zehntausend Pfund?

Professor Fell hatte sich mit seinem Anliegen, den Mann zu finden, sogar direkt an Matthew gewandt: Solltet Ihr ihn finden, zahle ich Euch so viel Geld, dass Euch Eure ganze kleine Stadt gehört. Und so stellte sich noch immer die Frage: Wer war Brazio Valeriani und warum suchte der Kaiser der Verbrecher ihn so verdammt dringend? Verdammt war das entscheidende Wort, dachte Matthew.

»Solch schöne Blumen«, sagte Mrs. Herrald und betrachtete die Vase in der Feuerstelle. »Manche der schönsten Blumen lassen sich oft nur unter den schwierigsten Umständen pflücken. Findet Ihr nicht auch, Matthew?«

Der Problemlöser hatte keine Ahnung. Er fragte sich, wer der Frau wohl von seiner schwierigen Beziehung mit Berry Grigsby erzählt hatte, falls es das war, worauf sie anspielte. Und in genau diesem Moment entschied er, dass er keine Lust hatte, Berry und ihrem neuen Galan ständig über den Weg zu laufen. Er hatte keine Lust, sie zu sehen, wie sie zusammen spazieren gingen, in Sally Almonds Schänke saßen oder in Robert Devericks Etablissement Kaffee tranken. Nein, Himmel und Herrgott noch mal! Es bedeutete Folterqualen, das tagein, tagaus mit ansehen zu müssen!

Matthew seufzte. Es war der Laut einer gequälten Seele, für Mrs. Herrald und Hudson Greathouse allerdings bloß ein resignierter Seufzer.

»Ich denke, ich werde tatsächlich nach Charles Town fahren«, sagte Matthew und nickte. Diese wunderbare Aussicht ließ ihn eher wütend als erfreut aussehen. »Ja. Ich werde meine Sachen packen und das Postboot nehmen.« Um seine Worte zu unterstreichen, schlug er mit den Handflächen auf seinen Schreibtisch. »Ich brauche einen Tapetenwechsel. Ich denke, das wird mir guttun.«

»Na bitte!«, grinste Greathouse. »Der junge Mann ist endlich zu Verstand gekommen! Und«, fuhr er listig grinsend fort, »hat unserer Kasse mindestens fünfzig Pfund eingebracht!«

»Gott bewahre, dass ich mich zwischen einen Idioten und sein Geld stelle«, lenkte Matthew ein. Greathouse verrutschte sein Grinsen etwas, denn er war nicht sicher, ob er mit dem Idioten gemeint war oder Sedgeworth Prisskitt. Aber es war ein schöner Morgen und die Hügel waren grün und die Vögel sangen, und bald würde es Zeit für eine deftige Schüssel Maissuppe und einen Humpen Apfelbier in Sally Almonds Schänke sein. Die Welt war im Lot.

Das war vor drei Wochen gewesen. Als Matthew jetzt unter dem Damoklesschwert stand und in Magnus Muldoons schwarzbärtige und kampffreudige Visage starrte, schien die Welt sich ganz und gar nicht mehr im Lot zu befinden. Und das, obwohl die Tanzfläche von silbernen Kerzenständern umringt war, die ein goldenes Licht verstrahlten, und die Luft mit Zitronen und dem leichten Geruch des Atlantiks aus dem nur ein paar Querstraßen weiter östlich gelegenen Hafens parfümiert war.

Die Herausforderung zum Duell war geäußert worden. Matthew stand allein und verlassen da, denn die schönste Frau der Welt und ihr Vater hatten sich auf eine etwas behaglichere Distanz zurückgezogen.

»Welche Waffe soll’s nun sein, Ihr kleines Staubflöckchen?«, knurrte der Magnusberg. Seine Augen blickten scharf wie zwei Stücke Feuerstein drein, die kurz davor standen, etwas in Brand zu setzen. »Von welcher möchtet Ihr in den Tod befördert werden?«

Matthew räusperte sich. Es war ein höfliches Geräusch. Der Problemlöser war kurz davor, zu antworten.

Kapitel 3

»Findet Ihr nicht auch, Sir«, sagte Matthew leise, »dass jeglicher Gegenstand, der eine Verletzung verursacht, als Waffe angesehen werden kann?«

Muldoon kratzte sich den Bart. Vielleicht sah es im Licht nur so aus, aber ein paar Flöhe schienen herauszuspringen. »Ich denke … das stimmt schon«, sagte er so vorsichtig, wie ein Mensch sich nur äußern konnte.

