Meer Liebe im Herzen - Svenja Lassen - E-Book
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Meer Liebe im Herzen E-Book

Svenja Lassen

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Beschreibung

Meeresleuchten in lauen Sommernächten, eine unverhoffte Begegnung und Küsse, die nach Meer schmecken!

Marlie schlägt sich in Hamburg mit Aushilfsjobs durch, während sie vergeblich darauf wartet, dass sich ihr Traum von der Schauspielschule erfüllt. Doch dann erhält sie überraschend einen Anruf. Ihre Mutter hat sich verletzt und benötigt Hilfe. Marlie hat keine große Lust, in ihr verschlafenes Heimatdorf an der Nordseeküste zurückzukehren, schließlich ist sie fortgegangen, um Großes zu erreichen. Aber das Konto ist leer, der Vermieter ungehalten – da ist die Aussicht auf ein wenig Seeluft und Meeresrauschen gar nicht mal so übel. Nur für ein oder zwei Wochen. Und es muss ja nicht das ganze Dorf davon erfahren, dass sie ihre Mutter besucht. Vor allem einer nicht: Jugendliebe Finn.
Leider läuft für Marlie alles anders als geplant, und es ist nicht nur die unerwartete Begegnung mit einem Alpaka, die ihr Herz aus dem Takt bringt …

So frisch, hinreißend und erheiternd wie eine Meeresbrise – nach dem SPIEGEL-Bestseller »Meer Momente wie dieser« endlich der neue Sommerroman von Svenja Lassen!

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Seitenzahl: 404

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Buch

Marlie schlägt sich in Hamburg mit Aushilfsjobs durch, während sie vergeblich darauf wartet, dass sich ihr Traum von der Schauspielschule erfüllt. Doch dann erhält sie überraschend einen Anruf. Ihre Mutter hat sich verletzt und benötigt Hilfe. Marlie hat keine große Lust, in ihr verschlafenes Heimatdorf an der Nordseeküste zurückzukehren, schließlich ist sie fortgegangen, um Großes zu erreichen. Aber das Konto ist leer, der Vermieter ungehalten – da ist die Aussicht auf ein wenig Seeluft und Meeresrauschen gar nicht mal so übel. Nur für ein oder zwei Wochen. Und es muss ja nicht das ganze Dorf davon erfahren, dass sie ihre Mutter besucht. Vor allem einer nicht: Jugendliebe Finn.

Leider läuft für Marlie alles anders als geplant, und es ist nicht nur die unverhoffte Begegnung mit einem Alpaka, die ihr Herz aus dem Takt bringt …

Autorin

Svenja Lassen lebt mit ihrem Mann und dem gemeinsamen Sohn im hohen Norden Deutschlands, unweit der Nordsee. Am glücklichsten ist sie mit einer Brise Seeluft im Haar und Strandsand unter den Füßen. Ihre Leidenschaft für Bücher entdeckte sie bereits als Kind, seit 2016 kam aber auch die Liebe für das Schreiben eigener Geschichten hinzu. Inzwischen begeistert sie mit ihren romantischen und humorvollen Wohlfühlromanen zahlreiche Leserinnen und Leser und stürmt mit ihren Büchern die Kindle- und die SPIEGEL-Bestsellerlisten.

Weitere Informationen unter: www.svenjalassen.de

Von Svenja Lassen bei Blanvalet bereits erschienen

Meer Momente wie dieser

Meer Liebe im Herzen

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Svenja Lassen

Meer Liebe im Herzen

Roman

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Originalausgabe 2022 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Copyright © 2022 by Svenja Lassen

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Michael Gaeb

Redaktion: Gisela Klemt

Umschlaggestaltung: Sandra Taufer, München

Umschlagmotive: © Shutterstock.com (ShDrohnenFly, Eisfrei, arvitalyaart, anemad, Peolla, Olga Korableva, Oaurea, Salvadorova, Elena Medvedeva, SimpLine, Michael Vigliotti, Phoebe Yu, Daria Ustiugova)

WR · Herstellung: sam

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München

ISBN 978-3-641-26138-2V002

www.blanvalet.de

Kapitel 1

Ich versuchte, durch die kleinen Sehschlitze etwas zu erkennen. Der Schweiß lief mir in Rinnsalen an den Schläfen hinab, und mein Top klebte wie ein feuchter Wickel an meiner Haut. Bei dem Gedanken daran, wie viele Leute schon vor mir ihren Schweiß hier drin vergossen hatten, wurde mir übel.

»Biene Maja, Biene Maja!«, rief ein kleines Mädchen aus der Zuschauermenge. In der Vermutung, dass sie direkt vor mir hinter der Absperrung stand und ich sie wegen des dicken geringelten Bauchs nicht sehen konnte, wackelte ich mit meinen Händen und dem Kopf und hoffte, es sähe aus, als freute Biene Maja sich über ihren kleinen Fan. Allein diese Anstrengung ließ mich Sterne sehen. Ich war mir sicher, in meinem Kostüm herrschten an die 50 Grad. Es musste doch ein Gesetz zur Arbeitssicherheit geben, das so etwas verbot! Vor allem für diesen miserablen Stundenlohn. Und warum musste unbedingt heute einer der wenigen Tage sein, an denen die Temperatur in Hamburg über fünfunddreißig Grad kletterte? Es war Anfang Juli und somit der Hochsommer eingeläutet, dennoch ließen sich derart heiße Tage in der Hansestadt jedes Jahr an zwei Händen abzählen. Aber ausgerechnet heute musste Hamburg einen Hitzerekord anstreben. Hätte ich nicht in diesem Kostüm gesteckt, hätte ich mich wahrscheinlich sogar darüber gefreut, wie die vielen Menschen, die an diesem späten Samstagnachmittag auf den Straßen unterwegs waren. Schon als ich herkam, waren die Terrassen der Cafés gut gefüllt gewesen. Rund um und auf der Alster hatten sich gut gelaunte Hamburger und Touristen getummelt, die die Temperaturen entweder mit einem Eis in der Hand genossen, am Ufer der Alster die Füße über dem Wasser baumeln ließen oder auf Stand-up-Paddle-Boards ihre Kreise zogen.

In diesem Augenblick sehnte ich mich nach meinem Zuhause. Nicht nach der kleinen Dachgeschosswohnung hier in Hamburg, sondern nach dem Ort, wo ich aufgewachsen war, dem kleinen Küstenort Fahretoft an der Nordsee, direkt hinterm Deich in Nordfriesland, wo immer eine Brise vom Meer herüberwehte. Entschieden schüttelte ich jedoch diesen Anflug von Heimweh ab und konzentrierte mich wieder darauf, den Zuschauerinnen und Zuschauern zuzuwinken, die zu der Premiere des Kinofilms rund um Biene Maja und ihre Freunde gekommen waren.

Das Blöde war, ich konnte nicht auf die Uhr sehen und hatte mittlerweile jegliches Zeitgefühl verloren. Es kam mir vor, als steckte ich seit Stunden in der Kostüm-Sauna, aber womöglich war noch nicht einmal eine Stunde vergangen. Zwar waren mittlerweile fast alle Schauspielerinnen und Schauspieler, die den Figuren in dem Animationsfilm ihre Stimmen geliehen hatten, an mir vorbeigelaufen, aber der Star – Rick Meierhof – fehlte noch. Ich konnte nur hoffen, dass er bald auftauchte. Am besten, bevor ich gänzlich geschmolzen war.

Neben mir tanzten Willi und Flip, auch ihre Bewegungen hatten am Anfang noch frischer gewirkt, soweit ich das durch die Sehschlitze, die im Mund meines Kostüms angebracht waren, erkennen konnte.

