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Surfen, Schule, Freunde treffen: Eigentlich ist Mavi ganz zufrieden mit ihrem Leben in San Diego. Doch dann landet sie im Krankenhaus und plötzlich nimmt sie nicht nur seltsame Wesen um sich herum wahr, auch ihr Gefühlsleben gerät mit einem Mal völlig durcheinander. Als sie dann auch noch nach Idaho an die Freeland Academy, verfrachtet wird, steht ihr Leben erst einmal Kopf. Denn diese Schule scheint nicht so zu sein, wie sie nach außen hin wirkt. Und auch in Mavi selbst steckt mehr, als sie bislang immer geglaubt hatte. Als dann auch noch ausgerechnet der gut aussehende Alexander Connolly ihr Tutor wird - ein Mann mit dem emotionalen Innenleben eines Steins - wird Mavi beinahe alles zu viel. Schließlich beginnt sie jedoch endlich zu begreifen, dass es Menschen gibt, die es auf sie und ihre neuerworbenen Fähigkeiten abgesehen haben - Fähigkeiten, die scheinbar gar nicht mal so typisch sind für eine ganz gewöhnliche Amazone und die sie selbst erst einmal lernen muss zu kontrollieren.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
LINNI CARLSON MAVI
Auf den Spuren der Amazonen
Inhaltsverzeichnis
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Epilog
Es gibt Tage, an denen weiß man, dass sie genau so enden werden, wie sie angefangen haben: ereignislos und fast ein wenig langweilig. Du stehst auf, gehst zur Schule, triffst dich vielleicht noch mit ein paar Freunden und ehe du dich’s versiehst, liegst du auch schon wieder in deinem Bett und fragst dich, wo eigentlich die Zeit geblieben ist.
Und dann gibt es Tage, an denen ändert sich mal eben dein komplettes Leben und das einfach so – von einem Moment auf den anderen.
Heute war genau so ein Tag.
Bereits der zweite innerhalb nur eines einzigen Monats.
Wir fuhren in einem schwarzen Geländewagen über eine breite, vierspurige Straße mitten hinein in ein Nirgendwo aus Bergen, Feldern und Bäumen, die unter anderen Umständen sicher nett anzusehen gewesen wären. Aber um der Wahrheit die Ehre zu geben, ich war nicht in der Stimmung, um auch nur einen einzigen, flüchtigen Blick auf all die dichten Wälder und kleinen Flüsse zu verschwenden, die unseren Weg fortwährend kreuzten. Nie zuvor hatte ich mich auch nur in der Nähe von Idaho aufgehalten. Der Staat hatte seine Reize, ohne Frage, doch vor allem die Berge, die sich eindrucksvoll gegen den Horizont abzeichneten, standen im starken Kontrast zu der Landschaft, die ich seit meiner frühesten Kindheit gewohnt war: Palmen, Strand und Meer.
Das blaue 'Welcome To Idaho'-Schild leuchtete uns träge vom Straßenrand entgegen, und mir wurde urplötzlich klar, dass mein Leben, so wie ich es kannte, nun endgültig vorbei war.
Und das hatte noch nicht einmal etwas mit dem Unfall zu tun, jedenfalls fast nichts.
Aber der Reihe nach.
Mein Name ist Mavi, Mavi Andrews aus San Diego in Kalifornien. Ich bin siebzehn Jahre alt und das einzige Kind meines Vaters Paul. Wobei Sorgenkind wohl besser passen würde. Es war zwar nicht so, dass ich meinem Vater absichtlich Ärger bereitete, weil ich beispielsweise die Schule schwänzte oder abends zu lange wegblieb, es war eher so, dass ich so etwas nicht tat, zumindest nicht freiwillig.
Ich war anders als meine Mitschüler, obwohl ich mir wirklich alle Mühe gab, es nicht zu sein. Deshalb war ich auch mächtig stolz darauf, dass ich es geschafft hatte, meine Zensuren, in den vergangenen zwei Jahren, um ganze drei Notenpunkte zu verschlechtern. Das war alles andere als leicht gewesen, aber was tat man nicht alles, um in einer Klasse voll pubertierender Teenager nicht aufzufallen?
Als mir damals (ich hatte eben erst auf die High School gewechselt und mein einziger Freund war ein alter Teddybär namens Walter) klar geworden war, nach welchen Regeln hier gespielt wurde, wusste ich, dass es höchste Zeit für einen Imagewechsel war. Also tauschte ich meine weiten Strickpullis und Cordhosen gegen Kleider und enge Jeans, verabschiedete mich wehmütig von meinem praktischen Kurzhaarschnitt und trug meine rotbraunen Haare fortan lang bis auf den Rücken hinab. Es gefiel mir sogar, dass sie sich ohne großes Zutun leicht wellten und mittlerweile verließ ich kaum noch das Haus, ohne mir zumindest die Wimpern meiner eisblauen Augen gründlich getuscht zu haben. Ich verschmolz praktisch mit all den anderen Jugendlichen um mich herum und fand, zu meiner eigenen Verwunderung, schnell Freunde - so wie Carly, die sogar das Team der Cheerleader anführte.
In den vergangenen drei Jahren hatte ich auf diese Weise eine nahezu komplette Metamorphose durchlaufen und doch: Meinen Dad konnte ich damit nicht täuschen, zumindest fast nicht.
Dabei hatte ich mir sogar ein Hobby gesucht, welches weder etwas mit Zahlen noch mit Sprachen zu tun hatte. Trotzdem ahnte er natürlich genau, wie sehr ich es noch immer genoss, heimlich Texte auf Altgriechisch zu lesen und Integralgleichungen im Kopf zu lösen. Allerdings ging ich mittlerweile nun eben auch regelmäßig mit Carly zum Wellenreiten an den Strand, was mir erstaunlich gut gefiel. Grundsätzlich reizte mich sowieso alles, womit ich meinen Körper an seine Grenzen bringen konnte.
Dad und ich lebten in einem kleinen Bungalow in der Nähe vom Pier und trotz all dieser Umstände kamen wir beide eigentlich ganz gut miteinander klar. Mein Dad arbeitete als Wachmann bei irgendeiner Firma für Computerhardware und im kommenden Sommer stand endlich mein Abschluss an der Milton High auf dem Programm.
Zumindest war dies bis vor kurzem noch der Plan gewesen.
Doch es gab natürlich einen Grund, weswegen ich nun ausgerechnet in diesem Van saß, während mein Dad vorne neben dem Fahrer hockte und sich flüsternd mit ihm unterhielt. Sein braunes, leicht welliges Haar hing ihm nach unserem dreistündigen Flug von Los Angeles nach Seattle wirr in die Stirn, und er sah erschöpft aus. Erschöpfter als ich ihn je zuvor gesehen hatte. Hin und wieder huschte sein Blick zu mir Richtung Rückbank, doch ich versuchte, ihn soweit es mir möglich war, zu ignorieren.
Es fiel mir noch immer schwer, ihm zu verzeihen, dass es für mich ab sofort weder Strand noch Meer geben sollte. Dafür aber jede Menge Wälder, Flüsse und Berge. Von Letzteren wusste ich noch nicht, ob ich es mir vielleicht sogar erlaubt sein würde, sie zu besteigen, aber irgendwie bezweifelte ich, dass ich dazu wirklich eine Gelegenheit bekommen würde. Denn immerhin waren wir in diesem Moment auf dem Weg zur Freeland Academy, einer Schule für Jugendliche mit Problemen. Jugendliche wie mich.
Wieso man ausgerechnet mich für ein Problem hielt? Tja, wo sollte ich anfangen?
Bis vor wenigen Wochen war eigentlich alles noch ziemlich normal gewesen. Zumindest so normal, wie es in meinem Leben eben möglich war. Ich meine, nur weil man über eine schnelle Auffassungsgabe verfügte und gute Zensuren mit nach Hause brachte, war man ja noch lange kein Freak.
Ich freute mich, ebenso wie alle anderen, auf die Sommerferien, machte Pläne für die Zeit nach der Schule und verbrachte die meiste Zeit mit Carly auf dem Surfbrett. Ich hatte sogar einen Freund gehabt. Das war immerhin mehr, als andere Mädchen in meiner Klasse von sich behaupten konnten. Doch nach nur wenigen Wochen hatte ich mich auch schon wieder von Toby getrennt, einem Jungen aus meinem Jahrgang, der viel zu schnell viel zu viel von mir wollte. Deswegen überließ ich ihn lieber einem anderen Mädchen, statt mich auf irgendetwas einzulassen, für das ich zweifellos noch nicht bereit war. Generell, das musste ich mir eingestehen, war es ohnehin schwierig für mich, all die Schwärmereien und Sentimentalitäten meiner Freundinnen so richtig nachzuvollziehen, vor allem, wenn es um Themen wie ‚Dates‘ oder ‚Beziehungen‘ ging. Natürlich ließ ich mir das nicht anmerken. Ich schwärmte ebenso von Tobys Küssen, wie sie es von mir erwarteten, doch, um auch hier der Wahrheit die Ehre zu geben: Während all der Zeit, in der er und ich ein Paar gewesen waren, hatte ich weder Schmetterlinge im Bauch verspürt, noch das Verlangen gehabt, ihn ständig um mich zu haben. Im Gegenteil.Das Küssen hatte zwar Spaß gemacht, aber ich verstand nicht, warum alle Welt nur solch einen Rummel darum machte! Vielleicht lag das aber auch nur daran, dass zwischenmenschliche Gefühle einfach nicht mein Ding waren.
