Meer geht nicht - Claudius Pläging - E-Book
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Claudius Pläging

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Beschreibung

Claudius Pläging, Jahrgang 1975, macht hauptberuflich Spaß: Er schreibt für TV-Größen wie Stefan Raab, Anke Engelke oder Olli Dittrich. Seine Arbeit sorgt nicht nur für garantierte Lacher, sie brachte auch schon mehrere Deutsche Comedypreise und zwei Grimme-Preis-Nominierungen ein. "Meer geht nicht" ist kein autobiografischer Roman, denn Claudius Pläging würde niemals einer Krawatte bis nach Rumänien nachjagen – einer Krawatte! – , und das auch noch wegen einer Frau. Genau dies tut Romanheld Jonathan, war besagte Krawatte doch ein Geschenk von Friederike, seiner Verlobten, und zwar für die bevorstehende Trauung. Der Schlips landete versehentlich in einem Altkleidercontainer und machte sich von dort auf den Weg in den wilden Osten. Bei der waghalsigen Rettungsmission stehen Jonathan seine beiden besten Kumpels zur Seite. Und Anhalterin Pauline, die Jonathan niemals zwingen würde, eine Krawatte zu tragen.

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Seitenzahl: 276

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Claudius Pläging

Meer geht nicht

Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Niemand würde wegen eines Stück Stoffs durch halb Europa fahren. Aber manchmal hat man keine Wahl …

Inhaltsübersicht

Prolog1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel
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Ich steckte fest. Je stärker ich mich anstrengte, wenigstens ein paar Zentimeter voranzukommen, desto mehr tat es weh. Und zurück ging sowieso nichts mehr.

Altkleidercontainer waren nun mal nicht dafür gemacht, dass Menschen problemlos hinein- und herauskamen. Vieles war extra so gebaut, dass man es gut betreten und ebenso gut wieder verlassen konnte: Duschkabinen, Wohnwagen, Toilettenhäuschen. Überhaupt Häuser. Auch Busse, Bahnen, Schiffe, Flugzeuge – die Liste ließ sich vermutlich beliebig fortsetzen. Aber sie konnte noch so lang werden, niemals würden Altkleidercontainer in dieser Liste auftauchen.

Normalerweise zog man die Kipplade am Griff nach unten, legte einen Kleidersack hinein, und wenn man den Griff wieder losließ, leerte sich die Lade ins Containerinnere. Für Säcke funktionierte das auch sicher wunderbar, nicht jedoch für Menschen. Höchstens für Schlangenmenschen. Aber ich war kein Schlangenmensch, ganz im Gegenteil: Ich war im Umgang mit meinem Körper seit jeher unbeholfen gewesen, steif und staksig, mir fehlte es am natürlichen Sinn für Motorik. Kein Wunder also, dass ich dem ohnehin schon menschenfeindlichen Kippmechanismus des Altkleidercontainers wie ein Bär einer Bärenfalle jämmerlich zum Opfer fiel und der Apparatur nun hilflos ausgeliefert war. Mein Körper hing bis etwa zum Bauchnabel im Inneren des Containers, der Rest ragte nach draußen und gab vermutlich ein seltsames Bild ab. Zum Glück waren um diese Zeit kaum noch Menschen unterwegs, die Zeuge meiner misslichen Lage werden konnten. Andererseits gab es somit auch weit und breit niemanden, der Hilfe holen konnte.

Langsam sammelte sich das Blut in meinem Kopf, während die Füße anfingen zu kribbeln. Besser die Füße sind unterversorgt als das Gehirn, beruhigte ich mich. Man hörte doch eher selten davon, dass jemand aufgrund einer Unterversorgung der Füße irreparable Schäden davontrug. Beim Gehirn kam das schon öfter vor. Ich zählte bis zehn, alle Zahlen waren noch da – nahm ich zumindest an. Wenn mein Gehirn tatsächlich versagte, versagte es natürlich auch als Kontrollinstanz.

Mein iPhone war nicht mehr in der Hosentasche – zum Glück, denn da kamen in diesem Augenblick alle anderen 7,2 Milliarden Menschen auf dieser Erde besser dran als ich. Ich hielt es in der Hand. Nicht etwa, weil ich so vorausschauend gewesen war und gedacht hatte: Jonathan, nimm mal lieber das iPhone in die Hand, vielleicht manövrierst du dich in so eine aussichtslose Lage, dass du telefonisch Hilfe rufen musst. Nein, ich wollte damit den Innenraum des Containers ausleuchten, um zu gucken, ob sich die Rewe-Tüte noch darin befand, die ich wenige Stunden zuvor eingeworfen hatte. Der Plan war, besagte Tüte zu greifen und mich wieder elegant nach draußen gleiten zu lassen. Leider zeigte die Wirklichkeit meinem Plan den Stinkefinger.

Ich musste nicht mal die Taschenlampenfunktion aktivieren – der Standardbildschirm spendete genug Licht, um zu sehen: Der Container war leer. Zur Sicherheit richtete ich den Bildschirm noch mal in die Ecken, als wollte ich ein Foto herumzeigen. Aber so groß war es hier drin nun auch wieder nicht, dass man etwas hätte übersehen können, schließlich befand ich mich nicht in einer Tempelanlage der Maya, sondern in einem etwa einen Kubikmeter großen Behälter. Keine Rewe-Tüte. Nicht mal eine von Netto, Edeka oder Lidl. Gar nichts. Ich war aufgeschmissen.

