Matthieu gräbt - Michael H. Schmitt - E-Book

Matthieu gräbt E-Book

Michael H. Schmitt

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Beschreibung

Der Fotograf Matthias Matthieu sucht im Archäologiepark Bliesbruck-Reinheim nach Motiven für eine Reportage und findet stattdessen eine Männerleiche in der Blies. Bereits nach kurzer Zeit steht fest; dass es sich um Mord handelt; aber die offiziellen Ermittlungen verlaufen dem Fotografen zu schleppend – er macht sich selbst auf die Suche.Matthieu stößt auf eine Reihe ungeklärter Einbrüche im Grenzgebiet und erfährt von seltsamen Vorkommnissen im Umfeld der archäologischen Grabungen. Bald gibt es einen weiteren Toten.Matthieus Gespür für Land und Leute; seine Beharrlichkeit und seine Ermittlungen auf beiden Seiten der Grenze bringen langsam ans Licht; was ein Selbstmörder aus dem alten Rom mit den Ereignissen der Gegenwart zu tun hat.

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Seitenzahl: 334

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Inhalt
Cover
Michael H. Schmitt - Matthieu gräbt
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Impressum

Der Himmel meinte es gut an diesem Morgen. Eine zarte, wärmende Brise streifte die Haut seiner Arme. Er hatte die richtige Entscheidung getroffen, genau diesen Tag für seine Arbeit zu wählen. Der Tag versprach perfekt zu werden. Schon eine ganze Weile suchte Matthias Matthieu im Terrain des Europäischen Kulturparks Bliesbruck-Reinheim nach brauchbaren Motiven. Ein Magazin hatte ihm den Auftrag erteilt, eine Serie von aktuellen Fotos zu machen. In letzter Zeit fanden die dort arbeitenden Archäologen im Erdreich häufig Zeugnisse aus vergangenen Tagen. Das Gelände zwischen dem saarländischen Dorf Reinheim und dem lothringischen Ort Bliesbruck war schon vor Jahren international zu archäologischem Ruhm gekommen: Ein Baustoffhändler aus Reinheim hatte Anfang der Fünfzigerjahre ein unvollständiges menschliches Skelett gefunden. Etwa zwei Jahre später stieß er mit seiner Schaufel auf einen Gegenstand aus Bronze. Bei seinem gut gemeinten Bergungsversuch hatte er diesen zwar zertrümmert, doch ein hinzugezogener Bodendenkmalschützer aus Saarbrücken hatte sofort erkannt, dass es sich um den Handgriff eines keltischen Spiegels handelte. Dem Konservator hatte geschwant, dass der Reinheimer Boden noch mehr solcher außergewöhnlicher Schätze barg. Er und sein Grabungsteam gruben sich in den ersten Märztagen 1954 in den Reinheimer Sand. In zwei Metern Tiefe stießen sie auf Artefakte, die zu einem über 2.000 Jahre alten Grab einer keltischen Fürstin gehörten. Im Boden der Flussaue verbarg sich ein wahrer Schatz.

Die deutsch-französische Grenze existiert seit dem Schengener Abkommen von 1985 nicht mehr. Doch nicht nur das förderte die grenzüberschreitende Zusammenarbeit der Archäologen der benachbarten Staaten im Bliestal.

Matthias Matthieu genoss den warmen Sommermorgen und ging auf den Grabhügel zu, in dem eine Rekonstruktion der Grabkammer untergebracht ist. Dort befindet sich die kunstvolle Nachbildung der keltischen Fürstin. Schon einige Male war er alleine da unten gewesen. Er hatte sich stets Tage ausgesucht, an denen die zahlreichen Besucher aus aller Welt seine Arbeit nicht störten. Die Andacht, in welcher er sich dort wiederfand, brachte ihn seinen möglichen Vorfahren – zumindest gedanklich – um einiges näher. Jener Bildhauer, der die Rekonstruktion der Fürstin vorgenommen hatte, musste wohl ähnlich gefühlt haben wie er, als er die Arbeit im Auftrag des Landeskonservators ausführte. Seinem Werk, das hinter einer Panzerglasscheibe zwei Meter unter der Erdoberfläche zu sehen ist, sieht man die Ehrfurcht an, die er bei seiner Arbeit empfand. In einer Foto-Reportage über eben diese Adlige, die Matthieu einmal für ein Magazin machte, suchte er krampfhaft nach einem möglichen keltischen Mädchennamen und wurde im Internet tatsächlich fündig. Der Name Cadhla schien ihm der vornehmste zu sein und seither nannte er die Dame im Grabhügel so.

Matthieu ging über eine Sandsteinplatte auf den Eingang des Hügels zu und ärgerte sich ein wenig über die herumliegenden ausgetretenen Zigarettenstummel.

Eine Stimme weckte seine Aufmerksamkeit: »Guten Morgen, Herr Matthieu! Zu dieser Stunde haben Sie tolles Licht zum Fotografieren. Haben Sie schon gehört? Die Fischerhütte weiter oben hat einen neuen Pächter. Es gibt wieder Mittagstisch zu einem vernünftigen Vor-Euro-Preis. Zumindest hier scheint die Geldentwertung gestoppt.«

»Herr Schaumwein, ebenfalls einen guten Morgen.«

Schaumwein war Mitarbeiter des Büros für Saar-Pfalz-Touristik und hatte bereits auf den Fotografen gewartet.

»Ja, ich habe davon gehört. Ich bin mindestens zwei Stunden hier zu Gange. Gehen Sie gegen Mittag mit und testen mit mir die Kochkünste des Hüttenwirts?«

»Mal sehen. Sie kennen sich ja aus und wenn Sie irgendetwas brauchen sollten – Sie wissen, wo sich mich finden.«

Matthieu bedankte sich und ging hinunter zum Grab. Es dauerte eine Weile, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Er mochte die Finsternis hier, sie verstärkte den mystischen Eindruck des Ortes. Wie so oft schon stand er in der Grabkammer und schaute der Dame ins hell erleuchtete Gesicht. Neben ihr lagen die Nachbildungen der Grabbeigaben, an ihrer Seite ein Bronzespiegel. Das Gewand wurde von einer bronzenen Fibel gehalten. Ihre Arme schmückten reich verzierte Armreife aus purem Gold und damit die Frau von hohem Rang auch nach ihrem Ableben auf weltliche Genüsse nicht verzichten musste, hatten die Kelten der Verstorbenen ein Tafelservice – bestehend aus zwei einfachen Tellern aus Bronze, einer kunstvoll gearbeiteten Schnabelkanne sowie einer Servierplatte, Trinkhörnern und Tranchiermesser auf die letzte Reise mitgegeben. Die Kelten glaubten an ein Leben nach dem Tod.