Wie gesagt, bis zu diesem Zeitpunkt war mein Leben eigentlich ganz okay gewesen. Ich war viel unterwegs, pflegte soziale Kontakte und war einfach nur froh, dass all diese alltäglichen Sachen mich daran hinderten, allzu oft über das nachzudenken, was mich in Wirklichkeit beschäftigte: die Schatten.
Auf irgendeine Weise waren sie schon immer dagewesen. Ich konnte mich zumindest nicht daran erinnern, wann genau es damit losgegangen war. Ich sah sie, nahm wahr, dass sie ständig um mich herum waren, aber in der Regel ließen sie mich in Ruhe, und so hatte ich gelernt, mit ihnen zu leben. Bis ... na ja, eben bis zu diesem Unfall.
Noch immer war mir nicht ganz klar, was an diesem Morgen eigentlich geschehen war. Dad und ich waren auf dem Highway unterwegs gewesen. Er hatte mich ungewöhnlich früh für einen Samstag geweckt. Wir waren aufgebrochen, ohne dass ich auch nur eine Ahnung gehabt hatte, wohin es überhaupt gehen sollte. Wenn ich mich genau zurückerinnerte, dann fiel mir ein, wie furchtbar nervös mein Vater an diesem Morgen gewesen war. Viel nervöser als gewöhnlich, wobei er auch sonst nicht unbedingt der ruhige Typ war.
Die Nacht davor war er erst spät nach Hause gekommen. Die Haustür war ungefähr gegen vier Uhr ins Schloss gefallen und nur drei Stunden später wurde ich bereits erneut aus meinen Träumen gerissen. Dad hatte nicht viel gesprochen, und ich hatte auch nicht viel gefragt. Wahrscheinlich hatte er den Ausflug schon seit Tagen geplant gehabt und einfach nur vergessen, mich einzuweihen. So war mein Dad eben. Es war generell auch nicht das erste Mal gewesen, dass wir mehr oder weniger spontan zusammen aufbrachen und mit dem Auto irgendwohin fuhren.
Doch dann hatte uns dieser andere Wagen touchiert. An mehr erinnerte ich mich eigentlich gar nicht mehr. Nur, dass ich erst sehr viel später in einem Krankenhaus wieder zu mir gekommen war, angeschlossen an Maschinen, die allesamt piepten und rauschten und mir eine riesige Angst machten.
Allerdings nicht so viel Angst, wie die Wesen, die dabei immerzu um mein Bett herumschlichen und mich mit seltsam großen Augen musterten. Sie glitten umher, genau wie die Schatten, die mir mittlerweile so vertraut waren. Doch das Merkwürdige war, ich sah keine Schatten mehr. Stattdessen sah ich sie.
Das war auch der Augenblick gewesen, in dem ich Tilias Gegenwart zum ersten Mal zur Kenntnis genommen hatte. Sie saß an meinem Bett, ihr hübsches Haar kunstvoll zu einem Knoten auf dem Kopf zusammengesteckt, und musterte mich mitfühlend mit großen, bernsteinfarbenen Augen.
Ich kannte sie. Irgendwoher kannte ich sie, doch meine Erinnerungen waren schwammig, und ich glitt immer wieder in einen unruhigen Schlaf zurück.
Es dauerte fast drei Wochen, bis mich das Krankenhaus endlich entließ. Meine Knochen waren - mehr oder weniger - geheilt, doch auch Tilia war noch immer an meiner Seite. Allerdings hatte ich bis zu diesem Zeitpunkt noch kein einziges Wort mit ihr gewechselt gehabt. Schnell war mir nämlich aufgefallen, dass ich scheinbar die Einzige war, die sie überhaupt sehen konnte, und so ignorierte ich sie erst einmal gekonnt. Schließlich wollte ich unter keinen Umständen riskieren, dass man mich am Ende noch auf die psychiatrische Station verlegte. Wirklich, von Seelenklempnern hatte ich ein für alle Mal die Nase voll. Ich wusste, dass die Absichten meines Vaters immer gut gewesen waren, als er mich bereits im zarten Alter von gerade einmal fünf Jahren zu jedem einzelnen Psychiater in unserer Umgebung schleppte. Doch im Grunde genommen wusste keiner von ihnen, weswegen ich ‚Schatten‘ sah und so entschied ich mich schon sehr früh dafür, diese einfach nicht mehr zu erwähnen. Mit Erfolg. Irgendwann ließ Dad auch dieses Kapitel endlich hinter uns und betrachtete die Schatten nur noch als Phase, seiner kleinen, fantasiebegabten Tochter, die mit ihren unsichtbaren Freunden spielte.
Und genau aus diesem Grund beschloss ich auch diesmal wieder, Tilia erst einmal auszublenden. Sie und auch all die anderen Wesen um mich herum.
Doch natürlich gelang mir das nicht.
Das lag jedoch vor allem daran, dass Tilia nicht die einzige Veränderung in meinem Leben war. Obwohl ich das Krankenhaus längst hatte verlassen dürfen, schlug ich mich noch immer mit einem Gipsbein herum, so dass es mir nahezu unmöglich war, das Haus für einen längeren Zeitraum zu verlassen. Für ein sportliches Mädchen wie mich bedeutete das: Kein Wellenreiten, kein Volleyball am Strand, keine anderweitigen Aktivitäten, die mich ansonsten immer alles um mich herum hatten vergessen lassen.
Ich war, mehr oder weniger, allein mit mir, wenn man einmal von den Besuchen meiner Freunde absah, die sich jedoch alle nach und nach in den Sommerurlaub verabschiedeten.
Doch auch darüber war ich letztendlich irgendwann froh gewesen. Denn während all dieser Besuche bemerkte ich, dass sich auch tief in meinem Innern irgendetwas verändert haben musste. Zu Anfang nahm ich es kaum wahr, doch je öfter ich mit anderen Menschen zusammen war, desto weniger konnte ich es ignorieren: Ich spürte, was sie fühlten.
Klang das verrückt?
Oh ja!
Ich fühlte tatsächlich, was in meinen Freunden vorging, ohne dass sie auch nur darüber sprachen. Meist nur schwach, wie ein Art Summen, eine Vibration, doch wenn ich sie berührte - es war einfach unbeschreiblich, was das mit mir machte. Ich spürte Carlys Freude über den Hawaiitrip mit ihren Eltern und nahm sogar wahr, dass Sonya Streit mit ihrem Freund hatte, obwohl sie diesen erst Tage später erwähnte. Und ich fühlte ganz deutlich, dass mein Vater wegen irgendeiner Sache furchtbar besorgt war.
All diese Emotionen nahm ich plötzlich in mich auf, und zwar so intensiv, als wären sie schon immer ein Teil von mir gewesen. Nur, dass ich so etwas selbst noch nie zuvor gespürt hatte. Es war verwirrend und aufregend zugleich. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich nicht gewusst, wie schmerzhaft Liebeskummer sein konnte und auch Carlys Begeisterung über ihre bevorstehende Reise war so viel intensiver, als ich dieses Gefühl bis dato jemals selbst hatte erleben dürfen.
Woran das lag?
Ich hatte absolut keine Ahnung.
Ich war mit der Überzeugung aufgewachsen, kein sonderlich empathischer Mensch zu sein. Das war nicht schön, aber ich konnte es nun einmal nicht ändern. Ich hatte Dutzende Bücher über die verschiedensten Emotionen gelesen und mich mit Mimik und Körpersprache auseinandergesetzt, doch geholfen hatte mir meine umfassende Lektüre bislang eigentlich kaum. Auch wenn ich mir ernsthaft große Mühe gab, hin und wieder kam es leider doch vor, dass ich unabsichtlich jemanden mit meiner Art verletzte: meist durch eine unbedachte Aussage oder einem unangemessenen Verhalten. Nur mein offenkundig angeborener Charme hatte mich bislang vor tiefgreifenderen Folgen schützen können. Ich war süß, das wusste ich, und die Leute verziehen mir schnell. Im Prinzip viel zu schnell. Vermutlich hätte es mir einmal gut zu Gesicht gestanden, für meine trampelige Art auch die Konsequenzen tragen zu müssen.
Nun war es aber auch nicht so, dass ich gar nichts fühlte. Ich wusste sehr wohl, was Wut und Ärger waren. Ich konnte mich auch über Dinge freuen. Ich liebte meinen Vater, das stand außer Frage, und ich war gerne mit meinen Freunden zusammen. Es waren vielmehr die Intensität, aber auch die vielen kleinen, zwischenmenschlichen Nuancen, die sich bislang unter einem dichten Schleier vor mir verborgen hatten.
Doch auch das hatte sich nun verändert. Ich begriff nur nicht, was genau die Ursache dafür war. Welcher Mensch war schon in der Lage, die Empfindungen anderer Leute zu fühlen?
Um der Sache endlich auf den Grund zu gehen, beschloss ich schließlich, Kontakt mit Tilia aufzunehmen. Es war schon spät gewesen und Dad nicht Zuhause, ein guter Zeitpunkt also, um auszutesten, ob mit mir tatsächlich etwas nicht stimmte.