Wenigstens war jetzt klar, was zu tun war: Ich musste hier raus, und zwar schnell. Um den Verbleib der Tüte würde ich mich später kümmern müssen. Mein Handy zeigte 0:34 Uhr. Es gab nur einen Menschen, den ich um diese Zeit anrufen konnte, ohne dass er sich groß darüber wundern würde: Tillmann.

Nach zweimal Klingeln ging er dran, als hätte er auf den Anruf gewartet.

»John, was liegt an?!«, rief er.

Außer Tillmann nannte mich niemand John, das passte überhaupt nicht zu mir. Jonathan mochte ein uncooler Name sein, war aber immer noch etwas zu cool für mich. Da brauchte man über John gar nicht nachzudenken. Aber Tillmann gab sich gern als Checker – und wer als Checker etwas auf sich hielt, gab den Leuten um sich herum Spitznamen, weil sie dann cooler wirkten, was wiederum auf einen selbst zurückstrahlte. Wer sich mit coolen Leuten umgab, musste selbst auch cool sein. Tillmann hieß eigentlich Jürgen. Tillmann war nur sein Nachname. Das zu verheimlichen war Teil seiner PR-Strategie. Welcher Checker hieß schon Jürgen?

Ich erklärte Tillmann die Situation.

Wie es seine Art war, fackelte er nicht lange, sondern sah die Sache als Herausforderung, die er – wie jede Herausforderung – sofort annahm: »Kein Ding, John! Bin unterwegs.«

Wenige Minuten später näherte sich ein Auto. Das musste Tillmanns Audi A3 sein. Ich hörte eine Tür schlagen und Schritte, dann drang Tillmanns Stimme durch die dünne Metallwand des Containers.

»John, bist du das?«

»Ja!«, bestätigte ich das Offensichtliche. Was Tillmann wohl gemacht hätte, wenn ich mit Nein geantwortet hätte? Entschuldigt und nach einem anderen Altkleidercontainer gesucht, aus dem zwei Beine ragten?

Ohne Vorwarnung zog Tillmann an meinen Beinen.

»Aua!«, entfuhr es mir. Der Klappenrand drückte in meinen Bauch, er schnitt schon fast.

»Tut weh?«, fragte er.

»Ja.«

Jetzt versuchte Tillmann, mich nach vorne zu schieben.

»Auaaah!« Es fehlte nicht mehr viel, und ich wurde halbiert. »Tut auch weh!«, griff ich seiner Frage voraus.

»Tja, aber … Was soll ich sonst machen?«

Ich hörte, wie Tillmann draußen herumschlich. Er klopfte ein paar Mal gegen den Container, ruckelte hier und da, was mich und meinen mittlerweile stark durchbluteten Kopf erschütterte. Wenigstens waren meine Beine inzwischen taub.

»Gibt’s da irgendwelche Schrauben an der Klappe?«, fragte ich. »Vielleicht kann man das Ding einfach abmontieren.«

»Hier ist ein Aufkleber mit einer Telefonnummer drauf: Fragen, Probleme, Hinweise? steht da.«

Meine Art von Problem war damit sicher nicht gemeint. »Keine Schrauben?!«

»Ich glaube nicht, da braucht man schon eine Flex.«

»Hast du eine Flex?«

»Logisch habe ich eine Flex!« Der Besitz einer Flex schien für Tillmann eine Frage der Ehre zu sein. »Jeder hat eine Flex.«

»Ich habe keine Flex. Ehrlich gesagt, weiß ich gar nicht genau, was das ist.«

»Eine Flex?! Das ist ein Winkelschleifer.«

Das sagte mir auch nichts. »Ach so! Na, dann hol den doch.«

»Dafür braucht man aber Strom. Und außerdem macht das einen Höllenlärm. Wenn wir das hier mitten in der Nacht machen, haben wir ruck, zuck die Bullerei am Hals. Und die nehmen uns dann hops wegen Sachbeschädigung und so ’nem Scheiß.«

»Bullerei« war ein typisches Tillmann-Wort. Er benutzte Umgangssprache, um hip rüberzukommen. Meist wirkte das eher peinlich.

Tillmann zog erneut an meinen Beinen, diesmal etwas fester.

»Auaaah!« Der Überraschungseffekt brachte hier auch nichts.

»Vielleicht hilft es, wenn ich dir die Hose runterziehe.«

Ich fragte mich, wie viel demütigender diese Sache noch werden konnte. Aber es nützte nichts. »Ja, vielleicht.«

Und schon nestelte er an meiner Hose herum. Für einen Außenstehenden bot sich vermutlich gerade ein etwas verstörendes Bild.

»Unterhose auch?«, fragte Tillmann.

»Nein!«

»Ich will nur helfen.«

Kaum war die Hose aus, zog und schob Tillmann erneut an meinen Beinen. Es brachte nichts, außer Schmerzen.

»Scheiße!«, rief ich.

»Ich rufe die Feuerwehr«, verkündete Tillmann, wie immer ein Mann der Tat.

»Warte!«, rief ich.