Matthieu genoss die Stille des Raumes. Er entdeckte eine Position, von der aus er die Spiegelung der Fürstin in einer Glasvitrine, die eine keltische Röhrenkanne beherbergte, auf ein Foto bannen konnte. Die Grabkammer war nach Originalvorgaben rekonstruiert worden. Dass die Kelten äußerst geschickte Handwerker waren, erkannte man an der perfekt durchdachten Nekropole. Die damaligen Bewohner dieser Bliestalsiedlung hatten die in ihrem Stamm hoch angesehene Dame etwa 400 Jahre vor Christus standesgemäß in einer riesigen, aus Eichendielen gezimmerten Grabkammer beigesetzt und die Begräbnisstätte anschließend mit Tonnen von Erde bedeckt.

Eine halbe Stunde später erblickte er wieder das Licht des Tages. Es wurde Zeit, weiterzuziehen, denn er hörte im Innersten der Grabkammer eine Vielzahl von Kinderstimmen nahen. Eine Gruppe französischer Schüler stand in Zweierreihe vor dem Eingang und ihre junge Lehrerin hatte alle Hände voll zu tun, die Rasselbande zu zähmen. Der hochgesteckte blonde Dutt ließ sie ein wenig älter wirken als sie in Wirklichkeit war. Offensichtlich war das die Haartracht, um sich nachhaltig Respekt zu verschaffen. Als sie ihn bemerkte, lächelte sie und grüßte ihn mit einem kurzen »Bonjour«.

Matthieu grüßte ebenso und da der Ausgang durch Kinder versperrt wurde, wartete er, bis die Horde Schüler den Eingang zum Keltengrab gefunden hatten, und begab sich dann schleunigst nach draußen. Herr Schaumwein begegnete ihm erneut und fragte schmunzelnd: »Waren wir auch mal so?«

Matthieu entgegnete: »Wenn ja, dann war ja alles in Ordnung. Ich gehe nun rüber auf die andere Seite zu den Franzosen. So gegen 12.00 Uhr werde ich mit meiner Arbeit fertig sein. Treffen wir uns dann zum Mittagessen?«

»Klingt gut, also dann bis später.«

Sein Magen knurrte. Ein Zeichen, dass es fast Mittag sein musste, denn auf seinen Bauch konnte er sich verlassen. Als er auf die Hütte zuging, bemerkte er zu seinem Erstaunen, dass kein einziger Wagen auf dem Parkplatz stand. Er hoffte, dass er nicht den Ruhetag des Hüttenwirtes erwischt hatte. Doch als er die Terrasse betrat, kam ihm ein Herr mit Sechstagebart entgegen und wünschte ihm einen guten Tag. Matthieu grüßte und fragte ihn nach dem Wirt. Mit einem Grinsen antwortete er: »Der steht vor Ihnen, was darf es denn sein? Ich bin heute alleine, meine Frau ist nach Gersheim zum Arzt: ihre Galle, wissen Sie …«

Matthieu wusste nicht. Aber noch bevor er etwas entgegnen konnte, fuhr der Wirt fort: »Aber wenn Sie etwas essen möchten, bringe ich Ihnen gerne die Karte.«

»Was wäre denn heute das Stammessen«, wollte er wissen, »oder muss ich à la carte essen?«

»Wie Sie wollen – heute hätte ich Frikadellen mit Kartoffelpüree und Erbsengemüse.«

Matthieu war zufrieden. Auf seine Rückfrage, ob die denn auch handgemacht seien, unterstrich der Wirt »aber sicher«.

»Klingt hervorragend, nehme ich! Dann noch ein Panaché bitte.«

»Panaché haben wir nicht, darf es ein Bier sein?«

»Dann bringen sie mir ein Radler, aber bitte mit viel Limonade.«

»Wird gemacht«, bekam Matthieu als Antwort und irgendwie stellte er die Aussicht auf eine handgemachte Frikadelle in Frage, offensichtlich kannte der Wirt die französische Bezeichnung für dieses Bier-Limonade-Gemisch nicht.

Als er dann das Glas auf den Tisch stellte, entschuldigte er sich für seine lange Leitung. »Sie müssen wissen: Ich komme nicht aus der Gegend hier.«

Matthieu hatte so etwas geahnt: »Ich habe ihren Dialekt erkannt. Sie kommen aus der Westpfalz, ich schätze mal aus Kaiserslautern.«

»Nicht weit davon entfernt«, entgegnete der Wirt, »aus Waldfischbach, kennen Sie den Ort?«

»Ja, da bin ich schon durchgefahren, schöne Wälder dort. Aber solange Sie mir kein Alsterwasser bringen, bin ich zufrieden.« Der Wirt lachte und ging zurück in die Küche, nicht ohne vorher noch einmal zu bemerken, dass er ja noch eigenhändig Frikadellen zubereiten müsse.

Matthieu lehnte sich zurück, blickte auf die Teichanlage und nahm einen großen Schluck aus seinem Glas. Die Mischung des herben Bieres mit einem Schuss süßer Limonade schmeckte hervorragend und gerade als er zum zweiten Mal das Glas ansetzte, trat Herr Schaumwein um die Ecke und fächelte sich demonstrativ den Küchenduft in die Nase.

»Riecht nach Frikadellen. Die waren das letzte Mal hervorragend.«

»Ja, ich habe gerade eben bestellt. Aber bestellen Sie kein Panaché, Sie müssen hier nach einem Radler fragen.«

Günther Schaumwein bemerkte das Lächeln: »Ich merke, Sie haben sich bereits bekannt gemacht. Gott sei Dank geht der geregelte Betrieb hier in den Ausgrabungsstätten wieder weiter. Ich bin heilfroh, wenn wieder etwas los ist. Bald gibt es wieder die Römertage und beim diesjährigen Keltenfest ist bestimmt die Hölle los. Auf dass uns der Himmel nicht auf den Kopf falle!«

Der Wirt servierte kurz darauf zwei Teller und noch bevor die beiden zu essen begannen, fragte sich Matthieu, weshalb gerade in einer Fischerhütte keine Forellen oder Ähnliches auf der Speisekarte standen. Nach dem ersten Bissen brauchte er auf diese Frage auch keine Antwort mehr. Ihr Gespräch verstummte so lange wie sich beide mit Hingabe den Hackfleischklopsen widmeten. Ein paar Mal trafen sich ihre Blicke und ein wohlwollendes gegenseitiges Nicken bezeugte dem Gegenüber Zufriedenheit über die schlichte, aber großartige Mahlzeit.