„Hey.“ Ich saß auf dem Sofa im Wohnzimmer, hatte mein eingegipstes Bein ausgestreckt und meine Krücken achtlos auf den Boden gelegt. Im Fernsehen lief irgendeine langweilige Quizshow, und ich blätterte in einem Buch über Mathematik, ohne auch nur ein einziges Wort darin zu lesen.
„Ich bin Mavi, wie heißt du?“ Scheinbar gleichgültig blickte ich zu der jungen Frau hinüber, die wie immer seltsam durchsichtig schimmerte.
An Tilias Gesicht war deutlich abzulesen, dass sie sich nicht sicher war, ob ich wirklich mit ihr sprach. Sie hockte auf einem unserer Stühle, den Blick auf den Fernseher gerichtet, und trug an diesem Tag ein wunderschönes gelbes Kleid, welches die Farbe ihrer Augen eindrucksvoll zur Geltung brachte. Ich hatte sie in den vergangenen Tagen hin und wieder beobachtet und dabei herausgefunden, dass sie scheinbar großen Wert auf ihr Äußeres legte. Ihre Kleider leuchteten für gewöhnlich in den buntesten Farben und ihre blonden Locken waren immerzu ordentlich frisiert. Unwillkürlich fragte ich mich, wann genau sie sich eigentlich umzog und ob sie vielleicht sogar irgendwo wohnte.
Ihre bernsteinfarbenen Augen fanden meinen Blick und als ihr bewusst wurde, dass ich ernsthaft sie meinte, straffte sie augenblicklich die schmalen Schultern.
„Tilia, ich bin Tilia.“ Ihre Stimme klang gleichzeitig glockenhell und irgendwie sanft. „Du kannst mich sehen?“
Ihre Frage verwunderte mich, doch das ließ ich mir natürlich nicht anmerken. Stattdessen nickte ich nur, während sie sich auch schon erhob und mich dabei interessiert musterte.
„Ich kann dich seit dem Krankenhaus sehen.“
„Macht dir das Angst?“
Ich zögerte, schüttelte dann jedoch den Kopf. Nein, sie machte mir keine Angst, auch wenn ich mich schon ein wenig davor gruselte, was das wohl über mich und meine geistige Verfassung auszusagen vermochte. Alle möglichen psychologischen Diagnosen schossen mir durch den Kopf, doch ich zwang mich, weiterhin Ruhe zu bewahren.
„Das ist gut.“ Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.
„Was machst du hier?“, fragte ich und wies dabei mit den Händen in unser Wohnzimmer hinein, in welchem sich bis unter die Decke haufenweise Bücher stapelten. Mein Dad hatte nach seinem High School-Abschluss zunächst Archäologie studiert, das Studium jedoch abgebrochen, als er während eines Praktikums in Europa meine Mutter kennenlernte. Die beiden heirateten und zogen dann viel umher. Ich wusste nicht genau, in wie vielen Ländern sie tatsächlich zusammen gelebt hatten, doch es mussten schon eine ganze Menge gewesen sein. In dieser Zeit nahm er ständig neue Jobs an, doch seit etwas mehr als elf Jahren arbeitete er nun bei einem ortsansässigen Unternehmen hier in San Diego. Sein Interesse an alter Geschichte jedoch war geblieben, und ich drängte ihn regelmäßig dazu, am College Abendkurse zu belegen, weil ich wusste, wie sehr ihm das noch immer gefallen würde.
„Ich hatte gehofft, dass du irgendwann einmal mit mir redest.“ Tilias Stimme riss mich aus meinen Gedanken.
„Wieso?“
„Weil ich dich gerne besser kennenlernen würde.“
Das war irgendwie seltsam, doch es ergab durchaus Sinn. Schließlich war sie seit dem Krankenhaus ständig in meiner Nähe.
„Und die anderen können dich nicht sehen?“
Sie schüttelte den Kopf. „Nein, ich habe in letzter Zeit jedenfalls niemanden getroffen, der es konnte. Die meisten nehmen mich eigentlich gar nicht wahr oder sehen mich höchstens einmal als Schmetterling, wenn überhaupt.“
„Und warum kann ich es dann?“ Mein Interesse war nun gänzlich erwacht. Selbst, wenn es sich hierbei um ein Hirngespinst handelte, so war das, was Tilia erzählte, doch ziemlich faszinierend.
„Weil du eine von ihnen bist“, sagte sie da auch schon geheimnisvoll.
Verwundert starrte ich sie an. „Wie meinst du das?“
Scheinbar gleichgültig zuckte sie mit den Achseln und nahm dann nach einigem Zögern neben mir auf dem Sofa Platz. „Du hast all die Jahre nie mit mir geredet, ich dachte, das würde sich auch nicht mehr ändern.“
„Du bist doch erst seit ein paar Wochen da“, erwiderte ich verwirrt. Mein eigentliches Interesse galt allerdings der Frage, was 'eine von ihnen' wohl zu bedeuten hatte.
„Nein, ich bin schon seit ziemlich langer Zeit bei dir. Hast du mich vor deinem Krankenhausaufenthalt denn wirklich nie gesehen?“
Angestrengt überlegte ich, dann sagte ich: „Ich glaube nicht, da waren nur Schatten.“
Tilia nickte wissend. „Dann kannst du uns jetzt einfach nur besser erkennen. Scheinbar hat dich vorher irgendetwas blockiert.“
„Aber was?“
Wieder ein Schulterzucken.
Das Gespräch begann mich zu ermüden. „Warum beobachtest du mich die ganze Zeit über? Das ist irgendwie ... lästig.“
„Ich ... ich hatte gehofft ...“ Zerknirscht registrierte ich den erschrockenen Ausdruck auf ihrem Gesicht und fügte sogleich beschwichtigend hinzu: „So habe ich das nicht gemeint, es ist nur ...“
Überrascht brach ich mitten im Satz ab und fuhr herum, als ich auch schon ein leichtes Keuchen vernahm. Viel zu spät entdeckte ich meinen Vater, der in der geöffneten Wohnzimmertür stand und mich mit offenem Mund anstarrte. Mist, durch den Fernseher hatte ich die Haustür gar nicht gehört. Er war kalkweiß im Gesicht, während er mich gleichzeitig fast auf eine beängstigende Weise musterte. Ich hatte keine Ahnung, wie lange er mein Gespräch mit Tilia bereits belauscht hatte, doch eins wusste ich mit Bestimmtheit: Er konnte sie nicht sehen – und aller Wahrscheinlichkeit nach auch nicht hören.
Und so kam es, dass ich an diesem Abend zum ersten Mal von der Freeland Academy erfuhr.
Wir durchfuhren ein großes, schmiedeeisernes Tor, welches rechts und links von dichten Bäumen gesäumt wurde. Es sah alt aus, fast ein wenig heruntergekommen, und auch die spitz zulaufenden Pfählen des eisernen Zauns machten auf mich keinen besonders einladenden Eindruck. Das Signal, welches sie aussendeten, war ganz gewiss kein freundliches. Vielmehr schienen der Zaun und das Tor unerwünschte Besucher entschieden fernhalten zu wollen.
Wir passierten ein kleines Pförtnerhäuschen, in dem ein Mann in Uniform hockte, der unserem Fahrer kurz zunickte, als sich das Tor auch schon wieder hinter uns schloss.
Das war sie also: die Freeland Academy. Laut einer kurzen Internetrecherche am Flughafen in Seattle jedoch nicht unbedingt für seine Problemschüler bekannt. Nach den Beschreibungen, die ich gefunden hatte, schien es sich bei der Schule eher um eine Art Eliteinternat zu handeln, was mich fast noch mehr verwunderte. Mein Dad und ich waren nicht arm, aber reich waren wir ganz bestimmt auch nicht. Ein solches Internat konnten wir uns definitiv nicht leisten. Zudem hatte mein Vater explizit darauf hingewiesen, dass man hier auf Teenager ‚wie mich‘, also Schülern mit gewissen Schwierigkeiten, spezialisiert sein würde. Was auch immer das zu bedeuten hatte.
Immer wieder stellte ich mir die Frage, woher mein Vater diese Schule überhaupt kannte. Doch seit er die Freeland Academy vor zwei Tagen zum ersten Mal erwähnt hatte, hatte er mir auf all meine Fragen kaum auch nur eine einzige richtige Antwort gegeben. Vielmehr machte er den Eindruck, als wäre er selbst mit der ganzen Situation komplett überfordert. Ich würde also ohne seine Hilfe herausfinden müssen, um was für eine Schule es sich hierbei handelte.
Durch die dichten Kronen der Bäume hindurch erspähte ich in einiger Entfernung die spitzen Dächer mehrerer Türmen, und all meine Vorurteile gegenüber Internatsschulen irgendwo im Nirgendwo schienen sich mit einem Mal auf fast beängstigendes Weise zu bewahrheiten. Die Freeland Academy sah aus wie eine Festung, wie ich sie am ehesten in England vermutet hätte. Vier große Türme ragten hinauf in einen wolkenlosen Himmel und eine dicke Mauer aus alten Steinen bildete eine unnachgiebig wirkende Außenfassade. Alles mutete massiv und irgendwie archaisch an, und nicht einmal der kunstvoll angelegte Garten mit den angrenzenden Wäldern, die das gesamte Areal zu umschließen schienen, konnte daran sonderlich viel ändern.
