Meerschaumglitzern - Lena Häfermann - E-Book

Meerschaumglitzern E-Book

Lena Hafermann

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Beschreibung

Es geht wieder nach Friesum! Alma Peters hat ihre jüngst zurückliegende Scheidung gut überstanden. Nun ist es an der Zeit, ihr Leben wieder in ruhige Fahrwasser zu lenken: in Hamburg, als Single und am liebsten ganz ohne besondere Vorkommnisse. Doch ein berufliches Projekt auf Friesum durchkreuzt ihre Pläne. Ausgerechnet auf einer Insel! Das Meer und seine unendliche Weite sind ihr ebenso unheimlich wie alles, was ihr behagliches Dasein durcheinanderbringen könnte. Doch es kommt noch schlimmer: Finn Berger, ein immer gut gelaunter Unterwasserarchäologe, arbeitet gemeinsam mit ihr an der Sanierung des Altfriesumer Leuchtturms. Seine Leidenschaft für die Geschichte und ihr Bedürfnis, die Renovierung nach geltenden Sicherheitsstandards durchzuführen, krachen immer wieder aufeinander. Und dann merkt Alma auch noch, dass sie Finn nicht mehr nur nervig, sondern überdies auch ziemlich anziehend findet.

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Lena Häfermann

Meerschaumglitzern

Liebe auf Friesum – Band 2

Cover erstellt mit canva.comIllustrationen: Corinna Beckmann

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Impressum

Meerschaumglitzern

Liebe auf Friesum – Band 2

Kapitel 1

„Sie sind jetzt offiziell geschieden, Sie müssen nur noch hier unterschreiben.“

Der Anwalt, dessen Glatze unter dem künstlichen Licht sanft schimmert, hält Alma den goldfarbenen Kugelschreiber entgegen; sie ergreift ihn beherzt, setzt ohne zu zögern ihre Unterschrift unter das Schriftstück und reicht den Kuli dann weiter an ihren Mann oder besser, Ex-Mann. Der nimmt den Stift zwar an sich, hält aber inne, seufzt und wirft ihr einen seiner Golden-Retriever-Blicke zu, die sie jahrelang butterweich werden ließen. Nicht so heute.

„Los jetzt“, sagt sie und schielt ungeduldig auf ihre Armbanduhr, „ich habe noch eine Verabredung.“

Steffen lacht gekränkt auf. „Dass du das einfach so kannst!“ Er wird so schnell theatralisch, wenn er seinen Willen nicht bekommt, denkt Alma und unterdrückt ihren Zwang, ihn zurechtzuweisen. Das gehört nun wirklich nicht mehr zu ihren Aufgaben.

Sein Willen bedeutete in diesem Fall: eine Ehefrau und eine junge schöne Geliebte. Er hätte das Arrangement gern weitergeführt. Mit Almas Wissen oder ohne, da war er nicht so festgelegt, aber als sie dummerweise durch einen Zufall von Mila erfahren hat, nahm sie ihm die Entscheidung kurzerhand ab.

Denn eines Tages erreichte sie ein Anruf aus einem Lübecker Hotel. Man hätte dort auf dem Zimmer, das Herr und Frau Schneidersson am Wochenende bewohnt hatten, ein edles Smaragd-Armband gefunden. Sie wollten nur sichergehen, dass es ihr gehörte, und würden es ihr dann umgehend zusenden. Das war sehr umsichtig und zuvorkommend, nur: erstens trägt sie gar nicht den Nachnamen ihres Mannes, sondern heißt nach wie vor Peters – gut, das wäre noch kein eindeutiger Hinweis gewesen – und zweitens war sie an jenem Wochenende überhaupt nicht in Lübeck. Ihren Gatten, damals noch ohne Ex, wähnte Alma in Kiel, wo er über das Wochenende vermeintlich beruflich zu tun hatte. Dass man sie mit einem anderen Paar verwechselte, erschien ihr angesichts des eher ungewöhnlichen Nachnamens sehr unwahrscheinlich. Dennoch gab sie vorsichtig den Hinweis, dass sich das Hotelpersonal wohl irren müsste, woraufhin sie die Antwort erhielt, dass sie doch mittlerweile schon so etwas wie Stammgäste wären und sie sich also ganz sicher seien, dass das Ehepaar Schneidersson am Wochenende mal wieder einen romantischen Ausflug in ihre Lieblingsstadt gemacht hatte. Toll, dass sie es immer wieder schafften, sich diese Zeit zu nehmen und auch immer noch so verliebt wirkten wie am ersten Tag.