Da wurde der Jubel plötzlich lauter, was nur bedeuten konnte, der gefeierte Newcomer Rick Meierhof war eingetroffen. Rick-Schreie aus den Kehlen kreischender Teenies bestätigten das kurz darauf. Rick hatte zwar in dem Biene-Maja-Streifen lediglich Knut, den Mistkäfer, synchronisiert, eine der kleineren Nebenfiguren, doch das hatte ausgereicht, um den Altersdurchschnitt der Zaungäste vor dem Kino von sechs auf sechzehn anzuheben. Neben diesem für seine Verhältnisse eher unwichtigen Job als Synchronsprecher hatte er in den vergangenen zwölf Monaten nämlich gleich in zwei Kinofilmen die Hauptrolle gespielt, und beide waren zu Kassenschlagern geworden.

Ich erhaschte einen Blick auf ihn. Er sah verdammt gut aus, mit seinem längeren, blonden Haar, das er lässig nach hinten gestylt trug. Dazu kombinierte er zerschlissene Jeans, eine schwarze Lederjacke und schwere Biker-Boots. Wer zog denn bei fünfunddreißig Grad freiwilligeine Lederjacke an?, schoss es mir durch den Kopf. Diesen Gedanken schüttelte ich aber schleunigst wieder ab, weil er mich noch mehr schwitzen ließ.

Die Menschentraube, die sich vor der Absperrung drängte, bejubelte ihn in einer ohrenbetäubenden Lautstärke. Rick war der Beweis dafür, dass es möglich war, innerhalb kürzester Zeit all das zu erreichen, wovon ich seit Jahren träumte.

Auf einmal lief er auf mich – oder besser gesagt auf Maja – zu. Er zog die geringelte Mitte der Biene dicht an seinen Körper, und ich winkte eifrig mit dem freien Arm, um Majas (und meine) Freude zum Ausdruck zu bringen. Eine Wolke von Ricks Parfum schaffte es bis ins Innere meines Kostüms, und zusammen mit den Temperaturen, die jedem Dampfgarer Konkurrenz machten, benebelte sie meine Sinne, und mir wurde für ein paar Sekunden schwummrig. Ich musste mich auf Ricks Schulter abstützen, weil ich aus dem Gleichgewicht geriet und drohte, wie ein gefällter Baum der Länge nach auf dem roten Teppich zu landen. Aber Rick – ganz Profi und Gentleman – sorgte dafür, dass mir diese Blamage erspart blieb.

Erst als er sich sicher war, dass ich nicht auf meinem Stachel plumpsen würde, ließ er mich wieder los und joggte winkend hinein in die Eingangshalle des Cinemaxx-Kinos, in dem die heutige Premiere für ein ausgewähltes Publikum stattfand. Sofort nachdem sich die Türen hinter Rick geschlossen hatten, dünnte sich die Fan-Menge aus, kaum einer von denen war wirklich wegen Biene Maja hier. Meine Laune erreichte einen neuen Tiefpunkt, und plötzlich wurmte es mich, dass Rick binnen kürzester Zeit zum gefragten Jungschauspieler aufgestiegen war, während ich daran zu knabbern hatte, bereits vier Mal dabei versagt zu haben, einen der begehrten Plätze an der staatlichen Schauspielschule zu ergattern. Stattdessen steckte ich für 9,50 Euro die Stunde in einem stickigen und stinkenden Biene-Maja-Kostüm. Aus Frust drehte ich meinen ausladenden Bienenpopo in die Richtung des schwindenden Publikums und wackelte damit. Aber niemand achtete mehr auf den eigentlichen Hauptdarsteller des Films – die Biene. Seufzend hörte ich auf, das Hinterteil der Biene zu schwingen, um mir meine letzten Kraftreserven aufzusparen. Während der restlichen Minuten, bis alle Besucher verschwunden waren und Ruhe einkehrte, mimte ich nur noch halbherzig die gut gelaunte Trickfilm-Figur.

»So, ihr könnt jetzt Feierabend machen, aber die Köpfe erst abnehmen, wenn ihr außer Sichtweite seid«, verkündete ein Mitarbeiter des Kinos oder der Produktionsfirma mit Headset und Funkgerät in der Hand. Erleichtert schlurfte ich hinter Willi und Flip her. Flip ließ sich zurückfallen, bis ich neben ihm lief. Der Grashüpfer stieß mich mit der Hüfte an, und ich geriet erneut fast aus dem Gleichgewicht.

»Hör auf, Kira! Wenn ich hinfalle, werde ich auf der Stelle sterben, weil ich nicht mehr hochkomme. Wie ein Schaf, das auf dem Rücken liegt.«

»Schafe sterben, wenn sie auf dem Rücken liegen?«, hörte ich die Stimme meiner Freundin dumpf aus ihrem Kostüm dringen.

Ich seufzte. Kira war ein Geschöpf der Großstadt und hatte als Kind sicherlich auch gedacht, Kühe seien lila.

»Oder wie ein gestrandeter Wal«, bot ich ein anderes Beispiel. Ich war zu müde für ausführliche Erklärungen.

»Bist du mies drauf?«

»Nein«, knurrte ich.

»Ach komm, wir springen gleich unter die Dusche und gehen später ins Rossi. Ich habe gehört, die Schauspieler treffen sich nach der Premiere dort.«

»Ich kann nicht, meine Schicht fängt bald an.« Dieser miese Job hier war nicht der einzige, der heute für mich anstand.

Endlich erreichten wir die Garderobe, wo mir jemand den Biene-Maja-Kopf abnahm. Gierig sog ich die Luft ein, die sich nach der Zeit in dem stickigen Teil fast anfühlte wie eine frische Meeresbrise.

Ich drehte mich zu Kira um, die ebenfalls aus ihrem Kostüm befreit wurde. Ihr Gesicht auf Flips Körper sah zu komisch aus, und der Anblick entlockte mir dann doch ein Grinsen. Kaum hatte sie ihre Arme frei, hielt sie mir auch schon ihr Handy vor die Nase. »Sag Cheese!«

»Nein!«, rief ich genau in dem Moment, in dem sie abdrückte. »Kira, wehe, du postest das.« Leider hatte sie die Angewohnheit, restlos alle Details aus ihrem Leben in den sozialen Medien hochzuladen. Als wir uns vor drei Jahren bei einem Workshop kennenlernten, teilte ich diese Angewohnheit noch mit ihr, aber irgendwann zwischen damals und heute war sie mir verloren gegangen. Vielleicht, weil es nichts Nennenswertes gab, das ich mit der Welt teilen könnte.

»Also, treffen wir uns später im Rossi?«, überging sie meine erste Antwort. Gleichzeitig tippte sie auf das Display ihres Handys, und ich war mir sicher, sie lud gerade das Foto von uns hoch, das dann für immer im Netz herumgeistern würde.

»Ich muss arbeiten«, wiederholte ich.

»Ach komm, immer musst du arbeiten. Wir sind jung, wir sollten das Leben genießen!«

Ich verkniff mir, sie darauf hinzuweisen, dass es einfacher war, sein Leben zu genießen, wenn die Eltern einen auch mit Mitte zwanzig noch finanziell unterstützten und zudem die teure private Schauspielschule bezahlten. Trotzdem oder gerade deswegen war ich mir ziemlich sicher, dass Kira mir irgendwann von Kinoplakaten entgegenlächeln würde. Sie ging alles mit einer unbedarften Selbstverständlichkeit an, die jeden in ihren Bann zog, während man mir mit meinen 27 Jahren bereits ansah, dass ich zu viel arbeitete, in schlecht bezahlten Jobs, und zu wenig schlief. Sogar eine kleine, steile Falte hatte sich schon auf meiner Stirn gebildet.