Wie gebannt starrte ich durch die getönte Fensterscheibe und warf dann einen kurzen Blick zu Tilia hinüber, die mir sogleich ein zaghaftes Lächeln schenkte. Wir hatten seit dem besagten Abend kaum Zeit gehabt, noch einmal miteinander zu reden. Alles, was ich mittlerweile über sie wusste, war, dass sie eine Nymphe war. Eine Waldnymphe, um genau zu sein. Woher sie stammte und was sie von mir wollte, verstand ich noch immer nicht. Aber sie war wie selbstverständlich mit uns gekommen und irgendwie war ihre Gegenwart sogar fast ein wenig tröstlich.
Tilia war also ein Naturgeist, so wie auch all die anderen schattenartigen Wesen, die ich nun von Tag zu Tag immer deutlicher wahrnehmen konnte - was nicht nur unter der Dusche ziemlich unangenehm war. Die Mehrzahl von ihnen ignorierten mich zwar die meiste Zeit über gekonnt, doch sobald ich ihnen auch nur ein wenig meiner Aufmerksamkeit schenkte, stoben sie auch schon erschrocken davon. Naturgeister schienen also absolut kein Problem damit zu haben, uns zu beobachten, andersherum legte sie aber offenbar viel Wert auf ihre Privatsphäre.
Die Tatsache jedoch, dass Tilia eine Nymphe war, gab mir dennoch etwas Hoffnung. Zum einen war ich mir nun sicher, dass ich nicht verrückt war, denn über Nymphen waren schon ganze Abhandlungen verfasst worden, und zum anderen hatte ich mich mit solch märchenhaften Wesen nie auch nur im Ansatz zuvor beschäftigt gehabt. Sie konnte also nicht einfach so meiner eigenen Vorstellungskraft entsprungen sein. Das zumindest schien mir logisch und Logik war praktisch mein zweiter Vorname. Denn, wenn einem die Existenz oder Schein-Existenz eines Wesens fremd war, dann konnte man es doch auch nicht einfach so herbeifantasieren, oder?
„Wir sind da.“ Beinahe übereifrig öffnete mein Vater die Tür des Vans und sprang sogleich hinaus auf eine mit Schotter übersäte Einfahrt. Noch eher er jedoch um den Wagen herumgelaufen war, um mir beim Aussteigen behilflich sein zu können, war ich auch schon selbst hinausgeklettert und klemmte mir nun meine beiden Krücken unter die Arme. Wie sehr ich es hasste, dass ich sie noch immer brauchte. In frühestens zwei Wochen würde man mir den Gips abnehmen können, doch anstatt noch so lange mit unserer Abreise zu warten, hatte Dad regelrecht darauf beharrt, unverzüglich nach Idaho aufzubrechen.
Ein Mann in dunklem Rollkragenpullover und schwarzen Jeans kam durch das Eingangsportal die Treppe hinuntergelaufen. Er hielt einen Gehstock in der rechten Hand und steuerte nun direkt auf uns zu. Verwundert beobachtete ich, wie er zur Begrüßung einen Arm um meinen Vater legte. Sein dichtes, fast weißes Haar leuchtete hell in der Sonne und seine dunklen Augen musterten mich interessiert.
Ich hatte ihn noch nie zuvor gesehen.
„Paul, schön, dass ihr es geschafft habt.“
„Henry, ich danke dir, dass du es einrichten konntest.“ Mein Vater schenkte ihm ein aufrichtiges Lächeln und wies dabei auffällig unauffällig mit dem Kopf in meine Richtung.
Unentschlossen stand ich da, als der Mann namens Henry auch schon auf mich zu trat, und mir mit festem Druck die Hand schüttelte. Unterschwellig nahm ich ein schwaches Gefühl von Neugier und Furcht wahr, welches durch den Händedruck noch verstärkt wurde.
„Das ist Mavi“, sagte mein Vater, während ich mich zu einem Lächeln zwang, welches sicher eher einem Zähnefletschen als einem aufrichtigen Grinsen glich.
„Henry Kaufman, freut mich, dich kennenzulernen, Mavi. Kommt, wir gehen in mein Büro. James wird sich um dein Gepäck kümmern.“
Widerstrebend humpelte ich hinter ihm und meinem Vater her und sah mich dabei immer wieder verstohlen nach allen Seiten um. Ich war nach wie vor davon überzeugt, dass Dads Reaktion auf mein ‚Gespräch‘ mit 'dem Schmetterling', wie er ‚den Vorfall‘ gerne nannte, vollkommen überzogen war. Natürlich hatte ich versucht zu erklären, wie es überhaupt dazu gekommen war, doch damit hatte ich eigentlich alles nur noch schlimmer gemacht. Denn eventuell waren mir dabei auch Begrifflichkeiten wie ‚die Schatten‘ und ‚menschenähnliche Wesen mit Flügeln‘ herausgerutscht, woraufhin er umgehend unsere Flüge nach Seattle gebucht hatte.
All mein Betteln und Flehen hatte ihn letztlich nicht erweichen können, und so hatte ich mich schließlich widerwillig meinem Schicksal gefügt. Was hatte ich auch für eine Wahl? Letzten Endes war ich noch immer nicht volljährig und ich wusste ja auch, dass mein Dad mich nicht ärgern wollte. Er hatte nur Angst, das spürte ich ganz deutlich. Ich hatte allerdings nach wie vor keine Ahnung, warum das eigentlich so war.
Fürchtete er sich davor, dass ich ebenso durchdrehen könnte, wie meine Mutter? Ich erinnerte mich nur bruchstückhaft an sie: Sie hatte rotbraunes Haar gehabt, genau wie ich, aber ihr Gesicht? Dad schien nicht einmal mehr ein einziges Foto von ihr zu besitzen, geschweige denn irgendwelche anderen Informationen. Alles, was ich über sie wusste, war, dass sie einst viel gemeinsam herumgereist waren, bevor sie vor mehr als vierzehn Jahren beschlossen hatte, uns von einem Tag auf den anderen einfach sitzen zu lassen.
Henrys Büro war im ersten Stock des Instituts untergebracht, und es fiel mir trotz meiner Sportlichkeit schwer, mit meinem Gipsbein die hohen, steinernen Stufen zu erklimmen, die es hier überall zu geben schien. Das Gebäude war so alt, dass es weder einen Aufzug noch eine Rampe besaß, die mir das Vorwärtskommen erheblich vereinfacht hätten. Mit einem beklemmenden Gefühl ließ ich meinen Blick über die zahlreichen Säulen und kunstvoll gestalteten Wände und Decken schweifen, die sich eindrucksvoll durch das ganze Haus zu ziehen schienen. Architektonisch hätte ich das Gebäude auf das frühe Mittelalter geschätzt, doch ich wusste, dass es eher aus dem neunzehnten Jahrhundert stammen musste. Sicherlich würde Dad Genaueres darüber wissen, doch eigentlich spielte das überhaupt keine Rolle. Es war nur so, dass mich solche Dinge einfach interessierten. Ich konnte meinen Wissensdurst nur sehr selten einmal unterdrücken, ganz gleich, in welch‘ unangenehmer Situation ich mich auch gerade befand.
Nach einer halben Ewigkeit erreichten wir endlich das Büro, in dessen Vorzimmer eine ältere Dame saß, die uns freundlich zunickte. ‚Wilma Dolbry‘ stand auf dem kleinen Schild auf ihrem Schreibtisch, und mir war sofort klar, dass sie Henrys Assistentin sein musste. Ihr graues Haar hatte sie akkurat am Hinterkopf zusammengesteckt, und sie trug einen langen Rock und eine Bluse, in der sie bei diesen Temperaturen ziemlich stark schwitzen musste. Ich selbst hatte mich bereits in Kalifornien noch für einfache Shorts entschieden, nicht nur, weil es heiß gewesen war, sondern auch, weil mir als Alternative schlicht und ergreifend nur eine ausgeleierte Jogginghose geblieben wäre, die einzige lange Hose, die ich überhaupt über mein Gipsbein gezogen bekam. In der Hektik der vergangenen Stunden hatte ich ohnehin nur das Nötigste eingepackt, und ich war mir nicht sicher, ob meine aktuelle Kleidung überhaupt den Regeln eines Eliteinternats standhalten würde. Doch eigentlich war das auch egal. Ich wollte nämlich gar nicht hierbleiben.
Widerwillig humpelte ich in das Büro hinein und nahm dort schließlich in einem der ausladenden Ledersessel Platz, die vor einem ordentlich aufgeräumten Schreibtisch herumstanden und dem Raum einen nahezu mondänen Touch verliehen. Henry Kaufman schien Geschmack zu haben, und wie ich deutlich an dem Schild neben der Tür erkennen konnte, war er wohl auch der Leiter dieser ganzen noblen Einrichtung. Nicht zum ersten Mal fragte ich mich, woher Dad jemanden wie ihn überhaupt kannte.
Die beiden sprachen gedämpft miteinander, und ich gab es schnell auf, etwas von ihrer Unterhaltung verstehen zu wollen. Wenn Dad wollte, konnte er verdammt leise sein. Ich hielt es trotzdem für ziemlich unhöflich, schließlich war ich kein kleines Kind mehr, und immerhin ging es hier um meine Zukunft. Doch statt mich darüber zu ärgern, ließ ich den Blick gedankenverloren durch die bodentiefen Fenster schweifen, durch welche man hervorragend hinaus in den gepflegten Garten sehen konnte. In der Ferne erkannte ich deutlich zwei Personen, die auf seltsame Weise miteinander zu ringen schienen. Interessiert setzte ich mich auf und beobachtete nun, wie einer der beiden dem anderen kräftig gegen das Schienbein trat.