»Seit ein paar Tagen sind wieder polnische Studenten hier, die ein paar Wochen bei den Ausgrabungen mithelfen«, erzählte Schaumwein, »ein paar weitere Polen kommen die nächste Woche dazu und die Gemeinde hat auch wieder einige ABM-Kräfte bewilligt.«

Der Wirt wollte wissen, ob es denn geschmeckt hatte.

Matthieu antwortete ihm: »Das Essen war gut, aber für mich könnte die Portion immer noch größer sein.« Er grinste zwar, doch Matthieu sah dem Wirt an, dass er diese Anspielung nicht verstanden hatte. Die Bouletten waren wirklich gut und er hätte noch eine dritte vertragen, doch man musste ja nicht alles im Leben haben. Ohnehin hatte er das Gefühl, dass sich so manche Mahlzeit bei ihm ohne Umwege auf die Hüften legte.

»Beehren Sie uns wieder, wenn es Ihnen geschmeckt hat«, verabschiedete sie der Waldfischbacher Gastronom und Matthieu gab Herrn Schaumwein zu verstehen, dass er nun ein paar Schritte laufen müsse um wieder in die Gänge zu kommen.

»Eine gute Idee«, meinte der, »ich habe noch eine Viertelstunde und begleite Sie.« Als sie eine Weile auf dem asphaltierten Weg direkt an Fluss entlanggegangen waren – dort, wo die Blies eine Linkskurve macht –, hörten sie plötzlich eine laute Stimme.

»Das darf doch nicht wahr sein, mir bleibt doch wirklich nichts erspart. Erst einer im Grand Canyon, dann einer in der Schweiz und jetzt hier!«

Schaumwein schaute Matthieu fragend an. Dieser schaute gleichsam verwirrt zurück. »Verdammte Scheiße«, kam es erneut aus wenigen Metern Entfernung vom Gewässer herauf.

Lautes Fluchen füllte die Luft, beide wussten nicht, was das zu bedeuten hatte. Matthieu drehte sich um, doch niemand war zu sehen. Wieder konnte er die Stimme hören und ihm wurde klar, dass sie aus der unmittelbaren Flussnähe kam. Zielstrebig ging er ans Ufer, wo meterhohes Gelbes Springkraut wuchs. Die schöne, irgendwann einmal nach Europa eingeschleppte Pflanzenart hatte schon dicke Samenkapseln angesetzt.

»Ich glaube, wir müssen uns weiter vorarbeiten«, sagte Matthieu zu Schaumwein, »da unten scheint jemand zu sein.«

»Hallo, ist da jemand?«, kam es von unten. Nun sahen sie den Rufenden, einen Kanuten in seiner langen, wassertauglichen Plastikzigarre. Das rote Kajak hob sich deutlich von der dunkelbraunen Brühe der Blies ab. Er schien ein Wanderfahrer zu sein, der in einem Boot der Marke Prijon Taifun unterwegs war.

»Hier hängt etwas unter einem großen Ast, sieht aus wie ein Mensch«, sagte er.

An dieser Stelle war die Böschung zu steil und Matthieu wusste nicht, ob sie ihn tragen würde. Fünf Meter weiter gab es eine Möglichkeit, einen Blick auf die Wasseroberfläche zu werfen und sie sahen, dass unter einem stattlichen Weidenast ein menschlicher Körper zu klemmen schien. Der Paddler versuchte, das im Wasser treibende Bündel mit der Bootsspitze Richtung Böschung zu schieben. Nachdem der Kanute mit seinem Paddel den steifen Arm der Leiche unter dem Ast befreit hatte, schob er den leblosen Körper zur Böschung hin.

Herr Schaumwein, der bis dahin drei Meter hinter Matthieu gestanden hatte, kam näher an den Ufersaum, rutschte mit einem Mal aus und stolperte ihm entgegen. Als er unbeabsichtigt Matthieu mit dem rechten Fuß in die linke Wade knallte, sagte dieser nur: »Nur langsam, da ist schon jemand nass genug für zwei.«

»Sorry«, entgegnete er, »bin an einer Wurzel hängen geblieben. Wasserleichen hatte ich mir immer ganz anders vorgestellt. Na ja, bisher bin ich auch verschont geblieben …«

Vor Jahren hatte Matthieu mit seiner Freundin bei einem Spaziergang in der Nähe von Creutzwald, einem kleinen französischen Örtchen in Grenznähe, einen erfrorenen Mann entdeckt. Der Tote schien schlafend, er sah entspannt aus. Die damals herbeigerufene Gendarmerie kannte den Kerl, er war ein ortsbekannter clochard. Er war wohl nach dem Genuss einiger Flaschen Rotwein an jenem eisigen, aber sehr sonnigen Februartag eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht.

Matthieu kam die Erinnerung an diesen Fall, denn er hatte damals vor dem Fund einige Aufnahmen der Landschaft gemacht. Erst Tage später, nachdem die belichteten Filme entwickelt waren, entdeckte er den erfrorenen Mann auf seinen Negativen. Seinerzeit kam ihm sofort der Film Blow up von Michelangelo Antonioni in den Sinn. David Hemmings spielte darin einen Modefotografen, der in einem Park zufällig dem Treiben eines Liebespaares zusieht, es fotografiert und erst später – beim Vergrößern der Negative – eine Leiche entdeckt.

Der arme Kerl, der da im Wasser lag, sah gar nicht so aus wie die extrem aufgeblähten Wasserleichen aus den Autopsie-Krimis im deutschen Fernsehen. Es war ein Tag, an dem Matthieu es ausnahmsweise nicht bereute, im Besitz eines mobilen Telefons zu sein. Grundsätzlich hatte er diese nervtötende Errungenschaft der modernen Zivilisation immer abgeschaltet, war also meist nur zufällig oder per SMS zu erreichen, doch in diesem Fall war sein Nutzen unbestreitbar. Vorsichtig – die Böschung gab wegen der anhaltenden Trockenheit etwas nach – schaffte er sich nach oben und wählte die Nummer des Polizeipostens in Gersheim. Am anderen Ende der Leitung meldete sich ein Beamter und er nannte seinen Namen. Sachlich erzählte er dem Polizisten namens Wannenmacher, den er flüchtig kannte, vom traurigen Fund. »Verändern Sie nichts, Herr Matthieu, ich verständige sofort die Mordkommission in Saarbrücken.«

»Okay, okay«, gab er zurück, »die sollten vielleicht einen Taucher mitbringen … ach, die wissen ja, was zu tun ist.« Er legte auf.

Während des Gesprächs hatte Matthieu ein paar Meter abseits der Tragödie gestanden. Nun ging er wieder an die Böschung, schaffte ein paar Pflanzen des gelb blühenden Balsaminengewächses aus dem Weg, für dessen Schönheit er sich in Anbetracht der Situation nicht begeistern konnte, und schaute sich die Sache von oben an.