»Es geht nicht, so kurzfristig finde ich niemanden, der für mich in der Bar einspringt, und mein Vermieter nervt schon wegen der Miete.«

Ich hatte mich von Kira überreden lassen, an einem teuren Seminar teilzunehmen, das ihre Schauspielschule anbot, und hing deswegen mit der Mietzahlung ein paar Tage hinterher, was mich noch schlechter schlafen ließ. Aber wenn ich dieses Mal einen Platz an der Schauspielschule ergattern wollte, musste ich besser sein als im letzten Jahr oder bei den Versuchen davor.

Endlich hatte der Mitarbeiter, der für die Kostüme verantwortlich war, den wuchtigen Bienenkörper geöffnet, und ich stieg erleichtert hinaus. Als ich einen Blick auf die Uhr warf, zuckte ich zusammen.

»Scheiße! Es ist ja schon fast sieben!«

»Rick Meierhof ist zu spät gekommen«, sagte Kira schulterzuckend, während sie sich vor dem Spiegel einzelne Haarsträhnen zurechtzupfte. Warum saßen ihre braunen Locken eigentlich noch wie frisch gewaschen, während mein blondes, glattes Haar aussah, als hätte man es mit Butter an meinem Kopf festgestrichen? Das Leben war einfach unfair, befand ich und zog mir schnell ein frisches T-Shirt über. Es blieb keine Zeit, um zu Hause zu duschen. In zehn Minuten begann meine Schicht, das hätte ich nie im Leben geschafft.

»Viel Spaß, feiere für mich mit!« Ich drückte Kira hastig einen Kuss auf die Wange, ehe ich zur Tür hinausstürmte.

Kapitel 2

Achtzehn Minuten nach sieben erreichte ich die hippe Bar, in der ich seit einem Jahr als Servicekraft arbeitete. Eigentlich sollten wir eine Viertelstunde vor Schichtbeginn hier sein. Eilig schob ich meine Tasche unter den Tresen und griff nach der schwarzen Schürze. Im Innenbereich war nicht viel los, aber im Außenbereich war kein freier Stuhl mehr zu sehen. Seufzend verknotete ich die Bänder, während ich mir einen Überblick verschaffte. Manchmal war der Job ganz okay, aber die meisten Tage hasste ich ihn. Die Bar lag am Rande der HafenCity, und während der Woche trafen sich hier nach Feierabend lauter Yuppies, um sich gegenseitig darin zu bestärken, wie grandios sie waren. Ich hatte angenommen, dass diese gut betuchte Kundschaft großzügig beim Trinkgeld sein würde, aber nach ein paar Monaten war mir klar, sie waren geiziger als jeder Arbeiter aus der Mittelschicht. Immerhin mischten sich am Wochenende mehr Touristen unter die Anzugträger, wie mein flüchtiger Blick über die Gäste bestätigte.

»Du kommst zu spät!«, empfing mich mein Chef Mario, als er von draußen reinkam, seinerseits ebenfalls ein Schnösel samt Penthouse-Wohnung mit Blick auf die Elphi.

»Tut mir leid, ich hatte einen Job bei der Premierenfeier von dem neuen Biene-Maja-Film, und Rick Meierhof hat auf sich warten lassen.«

»Ist mir scheißegal, was du machst, wenn du nicht arbeitest. Aber deine Schicht hier hat um Viertel vor sieben begonnen, und da warst du nicht da. Tilo ist pünktlich fort, und da musste ich einspringen, bis du dich dazu bequemst aufzutauchen.«

Wie konnte ich vergessen, dass es unter seiner Würde war, in seiner eigenen Bar zu bedienen! Nur mühsam verkniff ich mir ein Augenrollen. Stattdessen murmelte ich erneut: »Tut mir leid, kommt nicht wieder vor«, schaute, welche Getränkebestellungen offen waren, und griff nach einem Bierglas. Hoffentlich verzog er sich jetzt in sein Büro oder noch besser auf die Dachterrasse seiner Wohnung.

Leider tat er nichts von beidem.

»Wie siehst du überhaupt aus? Und du …«

Demonstrativ reckte er seine Nase in meine Richtung, und ich spürte förmlich, wie meine eh schon erhitzten Wangen noch eine Spur dunkler wurden. Ich schluckte meine Scham herunter und hielt das Glas unter den Zapfhahn. Aber statt nun endlich seiner Wege zu gehen, trat Mario einen Schritt näher an mich heran und verzog nahezu angewidert sein glatt rasiertes Gesicht. »Du …«, begann er, bevor er erneut zögerte. Vielleicht kreuzten Wissensfetzen aus einem Seminar seines BWL-Studiums seine Gedanken, in denen es darum ging, was man zu Mitarbeitern sagen durfte und was nicht. Was auch immer ihn kurz stocken ließ, reichte aber nicht aus, und er vollendete seinen begonnenen Satz: »Du stinkst.«

Ich schoss einen giftigen Blick in seine Richtung ab, während mir gleichzeitig Tränen in die Augen stiegen. Ein paar Sekunden schien die Welt um uns herum stillzustehen, wir starrten uns nur an. Erst als das kühle Bier über meine Hand floss, lief die Zeit weiter. Ich ließ den Zapfhahn los und wischte mir schnell die Finger ab, bevor ich ihm antwortete.

»Wie gesagt, ich habe die letzten Stunden in einer Biene-Maja-Sauna gesteckt und hatte keine Zeit mehr zu duschen, damit du nicht noch länger für mich einspringen musst.« Ich konnte nicht verhindern, dass im letzten Teil meiner Antwort ein sarkastischer Unterton mitschwang. Es war ein blöder Tag, und ich mochte Mario noch nie, was meinen Geduldsfaden ziemlich straff auf Spannung hielt. Sein heutiges Verhalten war allerdings selbst für ihn ein neues Level an Unverfrorenheit, und ich hoffte inständig, dass er es nun gut sein lassen würde, nachdem er mich derart gedemütigt hatte. Bei Männern versagte andauernd das Deo, ob Bauarbeiter oder Investmentbanker, aber uns Frauen durfte so etwas unter keinen Umständen passieren. Er selbst litt häufig unter schlimmem Mundgeruch, aber sagte ich ihm deswegen, dass er stank? Nein!

»Meinst du, meine Gäste haben Lust, von jemandem bedient zu werden, der wie ein Obdachloser aussieht und der der Körperhygiene abgeschworen hat? Ich bin echt nicht sicher, ob das noch länger tragbar ist. Ich dachte, du weißt diesen Job hier zu schätzen.«

Mein Geduldsfaden riss mit einem unhörbaren Ping, und ich schloss die Augen.

»Hör auf, mich zu beleidigen, ich habe bereits gesagt, dass es mir leidtut.« Mein Ton war leise, aber eindringlich.

»Du kannst froh sein, wenn ich dich nicht feuere! Das ist mein Laden, und ich sage hier, was ich für richtig halte.«

Ich atmete lang aus – sehr lange, aber das konnte die Worte nicht aufhalten, die mir auf der Zunge lagen und nun herauspurzelten.

»Weißt du was?« Aus zusammengekniffenen Augen funkelte ich ihn an – kein Wunder, dass ich schon eine Falte auf der Stirn hatte! »Bediene deine snobistischen Freunde doch allein, wenn ich denen nicht zumutbar bin!«

»Spinnst du?«, fragte er sichtlich verblüfft. Bisher hatte ich ihm noch nie Paroli geboten. Aber auch meine Freundlichkeit hatte mal ein Ende. Wütend riss ich mir die eben umgebundene Schürze wieder ab, warf sie ihm vor die Füße und griff nach meiner Tasche. Während mein Chef – oder Ex-Chef – wohl noch mit überraschtem Gesichtsausdruck überlegte, ob das tatsächlich mein Ernst war, stürmte ich an ihm vorbei, hinaus in die mittlerweile etwas abgekühlte Abendluft.