Verwundert legte ich die Stirn in Falten. Wieso nur taten sie das? Gab es hier kein Aufsichtspersonal, welches die Schüler im Auge behielt? An meiner alten High School wurden Prügeleien in der Regel umgehend vom Lehrpersonal gestoppt, noch bevor irgendetwas schlimmeres überhaupt passieren konnte. Doch je mehr ich so darüber nachdachte, desto stärker wurde mir bewusst, dass das gesamte Anwesen doch reichlich verlassen wirkte. Das ergab ja auch irgendwie Sinn. Es waren schließlich Ferien. Und genau das war auch ein weiterer Grund dafür gewesen, weshalb ich noch immer nicht verstand, weswegen ich nun eigentlich hier war.
Ich erhob mich und machte ein paar zögerliche Schritte auf das Fenster zu, während mein Dad und Henry Kaufman noch immer in ihr Gespräch vertieft waren. Im Augenwinkel bemerkte ich Tilia, doch ich schenkte ihr keinerlei Beachtung. Mir war allerdings aufgefallen, dass sie, je nach Belieben, ihre Größe ändern konnte. Manchmal schien sie mir fast genauso groß wie ich zu sein, doch die meiste Zeit über schwebte sie eher in der Statur einer kleinen Amsel um mich herum. Jedes Mal jedoch, wenn ich sie bewusst wahrnahm, wirkte sie dabei irgendwie transparent und ich fragte mich, was wohl passierte, wenn ich versuchte, sie zu berühren? Würde ich womöglich direkt durch sie hindurchgreifen können? Noch ein Punkt auf meiner langen Liste an unbeantworteten Fragen, denen ich irgendwann einmal auf den Grund gehen wollte.
Im Augenblick war meine Aufmerksamkeit jedoch noch immer auf den Garten gerichtet. Gebannt starrte ich hinaus auf das satte Grün. Mittlerweile konnte ich die beiden Jungen, es waren definitiv Jungen, auch um einiges besser erkennen. Sie schienen sich wegen irgendetwas zu streiten und immer wieder verpassten sie sich dabei gegenseitig heftige Stöße und Tritte, die in meinen Augen alles andere als spielerisch wirkten. Überrascht registrierte ich, wie einer der beiden plötzlich Anlauf nahm und so unerwartet auf den anderen zu sprang, dass dieser augenblicklich zu Boden ging. Schockiert presste ich mir eine Hand auf den Mund, doch gerade, als ich Henry Kaufman auf die Szene aufmerksam machen wollte, tauchte unvermittelt noch eine weitere Person auf dem Rasen auf. Sie war so plötzlich da, dass ich gar nicht sagen konnte, woher genau sie eigentlich gekommen war. Der Mann, er war ziemlich sicher kein Schüler mehr, hatte dunkelblondes, leicht gelocktes Haar mit hellen Strähnen, welches er lässig am Hinterkopf zusammengebunden trug. Ein deutlicher Bartschatten zog sich über seine Wangen und das Kinn, der im Schein der Sonne rötlich leuchtete. Der Look stand ihm, das musste ich zugeben, aber für mich sah er eindeutig eine Nummer zu perfekt aus. Er trug ein weißes T-Shirt und verwaschene Jeans, was sein gesamtes Erscheinungsbild irgendwie unangestrengt wirken ließ. Zielstrebig lief er auf die beiden Jungen zu, die inzwischen ineinander verkeilt durch das Gras rollten.
Fasziniert sah ich zu, wie er nun jeweils nach einem Arm griff und beide Streitenden mit einer einzigen, schnellen Bewegung voneinander trennte.
„Alexander Connolly.“
Erschrocken fuhr ich herum und stellte fest, dass Henry Kaufman und mein Vater unbemerkt zu mir ans Fenster getreten waren und den Tumult im Garten mittlerweile ebenfalls beobachteten.
„Einer unserer Besten. Vielleicht sogar der beste Lehrer, den wir zurzeit haben. Durchsetzungsstark, pflichtbewusst. Ich kenne niemanden, der nicht mit ihm zurechtkommt. Aber er lässt sich auch nicht gerne in die Karten schauen. Ich schätze ihn sehr.“
„Er scheint noch ziemlich jung zu sein“, hörte ich meinen Vater sagen, während ich Alexander Connolly weiterhin dabei zusah, wie er die beiden Jungen mit festem Griff zurück ins Haus delegierte, bis sie schließlich vollständig wieder aus unserem Blickfeld verschwunden waren.
„Zweiundzwanzig, nicht zu jung, aber auch nicht zu alt. Er unterrichtet unter anderem Sport. Ich habe gehört, du bist sehr sportlich, Mavi?“
„Im Moment nicht.“ Widerwillig hielt ich meine Krücken in die Höhe und ließ mich dann wieder zurück in den Sessel fallen.
„Ach, das wird wieder, glaube mir. Wenn du den Gips erst einmal los bist, dann wird Mr Connolly dich schnell wieder fit machen. Ich denke, er wird sich sehr gut als dein Tutor machen.“
„Mein Tutor?“
„Ja, einige unserer Schüler bekommen spezielle Tutoren an ihre Seite gestellt. Er wird dir helfen, dich an der Schule zurechtzufinden. Glaube mir, Mr Connolly weiß genau, wie er dich hier an der Freeland Academy optimal unterstützen kann.“
„Dann muss ich also wirklich hierbleiben?“ Ich warf ich meinem Dad einen beschwörend Blick zu.
„Es ist das Beste, Mavi.“
„Glaub mir, Mavi, hier bist du sehr gut aufgehoben. Langeweile kennen wir an der Freeland gar nicht.“
„Das kann ich mir gut vorstellen“, murmelte ich entmutigt, während Henry auch schon begann, über die Wichtigkeit von sportlichen Betätigungen an seiner Schule zu palavern. Ehrlich gesagt, irgendwann stellte ich einfach auf Durchzug, noch immer nicht wirklich bereit dazu, mich ohne Wenn und Aber meinem Schicksal zu fügen.
Ein Mädchen namens Amy brachte mich schließlich auf mein Zimmer. Zuvor hatte ich noch versucht, ein weiteres Mal mit einem Vater zu reden, doch er hatte mich eiskalt abblitzen lassen. Natürlich war mir nicht entgangen, wie schwer das alles auch für ihn war, und immer wieder fragte ich mich, was eigentlich los war, dass Dad mich gleich in ein Internat ans Ende der Welt verbannte.
Ich verstand es einfach nicht! Mein Gespräch mit Tilia konnte schließlich nicht der Auslöser dafür gewesen sein. Himmel, ich kannte Leute, die mit Pflanzen sprachen und deswegen nicht gleich weggesperrt wurden. Da konnte ich mich doch auch mal mit einem ‚Schmetterling‘ unterhalten! Aber mir war klar, dass das nur das Tüpfelchen auf dem I gewesen sein musste. Dads Unruhe und Sorgen hatten bereits viel früher begonnen, nur machte es mich wütend, dass er partout nicht mit der Sprache herausrücken wollte.
Obendrein war ich, zu meinem Leidwesen, nun auch noch im zweiten Stock des riesigen Haupthauses untergebracht worden. Und so brauchte ich fast eine halbe Ewigkeit, bis ich endlich dort oben ankam. Amy wusste die Zeit allerdings hervorragend zu nutzen und versorgte mich mit all jenen Informationen, die ich nur allzu gerne bereits von Henry Kaufman erfahren hätte. Ihre Aura war freundlich, und es war bloß ganz normale Neugier, mit der sie mir begegnete, das spürte ich, auch ohne sie überhaupt berühren zu müssen.
„Wir sind nur 280 Schüler an der Freeland Academy. Die meisten haben, ehrlich gesagt, nur reiche Eltern, die keine Lust haben, sich selber um ihren Nachwuchs zu kümmern. Es gibt aber auch ein paar, sagen wir, spezielle Schüler. Aber wo gibt es die nicht?“ Sie lachte kurz auf und strich sich dabei gedankenverloren über die dunkelblaue Schuluniform. Eine Schuluniform! Nie zuvor hatte ich bislang so etwas tragen müssen. Wobei der Gedanke, sich morgens nicht mehr den Kopf über ein Outfit zerbrechen zu müssen, gar nicht so schlecht war.
„Wieso habt ihr keine Ferien?“, fragte ich und begann auch schon, mich die nächste Stufe hinauf zu quälen. Ich sah mich kurz nach Tilia um, doch dummerweise konnte ich sie dieses Mal nirgends entdecken. Wo steckte sie nur? Kundschaftete sie vielleicht die Umgebung aus? Für eine Waldnymphe wie sie es war, musste Idaho das reinste Paradies sein. Oder würde sie am Ende vielleicht sogar mit meinem Dad nach Kalifornien zurückkehren? So sehr mich auch der Gedanke, ständig von irgendwelchen Wesen umgeben zu sein, beunruhigte, so sehr wünschte ich mir ganz plötzlich, dass zumindest Tilia mich hier nicht allein ließ.