»Junge, irgendwie musst du da bis morgen früh wieder raus sein, wir können dich ja schlecht im Container mit nach Italien nehmen.«

Ach ja, Italien. Hinter mir lagen einige hochdramatische Stunden – schließlich war ich nicht ohne Grund in den Container geklettert. Da war die Italienreise gerade so ziemlich das Letzte, woran ich dachte. »Okay, ruf die Feuerwehr.«

»Jonathan?«, fragte Tillmann, nachdem er den Notruf abgesetzt hatte. Offenbar erkannte er jetzt auch, dass sich kein John jemals in so eine Situation bringen würde. So etwas Blödes brachte nur ein Jonathan fertig. Und zwar auch kein englisch ausgesprochener Jonathan, also Dschonessen, wie Tillmann mich auch gerne mal nannte, sondern nur ein deutsch ausgesprochener Jonathan, mit all der plumpen Traurigkeit, die diesem Namen anhaftete.

»Ja?«

»Jetzt muss ich aber doch mal fragen.«

»Was denn?«, mauerte ich, als wäre nicht klar, was jetzt kommen würde.

»Warum steckst du mitten in der Nacht kopfüber in einem Altkleidercontainer?«

Eine Frage, die man sich wohl gefallen lassen musste – zumindest, wenn man mitten in der Nacht kopfüber in einem Altkleidercontainer steckte.

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1

Friederike war schuld. Sie hatte mich verlassen. Natürlich gehören zum Verlassen immer zwei – einer, der verlässt, und einer, der dem anderen einen Grund dafür gibt.

Ich kam freitags von der Arbeit nach Hause, und Friederike empfing mich überschwenglich, so freudig, wie es nach sieben Jahren Beziehung unüblich war. Wenn’s hochkam, gaben wir uns einen Kuss zur Begrüßung, meistens beließen wir es bei einem langgezogenen »Naaa?«.

Sie müsse mir unbedingt etwas zeigen, flötete Friederike und verschwand im Schlafzimmer. Kurz flackerte in mir die Hoffnung auf, dass sie nun gleich in sexy Unterwäsche zurückkehrte – was allerdings weder zu ihr noch zu mir noch zu uns gepasst hätte. Unser Sexleben war in Ordnung, jedoch gingen wir beide mit Sex nicht so entspannt um, dass wir ihn außerhalb des Machens selbst thematisierten, was jede Form der Planung sowie alle Arten der Vor- oder Nachbereitung ausschloss – also auch den Kauf jeglicher Utensilien.

Friederike kam, angezogen wie vorher auch, mit einer Papiertüte zurück, so eine mit geflochtenen Henkeln. Darauf stand Bertram Scholz & Sohn, der Name eines Solinger Herrenausstatters der feinsten Sorte. Sie stellte die Tüte auf den Esstisch und lächelte mich an.

»Für mich?«, fragte ich.

Friederike nickte. »Mach auf.«

Meine Freude hielt sich in Grenzen. Gab es irgendwas Tolles, das man bei einem Herrenausstatter kaufen konnte? Aus Mode machte ich mir jedenfalls nichts. Ich zog eine schmale Pappschachtel heraus, auf der ebenfalls Bertram Scholz & Sohn stand.

»Was ist das? Hoffentlich keine Krawatte!«, lachte ich.

Friederike lachte nicht mit, was nur einen Schluss zuließ: Es war eine Krawatte. Mir war völlig schleierhaft, was das sollte. Ich trug keine Krawatten, nicht mal Hemden. In meinem Job war das nicht nötig, Anzüge trug man frühestens zwei Hierarchiestufen über mir. Ich betreute, lässig gekleidet, den Internetauftritt der Stadt Solingen. Eigentlich ein ganz angenehmer Job, es sei denn, ein neuer Bürgermeister hatte gerade das Amt angetreten, der im Wahlkampf wie bisher noch jeder Kandidat mehr Bürgernähe versprochen hatte und deshalb frisch gekürt so konkrete Forderungen formulierte wie: »Da im Internet muss mal was passieren, Stichwort: online!«, was in meiner Abteilung hektische Betriebsamkeit und blinden Aktionismus auslöste. Doch selbst in solchen Phasen brauchte man keine Krawatte.

Ich klappte die Pappschachtel auf. Eine dunkelgrüne Krawatte mit goldenen Streifen kam zum Vorschein.

»Gefällt sie dir?«, fragte Friederike.

»Äh, ja, schon, aber …« Genauso gut hätte sie mir auch eine Schere für Linkshänder oder einen Adapter für indonesische Steckdosen schenken können. »Was soll ich damit?«

»Na, tragen!«

»Ich trage doch nie Krawatten.«

»Vielleicht gab es bisher nur nicht den richtigen Anlass dafür.«

»Und jetzt gibt es den richtigen Anlass?«

»Ich hoffe.« Friederike zog bedeutungsschwanger die Augenbrauen hoch.

»Wie, du hoffst?« Die Sache wurde immer mysteriöser.

»Den Anlass müssen wir uns selbst geben.«

Ich stand völlig auf dem Schlauch. »Willst du mit mir ins Theater, oder was?«

»Dafür braucht man doch keine Krawatte.«

»Was weiß ich denn, ich war ewig nicht im Theater.« Keine Theateraufführung der Welt war so gut wie ein solide gemachter Film. Außerdem stresste es mich, dass die Schauspieler jeden Moment ihren Text vergessen oder sonst irgendwelche Pannen passieren konnten.