Ja, toll, dachte Alma damals völlig perplex und fühlte sich wie eine Kandidatin von „Die versteckte Kamera“ oder „Verstehen Sie Spaß?“. Irgendjemand führte sie hier doch eindeutig hinters Licht! Steffen konnte also seit einiger Zeit die Liebe zu einer ihr unbekannten Frau prima aufrechterhalten?

Ihr Mann ist Unternehmensberater und seit Corona zwar nicht mehr ganz so häufig unterwegs wie zuvor, aber bisweilen war seine Anwesenheit in den zu beratenden Firmen doch erforderlich. Insbesondere die Einladung zu glamourösen Events wie die Feier von gelungenen Fusionen nimmt Steffen nur allzu gern an. Deshalb war er auch während ihrer Ehe häufig mal ein Wochenende allein verreist. Dass Alma an derlei Veranstaltungen kaum Interesse zeigte, störte sie beide nicht. Es waren andere Dinge, die ihre Beziehung ausmachten. Sie waren wie Feuer und Wasser, wie Berge und Meer, wie blutiges Steak und Tofu – einfach grundverschieden. Aber sie liebten sich trotzdem oder gerade deswegen. Zumindest dachte Alma das bis zu jenem unheilschwangeren Anruf aus Lübeck. Pragmatisch wie sie war, ließ sie sich das besagte Armband zusenden und konfrontierte Steffen damit. Hübsch war es. Daran bestand kein Zweifel. An das Armband erinnerte sich Steffen zwar nicht, aber die Fragen nach ihrer Lieblingsstadt Lübeck, ihrer nicht zu versiegen wollenden Zuneigung füreinander und der daraus resultierenden Frage nach ihrem Ehegeheimnis ließen ihn radieschenrot werden.

Das Ganze ist nun ein Jahr her. Alma ist längst darüber hinweg. Direkt nach ihrem klärenden Gespräch, das für sie trotz allem mehr Fragen offenließ als beantwortete, hat sie kurzen Prozess gemacht. Denn auch wenn sie Steffen sehr geliebt hat: Sich selbst liebt sie noch mehr.

Als Alma nun am Tag ihrer Scheidung aus dem Gerichtsgebäude tritt, bleibt sie einen Moment auf den steinernen Eingangsstufen stehen, sieht in den hellblauen Himmel, der mit ein paar zarten Wattewölkchen dekoriert ist, und atmet tief aus. Das war es also, denkt sie und fühlt sich befreit, traurig, hoffnungsfroh und wehmütig zugleich. Dass sie mitten im Weg steht, kümmert sie nicht. Dass einige Leute, die an ihr vorbeihasten, bereits meckern, noch weniger. Sie hört gar nicht hin und lässt ihren Blick über den Platz vor dem Gericht schweifen. Ihre beste Freundin Sophie wollte sie abholen. Aber wie üblich kann Alma sie zur verabredeten Zeit noch nicht entdecken. Das ist typisch Sophie. Immer mindestens auf den letzten Drücker, meist sogar um ein paar Minuten zu spät. Alma kann es ihr nur deshalb nicht krummnehmen, weil sie ihre Unzuverlässigkeit mit Güte, Witz und Loyalität aufwiegt. Gemeinsam sind die beiden Freundinnen schon durch dick und dünn gegangen, haben in ihren wilden Studienjahren kaum eine Party verpasst und ihr Singleleben ordentlich ausgekostet. Alma muss kichern, als sie daran zurückdenkt. Dann stutzt sie. Sie ist ja jetzt wieder Single! Die Datingwelt hat sich seit damals sicher verändert, kommt es ihr in den Sinn. Mit 37 tobt man nicht mehr über Unifeten und durch die Clubs, bis sich jemand Passendes findet. Oder etwa doch? Alma überlegt. Nun, eigentlich soll es ihr auch egal sein. Sie will ohnehin keinen neuen Mann. Schon den letzten hat sie nicht wirklich gewollt. Er war wie … ein Kätzchen, das man im Korb vor dem Tierheim abgesetzt hat. Etwas an ihm hat sie, die taffe Alma, berührt. Sie wollte sich um ihn kümmern, wollte für ihn da sein und genoss es, plötzlich Teil eines Paares zu sein. Seine romantische Ader hat ihn dazu gebracht, ihr etwas verfrüht nach drei Monaten einen Antrag zu machen, und ihr Willen, immer genau das Gegenteil von dem zu tun, was man von ihr erwartet, hat sie ja sagen lassen. Das ist nun über zehn Jahre her. Es ist erstaunlich lange gut gegangen.