„Oh, wir haben Ferien“, holte Amy mich da auch schon in die Gegenwart zurück. „Ein paar von uns zumindest. Die anderen, deren Eltern keine Zeit für sie haben, sind zum Sommerunterricht geblieben. Er ermöglicht uns, uns besser aufs College vorzubereiten. Der Unterricht ist eher locker, und wir haben nicht so viele Stunden wie sonst. Es ist eigentlich ganz okay.“
„Und zu welcher Kategorie gehörst du?“
„Was meinst du?“ Irritiert sah sie mich an.
„Wollen deine Eltern dich in diesem Sommer nicht bei sich haben oder willst du dich aufs College vorbereiten?“ Mir war bewusst, dass die Frage wenig charmant formuliert war, doch zum Glück schien Amy das nichts auszumachen.
„Beides.“ Sie schenkte mir ein Lächeln. Zu meiner Erleichterung erreichten wir fast im selben Moment auch schon den zweiten Stock. Auch hier waren die Wände weiß gestrichen und ein alter Steinfußboden zierte die ansonsten schmucklosen Flure. Ich spähte durch eines der riesigen Fenster hinunter in den verlassenen Garten.
Amy räusperte sich und zog damit meine Aufmerksamkeit wieder auf sich. Abermals huschte ein Lächeln über ihre Lippen. Ich bemerkte, dass auch ihr Gesicht mit winzigen Sommersprossen übersät war. Ihre Haut besaß einen wunderschönen sanften Braunton und ihr kinnlanges, dunkles Haar mit dem dichten Pony war von pinkfarbenen Strähnen durchzogen. In ihrer Nase steckte ein kleines Septum, was ich mir ebenfalls bislang noch gar nicht aufgefallen war. Sie war hübsch und schien noch dazu wirklich nett zu sein. Und sie war definitiv nicht auf den Mund gefallen.
„Das also ist die Erklärung, warum ich hier bin, Mavi Andrews. Die Frage ist nur, warum bist du es?“
Ich hatte mich an eine Wand gelehnt, um zu verschnaufen, und hob nun überrascht den Blick. „Was meinst du?“
„Na ja, nimm es mir nicht übel, aber reich siehst du nicht aus. Die wohlhabenden Schüler tragen allesamt irgendwelche Designerklamotten, wenn sie hier ankommen, und außerdem ... hey, wir haben Ferien, wie du schon ganz richtig bemerkt hast. Nur die Problemkinder kommen während dieser Zeit hierher.“ Aufmerksam musterte sie mich, und ich musste ihr zugutehalten, dass sie dabei keinerlei biestigen Eindruck machte. Sie war schlicht und ergreifend interessiert. Kurz war ich versucht, eine Hand nach ihr auszustrecken, um sie zu berühren und ihre Gefühle besser lesen zu können, konnte mich in letzter Sekunde jedoch noch bremsen.
„Dann bin ich wohl ein Problemkind“, murmelte ich und stieß mich dabei missgelaunt von der Wand ab.
„Und was hast du gemacht? Menschen gebissen? Feuer gelegt? Jemanden verprügelt? Wobei ... nein, du siehst nicht aus wie eine von ihnen. Kannst du mit den Elementen spielen?“
„Bitte was?“
„Okay, keine Elemente.“ Amy grinste breit und machte dann ein paar Schritte in einen der weitläufigen Gänge hinein, von denen links und rechts einzelne Türen abzweigten. Die Absätze ihrer Schuhe hallten von dem steinernen Boden wieder, und ich hatte fast ein wenig Mühe, mit ihr Schritt zu halten. Dieses Gipsbein machte mich noch wahnsinnig.
„Was genau meinst du mit 'Elementen'? In Chemie bin ich ganz gut, ich ...“ Im gleichen Moment sah ich auch schon, wie sie eine schnelle Bewegung mit ihren Händen vollführte. Wie aus dem Nichts erschien eine kleine Feuerkugel in der Luft, die träge auf und ab schwebte, während Amy sie mit einem entzückten Ausdruck im Gesicht betrachtete.
„Das meine ich mit 'Elementen'. Wobei ...“ Es folgte eine weitere schnelle Bewegung und die Kugel erlosch augenblicklich wieder vor meinen Augen. „Wenn ich damit im Haus erwischt werde, könnte ich ziemlichen Ärger bekommen. Wir dürfen keine Elementarmagie in den Wohnunterkünften anwenden.“
„Elementarmagie?“ Mit großen Augen sah ich sie an, als sie nun auch schon vor einer Tür mit der Nummer 214 zum Stehen kam: meinem neuen Zimmer.
„Ja, ich bin ein Elementar. Wir sind einige hier auf der Schule. Für uns gibt es keine eigenen Internate, wie für andere Magiebegabte. Hexen und Zauberer haben eigene Schulen oder Vampire.“
„Du willst mich auf den Arm nehmen.“
„Denkst du das wirklich?“ Ohne sich zu mir umzudrehen, öffnete sie die Tür des kleinen Raumes, und mein Blick blieb sogleich an einem schmalen Bett, einem Schreibtisch und einem Schrank hängen, neben dem sich außerdem auch noch ein kleines Waschbecken befand. Es sah nicht ganz so nüchtern aus, wie ich es erwartet hatte, aber dem Raum fehlte definitiv eine persönliche Note.
„Unsere 'Problemschüler‘“, Amy malte mit den Fingern Gänsefüßchen in die Luft und machte dabei einen Schritt zur Seite, um mich eintreten zu lassen. Meine beiden Reisetaschen hatte James allem Anschein nach bereits aus dem Auto geholt. Auf dem frisch bezogenen Bett befand sich außerdem eine Auswahl an dunkelblauen Röcken und Blusen und an zwei Bügeln hingen Blazer, die das Emblem der Schule trugen. Meine Schuluniform.
„Unsere 'Problemschüler'“, wiederholte Amy, die taktvoll geschwiegen hatte, während ich dabei war, die ganzen neuen Eindrücke erst einmal zu verdauen, „sind allesamt ziemlich besonders, aber das wirst du schon noch früh genug herausfinden. Mr Kaufman, wir nennen ihn auch 'den Sammler', findet sie überall im ganzen Land und gibt ihnen ein Zuhause. Gibt uns ein Zuhause.“ Sie lächelte fast ein wenig wehmütig. „Hier hilft man uns, unsere Kräfte zu kontrollieren und uns in die Gesellschaft einzugliedern, um ein einigermaßen normales Leben führen zu können. Aber haben sie dir das denn nicht erzählt?“
Nein, das hatten sie nicht. Niemand hatte mir bislang auch nur irgendetwas erzählt. Doch statt meinem Unmut abermals Luft zu machen, schüttelte ich nur den Kopf. „Irgendwie weiß ich gar nichts. Mein Dad wollte nur einfach ganz schnell weg aus San Diego und ...“ Ich schwieg, als ich an seinen Gesichtsausdruck dachte, nachdem er mich mit Tilia überrascht hatte. „Ehrlich gesagt dachte ich, er würde mich eher in eine geschlossene Anstalt bringen.“
„Nein, die Freeland ist eigentlich ganz okay. Keine geschlossene Anstalt.“ Amy legte den Kopf schief und betrachtete mich ein weiteres Mal von oben bis unten. „Wenn ich raten müsste, würde ich darauf tippen, dass du am ehesten wie Chanelle bist.“
„Wer ist Chanelle?“
„Chanelle ist eine Amazone.“
Eine Amazone?
Ich sollte eine Amazone sein? Augenblicklich tauchte das Bild einer Kriegerin vor meinem inneren Auge auf, leicht bekleidet und schwer bewaffnet. Das war definitiv der schlechteste Witz, den ich jemals gehört hatte.
„Es gibt keine Amazonen“, gab ich freundlich zurück, während Amy mich noch immer arglos musterte. Kleine, bernsteinfarbene Punkte tanzten in der Iris ihrer Augen und unwillkürlich musste ich an den Feuerball denken, den sie nur wenige Minuten zuvor scheinbar wie aus dem Nichts herbeigezaubert hatte. Aus irgendeinem Grund mochte ich sie, obwohl wir uns überhaupt nicht kannten.
Das Gefühl von Zuneigung erfasste mich so unerwartet, dass ich unwillkürlich einen Schritt zurückwich und dabei mit den Krücken gegen die Tür stieß. Es schepperte laut, dann war es auch schon wieder still. Gleichzeitig versuchte ich, diese neue Art der Zuneigung irgendwie einzuordnen. Es war eine dieser Emotionen, die ich so von mir noch nicht kannte: Freundlichkeit, Verbundenheit, Liebe. Nicht, dass ich mich in Amy verliebt hatte, nein, aber Freundschaften waren für mich bislang eher ein Produkt rationaler Entscheidungen gewesen. Kein Ergebnis von echter Zusammengehörigkeit. Doch genau das war es, was ich nun mit einem Mal empfand. Ich mochte Amy, nicht aus einer bloßen Entscheidung heraus, sondern weil sie mir tatsächlich sympathisch war. Mein gesamtes, vernunftgeleitetes Denken schien mir langsam immer mehr zu entgleiten. Es war nun nicht mehr nur mein Kopf, der Entscheidungen für mich traf, vielmehr waren es Emotionen, die direkt aus meinem Innern stammten. All das verwirrte mich enorm, denn ich hatte ja noch immer nicht die geringste Ahnung, woher all das so plötzlich kam.