»Scheiße, scheiße, scheiße!«, fluchte ich, als ich um die nächste Ecke gebogen war. Ich hielt an und schloss die Augen, kniff mir dabei in den Nasenrücken und stellte mir dieselbe Frage wie mein Chef eben: War ich eigentlich total bescheuert? Ich konnte diesen Job nicht aufgeben! Ich drehte um und lief einige Meter zurück, aber mit jedem Schritt weigerten sich meine Füße stärker, weiterzugehen. Schließlich siegte mein norddeutscher Sturkopf, und ich machte erneut kehrt und entfernte mich von der Bar.

Auf dem kompletten Heimweg führte ich stumm einen Dialog mit mir selbst, bei dem sich die Stimme der Vernunft verdächtig nach meinem Bruder Torge anhörte und mich ermahnte, umzukehren und mich zu entschuldigen. Die Gegenseite fiel ihm dabei ständig ins Wort und beteuerte, dass niemand für so einen Schnösel arbeiten sollte und dass ich dadurch endlich wieder mehr Zeit hätte, für meinen Traum von der Schauspielerei zu arbeiten – dem eigentlichen Grund, warum ich vor fast vier Jahren hergekommen war. Ich konnte weitere Kurse belegen, um die Chancen an der staatlichen Schule zu erhöhen, und mehr Castings besuchen, vielleicht klappte es dann auch mal so mit einer kleinen Rolle.

»Aber wer bezahlt die Kurse?«, fragte ich laut, und eine Passantin, die mir entgegenkam, sah mich unsicher an, schien aber auch keine Antwort parat zu haben, sie eilte mit gesenktem Kopf weiter.

Ich stieß einen frustrierten Seufzer aus, als ich das Gebäude erreichte, in dem ich eine winzige Einzimmerwohnung unter dem Dach bewohnte, und schloss die Haustür auf. Zwar war es draußen hell, aber in den dunklen Hausflur fiel kaum Tageslicht. Trotzdem verzichtete ich darauf, das Licht einzuschalten. Mein Vermieter Herr Bromberg wohnte in der Erdgeschosswohnung, gleich neben dem Treppenaufgang, und mein Bedarf an Konfrontationen war für heute gedeckt. Ich wollte einfach nur noch duschen und ins Bett. Leise zog ich mein Handy hervor, um mir mit dem Schein des Displays den Weg zu leuchten. Es wurde eine Instagram-Benachrichtigung von Kira angezeigt, und ich stöhnte unterdrückt auf. Sie hatte das Foto gepostet und mich auch noch verlinkt. Aber ich sah auch, dass es zwei Anrufe in Abwesenheit von meinen Bruder Torge gab. Mit gerunzelter Stirn betrachtete ich das Display. Er rief mich nicht oft an …

»Hab ich dich erwischt!«, knallte die Stimme meines Vermieters wie ein Peitschenschlag an meine Ohren, zeitgleich flackerte das Licht im Flur auf.

»Heilige Scheiße, haben Sie mich erschreckt«, keuchte ich, nachdem mir vor Schreck fast das Handy aus der Hand gerutscht war und es mir erst im letzten Moment gelang, es vor einem Sturz auf den alten Terrazzoboden zu bewahren. Ein kaputtes Handy war das Letzte, was ich gebrauchen konnte. Mein Herz klopfte hart gegen meine Rippen, und ich legte beruhigend eine Hand darauf.

»Die Miete ist seit drei Tagen fällig.«

»In der nächsten Woche bekomme ich Lohn, dann bringe ich Ihnen das Geld sofort runter.« Herr Bromberg bestand darauf, die Mietzahlung in bar zu erhalten, sicherlich, um die Einnahmen am Finanzamt vorbeizuschleusen. Ich war mir sicher, dass die winzige Dachgeschosswohnung nirgends offiziell eingetragen war.

»Aber sie war vor drei Tagen fällig und nicht in drei Tagen.«

»Sie wissen doch, Sie bekommen Ihr Geld immer, und es tut mir auch schrecklich leid.« Ich hatte gehofft, mit dem Trinkgeld des heutigen Abends genügend zusammenzuhaben. Und nächste Woche kam sicherlich das Geld von dem heutigen Auftritt als Biene. Auf die Bezahlung von einem anderen Promo-Job wartete ich ebenfalls noch. Ja, ich hatte viele Arbeitsstellen und dennoch nie ausreichend Geld, und das mit 27 Jahren. Seit ich nach Hamburg gezogen war, hatte ich alle möglichen Stellen angenommen, von der Packerin im Möbelhaus bis zur Verkäuferin im Tierfuttergeschäft, wobei Letzteres sogar Spaß brachte. Jedes Mal sagte ich mir, es sei nur zur Überbrückung, aber auch nach vier Jahren waren die Jobs nicht besser geworden, und ich war meinem eigentlichen Traum noch keinen Schritt näher gekommen. In diesem Augenblick wurde mir klar, dass sich dringend etwas ändern musste.

Das Handy in meiner Hand begann auffordernd zu vibrieren, und der Name meines Bruders wurde angezeigt. Herr Bromberg sah mich aus dem Türrahmen zu seiner Wohnung ebenfalls abwartend an.

»Entschuldigen Sie, da muss ich rangehen«, sagte ich und sprintete die Treppe hinauf.

»Ey! Hiergeblieben!«, rief mein Vermieter, aber da hatte ich bereits den ersten Stock erreicht.

»Hi, Torge!«, sagte ich etwas atemlos in den Hörer, während ich weiter hinaufstapfte.

»Marlie, ich versuche den ganzen Tag, dich zu erreichen!«

»Ähm, du hast genau zweimal probiert anzurufen, ich war bei der Arbeit.«

Im Hintergrund plapperte seine Tochter Leni und fragte, ob sie noch eine Folge Paw Patrol sehen dürfte. Es raschelte an meinem Ohr, während mein Bruder Leni erklärte, sie hätte doch schon zwei geschaut, und das sei genug. Die Diskussion der beiden dehnte sich aus, bis ich den fünften Stock erreichte und mein Bruder schließlich seufzend sagte: »Schön, aber nur noch diese eine.« Ich lächelte über das Verhandlungsgeschick meiner fünfjährigen Nichte. Nebenbei schloss ich die Tür zu meiner winzigen Wohnung auf, in der annähernd dieselben Temperaturen wie in dem Biene-Maja-Kostüm herrschten.

»Wie auch immer«, brummte Torge schließlich wieder ins Telefon.

»Was gibt es denn so Dringendes?«, fragte ich neugierig und riss nebenbei die einzigen zwei Dachfenster auf, die es in der Wohnung gab.

»Mama hatte einen Unfall.«

»WAS?«, quiekte ich erschrocken und hielt mitten in der Bewegung inne. »Warum sagst du das nicht gleich? Ist sie verletzt? Was ist passiert, wie geht es ihr?« Ich sank auf das Bett, das den meisten Platz in dem einzigen Raum der Wohnung einnahm, für eine Couch war kein Platz mehr gewesen.

Torge seufzte angesichts meiner vielen Fragen.

»Sie ist mit dem E-Bike gestürzt und hat sich das Handgelenk verletzt, dazu ein paar Prellungen und eine leichte Gehirnerschütterung. Sie musste eine Nacht zur Beobachtung im Krankenhaus bleiben und ist jetzt wieder zu Hause.«

Meine Mutter war eine Nacht im Krankenhaus gewesen? Mir wurde mulmig.

»Warum rufst du erst heute an? Und seit wann hat sie ein E-Bike?«, fragte ich.

»Seit zwei Jahren«, antwortete Torge und überging meine erste Frage. Dann machte er eine Pause, als zögerte er, seine Gedanken auszusprechen. »Das wüsstest du vielleicht auch, wenn du öfter hier wärst.«

Heute ließ wohl jeder raus, was er dachte.