»Die haben bei Scholz auch sehr schöne Anzüge – so ganz festliche mit Einstecktuch«, erklärte Friederike. »Und gegenüber ist La Sposa, da gibt es so schöne weiße Kleider mit Schleier …«

Jetzt fiel endlich der Groschen. Unwillkürlich seufzte ich. »Ach, das Thema wieder!«

Sofort kippte die Stimmung. »Oh Gott, wie du das sagst«, empörte sich Friederike. »Als wäre das etwas ganz Furchtbares!«

Schon befanden wir uns wieder mitten in der Diskussion, die wir in den letzten Monaten x-mal geführt hatten. Friederike drängte immer unverblümter darauf, dass ich ihr einen Antrag machte. Und ich sträubte mich dagegen mit zunehmender Vehemenz. Nicht dass ich mich nicht binden wollte, im Gegenteil – Friederike war meine Frau fürs Leben, um nichts in der Welt hätte ich sie verlassen. Sowieso hatte ich noch nie eine Frau verlassen. Verlassen war einfach nicht mein Ding. Wenn ich jemanden gefunden hatte und halbwegs zufrieden war, blieb ich auch dabei. Das war übrigens nicht nur bei Frauen so, sondern auch bei Schuhen, Friseuren, Urlaubszielen und Kaffeetassen. Womit ich Frauen und Kaffeetassen natürlich nicht gleichsetzen wollte, da gab es ja dann doch beträchtliche Unterschiede. Nicht zuletzt, dass man Kaffeetassen nicht heiraten musste, wenn man sie weiter benutzen wollte. Never change a running system, das war wohl so etwas wie mein Lebensmotto, und sollte ich im Leben noch mal ein Poesiealbum in die Hände kriegen, würde ich das hineinschreiben. Gegenüber Veränderungen und allem Neuem empfand ich einen gewissen Widerwillen. Positiv ausgedrückt konnte man es auch Treue und Beständigkeit nennen.

Dennoch schreckte ich vor einer Hochzeit zurück. Dieser ganze Aufwand, der damit verbunden war, nur um hinterher genauso zusammen zu sein wie vorher auch. Wie ich meine Eltern kannte, würden sie auf die ganz große Sause bestehen, standesamtlich und natürlich auch kirchlich, mit sämtlichen Verwandten, auch den doofen, und lustigen Spielen auf der Feier, über die vorher alle Heiratswilligen verächtlich sprachen, aber die dann doch jeder machte. Außerdem war eine Hochzeit selbst ja auch eine Veränderung, die auf das fragile Konstrukt einer ausbalancierten Beziehung unberechenbare Auswirkungen haben konnte. Nein danke.

Ich wollte, dass alles blieb wie immer. »Wie immer« war nach fast sieben Jahren Beziehung vielleicht nicht spektakulär, aber ich war zufrieden. Ich liebte Friederike und hoffte, diese Koexistenz mit regelmäßigem Koitus den Rest unseres Lebens fortführen zu können. Sie war eine unverzichtbare Stütze meines Lebens, wir ergänzten uns perfekt – was vor allem hieß, dass sie meine vielen Macken und Ticks hinnahm.

Und so hatte ich das Thema Hochzeit bestmöglich verdrängt und gehofft, es würde sich von alleine erledigen.

Irrtum.

Beziehungsweise es erledigte sich von alleine, aber anders, als ich mir das vorgestellt hatte: Friederike verließ mich noch am selben Abend.

»Meinst du nicht, das ist etwas überstürzt jetzt?«, fragte ich, als sie ins Schlafzimmer ging, um ihre Sachen zu packen.

»Ich brauche einfach ein bisschen Abstand«, schnaubte sie. Diese um sich greifende Seuche, dass es für nahezu jede Standardsituation des Lebens passfertige Floskeln gab, derer man sich ungestraft bedienen konnte, anstatt sich selbst Gedanken über die richtigen Worte zu machen.

Laut Drehbuch hätte ich wahrscheinlich mit »Tu mir das nicht an!« antworten müssen. Stattdessen sagte ich: »Quatsch, echt?!« Ein Satz, mit dem bisher wohl eher selten eine Frau zurückerobert worden war.

»Ja, echt.«

»Aber das ist nur vorübergehend, oder? Wenn du genug Abstand hast, kommst du wieder zurück.« Ich merkte selbst, dass das nicht sehr plausibel klang.

»Weiß ich nicht.« Friederike schaute mir in die Augen, so lange, dass ich fast schon verlegen wurde. »Ich glaube nicht.«

Jetzt hieß es retten, was zu retten war. »Wenn dir das mit dem Heiraten so wichtig ist, dann heiraten wir halt!«

»Dann heiraten wir halt«, echote sie. »Danke, Jonathan! Das ist der Antrag, von dem jede Frau träumt.« Aus der Tatsache, dass sie sich noch während dieser Bemerkung umdrehte und weiter ihren Koffer packte, schloss ich, dass das wohl ironisch gemeint war.

»Sorry, dass ich jetzt gerade keinen Stehgeiger und ein Glas Champagner mit einem Diamantring drin zu bieten habe, aber … Tu mir das nicht an!« Ich rügte mich in Gedanken dafür, dass ich selbst auf eine abgedroschene Phrase zurückgriff, noch dazu eine, die sich in Selbstmitleid erschöpfte.

Doch sie tat es mir an.

In den folgenden Tagen stand ich völlig neben mir, oder eher: Ich lag. Zum Stehen, selbst zum Sitzen fehlte mir die Kraft. In Gedanken malte ich mir aus, in was für einen selbstzerstörerischen Lebenswandel ich mich nun stürzen konnte: Alkohol, Zigaretten, Fast Food und Drogen, Drogen, Drogen – je illegaler, desto besser. Und wenn Friederike mich demnächst wiedersähe, würde sie geschockt sein, was für ein Wrack ich geworden war, blass, ungewaschen, mit blutunterlaufenen Augen und unerklärlichen Wunden hier und da. Sie würde sich schwere Vorwürfe machen – und wenn nicht, machte ich ihr halt welche.