Ihm war klar, dass der Fundort des Toten niemals die Stelle gewesen sein konnte, an der er ins Wasser gekommen war. Günther Schaumwein stand das Unbehagen ins Gesicht geschrieben, als Matthieu ihn anschaute, und der Paddler faselte etwas, was Matthieu nicht verstand. In Anbetracht der Örtlichkeit kam ihm der Gedanke, dass der Tote wohl nicht der erste in dieser Flussaue gewesen war. Vor ein paar Jahren war am Breitfurter Wehr bei Hochwasser ein Kanute ertrunken, der sich wohl zu viel zugetraut hatte. Nachdem der Fluss nach Tagen auf Normalstand abgesunken war, fanden ihn Feuerwehrleute ebenfalls unter der Wurzel eines Baumes.

Plötzlich kamen ihm wieder die Kelten in den Sinn, die schon lange vor unserer Zeitrechnung in dieses Tal gekommen waren und den Fluss »die Zischende« genannt hatten. Der Name Blies ist keltischen Ursprungs – wie auch der einiger anderer Flüsse im Saarland. Die Kelten waren zwar ein wehrhaftes Volk, aber in friedlichen Zeiten hatten sie sich genau hier zwischen dem Kloppberg und dem Galgenberg sesshaft gemacht. Als die Römer ihr Imperium erweiterten, muss es überall in Mitteleuropa zu brutalen Schlachten gekommen sein und spätestens 52 n. Chr. brachte die römische Kriegsmaschinerie die keltische Herrschaft in Gallien zu Fall.

Und nun das. Ein wahrscheinlich sinnloser Tod zwischen den grünen Hügeln, die diesen Landstrich so anziehend machen.

»Kommen Sie nur raus aus dem Boot«, sagte Matthieu zum Kanuten, »der schwimmt nicht mehr weg. Wir müssen noch auf die Saarbrücker Kripo warten.«

Der Sportler tauchte das Paddel ins Wasser. Mit einem Ziehschlag und etwas Schwung bewegte er sein Kajak nach vorne, landete an der Stelle, an der zuvor Schaumwein und Matthieu im Bliessand gestanden hatten, sicherte sein Boot mit einer Paddelstütze und stieg gekonnt aus.

Matthieu musste zweimal hinsehen. Sein Aufzug schien doch etwas gewagt. Unter seiner Schürze, die das Boot vor eindringendem Wasser schützen sollte, war er nackt. So schien es auf den ersten Blick, doch als er sich umdrehte, konnte man den kleinen Fetzen Stoff erkennen, den er wahrscheinlich Badehose nannte. Trotz der warmen Sonne fröstelte es Matthieu bei diesem Anblick.

Günther Schaumwein hatte seinen Blick bemerkt und fragte den Kanuten: »Sie frieren sich in dem Boot doch den Arsch ab?«

»Überhaupt nicht! Heute Nachmittag, wenn’s richtig warm wird, ist es untenrum sogar richtig angenehm.«

»Und im Winter fahren Sie dann mit einer Bootsbodenheizung«, versuchte Matthieu lachend die Situation etwas aufzulockern. Außer einem kurzen Lächeln erntete er keine Reaktion. »Mit einer kalten Dusche hat der Mann hier wohl nicht gerechnet – oder er hatte keine Zeit mehr, sich eine Jacke überzuziehen«, bemerkte Matthieu und zu Schaumwein blickend: »Sollen wir uns nicht einfach duzen? Ich bin der Matthias.«

»Ja, das sollten wir tun, Günther. Ich muss gestehen: Mein Mittagessen redet mit mir.«

»Dann geh doch bitte flussabwärts.«

Der Paddler stellte sich als Rolf Hunsicker vor.

»Der Junge lag aber gestern noch nicht an dieser Stelle im Wasser.«

»Wie kommen Sie denn darauf?«, wollte Matthieu wissen.

»Gestern bin ich von Herbitzheim aus bis nach Habkirchen gefahren. Ich liebe dieses Stück Fluss: Wenn du langsam auf Habkirchen zugleitest und linker Hand die Reste der Frauenburg siehst. Kurz vorm Wehr halte ich dann, laufe ein paar Meter bis zur Hauptstraße, an der ich mein Auto geparkt habe, und mache in der Regel immer noch eine halbe Stunde Pause, esse etwas und trinke ein Bierchen. Und als ich gestern hier vorbeikam, lag hier noch niemand im Wasser.«

»Wo sind Sie denn heute gestartet?«, wollte Schaumwein wissen.

»Heute Morgen bin ich später los, irgendwie war der Wurm drin. Ich bin auch noch nicht lange auf dem Wasser. Eingestiegen bin ich in Gersheim, hinter dem Wehr, und bis hierhin sind es bei langsamer Fahrt mal gerade dreißig Minuten.«

Mit einem Mal drang Lärm zu ihnen – eine Schulklasse fiel wenige hundert Meter hinter ihnen in den Nachbau einer Getreidemühle ein und machte einen Lärm, als würden Horden von Barbaren gegen den römischen Imperator persönlich vorgehen. Matthieu bat Günther, sich des nahenden Problems anzunehmen und die Verantwortlichen, die diesen Haufen befehligten, zu bitten, die Kinder nicht ans Flussufer zu lassen.

»Du hast Recht, die können wir hier absolut nicht gebrauchen, aber wenn die Polizei gleich hier aufläuft, wird sich ohnehin halb Reinheim versammeln.«

»Das glaube ich nicht unbedingt, bislang haben wir noch keine Aufmerksamkeit erregt und es ist nicht so, dass das Dorf aus seinem Schlaf erwacht, nur weil sich eine Wasserleiche eingefunden hat. Da trauen wir der Dorfbevölkerung vielleicht zu viel Neugierde zu.«

Matthieu entfernte sich wieder etwas vom Fluss und ging auf den ersten der drei Hügel zu, die um das Grabmal mit dem Fürstinnengrab errichtet waren. Er ließ seinen Blick über die Umgebung schweifen. Vor ihm präsentierte sich die Reinheimer St. Markus-Kirche mit ihrem Spitztürmchen, das von den Einheimischen »Heidenturm« getauft wurde. Dieses schon tausend Jahre alte Gebäude diente früher als Wehrturm, wie die heute noch sichtbare Pechnase in Form eines Tiermauls verrät. Regional bekannt war die Kirche auch wegen der von Samson getragenen Kanzelwanne.