Dennoch sorgten seine Worte dafür, dass Schuldgefühle in mir aufstiegen, aber ich hielt sie klein und leierte die immer gleichen Argumente herunter.

»Du weißt doch, wie viel ich hier zu tun habe. Die Arbeit, die Vorbereitung für die Aufnahmeprüfungen …«

Mein Bruder grunzte in den Hörer, und ich rechnete ihm an, dass er keinen fiesen Kommentar à la »Wie oft willst du es noch probieren?« losließ. Es reichte, dass mir das eine innere Stimme ständig zuflüsterte. In letzter Zeit immer häufiger und eindringlicher. Irgendwie drohte die Euphorie um diesen ganzen Traum von der Schauspielerei zunehmend zu verpuffen, aber das konnte und wollte ich nicht zulassen.

»Du musst nach Hause kommen«, sagte mein Bruder und riss mich damit aus meinen Gedanken.

»Wie bitte?«, fragte ich erschrocken.

»Mama braucht Hilfe, und Bente und ich schaffen das neben der Arbeit und den Kindern nicht.«

Ich schloss die Augen. Seit ich nach Hamburg gezogen war, fuhr ich nur noch sporadisch in mein Heimatdorf an der Nordseeküste. Und wenn, dann nur für einen Tag oder Nachmittag, was von Hamburg aus kein großes Problem darstellte. In zwei Stunden war man dort. Aber für mehrere Tage zurückzukehren, verwandelte das mulmige Gefühl in meinem Magen in einen heißen Klumpen. Ich war dort weggegangen, um meinen Traum von der Schauspielerei zu leben, um groß rauszukommen und nicht mein Leben lang in einem Kaff zu versauern. Aber in all der Zeit, die ich hier war, hatte sich noch nichts davon erfüllt. Ich hörte sie schon in meinen Ohren klingen, die neugierigen Fragen der Dorfbewohner. Dazu drängte sich ein bestimmtes Bild an die Oberfläche: das von Finn Andresen.

Schnell schob ich es wieder in die hinterste Ecke meines Bewusstseins. An ihn wollte ich jetzt auf keinen Fall denken.

»Marlie«, drängte mein Bruder. »Komm nach Hause! Mama braucht dich, und sie würde dich niemals selbst darum bitten.«

Ich lächelte. Ja, meine Mutter war sturer als jedes Schaf am Deich.

»Ich soll ihr also im Haushalt helfen? Für wie lange?«, fragte ich und versuchte damit, Zeit zu schinden, weil in mir ein Kampf stattfand. Natürlich wollte ich meiner Mutter helfen, aber ich wollte nicht wieder zurück in dieses Dorf.

»Keine Ahnung, ich bin kein Arzt!« Die Geduld meines Bruders schwand wie der Tidenstand bei ablaufendem Wasser. Er war fast vier Jahre älter als ich und hatte seinen Weg im Leben gefunden, ohne dabei auch nur einmal falsch abzubiegen. Er war Zimmermann und besaß seit einigen Jahren eine eigene kleine Firma. Seine Frau Bente, mit der er seit der Abschlussklasse zusammen war, kümmerte sich um die zwei Kinder und die Buchhaltung. Sie waren so schrecklich normal, dass ich ihr Glück nur in geringen Dosen ertrug. Aber ich hatte meinen kleinen Neffen Hauke und seine Schwester Leni das letzte Mal zu Weihnachten gesehen, und das war ein halbes Jahr her. Mein Widerstand bröckelte, aber bevor er komplett einstürzten konnte, erwiderte ich: »Tut mir leid, das geht nicht. Ich … ich ruf Mama morgen an.«

»Marlie!«, sagte mein Bruder, aber ich hatte das Telefon bereits vom Ohr genommen und drückte rasch auf den roten Hörer.

Danach schrieb ich meiner Mutter erst mal eine Nachricht und fragte, wie es ihr ging. Mit jeder Minute, die ich dort auf der Bettkante hockte, wurde die Stille in dem Raum lauter und lauter. Mehrmals griff ich zum Handy, um meinen Bruder anzurufen und ihm zu sagen, dass ich doch kommen würde. Schließlich griff ich zu Block und Stift und legte ganz sachlich eine Pro-und-Kontra-Liste an. Es kamen nicht viele Punkte zusammen, aber manchmal war nicht die Anzahl entscheidend, sondern ihr Gewicht. Auf der Fahren-Seite stand:

Mama braucht Hilfe, und sie hat sich mein ganzes Leben lang allein um mich gekümmert ich vermisse meine Familiekein Jobkein Geld

Auf der Nicht-Fahren-Seite standen nur zwei Punkte:

neugierige DorfbewohnerFinn

Der letzte drohte, alle anderen zu überwiegen, aber dann riss ich mich zusammen. Das war alles lange her, ich benahm mich albern. Wütend auf mich selbst trennte ich den Zettel vom Block ab, knüllte ihn zusammen und pfefferte ihn kurzerhand an die Wand. Es würde schon nicht so schlimm werden. Ich musste ja nicht durchs Dorf flanieren. Bevor jemand mitbekam, dass ich da war, wäre ich auch schon wieder in Hamburg. Und Finn, der lebte bestimmt mittlerweile auf Sylt, wo er solchen Typen wie denen in der HafenCity-Bar, in der ich bis vor einer Stunde noch gearbeitet hatte, das Essen kredenzte.

Entschlossen griff ich zum Handy und wählte die Nummer von Torge.

»Ja?«, fragte er, nachdem er den Anruf angenommen hatte.

»Okay, ich komme«, hörte ich mich sagen. Meinen Hauptjob hatte ich sowieso verloren, und den einen Promo-Job in der nächsten Woche konnte ich auch sausen lassen, der würde das Loch in meinem Portemonnaie eh nicht stopfen.

Kaum hatte ich die Worte ausgesprochen, überrollte mich eine unerwartete Welle von Sehnsucht nach meiner Familie und dem Meer.

»Gut, ich sag Mama Bescheid.« Danach beendete diesmal Torge einfach das Gespräch, und das Besetztzeichen drang an mein Ohr.

Ich öffnete meinen Laptop und rief die Internetseite der Mitfahrzentrale auf.

Kapitel 3

Am nächsten Morgen packte ich meinen Koffer und steckte die ausstehende Miete in einen Umschlag. Dafür hatte ich meine letzten Notreserven zusammengekratzt. Unter anderem das Geld für Lebensmittel, das noch übrig war. Der Kühlschrank meiner Mutter war stets gefüllt, sodass ich keine Gefahr lief, zu verhungern.

Auf der Webseite der Mitfahrzentrale hatte ich jemanden gefunden, der quasi an meinem Heimatdorf vorbeifuhr. Manchmal hatte selbst ich Glück. Auf einmal war ich fast froh, Hamburg für ein paar Tage zu entfliehen, bevor ich mir eine neue Stelle suchen musste.

Nach einem letzten Blick durch meine kleine Wohnung zog ich die Tür hinter mir ins Schloss. Als ich die Treppe nach unten stieg, wartete mein Vermieter bereits mit vor der Brust verschränkten Armen im Erdgeschoss auf mich. Wie üblich trug er eine Trainingshose aus glattem Polyesterstoff mit passender Jacke, wie es in den 1990ern in gewesen war. Darunter lugte der Rand eines weißen Unterhemdes hervor. Kommentarlos drückte ich ihm im Vorbeigehen den Umschlag in die Hand.

»Die Miete verspätet zahlen, aber in den Urlaub fahren, das sind mir die Richtigen!«

»Ich fahre nach Hause zu meiner Mutter.«

»Ab nächsten Monat erhöht sich die Miete um 30 Euro«, krakeelte er mir hinterher.

Ich blieb stehen und drehte mich zu ihm um.