Es blieb bei ein paar Flaschen Bier, für alles andere hätte ich das Haus verlassen müssen. Schlimm genug, dass ich vom Bier öfter pinkeln gehen musste – im Liegen ging das nicht gut, das hatte ich versucht. Wenigstens konnte ich mir dann auf dem Rückweg ein neues Bier mitbringen. Ein perfekter Kreislauf.

Irgendwann klingelte mein Handy. Tillmann. Er wusste schon Bescheid, Friederike hatte ihn verständigt. Wie ein Attentäter, der jemanden niederschießt und im Weggehen den Krankenwagen ruft.

»Schöne Scheiße, Johnny«, sagte er.

»Jau«, bestätigte ich, so gut ich nach all dem Bier noch konnte.

»Pass auf, ich bin ein bisschen busy gerade, aber lass uns doch morgen Abend steilgehen!«

Ich glaubte, den Vorschlag für ein morgiges Treffen dechiffriert zu haben, und sagte noch mal das, was mir gerade am besten über die Lippen kam: »Jau.«

Tillmann war immer »busy«. Er hatte ständig irgendwas am Laufen. In seinem eigentlichen Job – Versicherungsfuzzi traf es wohl am besten – wurde er pro Abschluss bezahlt, er war Teil irgendeines miesen Schneeballsystems auf Prämienbasis. Daher suchte er immer neue Kontakte, nachdem seine komplette Verwandt- und Bekanntschaft inzwischen schon total überversichert war. Nebenbei jonglierte Tillmann aber auch noch mit anderen Geschäften, die er selbst »Deals« nannte. Mal verkaufte er ein auslaufendes Handymodell, mal war er günstig an zweihundert Winterreifen gekommen, für die er Abnehmer suchte, mal baute er eine 24-Stunden-Fahrradreparatur auf, dann wieder hatte er einen mobilen Würstchengrill erstanden, den er samt einem unterbezahlten Studenten durch die Solinger Fußgängerzone jagte – und wenn jemand zum Würstchen noch einen Satz Winterreifen nahm, musste er nur den halben Preis bezahlen. Für das Würstchen, versteht sich. Ich hatte keine Ahnung, ob Tillmann in der Summe gut von seinen Geschäften leben konnte, auf jeden Fall benahm er sich immer wie ein Großverdiener. Ganz nebenbei studierte er auch noch Jura. Behauptete er zumindest.

»Und wo? Bar 17? Moonlight? Oder bist du schon ready fürs Tohuwabohu?« Die Kneipennamen standen für verschiedene Formen des Ausgehens – von schlicht/sitzend über chillig/fletzend bis hin zu selbstzerstörerisch/tanzend.

»Mir wäre es lieber, wir treffen uns bei mir zu Hause. Das ist mir momentan steil genug«, erklärte ich. Von dem Satz war ich schon außer Atem. Erstaunlich, wie schnell so ein Körper abbaute.

»Kein Ding, John. Ich aktiviere noch Frankieboy. Vielleicht kann der dich ja glücklich rechnen.«

Frank war wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fakultät für Mathematik und Informatik der Uni Wuppertal, hatte inzwischen zu unser aller Stolz sogar promoviert und komplettierte unsere Clique, wenn man bei drei Leuten überhaupt schon davon sprechen konnte. Bevor ich mit Friederike zusammengezogen war, hatten wir zu dritt in einer WG gelebt. Ich war der Hauptmieter, und die beiden waren die Einzigen, die sich auf meinen Aushang hin beworben hatten. Im Laufe der Jahre wurden wir beste Freunde, auch wenn wir auf den ersten Blick überhaupt nicht zusammenpassten. Vor allem bei Tillmann und Frank prallten Welten aufeinander. Einerseits der umtriebige Macher und ein Dampfplauderer erster Kajüte, andererseits der lethargische Theoretiker, der jedes Wort sorgsam abwog, bevor es seinen Mund verließ, und am liebsten eine beobachtende Position einnahm. Auch äußerlich bildeten die beiden einen krassen Gegensatz: Während Tillmann athletisch war und gelegentlich ins Sonnenstudio ging, steckte Frank im unförmigen Körper eines speckigen Hünen, mit einem Gesicht so rund und blass, dass es an ein sehr großes Stück Mozzarella erinnerte. Doch vielleicht hielten genau diese Unterschiede unsere Freundschaft im Gleichgewicht. Drei Tillmanns, drei Franks oder drei Jonathans hätten niemals ein stabiles Ganzes ergeben können. Dick und Doof passten ja auch nicht zusammen, dennoch waren sie unzertrennlich.

Aber was war schon unzertrennlich? Friederike und ich jedenfalls nicht, so viel stand nun fest. Trotz Bier konnte ich nicht einschlafen. Das lag vielleicht auch daran, dass ich auf dem Sofa liegen blieb, das für vollständig horizontales Liegen rund fünfzig Zentimeter zu kurz war. Ins Schlafzimmer wollte ich aber auch nicht, denn nirgendwo war Friederikes Abwesenheit so spürbar wie dort.