Reinheim liegt ruhig in einem Talkessel, umgeben von zart geschwungenen Hügeln, auf deren Wiesen Orchideen wachsen. Von Mai bis Juni sieht man in der gesamten Region das Helmknabenkraut, die Große Händelwurz und viele andere Orchideengewächse blühen. Hinter ihm liegen in einiger Entfernung die Fischweiher. Dahinter auf französischem Terrain der Thermenpavillon von Bliesbruck.

Vis-à-vis davon setzen sich die Ausgrabungen einer gallo-römischen Siedlung fort und unmittelbar hinter dem Museum Reinheim befand sich die palastartige Villenanlage, die fast vollständig untersucht ist. Imposant ist ein vierzig Meter langes, aus Kalksteinplatten gemauertes Wasserbecken. Welch ein Luxus vor 2.000 Jahren. Alles in allem strahlte dieser Ort eine Ruhe aus, die so gar nicht zu dem grausigen Fund passen wollte.

Matthieu packte seine Kamera wieder in die Tasche, nachdem er ein paar Fotos gemacht hatte, und wollte nun abwarten, bis die Kriminalisten kamen und man von dem Toten mehr erfahren konnte. Eine knappe halbe Stunde war vergangen, seit er Horst Wannemacher in Gersheim informiert hatte. Eigentlich müsste doch zumindest der doch schon angekommen sein. Vielleicht war es aber auch gar nicht schlecht, dass er noch nicht mit dem grün-weißen Dienstfahrzeug auf das Gelände des Kulturparks gebraust war: Der Besucherstrom nahm zu. Während der warmen Monate war ein Tagesausflug nach Bliesbruck-Reinheim eine willkommene Abwechslung im sonst eher eintönigen Schulalltag. Auch deutsche Schulklassen machten die Runde im Park.

Bloß nicht zu viel Aufsehen erregen, dachte sich Matthieu noch, doch als er Wannemacher auf das Gelände fahren sah, stellte er fest, dass vielen Schülern die vorbeirasende Abwechslung willkommen war und sie dem für sie wohl interessanteren Teil des Ausflugsprogramm nun alle Aufmerksamkeit widmeten.

Matthieu begrüßte Wannemacher, der betont gelassen aus seinem Fahrzeug ausstieg und sich nach dem Fundort erkundigte.

»Tag, Herr Matthieu! Hallo, Günther! Man kann euch keine Sekunde unbeobachtet lassen.«

»Diesen Schuh ziehen wir uns nicht an. Herr Hunsicker hier war der Aufmerksame und fand den armen Kerl, der da als Strandgut im Wasser liegt.«

»Wenn man an nichts Böses denkt, der Herrgott eine Leich’ versenkt«, witzelte Rolf, um die Situation etwas aufzulockern.

»Sie haben ihn gefunden?«, wandte sich der Polizist an den Paddler, »und genau an dieser Stelle?«

»Ja, genau hier, vor ungefähr einer Dreiviertelstunde.«

Der Gesetzeshüter bahnte sich den schon präparierten Weg durch das Springkraut und atmete betont durch die Nase ein.

Es dauerte noch eine ganze Weile, bis schließlich zwei zivile Pkw und ein weißer VW-Bus auf das Gelände fuhren. Die Kriminalbeamten hatten eine gute halbe Stunde Autofahrt hinter sich. Sechs Männer verließen die Fahrzeuge. Ein großer, dunkelhaariger mit Dreitagebart war Matthieu gut bekannt. Ulrich Grandmontagne hatte vor vielen Jahren mit ihm die Schulbank gedrückt, bis sich ihre Wege trennten. Er war damals zur Polizei gegangen und hatte es bis zum Kriminalhauptkommissar geschafft, Matthieu hatte andere Wege eingeschlagen und war Fotograf geworden. Gelegentlich trafen sie sich und manchmal blieb Zeit für ein gemeinsames Bierchen. Grandmontagne wirkte nicht nur sportlich, er war durchtrainiert. Matthieu erinnerte sich, dass er lange Zeit ein hervorragender Volleyballer gewesen war, dann aber das Laufen für sich entdeckt hatte. Irgendwann hatte er sogar geplant, am New-York-Marathon teilzunehmen, doch bis zu ihrem letzten Treffen vor einiger Zeit war es nicht dazu gekommen.

»Guten Tag, die Herren. Hallo, Matthias. Was machst du denn hier? Bist du unter die rasenden Reporter gegangen?«

»Nicht ganz, aber erst mal hallo. Sag bloß, dass du hier ermittelst?«, wollte Matthieu wissen. »Der Kanute hier, Rolf Hunsicker, hat bei seiner Tour auf der Blies den Mann im Wasser entdeckt. Ich war nur zufällig in der Nähe.«

Matthieu erzählte dem Kommissar, wie sich der Fund ereignet hatte, zumindest seine, beziehungsweise ihre Version. Denn er schloss Günther Schaumwein mit in seinen Bericht ein. Der Gersheimer Polizist Wannemacher war bis hinunter an die Böschung gerutscht. Ansonsten hatten sie bis zum Eintreffen der Kripo nichts verändert. Zudem war es auszuschließen, dass sich das Unglück, wenn es denn eins war, hier ereignet hatte. Also hatten sie sicher keine eventuellen Spuren verwischt.

Es entstand ein kleines Durcheinander, zumindest sah es für die kriminalistischen Laien so aus. Die Spurensicherung nahm routiniert ihre Arbeit auf. Einer der Herren schlüpfte in einen Trockenneopren mit Kapuze, zog sich enge Schuhe aus hartem Gummi an und stülpte sich eine Tauchermaske über den Kopf.

Er glitt langsam ins Wasser, schwamm auf den bedauernswerten Kerl zu. Mit zwei Kollegen, ebenfalls in Schutzanzügen, zog er die Leiche dann nach oben.

Nun war auch endlich das Gesicht des Toten zu sehen. Er war jung, noch keine zwanzig Jahre alt und von schlanker Statur. Merkmale von äußerer Gewaltanwendung waren auf den ersten Blick nicht zu sehen. Der Herr, der als zuständiger Pathologe Samuel Warman vorgestellt wurde, erkannte lediglich eine mittelgroße Schürfwunde im Nackenbereich, die von überall herkommen konnte. Die genaue Todesursache konnte ohnehin erst in der Pathologie bei der anstehenden gerichtsmedizinischen Untersuchung im Klinikum Homburg festgestellt werden.

Während der Bergung hatte Matthieu unauffällig eine ganze Reihe von Aufnahmen gemacht, die er sich am Abend in Ruhe auf dem Rechner anschauen wollte.

Der schwarze Plastiksack mit dem Toten darin verschwand in einer Metallkiste, die zwei Männer zum größeren Fahrzeug trugen.