»Sie können nicht ständig wahllos die Miete erhöhen, wie es Ihnen passt.«

»Die Nebenkosten sind gestiegen, da kann ich nichts machen.« Seine schmalen Augen schauten mich triumphierend an.

Ich stieß ein unterdrücktes Knurren aus, als ich meinen Koffer durch die Haustür zog. Dieser Arsch! Niemals hätte ich mich darauf einlassen sollen, ohne einen Mietvertrag und mit Barzahlung dort einzuziehen. Aber die Wohnung war unschlagbar günstig gewesen. Wohnraum in Hamburg war schließlich fast so teuer wie auf Sylt. Wenn ich aus Nordfriesland zurück war, musste ich dringend mit dem Mann sprechen und auf einem offiziellen Mietvertrag beharren, durch seine ständigen »Nebenkostenerhöhungen« war die Miete inzwischen eh kaum noch günstiger als bei vergleichbaren Wohnungen.

Mein kleiner Koffer ruckelte über den Gehweg hinter mir her, während ich die Straße bis zur Kreuzung hinunterlief, an der mich meine Mitfahrgelegenheit einsammeln wollte. Sicherheitshalber hatten wir gestern Handynummern getauscht. Aber kaum hatte ich die Ecke erreicht, hielt schon ein älterer, dunkelblauer Passat am Bürgersteig.

Ein Typ, etwa in meinem Alter, stieg aus. Sein aschblondes Haar war kurz geschnitten, und er trug eine Jogginghose und ein T-Shirt. Aber nicht die Art von Jogginghose, wie die von meinem Vermieter, sondern die Art, die in den letzten Jahren durchaus gesellschaftsfähig geworden war. Gott sei Dank musste Karl Lagerfeld das nicht mehr erleben.

»Moin, Moin«, begrüßte er mich und entlarvte sich damit als Tourist. Kein Nordfriese sagte zweimal Moin.

»Hallo«, entgegnete ich, als er mir meinen Koffer abnahm. »Ich bin Marlie.«

»Thomas«, stellte er sich vor und wuchtete mein Gepäck in den Kofferraum, der bereits ziemlich vollgepackt war. Einige Reisetaschen und drei Kartons stapelten sich im Heck des Kombis.

Ich setzte mich auf den Beifahrersitz, und Thomas fädelte sich kurz darauf gekonnt aus dem Halteverbot zurück in den dichten Verkehr ein.

»Wird wohl ein längerer Urlaub«, sagte ich und deutete mit dem Kopf zur ebenfalls vollgepackten Rückbank.

»Nicht direkt, ich ziehe um.«

»Okay, wow, wegen der Liebe?«, fragte ich scherzhaft.

»Nee, die lässt leider noch auf sich warten. Aber ich habe da oben einen genialen Job ergattert. Cooles Restaurant und das Meer direkt vor der Nase – ich meine, das ist wie ein Sechser im Lotto.« Er grinste.

»Restaurant? Bist du Koch?«, erkundigte ich mich, und sofort rumorte es unangenehm in meinem Magen.

»Du siehst hier einen frischgebackenen Souschef, das bedeutet, ich bin der …«

»… der Stellvertreter nach dem Küchenchef«, vollendete ich den Satz.

Thomas sah mich überrascht an. »Da kennt sich jemand aus. Arbeitest du auch in der Gastronomie?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nicht wirklich.« Ich wollte weder über meinen Job in der Bar reden noch über den Grund, warum ich wusste, was ein Souschef war. Um den aufkeimenden Tumult in meinem Bauch zu stoppen, lenkte ich das Thema weg von seinem Beruf. »Aber außer der Nordsee gibt es da nicht viel, bist du dir darüber im Klaren? Kommst du ursprünglich aus Hamburg?«

»Ich bin ein echtes Landei aus Niedersachsen und nur für die Ausbildung nach Hamburg gezogen. Ein paar Jahre fand ich es in der Stadt ganz cool. Die vielen Klubs, Konzerte und Möglichkeiten. Aber auf Dauer ist es mir hier einfach zu voll, zu viele Menschen.«

Ich nickte zustimmend. Manchmal empfand ich das genauso. Nirgendwo konnte man allein sein, außer in seiner Wohnung. Immer und überall begegneten einem Menschen. Und dennoch fühlte man sich oftmals einsamer als auf dem Dorf.

»Und du? Urlaub?«, fragte Thomas.

»Ich besuche meine Mutter, sie ist mit dem Fahrrad gestürzt und braucht meine Hilfe.«

»Also kommst du von dort, aus …«

»Fahretoft«, half ich ihm aus.

»Noch nie gehört«, entgegnete Thomas und lachte. »Ich habe eine kleine Wohnung in einem Ort namens Niebüll gefunden.«

Er sprach das Ü viel zu lang aus, was Leute von außerhalb oft taten.

»Das ist nicht weit entfernt.«

»Dann sehen wir uns ja vielleicht mal wieder. Das Restaurant macht allerdings erst in einigen Wochen auf, wird noch renoviert, der Ort heißt … Ach Mist, immer vergesse ich den Namen, liegt aber direkt am Meer. Der Name des Restaurants ist Quai.«

»Davon habe ich noch nie gehört.« Was nicht verwunderlich war, da es ja gerade erst eröffnete und ich länger nicht zu Hause gewesen war.

»Wenn du willst, schreibe ich dir die Adresse, und du kannst zum Probeessen kommen.«

»Das ist nett, aber ich denke nicht, dass ich allzu lange bleiben werde.«

Thomas zuckte mit den Schultern. »Schade.«

Während der nächsten Stunde schaute ich aus dem Fenster und lauschte der Musik, die aus dem Radio dudelte. Unweigerlich wanderten meine Gedanken voraus in das kleine Dorf, in dem ich aufgewachsen war, und zu seinen teilweise verschrobenen Bewohnern. Ich hatte trotz des fehlenden Vaters eine schöne und unbeschwerte Kindheit gehabt. Oder gerade, weil er den größten Teil gefehlt hatte. Ich war noch ziemlich klein, als meine Mutter entschied, sich künftig ohne ihn um uns zu kümmern. Aber die Erinnerungen, die ich an ihn hatte, waren nicht die besten. Oft war er erst spätabends nach Hause gekommen und hatte stark nach Alkohol gerochen. Manchmal war er gut gelaunt, geradezu überdreht gewesen, manchmal eher depressiv. Je nachdem, ob er mal wieder seine Arbeit verloren oder Glück gehabt und eine neue Anstellung gefunden hatte. Beide Stadien waren meist nur von kurzer Dauer. Nach der Trennung lebte er zwar nur eine halbe Stunde Autofahrt von uns entfernt, trotzdem sah ich ihn nur selten. Erst als er eine neue Frau kennenlernte, fing er sich und wurde ein besserer Vater. Nur leider nicht mehr für meinen Bruder und mich, sondern für seine neue Familie. Aber das alles hatte nichts daran geändert, dass ich eine glückliche Kindheit erlebte, dank meiner Mutter Doris. Während mein Bruder am liebsten mit seinem Kumpel Mike Fußball auf dem Dorfplatz spielte, baute ich mit Finn lieber Höhlen oder angelte Aale im Kanal. Manchmal war auch Indra mit dabei. Wir drei waren im selben Alter, aber Indra ging in die dänische Schule. In unserem Grenzgebiet, das lange zum Königreich Dänemark gehört hatte, gab es heute noch das Angebot für die dänische Minderheit, eine dänische Schule zu besuchen. Indra war Tochter einer Dänin und eines deutschen Vaters, und ihre Eltern hatten sich für das dänische Schulsystem entschieden. Dadurch war Indras Verbindung zu uns nie so stark gewesen wie die zwischen Finn und mir, die wir den ganzen Tag gemeinsam die Schulbank drückten. Auch der Umstand, dass Finn bei seinem Onkel Enno aufwuchs, verband uns von dem Moment an, in dem er in der Grundschule neu in meine Klasse kam. Wenn die anderen Kinder uns hänselten mit Sprüchen wie »Dein Vater ist ein Säufer« oder »Deine Mutter wollte dich nicht, weil du eine Missgeburt bist«, verteidigten wir uns gegenseitig und waren schon bald unzertrennlich. Ich lächelte bei dem Gedanken flüchtig, bis mir klar wurde, wie lange das alles her war. Dass ich seit vier Jahren keinen Kontakt mehr zu Finn hatte und dass er dieses Band, das uns über viele Jahre verbunden hatte, ohne Vorwarnung in nur einer Nacht durchtrennt hatte.