Gegen drei gab ich die Einschlafversuche auf und schob eine Pizza in den Ofen. Um halb fünf weckte mich der Geruch von Verbranntem, der aus der Küche ins Wohnzimmer strömte. Nachdem ich den Ofen ausgeschaltet und ein Fenster geöffnet hatte, torkelte ich ins Schlafzimmer und fiel in einen tiefen Schlaf.

[home]

2

Um Punkt 19 Uhr klingelte Frank. Er war immer pünktlich, selbst wenn man gar keine Zeit ausgemacht hatte.

»Jonathan«, sagte er zur Begrüßung. Seine von Natur aus hohe Stimme hatte einen traurigen Beiklang. Anschließend zog er die Augenbrauen hoch und blähte die Lippen auf. Das war für seine Verhältnisse eine fast schon hemmungslose Gefühlsäußerung.

Auf den ersten Blick war Frank ein Loser: An seinem riesenhaften Körper hingen die Klamotten wie zum Trocknen, meist eine Jeans, die ihrer Aufgabe nicht gewachsen war, dazu ein sehr weites Karohemd. Durch seine speckigen Wangen schienen die Augen immer zusammengekniffen. Seine Haare lagen meist so, als käme er gerade aus dem Schwimmbad und hätte sich dort an einem dieser Apparate geföhnt. Soweit ich wusste, hatte er seit Jahren keine Frau gehabt, wenn überhaupt schon mal. Allerdings, und das war eben das Verblüffende an Frank: All das störte ihn nicht. Er ruhte vollkommen in sich selbst. Offenbar gab ihm die Wissenschaft so viel Rückhalt und Befriedigung, dass ihm der echte, unberechenbare Alltag nichts anhaben konnte. Frei von jeglichen Selbstzweifeln ging er durch sein Leben, als wäre die Art, wie er es führte, nicht nur eine von Milliarden möglichen – und eine ziemlich seltsame noch dazu. Ich beneidete Menschen, die sich selbst nicht in Frage stellten. Wobei ich im Augenblick so ziemlich jeden beneidete, der nicht ich war.

»Frank«, versuchte ich zu sagen, aber meine Stimme blieb irgendwo im Hals hängen.

Ich hatte bis in den Nachmittag hinein geschlafen. Als ich aufwachte, trug ich um meinen Hals die Krawatte, aber es war mir ein Rätsel, wie sie dorthin gekommen war. Ich wühlte in meinem Hirn nach den Überbleibseln eines Traums. Ich musste doch irgendwas Dramatisches mit Friederike geträumt haben, vielleicht ein düsteres Szenario, in dem es um Leben und Tod ging. Aber mir fiel nur wieder ein, dass mir John Lennon die Haare geschnitten hatte – was immer mein Geist damit auch verarbeitete. Vielleicht hatte ich doch zu viele giftige Dämpfe von der verbrannten Pizza eingeatmet, oder die Krawatte hatte die Versorgung meines Gehirns behindert. Wieso hatte Friederike das Ding nicht mitgenommen?

»Ich kann dir leider nichts anbieten, alles leer. Ich hoffe, dass Tillmann …«

»Kein Problem.« Frank plumpste in einen Sessel, der unter ihm merkwürdig klein aussah. Er machte keine Anstalten, den Themenkomplex Friederike anzusprechen – dafür war er auch einfach der falsche Mann. Trotzdem tat mir seine Anwesenheit gut. So war ich gezwungen, ein bisschen Haltung anzunehmen und mich nicht mehr völlig gehenzulassen.

»Und, wie läuft’s in der Fakultät?«, fragte ich im vollen Bewusstsein der Tatsache, dass Frank diese Frage mit einem Vortrag beantworten würde, dem man schon nach wenigen Sätzen nicht mehr folgen konnte.

»Gut, danke. Ich bereite gerade eine Vorlesungsreihe vor: ›Optimale Steuerung partieller Differentialgleichungen‹. Hochinteressant! Da treffen Theorie und Numerik partieller Differentialgleichungen mit Methoden der Optimierung in Funktionenräumen zusammen, weißt du?«

Nein, wusste ich nicht.

Frank setzte seinen Vortrag unbeirrt fort. So wortkarg er sonst war – wenn es um Mathematik ging, mutierte er zur Quasselstrippe. »Gerade bei der Steuerung physikalischer und technischer Prozesse stößt man immer wieder auf numerische Herausforderungen, die in ihrer Komplexität …«

In diesem Augenblick klingelte Tillmann. Schade, ich hätte noch länger zuhören können. Nachdem meine Gedanken seit Tagen ausschließlich um Friederike gekreist waren, empfand ich die thematische Abwechslung als angenehm, selbst wenn es um Dinge ging, von denen ich nichts verstand. Andererseits hatte Tillmann neues Bier und Pizza dabei, was auch nicht zu verachten war.

Tillmann war wie immer ein bisschen zu schick gekleidet. Sein Aussehen hatte etwas Südländisches, offenbar war er kürzlich im Solarium gewesen, außerdem hatte er seine dunklen Haare mit etwas zu viel Gel in Form gebracht. Das verschaffte ihm einen gewissen Schlag bei Frauen, wobei er auch da wie bei seinen Deals immer nach der nächsten Gelegenheit suchte und ständig mehrere Eisen im Feuer hatte. Tillmann war das Selbstbewusstsein in Person. Niemand nahm sich so selbstverständlich zum Maßstab wie er.

»Der Tillmann ist da, jetzt wird alles gut«, begrüßte er mich.