»Und auch, dass Tod verschiedene Bedeutungen haben kann?«

»Moment!« Eine riesige Handfläche wurde in Richtung von Matthews Gesicht gehoben. »Das stinkt nach Lug und Trug!«

Matthew dachte sich schon, dass der berggroße Schwarzbart immerhin kein Einfaltspinsel war. »Wenn ich eine Waffe vorschlage, die meinen Tod verursachen kann, Sir, dann erlaubt mir bitte die Möglichkeit, die Definitionen zu klären.«

Aus der Höhle von einem Mund ertönte ein Brüllen, das einen Bären in die Flucht hätte schlagen können. »Duellieren wir uns nun, oder nicht?«

»Ja, wir werden uns duellieren«, sagte Matthew mit derartiger Selbstbeherrschung, dass er sie selbst bewunderte. Denn in Wahrheit drehte sich ihm der Magen um und seine Achseln schwitzten. Er sah zu dem Wandteppich mit der lachenden und der traurigen Maske hoch, unsicher, in was für einem Theaterstück er mitspielte. Sie flossen doch sicherlich beide aus derselben Feder, und beide konnten ohne weiteres selbst das am vorsichtigsten gesteuerte Boot zum Kentern bringen. Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Magnus Muldoon, der, so war Matthew in den letzten seelenzerdrückenden Minuten klargeworden, Sedgeworth Prisskitts Grund dafür war, eine derartig übertriebene Summe dafür zu zahlen, dass jemand seine Tochter auf einen Ball begleitete und dass er jemanden von so weit herholen musste.

Er erinnerte sich an seinen ersten Besuch auf den Ländereien und im vornehmen Herrenhaus der Prisskitts drei Meilen nordwestlich der Steinmauer, die das Fort von Charles Town umgab. Im grellen heißen Sonnenschein war er auf einem braunen Wallach dorthin geritten und hatte erwartet, dass der Tag in dem Moment, in dem er die gute Pandora erblickte, eine hässliche Wendung nehmen würde. Doch dann … hatte der Diener ihn in den mit rotem Teppich ausgelegten Salon geleitet, wo der stattliche Gentleman Sedgeworth ihn begrüßte und ihm einen würzigen Sir Richard einschenkte. Mit dem schmackhaften und hochprozentigen Trunk in der Hand war Matthew in einen Wintergarten geführt worden, der eine Aussicht über die zum Ashley River abfallenden Wiesen bot. Und dann war Matthew von der Gastfreundschaft und schönen Aussicht derartig überwältigt gewesen, dass er seinen Widerwillen und das Übelkeit erregende Schwanken des Postboots vergaß und begann, seinen Auftrag als Vergnügen anzusehen.

Er hatte seinen Rum noch nicht einmal halb ausgetrunken und erst einem Achtel von Mr. Prisskitts Vortrag über das im Holzhandel und der Ziegelbrennerei erwirtschaftete beneidenswerte Familienvermögen gelauscht, als die Klänge eines Spinetts aus dem Haus drangen. »Ach!«, hatte Prisskitt mit einem stolzen, kultivierten Lächeln gesagt. »Das ist Pandora. Sie spielt ihr Lieblingskirchenlied! Wollen wir gehen und Euch vorstellen, Mr. Corbett?«

Natürlich hatte Matthew die Hymne erkannt: A Mighty Fortress Is Our God. Mit vom Rum geölten Lippen lächelte auch er und gab vor, die vielen schiefen Töne nicht zu hören. Es war in der Tat höchste Zeit, dass sie einander vorgestellt wurden. Egal, wie unschön Pandora aussah, Matthew war entschlossen, den großartigsten Begleiter abzugeben, den das arme Mädchen jemals gehabt hatte – nein, mehr noch, er würde der König aller Kavaliere sein! Er würde ihr die Hand küssen und sich vor ihr verbeugen. Zum Teufel mit Berry Grigsby und Ashton McCaggers. Sollten die beiden doch in dessen Gruselkabinett von einer Dachbodengruft glücklich werden. Pah!

Tja, er würde der fabelhafteste Kavalier sein, der jemals eine Dame zum Tanz geleitet hatte. Zum Damokles Ball. Er wünschte sich, er könnte noch einen Schuss Sir Richard zu sich nehmen, aber Prisskitt hatte ihn am Ellbogen gefasst und auf sein Schicksal zugezogen. Oder auf das … Scheusal.

Matthew hatte sich nicht für so oberflächlich gehalten, wie er sich im nächsten Moment erwies. Denn als er am Ellbogen ins Musikzimmer gezerrt wurde und die junge Frau erblickte, die auf dem reich verzierten italienischen Spinett spielte, wurden ihm plötzlich die Knie schwach. Und zwar nicht von den vielen schrägen Tönen, sondern …

… weil er im nächsten Moment der schönsten Frau der ganzen Welt vorgestellt werden würde, so es sich bei dieser traumhaften Vision denn tatsächlich um Pandora Prisskitt handelte.