„Es gibt keine Amazonen?“ Amy klang ehrlich amüsiert. Allem Anschein nach hatte sie glücklicherweise nicht das geringste von all meinen verwirrenden Gedanken und Gefühlen mitbekommen, was mich irgendwie beruhigte. Schließlich wollte ich mir nicht gleich an meinem ersten Tag den Ruf des Superfreaks einhandeln. „Lass das nicht Chanelle hören, obwohl ...“ Ein Schatten legte sich auf ihr Gesicht, und sogleich verströmte sie ein leichtes Gefühl von Sorge.
„Was ist?“
„Chanelle ist verschwunden. Schon seit zwei Wochen. Sie hat sich eines Abends weggeschlichen, wollte wohl mal raus, was erleben, seitdem ist sie weg. Ich hoffe, es geht ihr gut.“
„Vielleicht hatte sie einfach die Nase voll von der Freeland Academy“, gab ich zu bedenken.
„Vielleicht“, Amy zuckte die Achseln. „Aber das glaube ich nicht. Sie suchen nach ihr, aber die Freeland hat nicht die gleichen Möglichkeiten wie andere übernatürliche Schulen. Wir haben hier nur wenige Wächter und die, die wir haben, passen in der Regel nur darauf auf, dass keine unbefugten Personen das Gelände betreten.“ Bekümmert sah sie mich an.
„Aber die Schule muss doch Geld haben“, wandte ich ein, doch Amy schüttelte nur bedauernd den Kopf.
„Klar, die Schule hat schon Geld, aber die übrigen Schüler wissen ja überhaupt nicht, dass es hier Teenager gibt, die – sagen wir – etwas speziell sind. Und sie dürfen das auch nicht wissen. Mr Kaufman ist also leider nicht in der Lage, sonderlich viel Geld in unseren Schutz zu investieren.“
„Wäre das denn überhaupt notwendig?“
„Einige von uns brauchen Schutz, andere weniger. Das kommt darauf an.“ Amy begann, nervös an einem kleinen Kettchen herumzuspielen, welches um ihr rechtes Handgelenk gebunden war. Zögernd fügte sie hinzu: „Amazonen sind wirklich ziemlich selten und nicht jeder ist Magiebegabten gegenüber freundlich eingestellt.“
„Und wieso glaubst du, dass ich wie diese Chanelle bin?“ Der Gedanke behagte mir noch immer nicht. Um genauer zu sein, hielt ich ihn sogar für ziemlich abwegig. Ich war klug ja, ich war sportlich, aber ich war definitiv keine Kriegerin.
„Du hast diese gewisse Ausstrahlung. Du bist außerdem ungewöhnlich hübsch, wirkst stark, unerschrocken. Wenn man mich hier abgeliefert hätte, ohne mir vorab etwas über die Hintergründe zu verraten, hätte ich vermutlich einen Nervenzusammenbruch erlitten.“ Sie zuckte erneut mit den Achseln und wies dann auf mein Gipsbein. „Das schränkt dich sicherlich ziemlich ein. Aber Mr Kaufman hat mich angewiesen, dich gleich im Anschluss hiervon auf die Krankenstation zu bringen. Sie wollen dir heute noch den Gips abnehmen.“
„Aber ich muss ihn doch noch mindestens zwei Wochen tragen“, protestierte ich schwach. Natürlich war der Gedanke, den Gips endlich loszuwerden, mehr als nur verlockend, aber ich wollte nicht, dass eine verfrühte Abnahme am Ende noch zu Komplikationen führte. Komplikationen, die mich im schlimmsten Fall dann noch länger einschränken würden.
„Amazonen heilen schnell.“ Amy zwinkerte mir zu und ein beinahe scheues Lächeln stahl sich dabei auf ihre Lippen. „Wieder ein Hinweis darauf, dass ich mit meiner Vermutung recht behalten könnte.“
***
Natürlich befand sich die Krankenstation ganz am anderen Ende des alten Gebäudes. Auf dem Weg dorthin fragte ich mich ernsthaft, ob Henry Kaufman mich auf diese Weise vielleicht testen wollte. Mich mit einem eingegipsten Bein und zwei unhandlichen Krücken einmal quer durch alle Gänge und Flure des Internats zu schicken, schien mehr als nur eine unüberlegte Handlung zu sein. Den Gips hätte man mir, mit ein bisschen gutem Willen, schließlich auch auf meinem Zimmer entfernen können.
Meine Gedanken rasten. Alles, was Amy mir bislang erzählt hatte, klang in meinen Ohren absolut unlogisch, viel zu unlogisch für mein pragmatisches Hirn. Magie gab es nicht, Fabelwesen gab es nicht und doch ... es gab Tilia. Ich konnte sie sehen, und ich war davon überzeugt, dass sie auch wirklich existierte. Außerdem hatte Amy einen Feuerzauber wirken lassen. Auch das hatte ich mir nicht eingebildet, so außergewöhnlich das auch klang.
Schweigend liefen wir nun nebeneinander her, bis wir endlich zu einer Tür kamen, auf der mit großen schwarzen Lettern das Wort 'Krankenstation' geschrieben stand.
Amy stieß sie auf, und wir betraten einen weiteren Gang, von dem aus links und rechts schmale Behandlungsnischen abgingen, die nur durch Vorhänge voneinander getrennt wurden. Beim Vorbeihumpeln erhaschte ich dabei einen kurzen Blick auf eine der dort aufgestellten Liegen, auf der, zu meinem Erstaunen, einer der beiden Jungen hockte, die ich zuvor von Henry Kaufmans Büro aus beobachtet hatte.
Unsere Blicke trafen sich, und als ich die Wildheit in seinen Augen bemerkte, zuckte ich unwillkürlich zurück.
„Wer ist das?“, fragte ich Amy flüsternd, während ich noch immer seinen bohrenden Blick in meinem Rücken spürte.
„Nicholas Monroe. Flüstern hilft bei seinen guten Ohren allerdings recht wenig.“ Sie kicherte unbeschwert, und ich warf ihr einen irritierten Blick zu. Ihre Wangen schienen mit einem Mal leicht rosafarben zu schimmern und ich fing sogleich ein paar mir unbekannte Schwingungen von ihr auf.
„Der Vollmond ist sein Feind. Er ist stark und manchmal ziemlich haarig. Na, was denkst du, was könnte er sein?“
„Du machst Witze.“
„Manchmal. Diesmal aber ganz bestimmt nicht. Ach Mavi, du tust mir echt leid. Das muss alles ziemlich neu für dich sein. Die meisten, die hier landen, haben zumindest schon eine gewisse Ahnung von der Schattenwelt. Aber du ...“ Bedauernd sah sie mich an. „Ich finde das dir gegenüber ziemlich unfair. Aber, wenn du möchtest, kann ich dir gerne behilflich sein, dich hier zurechtzufinden.“ Wieder verströmte sie ein starkes Gefühl von Aufrichtigkeit, weshalb ich mich auch zu einem zögerlichen Nicken hinreißen ließ. Allerdings hatte ich meinen Aufenthalt an der Freeland Academy noch immer nicht völlig akzeptiert. Vielleicht konnte ich meinen Dad ja doch noch davon überzeugen, mich wieder mit nach San Diego zu nehmen. Im Endeffekt klang all das, was ich in der vergangenen halben Stunde über diese Schule erfahren hatte, doch schon ziemlich sonderbar. Ich gehörte eindeutig nicht hierher und mein Dad würde das ganz sicher noch einsehen. Im Oktober stand außerdem auch schon mein achtzehnter Geburtstag an. Dann war ich endlich volljährig und konnte selber entscheiden, wo ich leben wollte. Wollte er mich wirklich zwingen, so lange hierzubleiben?
Wir blieben vor einer blau gestrichenen Tür stehen, und als Amy klopfte, sah ich mich abermals verstohlen um. Wahrscheinlich war diese Chanelle tatsächlich davongelaufen. Ich konnte es ihr jedenfalls nicht verdenken, auch wenn Amy und Henry Kaufman bislang eigentlich ganz nett gewesen waren. Aber ich wollte nun einmal nicht hierbleiben und vor allem wollte ich nicht, dass man mir einzureden versuchte, ich wäre eine Amazone oder was auch immer für ein übernatürliches Wesen. Das zumindest war einfach nur lächerlich.
Unwillkürlich musste ich an diesen Jungen denken. Nicholas Monroe. War er wirklich das, was Amy unmittelbar zuvor angedeutet hatte? Die Wildheit in seinen Augen war unverkennbar gewesen, und ich hatte ihn zusammen mit dem anderen Jungen kämpfen sehen. Aber war er deswegen gleich ein Werwolf?
„Ah, Miss Andrews und Miss Abbot, wir haben bereits auf Sie gewartet.“ Amy schob die Tür auf und sogleich dröhnte uns auch schon Henry Kaufmans tiefe Stimme entgegen. Überrascht sah ich mich um und stellte fest, dass sich in diesem Zimmer eine ganze Menge Leute versammelt hatten, von denen ich die meisten jedoch noch nicht kannte. Drei Männer und zwei Frauen standen abwartend herum, darunter auch mein Vater, der Amy und mich nun angespannt musterte.