Schon allein die Tatsache, dass er das ernst meinte, brachte mich zum Lächeln.

Ich stürzte mich gierig auf die Pizza. Seit Friederikes Abgang hatte ich nichts Vernünftiges gegessen, nur eine Packung meiner Lieblingskekse, die ich immer im Haus hatte, und eine Tüte Pistazien, schon verzehrfertig geschält, was irgendwie nicht das Gleiche war, wie die vorgespaltene Schale selbst knacken zu müssen und sich damit den Inhalt zu erarbeiten. Es gehörte einfach dazu, dass man auch mal eine Pistazie nicht aufbekam und einem hinterher Salz unter den strapazierten Daumennägeln brannte.

Tillmann riss die Konversation sofort an sich. Er stelle gerade einen Laubbläser-Verleih auf die Beine, erklärte er. Ein Dreivierteljahr, und die Dinger hätten sich amortisiert. Mit meiner langsam wiederkehrenden Stimme gab ich zu bedenken, dass Laub ja hauptsächlich im Herbst von den Bäumen falle, der bekanntlich kein Dreivierteljahr dauere. Aber diesen Einwand tat Tillmann ab. Laub sei immer ein Thema, außerdem könne man mit den Laubbläsern auch eine abgefahrene Form von Fußball spielen, das werde er demnächst ganz groß auf Messen vermarkten.

Frank schien sich damit abgefunden zu haben, dass er wohl ein anderes Mal über das weite Feld der partiellen Differentialgleichungen referieren musste, und widmete seine volle Konzentration Bier und Pizza, der große Geist wohnte schließlich in einem großen Körper.

»So«, sagte Tillmann mit vollem Mund, als das Thema Laubbläser für ihn offenbar erschöpfend behandelt worden war. Das war wohl die Überleitung zu meiner Angelegenheit: Friederike – beziehungsweise: nicht mehr Friederike. »Und jetzt?«

»Tja«, entgegnete ich. Nicht dass ich mir diese Frage nicht auch schon gestellt hätte, bloß wusste ich noch keine Antwort darauf.

»Du musst den Blick nach vorne richten«, erklärte er.

Auch so eine Eigenschaft von Tillmann: Er scheute sich nicht, Banalitäten als große Weisheit zu verkaufen.

»Aha. Und wo ist vorne?«

Tillmann hörte mir gar nicht zu. »Schritt eins: Schmeiß den ganzen Krempel raus, der dich an sie erinnert. Bringt ja nichts, wenn du jede Nacht an ihrem alten Kopfkissen schnupperst.«

Ich biss in meine Pizza.

»Und Schritt zwei?«, fragte Frank, der es als Mathematiker vermutlich einfach nicht aushalten konnte, wenn jemand eine Aufzählung begann und nicht fortsetzte.

»Schritt zwei: Urlaub«, dozierte Tillmann weiter, als sei sein Vortrag nicht improvisiert, sondern allgemein anerkannte Lehrmeinung. »Weg hier! Und zwar schnell. Du musst auf andere Gedanken kommen.«

»Vielleicht will ich das ja gar nicht«, erwiderte ich. »Vielleicht will ich den Blick nach hinten richten und um Friederike kämpfen, daran schon mal gedacht?« Bis gestern war ich davon ausgegangen, mit Friederike den Rest meines Lebens zu verbringen. Und jetzt sollte ich sie ohne weiteres im Ordner »Vergangenheit« abheften, mit den Achseln zucken und mich ablenken?

Tillmann schlug einen anderen Tonfall an. »Hey, nichts gegen Friederike, versteh mich da nicht falsch. Aber da draußen gibt es noch eine Menge anderer Bräute. Und die meisten davon haben größere Brüste.«

»So klein sind Friederikes … Ach, vergiss es!«

»Nein, vergiss du es! Sie hat dich sitzenlassen, aus heiterem Himmel. Das musst du dir mal geben!«

Ich machte seit Tagen nichts anderes, als mir das zu geben. Wenngleich der Himmel so heiter nun auch nicht gewesen war. Aber abgesehen von den unterschiedlichen Ansichten zum Thema Hochzeit waren wir auf eine angenehm unaufgeregte Weise glücklich miteinander gewesen. Und das wollte ich zurück.

»Pass auf, ich kann ein paar Tage freimachen«, erklärte Tillmann. »Wir buchen irgendwas Last-Minute, und ab geht die Post! Frankie, wie sieht’s bei dir aus?«

Frank biss noch mal ab, bevor er zu sprechen anfing: »Ich erzählte Jonathan gerade schon davon: Ich arbeite derzeit an einer Vorlesungsreihe über partielle Differentialgleichungen.«

Tillmann tat so, als ob er in einen tiefen Schlaf fiele. Dann schreckte er auf und ging Frank an: »Freaky Frank! Dieser Junge hier macht gerade eine schwere Zeit durch. Du willst mir doch nicht erzählen, dass dir ein paar beschissene Diametralgleichungen wichtiger sind als dein Freund!«

»Differential, nicht diametral.« Er trank einen Schluck Bier und putzte sich anschließend mit der Hand den Mund ab. Bei jedem anderen hätte ich das eklig gefunden, aber Frank war wie ein riesengroßes Baby – und vor Babys ekelt man sich nicht, selbst wenn sie das komplette Gesicht voller Hühnerfrikassee haben und nebenbei noch Schnodder aus der Nase läuft. »Wenn ich mein Laptop und ein paar Bücher mitnehme, kann ich auch unterwegs daran arbeiten. Ich habe ohnehin noch zu viele Urlaubstage übrig.«