»Sag mal, wann rechnet ihr denn mit ersten Ergebnissen der Untersuchung?«, fragte Matthieu den Kommissar.

»Ich denke morgen. Im Laufe des Tages werden wir mehr wissen, soll ich dich anrufen?«

»Ja, tu das, es interessiert mich schon, wie der Junge da zu Tode gekommen ist.«

»Es kann aber ein zwei Tage dauern, bis ich mich melde. Im Moment liegt reichlich Arbeit an. Einige Kollegen sind zur Fortbildung, die Urlaubszeit beginnt und der Krankenstand im Amt macht auch mich krank. Auf jeden Fall hörst du von mir.«

Die Ermittler suchten das Gelände ab, fanden jedoch offensichtlich nichts von größerer Bedeutung. Nach etwa drei Stunden packten sie ihre Ausrüstung zusammen und verließen den Fundort.

Mittlerweile war es schon 17.00 Uhr geworden und der Tag fast gelaufen. »Was hältst du von einem Weißbier? Ich lad’ dich ein«, fragte Matthieu den Parkmitarbeiter, der sein Arbeitskontingent an diesem Tag schon reichlich überschritten hatte.

»Eine gute Idee, was schlägst du vor?«

»Lass uns nach Walsheim ins Stübchen fahren, einer der Bauersleute, die das Wirtshaus betreiben, ist mit Sicherheit da. Und bei den Temperaturen können wir draußen gemütlich im Stallgeruch sitzen.«

Matthieu packte seine Kameraausrüstung in den Kofferraum und wartete auf dem Parkplatz hinter dem Museum. Schaumwein wollte nur eben seinem Chef von dem Vorfall erzählen. Matthieu kannte Karsten Meier, den Leiter der Ausgrabungen auf der deutschen Seite des Geländes. Der wollte mit Sicherheit Genaueres wissen. Nach fast einer halben Stunde kam Schaumwein dann endlich und gab ein Zeichen zur Abfahrt.

Matthieu fuhr voran, überquerte die Bliesbrücke und freute sich auf ein kühles Weizen.

Hinter Reinheim fuhr er an noch blühenden Rapsfeldern vorbei, zwischendrin gab es Parzellen, auf denen Mais angepflanzt wurde.

Kurz hinter dem Ortsende befand sich ein mit Blumen geschmücktes Holzkreuz am Straßenrand, welches ihm die Endlichkeit des Seins zum zweiten Mal an diesem Tag in Erinnerung rief. Hier war vor einiger Zeit ein ebenso jugendlicher Mensch durch die Verantwortungslosigkeit eines betrunkenen Autofahrers umgekommen. Matthieu versuchte, den Gedanken abzuschütteln.

Kurz vor Gersheim fuhr er am dortigen Polizeiposten vorbei und grüßte den vor dem Gebäude stehenden Wannemacher. Yuri Buenaventura schmachtete gerade seine Version von Jacques Brels Ne me quitte pas und als die Salsa-Rhythmen schärfer wurden, fuhr er sein Seitenfenster hoch und drehte die Lautstärke auf. Er verabscheute diese halbstarken Freaks, die mit aufgemotzten Kleinwagen vorfuhren, aus deren Wageninneren so laut Musik dröhnte, dass man zum Mithören gezwungen war.

Hinter der Brücke, welche die Blies in Gersheim überspannt, bog er links ab, quälte sich untertourig den Gersheimer Berg hoch und beschleunigte hinter dem Neubaugebiet sein Tempo. Rechts und links stiegen die bunten Wiesen langsam bis zum Saum der Buchenwälder an. Ein weites Feld Phazelien grenzte direkt an einen gelben Blütenteppich aus Raps. Matthieu öffnete sein Fenster und inhalierte den honigsüßen Duft, den die dunkelblauen, fast violetten Blüten verbreiteten und der weite Strecken in diesem Tal erfüllte.

Eduard Mörike, der Dichter des frühen 19. Jahrhunderts, kam ihm in den Sinn: Frühling lässt sein blaues Band / wieder flattern durch die Lüfte./ Süße, wohlbekannte Düfte / streifen ahnungsvoll das Land. Für den Frühling war es bereits zu spät im Jahr, doch Mörikes Verse passten zum Bild.

Matthieu drosselte abermals das Tempo, pfiff ein Liedchen in den späten Nachmittag und genoss das Stückchen Landstraße bis nach Walsheim. Günther, der immer noch hinter ihm fuhr, wunderte sich nicht im Geringsten über sein zögerliches Fahrverhalten. Ein aufregender und kräftezehrender Tag neigte sich seinem Ende zu.

Sie betraten den Hof der Bauernfamilie Lachmann, die seit ein paar Jahren ein Hofstübchen betrieb und schauten sich etwas um.

Bimbo, der alte Herr des Stalls – ein groß gewachsener Rauhaardackel – watschelte schwanzwedelnd auf beide zu.

Für diese freundliche Begrüßung bekam er natürlich gleich seine Streicheleinheiten. Es dauerte keine zehn Sekunden, da ließ der Hund sich zur Seite fallen und war selig.

Matthieu rieb ihm kräftig den unbehaarten Bauch, bis ein zufriedenes Grunzen ihm verriet, wie wohl sich das Kerlchen fühlte. Das lockte eine ganze Schar von Dackeln auf den Hof, in gebührendem Abstand folgten ihnen einige Katzen. Linkerhand befanden sich die Schweineställe, aus denen ein durchgehendes Quietschen und Grunzen tönte. Ein Blick in den Stall zeigte Matthieu, dass sich die Sauen und der Nachwuchs recht zufrieden fühlten. Noch ahnten sie nichts vom Schlachter.

Hans, der junge Bauer – erst vor ein paar Monaten hatte er den Hof in der x-ten Generation übernommen – trat aus dem Dunkel des Pferdestalls: »Hallo Matthias, auch mal wieder da?«

»Tag Hans! Wo ist denn der Rest der Familie?«

»Oh, ich glaube Mama und Oma sind drinnen in der Küche. Wo Clodwig ist, kann ich wie immer nicht sagen, vielleicht ist er mit den Schafen unterwegs. Aber wenn ihr was trinken wollt, geht nur rein. Du kennst dich ja aus, es wird auch gleich jemand kommen.«

Sie gingen rein. Matthieu kannte sich aus. Draußen vor dem Hofstübchen stand ein runder Plastiktisch mit den dazugehörenden Sitzgelegenheiten, die nach Reinigung schrien. Er fragte sich, ob es noch keinen Gast in diesem Jahr gegeben hatte, der nach einem Sitzplatz im Freien fragte.