Kapitel 4

Wir kamen gut durch, ohne Stau. Als die A 23 endete und in eine Landstraße überging, erstreckte sich links und rechts die typisch nordfriesische Landschaft. Weite Felder, Windmühlen und … nichts. Eine Mischung aus dem vertrauten Gefühl, wie es nur die Heimat in einem hervorrief, und Unwohlsein verquirlte sich mit jedem Kilometer weiter in meinem Magen.

Wir passierten Husum, Hattstedt, Bredstedt …

»Wo genau ist denn das Haus deiner Mutter? Wenn es kein großer Umweg ist, fahr ich dich direkt dorthin.«

»Das ist nett von dir! Du kannst da vorn in Richtung Bordelum abbiegen.«

Ich dirigierte Thomas durch die einzelnen Dörfer, bis wir den Bongsieler Kanal überquerten und schließlich in Fahretoft den Holländerdeich erreichten, an dem das Haus meiner Mutter lag. Entlang der alten Küstenschutzlinie, deren Bau einst Holländer und Dänen vorantrieben, erstreckten sich kleine Dörfer und Köge, die aber mittlerweile alle zur Hafengemeinde Dagebüll gehörten, wo mein Bruder mit seiner Frau Bente lebte und er seine Zimmerei betrieb. Die einstige Funktion der ehemaligen Deiche hatte die Namen der Straßen geprägt, die heute auf ihnen verliefen: Holländerdeich, Westerschinkeldeich, Tonderndscher Deich. Um nur ein paar zu nennen. Die Bebauung hingegen war seit jeher ein Mix aus verschiedenen Baustilen der jeweiligen Generationen. Jedes Jahrzehnt hatte einen Abdruck im Ortsbild hinterlassen. Wir fuhren mindestens an drei Baustellen vorbei, wo gerade neue prachtvolle Reetdachhäuser entstanden.

Wieder kam dieses gemischte Gefühl von vertraut und fremd in mir auf, als Thomas um kurz nach zwölf vor dem kleinen Siedlungshaus meiner Mutter anhielt. Es zählte zu den weniger schönen Bauten – ein Gebäude aus den 1950er-Jahren, einfache Form, roter Backstein, das sie sich mühsam zusammengespart hatte, um mir und meinem Bruder ein schönes Zuhause zu geben. Wir waren hier eingezogen, nachdem meine Mutter meinen Vater verlassen hatte. Also verband ich mit diesem Haus vorwiegend positive Erinnerung. Keine streitenden Eltern, kein torkelnder und lallender Vater, nur Mama, Torge und ich.

»Vielen Dank und viel Erfolg bei deiner neuen Stelle«, sagte ich zum Abschied und gab Thomas meinen Anteil für die Spritkosten. Nun herrschte in meiner Geldbörse endgültig Ebbe.

»Danke, dir eine schöne Zeit und deiner Mutter gute Besserung!«

»Werde ich ihr ausrichten.« Ich winkte noch einmal, als er davonbrauste, dann drehte ich mich zum Haus um. Als ich zum Hintereingang ging und die Klinke hinunterdrückte, verspürte ich eine leichte Anspannung.

»Mama?«, rief ich in den Flur.

»Komm rein!«, schallte es fröhlich zurück.

Ich trat ein, und sofort stieg mir der vertraute Duft meiner Kindheit in die Nase. Jedes Haus hatte seinen ganz eigenen Geruch. Eine Mischung aus den Gemäuern, den verwendeten Putzmitteln und der Personen, die dort lebten, dem Essen, das dort gekocht wurde, dem Waschpulver, mit dem die Wäsche gewaschen wurde.

Sofort verzogen sich meine Mundwinkel zu einem Lächeln. Es roch für mich nach zu Hause – nach einer guten Zeit.

Als ich meine Schuhe abgestreift hatte, erblickte ich meine Mutter im Türrahmen.

»Hey!« Sie trug ihr hellbraunes Haar länger als bei meinem letzten Besuch, und das Gestell ihrer Brille war ebenfalls neu. Dann entdeckte ich die Schiene an ihrem rechten Handgelenk, die sich bis zum halben Unterarm erstreckte.

»Marlie, Süße, es ist so schön, dass du es einrichten konntest! Ich wollte es gar nicht glauben, als Torge mir erzählt hat, dass du kommst.« Sie trat näher, und ich gab ihr einen Kuss auf die Wange, während sie mich in die Arme zog.

»Pass auf, deine Hand!«

»Eine Umarmung bekomme ich wohl noch hin.«

Ich schmunzelte, meine Mutter ließ sich niemals unterkriegen.

»Wenn du Hilfe brauchst, lass ich dich doch nicht hängen.«

»Komm erst mal richtig rein.«

Ich folgte ihr ins Wohnzimmer und ließ mich auf das Sofa neben sie fallen.

»Wie ist das denn bloß passiert?« Ich deutete auf ihre Hand.

»Ich bin mit dem Elektro-Fahrrad gefahren, und als ich den Bordstein hochwollte, ist mir das Vorderrad weggerutscht.«

»Autsch!«

»Kannst du laut sagen, ist aber noch glimpflich ausgegangen. Die Bandstruktur am Gelenk ist durch die Dehnung verletzt – so hat es der Arzt ausgedrückt, aber im Grunde bedeutet das, dass es verstaucht ist, und das ist manchmal schmerzhafter als ein Bruch.«

»Also kannst du die Hand gar nicht benutzen?«, hakte ich nach.

»Doch, ein wenig schon, aber die Post wegbringen, das geht einfach nicht, es sind zu viele Pakete, und schalten könnte ich im Auto auch nicht.«

Verwirrt kräuselte ich die Stirn. »Torge meinte, ich soll dich hier zu Hause unterstützen.«

Meine Mutter machte mit der unverletzten Hand eine wegwerfende Bewegung. »Ach, das hat er wohl falsch verstanden, der ist ja auch immer im Stress.«

»Aber was soll ich denn dann hier?«, fragte ich, obwohl ich die Antwort bereits erahnte.

»Süße, du musst für mich die Post zu Johann bringen, die Halligbewohner haben schließlich ein Recht auf ihre Briefe und Pakete«, sagte meine Mutter, als sei das sonnenklar. Seit über zwanzig Jahren arbeitete sie für die Deutsche Post. Von Montag bis Samstag holte sie alle Sendungen für die Halligbewohner von Oland, Gröde und Langeneß im Verteilerzentrum auf dem Festland ab und brachte sie – je nach Tidenstand – zur Lore oder zum Schiff, von wo der Postschiffer Johann sie auf die Halligen brachte. Dort wurden sie in Empfang genommen und an die Haushalte verteilt. Außerdem nahm meine Mutter von ihm die ausgehende Post von der Hallig entgegen und brachte sie auf dem Rückweg ins Verteilerzentrum.