Flüchtig blieb mein Blick an ihm hängen und sogleich empfing ich von ihm ein starkes Gefühl von Bedauern und tiefer Traurigkeit. Dad schien all das genauso wenig zu gefallen, wie mir, was mich gleich ein bisschen versöhnlicher stimmte, auch, wenn ich noch immer nicht verstand, warum wir uns dann nicht ganz einfach unser Gepäck schnappten und uns umgehend wieder aus dem Staub machten.
„Ich dachte, mir soll nur mein Gips abgenommen werden?“ Angestrengt versuchte ich, mich nicht von all den unterschiedlichen Gefühlen, die mir in diesem Moment entgegenschlugen, überwältigen zu lassen. Dadurch, dass ich mittlerweile kaum noch eine Berührung benötigte, um zu wissen, was in meinem Gegenüber vor sich ging, war ein Raum voller Menschen schon eine ziemliche Herausforderung für mich. Auch im Flugzeug nach Seattle war das Zusammensein mit so vielen Fremden eine extrem unangenehme Erfahrung gewesen, die ich eigentlich nicht so schnell hatte wiederholen wollen.
Jetzt, in diesem Augenblick, wallten mir jedoch von Neuem die unterschiedlichsten Empfindungen entgegen. Mein Vater strahlte noch immer tiefes Bedauern aus, wohingegen Henry Kaufman fast ein wenig zu aufgekratzt wirkte. Auch konnte ich nach wie vor ganz deutlich seine Neugier spüren, während die beiden Frauen, eine von ihnen trug tatsächlich einen weißen Kittel, einen leicht genervten Eindruck hinterließen. Nur der Mann, der gleich neben einer Liege lässig an der Wand lehnte, wirkte absolut neutral.
Doch wie konnte das sein?
Irritiert musterte ich ihn.
Unsere Blicke trafen sich und seine smaragdgrünen Augen fixierten mich einige Sekunden lang. Reglos und noch immer ohne auch nur einem winzigen Hauch an Emotionen.
Ich schluckte.
Ich kannte den Mann. Das musste der Lehrer sein, von dem Henry Kaufman in seinem Büro gesprochen hatte. Sein Haar trug er noch immer locker am Hinterkopf zusammengebunden und auf seinen Armen konnte ich nun deutlich zahlreiche tätowierte Symbole erkennen, die sich bis zu seinen Handgelenken zogen. Er sah aus wie ein verdammter Hipster.
Ich mochte keine Hipster.
Und doch faszinierte er mich. Er faszinierte mich, weil er für mich so absolut nicht greifbar war. Alles, was ich über ihn zu sagen vermochte, war, dass er attraktiv war. Sehr attraktiv sogar, aber ansonsten nahm ich keinerlei Schwingungen von ihm wahr.
„Mavi Andrews, das ist Alexander Connolly“, hörte ich Henry da auch schon sagen und erinnerte mich wieder daran, dass er diesen Namen heute bereits erwähnt hatte. „Das sind Vania Locklear und Dr. Calmer.“
Okay, Ärztinnen besaßen an diesem Ort scheinbar keine Vornamen. Vielleicht war der Doktortitel ja auch schon Name genug. Es war seltsam, dass mir in diesem Augenblick solch ein banaler Gedanke durch den Kopf schoss, während es hier doch gerade unmittelbar um meine Zukunft ging.
Ich nickte kurz in die Runde und bemerkte dabei, dass mich Alexander Connolly noch immer taxierte. „Dad, ich ...“, setzte ich an, doch Dr. Calmer unterbrach mich sogleich.
„Soll ich ihr nun den Gips abnehmen oder warum sind wir hier?“ Ihre schroffe Art gefiel mir gut, und ich warf ihr einen dankbaren Blick zu.
„Iris, Sie wissen, warum wir hier sind“, setzte Henry Kaufman an. Ah, die Ärztin verfügte allem Anschein nach also doch über einen Vornamen. Iris: Dr. Iris Calmer.
„Ja, um der Patientin den Gips abzunehmen“, wiederholte Dr. Calmer streng.
„Und um sie auf ... die Situation vorzubereiten.“ Henry Kaufman zögerte.
„Auf die 'Situation', dass ich hier gegen meinen Willen festgehalten werde?“, fragte ich und hörte, wie mein Vater scharf die Luft einsog. Ich ignorierte es gekonnt und warf ihm stattdessen einen flehentlichen Blick zu. „Dad, bitte, ich möchte zurück nach San Diego.“
„Das geht leider nicht.“ Ohne Vorwarnung schlug mir erneut ein Gefühl tiefer Traurigkeit entgegen. Dad wollte mich wirklich nicht hierlassen, doch irgendetwas zwang ihn ganz offensichtlich dazu. War Henry Kaufman möglicherweise der Grund dafür? Doch warum? Das alles ergab einfach keinen Sinn, es sei denn – es sei denn, mit mir stimmte wirklich etwas nicht und Dad war schlicht und ergreifend mit der ganzen Sache überfordert. Das war allerdings die denkbar schlechteste Antwort, die mir zu all dem hier einfiel.
„Hier kann man dir helfen, mein Schatz“, setzte er da auch schon an. „Diese Leute meinen es gut mit dir. Sie können dich viel besser unterstützen, als ich es je tun könnte.“
Stumm erwiderte ich seinen um Verzeihung heischenden Blick. Was hätte ich darauf auch erwidern sollen?
„Miss Abbot, Sie können jetzt gehen.“ Schwungvoll öffnete Henry Kaufman die Tür.
Amy warf mir noch einen letzten, mitleidigen Blick zu, ehe sie auch schon in den leeren Gang hinaustrat. Ich hätte sie am liebsten am Arm gepackt und sie zurückgehalten, doch stattdessen presste ich nur die Lippen fest aufeinander und atmete ein paarmal tief ein und wieder aus.
„Hat das alles irgendwie mit dem Unfall zu tun?“, fragte ich schließlich.
„Nicht direkt, wobei der Unfall auch eine Rolle spielt. Mavi, deine Mutter ...“ Es fiel meinem Vater sichtlich schwer, weiterzusprechen. „Deine Mutter hatte ein Geheimnis. Als sie damals ging ... nachdem sie uns verlassen hatte, hat sie mir einen Brief geschickt. Darin befand sich unter anderem Henrys Nummer. Henry und deine Mutter kennen sich, kennen sich gut. Er wird dir alles erklären können.“
„Sie haben Kontakt zu meiner Mutter?“ Überdeutlich konnte ich nun wieder die Blicke aller Anwesenden auf mir spüren, während mein Hals mit einem Mal wie zugeschnürt war. Es war seltsam. Zum ersten Mal überhaupt, fühlte ich selbst, ein starkes Gefühl von tiefer Traurigkeit in mir aufsteigen. Die Intensität dieses Gefühls war mir fremd und prompt bekam ich am ganzen Körper eine Gänsehaut. Was bitte war nur los mit mir? Aus welchem Grund nur überkamen mich mit einem Mal all diese starken Emotionen? Traurigkeit hatte sich bis zum heutigen Tag immer nur seltsam dumpf angefühlt. Meist war es auch eher Frustration gewesen, statt wirkliche Trauer, doch diese neue Empfindung ging mir tief bis unter die Haut - und sie tat weh. Ich wollte das alles nicht fühlen! Ich wollte, dass endlich alles wieder so war, wie es vor diesem schrecklichen Unfall gewesen war! Doch da war nicht nur Traurigkeit, die mich nun ganz und gar durchdrang, da war noch ein anderes Gefühl! Hoffnung? Wenn Henry Kaufman meine Mutter kannte, wenn er ...
„Ich hatte Kontakt zu ihr. Sehr viele Jahre lang.“ Er räusperte sich.
Noch immer leicht benommen blinzelte ich ihn an.
„Ist sie ...?“ Ich wagte es kaum, diesen Gedanken zu Ende zu denken. Mein Herz schlug schneller und zu meiner Überraschung konnte ich nun ganz deutliche Anzeichen einer Panik an mir erkennen. Panik. Ein starkes Gefühl. Unheimlich stark und zugleich unheimlich beängstigend.
„Das weiß ich nicht. Ich habe seit drei Jahren nichts mehr von ihr gehört. Es tut mir leid, ich wollte keine falschen Hoffnungen in dir wecken.“ Abermals räusperte er sich, dann fuhr er fort: „Diese Schule hier ...“
„Amy hat mir bereits davon erzählt“, unterbrach ich ihn, gröber als beabsichtigt. Mir war von all den Gefühlen fast ein wenig schwindelig. Henry Kaufman kannte meine Mutter! Allerdings schien er, zumindest im Moment, nicht im Geringsten daran interessiert zu sein, mir mehr über sie zu verraten.
Wütend ballte ich die Hände zu Fäusten. Dieses Gefühl war fast noch stärker als die Panik, die ich zuvor so intensiv wahrgenommen hatte. Ich kam mir vor, wie im Zoo. Alle starrten mich an, während mein Leben einfach so auf den Kopf gestellt wurde. „Ich bin nicht sowas ... ich kann weder Elemente beschwören noch bin ich ein Werwolf ... oder eine Amazone!“ Das letzte Wort spie ich ihnen regelrecht entgegen. Mein Herz schlug mir abermals bis zum Hals und wie ein verängstigtes Tier huschte mein Blick immer wieder zu der geschlossenen Tür hinüber, die auf den Gang hinausführte.