»Es ist noch schön warm. Setzen wir uns nach draußen?«, wollte Matthieu wissen. »Wenn ja, suche ich einen Lappen und reinige den Tisch.«

»Das ist eine gute Idee, hier drinnen ist es ohnehin wesentlich kälter.«

Nach einigem Suchen fand er dann endlich ein Handtuch, welches den Anforderungen gewachsen schien.

»Möchtest du auch ein Weißbier?«, wollte er von Schaumwein wissen.

»Aber ja, wenn möglich ein Dunkles.«

Wer suchet, der findet, dachte sich Matthieu und fand zwei kalte Flaschen Weizenbier mit den passenden Gläsern. Das Einschenken überließ er Günther und begab sich mit dem Handtuch in der Hand nach draußen zu den Kunststoffmöbeln. So etwas nannte er »aktives, autonomes Gästetum als Beitrag zum bäuerlichen Nebenerwerb«.

Günther kam heraus und sie setzten sich.

»Zum Wohle.«

»Der erste Schluck ist immer der beste«, sagte Günther. Das kühle Obergärige rann Matthieu die Kehle hinunter.

Da kam die »Herrin« des Hofes – so jedenfalls nannten er und andere Gäste Großmutter Rosa gerne – über den Hof zur Gaststube. In dieser Familie herrschte das Matriarchat – die Damen der Sippe hatten ganz eindeutig das Sagen. Rosa war etwas über 70 Jahre alt, geistig fit, doch manchmal klapperte das Gestell, wie sie selbst gelegentlich bemerkte.

»N’abend Matthias. Hast du schon Feierabend?«

»Ich habe nie Feierabend, das weißt du doch.«

Sie wackelte auf beide zu und begrüßte sie mit einem kräftigen Händedruck. Man sah ihr an, dass ihr das Gehen Schmerzen bereitete, doch sie jammerte nicht. Als sie die wenigen Treppenstufen zum Hofstübchen geschafft hatte, scheuchte sie zuerst die Katzenbande heraus, die still und heimlich von der Räumlichkeit Besitz ergriffen hatte. Einem Katzenfreund wäre diese Rigorosität tierverachtend vorgekommen, doch Katzen haben auf einem Bauernhof eine ganz andere Stellung als in Stadtwohnungen. Hier sind die Stubentiger wirkliche kleine Raubtiere, die sich ihren Lebensunterhalt durch enormen Einsatz selbst erarbeiten müssen. Keine bekäme auch nur einen Brocken Futter aus der Dose. Das Stübchen war jetzt für die drei hübschen Mäusejäger tabu, also schnurrten sie um die beiden Menschen, die da genüsslich ihr Bier tranken. Obwohl keiner von ihnen irgendetwas Essbares in der Nähe hatte, wurde eine der Katzen zunehmend aufdringlich. Matthieu wies sie aber nicht ab, was auch die anderen mutiger werden ließ. Es dauerte keine drei Minuten, da hatten es sich zwei von ihnen auf seinen Knien bequem gemacht und der dritte Mäusefänger hatte Günther Schaumwein im Visier. Ermutigt von seinen Locklauten schnellte er hoch und nahm auf Schaumweins Schoß Platz. Die Katzen schienen selig. Marianne, die Bäuerin und Mutter von Hans, kam aus derselben Tür wie zuvor Rosa, begrüßte sie und berichtete von den Geschehnissen des Tages.

So langsam trudelten die ersten Walsheimer ein, um einen Dämmerschoppen zu nehmen. Das taten manche mit generalstabsmäßiger Regelmäßigkeit, übertrafen sich selbst in Sachen Pünktlichkeit und ließen dieses Ritual nur unter wirklich widrigen Umständen ausfallen. Volker war einer dieser Menschen, die diese Regelmäßigkeiten des Landlebens über alles liebten. Als Kind an der Mosel aufgewachsen, lebte er aber später einige Jahrzehnte in einer rheinland-pfälzischen Karnevalistenhochburg.

Seit ein paar Jahren – er hat das große Glück, mit einer Walsheimerin verheiratet zu sein – wohnte er in dem Dorf mit den statistisch belegten meisten Kneipen pro Kopf und den wahrscheinlich meisten Schankanlagen pro Haushalt. Er war im Dorf überaus willkommen, was daran lag, dass er sich ohne Murren den Gepflogenheiten der Einheimischen angepasst hatte.

Nun saßen sie zu dritt an dem Gartenmöbel. Volker, etwa 65 Jahre alt, graumeliert und mit dünnem Bart, berichtete von den gestrigen Ereignissen im Dorf. Kurz darauf betrat ein weiterer Gast den Raum. »Dr. H. C.«, wie ihn hier alle nannten, wohnte ebenso seit ein paar Jahren an der Peripherie des Ortes und nutzte gerne die Gelegenheit, einen Absacker oder auch zwei zu nehmen. Da es hier noch üblich war, sich ohne Fahrzeug im Ort zu bewegen, ging er gelegentlich zum Hofstübchen oder zu anderen Örtlichkeiten mit kühlem Bier.

Die Geschichten, die Matthieu und Schaumwein zu hören bekamen, glichen sich. Aber Information war nicht der ausschlaggebende Zweck der Unterhaltung. Es beginnt immer mit einem zufälligen Treffen irgendwo in einer Kneipe, verläuft in unterschiedlich langanhaltenden Phasen feucht-fröhlich und endet mit dem dramatischen Anstieg des Gamma GT-Wertes. Manch einer litt seit Jahren an einer crise de foie. Der ansässige Arzt Dr. Zieschler kannte die Gewohnheiten seiner Klientel, ermahnte bei jeder Gelegenheit zum Maßhalten, doch letztendlich konnte er dem Tatendrang seiner Patienten nur einigermaßen gelassen zusehen.

Die gesellige Runde erweiterte sich an diesem Abend zunehmend und wenn es nicht ein Wochentag gewesen wäre, hätte es schnell zu einer langen Nacht werden können.

Die beiden unfreiwilligen Zeugen berichteten den versammelten Damen und Herren von dem unerfreulichen Fund in der Blies.

Matthieu beschloss mit einbrechender Dunkelheit, sich auf den Nachhauseweg zu machen.

Schaumwein entschied sich, es ihm gleich zu tun: »Ich glaube, ich mache mich dann auch auf den Weg, es wird Zeit. Gute Nacht zusammen!«

Gott sei Dank wurde der Kühlschrank erfunden: Matthieu war ein leidenschaftlicher Käsefan und irgendein Stück fand sich immer darin. Mit einem kleinen Glas Pfälzer Spätburgunder, etwas Parmesan, einem Stück altem Gouda und einer reifen Birne setzte er sich noch einige Zeit ins Wohnzimmer und hörte John Coltranes My Favorite Things, bis ihm fast die Augen zufielen. Doch bis er kapitulierte und sich endlich ins Bett bewegte, verging noch ein Weilchen.