»So ist’s brav.« Schon wischte Tillmann auf seinem iPhone herum. »Da! Italien. Sieben Tage, dreihundertneunundneunzig Euro pro Nase. Buchen?«

»Moment!«, fuhr ich ihm in die Parade. »Ich sagte doch gerade, ich weiß gar nicht, ob ich das will.«

»Jonathan, willst du dich vielleicht zum Horst machen und nachts vor Friederikes Fenster Liebeslieder singen, während sie da drinnen mit ihrem neuen Macker poppt?«

»Wie kommst du denn jetzt darauf, dass sie einen neuen Macker hat?!«

»Früher oder später hat jede Frau einen neuen Macker.«

Tillmann hatte wirklich Ahnung, wie man einen frisch Verlassenen aufbaut.

»Ein bisschen Abstand und Erholung wird dir auf jeden Fall guttun. Und wenn du hinterher immer noch nicht darüber hinweg bist, kannst du ja zur Attacke blasen.«

Damit hatte er vermutlich recht. Friederike lief mir nicht weg. Beziehungsweise: Sie war mir ja schon weggelaufen. Ich seufzte. »Was ist denn das für ein Hotel?«

»Oh nein, jetzt fängt das wieder an!«, stöhnte Tillmann und ließ sich im Sessel zurückfallen. Auch Frank verdrehte die kleinen Äuglein. Wir hatten schon mehrere Urlaube zusammen verbracht, und mittlerweile hatte ich den Ruf weg, ein bisschen kompliziert zu sein. Wie auch sonst im Leben behagte es mir nicht, mich auf Unbekanntes einzulassen. Außerdem galt ich als zu anspruchsvoll, weil ich dazu neigte, alles mit meinem gut eingerichteten Leben zu Hause zu vergleichen. Um dem entgegenzuwirken, informierte ich mich vorher gerne genauestens über Urlaubsort und Unterkunft und meldete Bedenken an, wenn ich welche hatte. Und ich hatte immer welche. Erst aus der Ferne: komische Internetseite, durchwachsene Bewertungen bei Onlineportalen und Skepsis, warum in dem Hotel überhaupt so kurzfristig noch etwas frei war. Und erst recht vor Ort: schäbiges Zimmer, ekliges Bad, seltsamer Geruch, unfreundliches Personal, hässliches Touri-Kaff – ach, hätte man doch bloß auf die Onlineportale gehört.

»Du würdest selbst im Adlon stänkern«, hatte Tillmann mal gesagt.

»Wenn es im Adlon nach vergammelter Wurst riecht, klar!« Vielleicht war ich überkritisch, andererseits konnte ich nun mal nicht aus meiner Haut. Dafür hatte Tillmann Flugangst, und Frank bekam auf Reisen Verstopfung, auch nicht besser.

Fünf Minuten später hatte ich mich breitschlagen lassen. Das Hotel schien passabel zu sein, auch wenn es in einigen Online-Bewertungen nicht so gut wegkam. Aber irgendjemand motzte immer, das war eben das Internet. Tillmann buchte. Allerdings mit meiner Kreditkarte, seine hatte er nicht dabei.

»Lignano, wir kommen!«, rief Tillmann. Und zwar mit dem Auto, darauf hatte er bestanden, Stichwort: Flugangst. Er nötigte uns, einzuschlagen und anzustoßen.

Ab diesem Moment geriet der Abend außer Kontrolle. Tillmann zauberte eine Flasche Pfefferminzschnaps hervor und meinte, das sei »echt geiles Zeug«. Frank und ich wehrten uns, doch davon ließ sich Tillmann nicht beeindrucken. Der Schnaps schmeckte tatsächlich nicht schlecht, wie flüssiges Kaugummi. Der Alkohol schlug schnell bei mir an. Ich war ohnehin nicht besonders trinkfest, noch dazu hatte ich den Tag über wenig gegessen. Außerdem verspürte ich eine gewisse Lust auf Eskalation, das hatte etwas Melodramatisches – der verlassene Mann flüchtet in den Suff, wenn auch nur vorübergehend. Ein bisschen im Klischee baden musste einfach sein, schon der Form halber. Ein Alkoholabsturz gehörte irgendwie dazu, auch wenn ich meinen Frust vielleicht genauso gut mit Sport hätte abbauen können. Aber wie klang denn das? »Als Friederike mich verließ, habe ich erst mal tagelang Aerobic gemacht. Aber dank der Hilfe von ein paar Freunden bin ich da zum Glück wieder rausgekommen.« Dann doch lieber Suff. Ich kippte alles runter, was Tillmann mir einschenkte. Als der Pfefferminzschnaps leer war, holte er anderes Zeug, aber zu dem Zeitpunkt war mir das meiste schon egal. Rein damit.

Bei Frank musste man schon genau hinsehen, um zu merken, dass er betrunken war. Er saß, Buddha nicht unähnlich, teilnahmslos im Sessel, lediglich die Augenlider schlossen und öffneten sich etwas langsamer als sonst, und der Oberkörper schwankte leicht vor und zurück auf der ständigen Suche nach Gleichgewicht. Tillmann dagegen mutierte unter Alkohol zu einer extremen Ausgabe seiner selbst, noch lauter, noch selbstbewusster, noch energischer.