»Aber Mama, dein Arbeitgeber ist doch für einen Ersatz verantwortlich, wenn du krank bist.« Auf keinen Fall würde ich das übernehmen, da konnte ich ja gleich eine Zeitungsannonce aufgeben, dass ich zu Besuch war. Gern hätte ich vorgeschoben, dass ich in Hamburg auch eine Arbeit hatte, der ich nachgehen müsste. Aber mehr als den einen mickrigen Promo-Job gab es in nächster Zeit nicht, und meine Stelle in der Bar gehörte seit gestern der Vergangenheit an. Es sprach also im Grunde nichts dagegen, dass ich hier war. Außer vielleicht, dass ich mir schnellstmöglich eine neue Anstellung suchen musste oder die Zeit für Vorsprechen oder Kurse nutzen sollte. Wobei Letzteres ohne neuen Job nicht zu finanzieren war. Ein Teufelskreis.

Ich stöhnte innerlich, meine derzeitige Lage bereitete mir Kopfschmerzen.

»Seit ich dort arbeite, kümmere ich mich immer selbst um meine Vertretung, das ist Johann auch lieber so, und ich weiß zudem, dass alles ordentlich erledigt wird. Wer weiß, wen die Post da sonst hinschicken würde, außerdem haben die nicht genügend Personal, die Leute bestellen ja immer mehr im Internet«, erklärte meine Mutter.

»Was ist denn mit Silke, die hat die Vertretung doch sonst für dich übernommen, oder?«

»Die ist auf einer Kreuzfahrt – vier Wochen lang, kannst du dir das vorstellen? So lange auf einem Schiff, mit Tausenden von Leuten? Wie die Sardinen in der Büchse.« Meine Mutter schüttelte verständnislos den Kopf. »Und dann kostet das auch noch 10.000 Euro.«

»Hm«, machte ich nur, während ich fieberhaft nach einer Lösung suchte, wie ich aus der Nummer wieder rauskam.

»Damit würdest du mir wirklich sehr helfen. Aber ich verstehe natürlich, wenn du das nicht einrichten kannst. Du sollst wegen mir nicht dein Leben in Hamburg auf den Kopf stellen.«

Seufzend lehnte ich mich zurück. Meine Mutter hatte sich jahrelang ein Bein ausgerissen, um für mich und meinen Bruder da zu sein und gleichzeitig für den Unterhalt von uns dreien zu sorgen, von meinem Vater war keine Unterstützung gekommen. Nach der Scheidung war er jahrelang arbeitslos gewesen, und wo kein Einkommen war, konnte auch kein Unterhalt herkommen. Zwar sprang in so einem Fall das Jugendamt für den Unterhaltsvorschuss ein, aber ohne ihren Job bei der Post hätte es nicht funktioniert. Da war es wohl das Mindeste, meiner Mutter diesen Gefallen zu tun. Und ich würde schließlich nicht die Post im Dorf austragen, ich musste sie nur vom Verteilungszentrum zum Hafen bringen. Johann mal wiederzusehen, war sicher auch schön.

»Na gut, ich mach’s«, sagte ich schließlich.

»Ach, du bist ein Schatz, und die paar Briefe von Nordbrief sind auch kaum der Rede wert.« Sie erhob sich. »Komm, wir müssen noch Kartoffelsalat machen, Torge, Bente und die Kinder kommen später zum Grillen.«

Na prima. Zwar freute ich mich darauf, alle wiederzusehen, aber mein Bruder war immer so schrecklich geradeheraus, und ich war mir sicher, er würde auch dieses Mal etwas finden, was er mir dringend unter die Nase reiben musste. Dabei war ich noch damit beschäftigt, zu verdauen, dass ich den Job meiner Mutter übernehmen sollte. Mit etwas Verzögerung sickerte dann auch der erste Teil ihrer Antwort in mein Bewusstsein.

»Was? Welche Briefe von Nordbrief?«, fragte ich panisch.

»Na, ich trage doch seit zwei Jahren zusätzlich im Ort die Briefe für Nordbrief aus, diesem regionalen Briefzusteller. Deswegen habe ich doch überhaupt das Elektro-Fahrrad bekommen. Aber keine Sorge, da fällt nicht mal jeden Tag was an.« Sie lächelte mir aufmunternd zu, bevor sie voraus in die Küche ging.

Ich blieb ein paar Sekunden wie erstarrt sitzen und wusste nicht, was mich mehr entsetzte: dass ich Briefe im Dorf austragen sollte und sich das nur schwer mit meinem Plan, unter dem Radar des Dorffunks zu bleiben, vereinbaren ließ. Oder dass ich weder gewusst hatte, dass meine Mutter mittlerweile einen zweiten Job hatte, noch dass sie dafür das E-Bike bekommen hatte. Auf jeden Fall sorgte das Ganze für ein ziemlich unbehagliches Gefühl in meinem Bauch, und ich schlurfte ihr in die Küche hinterher.

Während ich die Kartoffeln pellte, die meine Mutter bereits vor meiner Ankunft gekocht hatte, versuchte sie, mit einer Hand einen Dip für das Baguette anzurühren.

»Mama, lass mich das doch machen, setz dich und erzähl mir lieber, wie es dazu gekommen ist, dass du die Post im Dorf austrägst.«

Seufzend ließ sie sich mir gegenüber am Küchentisch nieder. »Wie eingeschränkt man mit einer Hand ist, ganz furchtbar«, beklagte sie sich. Meine Mutter war zeitlebens ein sehr eigenständiger Mensch, es musste sie wahnsinnig machen, jetzt auf Hilfe angewiesen zu sein.

»Genieß doch einfach mal, dass sich jemand um dich kümmert«, versuchte ich, sie aufzumuntern.

Die Kartoffeln hatte ich mittlerweile alle von der Schale befreit und in Scheiben geschnitten. »Aber du musst mir nun leider das Geheimnis deines Kartoffelsalats verraten.«

Das brachte sie zum Lachen. »Da gibt es kein Geheimnis, du hast mich nur nie nach dem Rezept gefragt.«

Unter ihrer Anleitung gelang es mir, einen 1a-Kartoffelsalat zu zaubern, während ich dem neuesten Dorftratsch lauschte, der sich vor allem um die Freundinnen meiner Mutter drehte. Außerdem erzählte sie, wie sie den Job von Nordbrief angeboten bekam und sich dachte, es sei eine schöne Abwechslung, mit dem Rad Briefe auszutragen.

Als der Salat im Kühlschrank verstaut war, rührte ich noch den Dip an und legte das Brot bereit. Würstchen wollte mein Bruder mitbringen. Nachdem alles vorbereitet war, zogen wir in den Garten um, wo sich meine Mutter in den altersschwachen Strandkorb setzte. Es war ein Sylter Original, was aber auch bedeutete, dass er auf der Insel bereits seinen Dienst getan hatte und nicht mehr gut genug für die Touristen gewesen war. Aber meine Mutter liebte ihn. Torge hatte ihn für sie besorgt, als er einige Jahre viel auf der Insel gearbeitet hatte. Mittlerweile dürfte das Ding ziemlich morsch sein, und ich hoffte, meine Mutter würde nicht irgendwann damit zusammenbrechen. Gleich neben dem Strandkorb stand der hölzerne blau-weiß gestreifte Leuchtturm, den ich vor Ewigkeiten selbst gebaut und meiner Mutter zum Geburtstag geschenkt hatte. Er maß ungefähr einen Meter, und in die Spitze des Turms konnte man eine Kerze hineinstellen, deren Licht durch die kleinen Fenster schien. Meine Mutter hatte sich so sehr darüber gefreut, und ich musste unwillkürlich schmunzeln, weil er immer noch einen Ehrenplatz im Garten hatte, obwohl die Farbe ausgeblichen war und an einigen Stellen abblätterte.

Auf dem Rasen rund um die Sandkiste lagen allerlei bunte Schaufeln, Sandbackformen und anderes Spielzeug verstreut. Kaum hatte ich das bemerkt, stürmten die Kinder meines Bruders um die Ecke.