Zu allem Überfluss schmökerte er noch in James Ellroys Blut auf dem Mond, was ihm in Anbetracht der Tagesereignisse endgültig den Schlaf vermieste. Stundenlang drehte er sich von einer Seite auf die andere. Irgendetwas an der Geschichte an der Blies störte ihn, aber die Nacht hatte auch keine Antworten für ihn.

Immer wieder sah er das Gesicht des jungen Mannes vor sich. Er war ziemlich k.o., aber an Schlaf war nicht mehr zu denken. Also machte er sich aus dem Bett, fuhr den Rechner hoch, entnahm seiner Kamera die Flash-Karte und überließ dem Kartenlesegerät die weitere Arbeit. Beim Betrachten der gemachten Fotos fiel ihm nichts Außergewöhnliches auf. Doch je länger er nach etwas Ungewöhnlichem suchte, umso weniger schien es ihm möglich, auch wirklich etwas zu finden. Er wusste ja noch nicht einmal, was er suchte, war einfach nur aufgedreht. Weshalb konnte er nicht einschlafen, was bewog ihn, in der Nacht aufzustehen und eine Arbeit anzufangen, die bis zum nächsten Morgen Zeit hatte? Verflucht, er hätte nicht Ellroy lesen sollen, kam ihm in den Sinn. Der Saarbrücker Kommissar würde ihn diese Tage schon wissen lassen, wie der Junge zu Tode gekommen war. Ein erneuter Versuch, noch etwas Nachtruhe zu finden, schien erfolgversprechender als weiter auf den Bildschirm zu starren und noch während er darüber sinnierte, schlief er noch sitzend ein.

Das Schlafen bei offenem Fenster hat den Vorteil, dass die Kühle der Nacht einen dazu bringt, die Decke bis zur Nasenspitze hochzuziehen, so dass es einerseits mollig warm wird und man trotzdem genügend frische Luft bekommt. Ein großer Nachteil kann die Nähe zur Dorfkirche sein, die Punkt 6.00 Uhr tagaus und tagein jeden rechtschaffenden Menschen aus den süßesten Träumen reißt. Matthieu jedenfalls riss sie am Morgen erbarmungslos aus einem Traum und nach wenigen Sekunden war die Erinnerung daran schon verblasst. Als er die Terrasse betrat, spürte er die Frische des aufkeimenden Tages. Der wolkenlose Himmel versprach einen weiteren warmen Sommertag.

Zuerst einmal eine große Tasse Ricoré. Dieser Kaffeeersatz aus Frankreich bekam ihm besser als der aufgebrühte, doch im Allgemeinen bevorzugte er Tee. Dem Kühlschrank entnahm er die Käserinde von Vorabend und schabte mit einem Messer noch einmal so lange daran herum, bis wirklich nichts mehr zu holen war. Nach einem Glas Orangensaft kam Matthieu langsam in die Gänge und überlegte sich, noch einmal nach Reinheim zu fahren, denn das Gefühl, etwas übersehen zu haben und die Folgen der nächtlichen Suche nach irgendeinem Hinweis ließen ihn nicht in Ruhe. Vielleicht konnte ihm sein Schulfreund Ulrich die Unruhe nehmen, wenn er ihm mitteilte, dass der Tote in der Blies nicht durch Einwirkung von außen ums Leben gekommen war.

Beruhige dich, wiederholte er sich ein paar Mal und nach einiger Zeit schien es zu wirken. Gegen 9.00 Uhr packe Matthieu seine Kamera in die Tasche und fuhr nach Saarbrücken, wo er sich mit einem Grafiker treffen wollte. Es gab einiges wegen eines Projekts zu bereden. Gegen Mittag steuerten beide ein Gasthaus in der Saarbrücker Altstadt an. Eine aufgestellte Tafel versprach ein Saftgulasch mit Rotkraut. Sie stellten schnell fest, dass dies die richtige Entscheidung war. Die Bedienung war recht freundlich, das Mittagessen passabel und zu ihrer Überraschung brachte sie noch ein kleines Dessert.

Als Matthieu Saarbrücken auf der A 620 verließ, kam ihm hinter St. Arnual die Idee, die Abfahrt Güdingen zu nehmen und einen Umweg über Sarreguemines zu machen. Die kleine lothringische Stadt hatte sich in den letzten Jahren zu einem attraktiven touristischen Anziehungspunkt gemausert. Bistros und Bars laden zum Entspannen ein. Viel Geld und Zeit waren in die Renovierung geschichtsträchtiger Bauten investiert worden. Sarreguemines verfügte über interessante Museen, als besonders sehenswert empfand Matthieu den »Steingutrundgang« – denn schließlich war Sarreguemines eine der Hauptstädte der Fayence-Kunst.

Es hatte einfach was, mal eben die Grenze zu passieren, die schon lange keine mehr war. Aber allein das Gefühl, sich – wenn auch nur hundert Meter tief – im Ausland zu befinden löste bei ihm angestaute Spannung. Matthieu folgte nicht der Straße, die an der Saar entlang führte, sondern bog nach rechts in die City ein. Er kam am Restaurant Aux Trois Rois – zu den drei Königen – vorbei, wo er schon manches Mal zu einem plat du jour eingekehrt war. Die Eingangstür stand offen, aber es schien wenig los zu sein. Ein wenig wundert es ihn auch, dass auf den Straßen so viel Treiben war, denn eigentlich war es noch Mittagszeit.

Nur wenige Meter entfernt, auf dem Place de la Paix, standen fünf junge Männer in Ponchos und Sombreros. Es waren Musiker, zwei mit Gitarren, zwei mit Charangos und einer spielte eine Panflöte. Musik-Anden-Stadl auf Französisch, dachte er sich amüsiert.

Normalerweise macht jeder Franzose, der was auf sich hält, zwischen 12.00 und 14.00 Uhr Mittagspause, aber vielleicht hatte sich ja auch dieser schöne Brauch im Laufe der Zeit geändert. Matthieu entschied sich dazu, noch einen Espresso in der Fußgängerzone zu nehmen und setzte dieses Vorhaben in die Tat um. In der Rue Sainte-Croix fand er tatsächlich einen Parkplatz, was in der räumlich beengten Innenstadt nicht selbstverständlich war. Zu Fuß bewegte er sich zurück zur Fußgängerzone, ging ein wenig hin und her und überlegte sich, ob er nicht noch einen Abstecher in die Boîte de Music