Aber dennoch: es war das letzte Mal. Über ihre Schwelle würde kein Mann mehr kommen. Sie auf den Händen tragend schon gar nicht. Allenfalls, wenn er eben jene Schwelle noch in der gleichen Nacht oder spätestens am nächsten Morgen erneut in die entgegengesetzte Richtung übertritt. Falls, wirklich nur falls, sie sich jemals wieder verlieben und einen Mann in ihr Leben lassen würde, dann wäre es jemand, der exakt so wäre wie sie selbst. Jemand, der gern zuhause ist, und damit meint sie hier in Hamburg, einem stinknormalen Beruf nachgeht und seine Emotionen zu bändigen weiß. Wohin das mit den Gegensätzen führt, hat sie ja schließlich bei Steffen gesehen.

Nun heißt es erstmal: warten. Alles, was Alma sehen kann, ist Mila, ein engelsgleiches Geschöpf von etwa 25 Jahren, mit langen blonden Locken, großen Rehaugen und einem Körper wie ein Model. Ein Aufeinandertreffen würde Alma eigentlich gern vermeiden. Nicht, dass sie nicht über den Dingen stehen kann, aber am Tag der Scheidung muss sie den Grund dafür nicht unbedingt treffen. Obwohl Alma überzeugt ist, dass Mila nur ein Symptom für die Krankheit ist, unter der ihre Ehe offensichtlich gelitten hat. Schuld trägt allein Steffen.

„Hey“, vernimmt sie jetzt seine Stimme direkt hinter sich. Ganz nah, fast geflüstert. Als wäre es ein Geheimnis. Sie spürt den Atem, der mit den Worten über seine Lippen kommt.

Sie dreht sich um und macht unwillkürlich einen Schritt zur Seite, um den Abstand zu vergrößern.

„Hey“, gibt sie zurück. Fest, erhaben, mit gestrafften Schultern. Sie streicht ihr langes dunkles Haar zurück und fährt sich anschließend automatisch mit den Fingern durch den Pony, um ihn zu richten und aufzulockern.

„Was ist mit deiner Verabredung?“, will Steffen mit hochgezogener Augenbraue wissen. „Du hattest es doch eben so eilig.“

„Sophie“, erwidert Alma knapp. Damit ist alles gesagt. Steffen weiß um die zeitliche Flexibilität ihrer besten Freundin.

Er nickt verstehend. Während er seine Augen über den Parkplatz wandern lässt, entdeckt auch er Mila. Er seufzt leise. So leise, dass man es fast hätte überhören können, aber Alma war fast zehn Jahre mit diesem Mann verheiratet, ihr entgeht es nicht. Aber sie sagt nichts dazu. Was soll sie auch erwidern? Ist ein Seufzen eine Frage, die eine Antwort erforderlich macht?

„Es tut mir leid“, sagt Steffen. Er sagt es nicht zum ersten Mal. Natürlich hat er, als er mit seiner Affäre aufgeflogen ist, gestammelt und behauptet, es tue ihm leid. Alma erinnert sich. Vor allem daran, dass sie selbst glaubt, man sollte eine Ehe, vielleicht sogar ein Leben so führen, dass es nicht viel gibt, was einem leidtun kann. Dass man immer moralisch handelt. Rücksichtsvoll. Zuversichtlich. Vor allem aber mit einer Menge gesundem Menschenverstand. Man sollte leben und lieben, wie man sich die Liebe, oder das Leben, ausgemalt hat. Findet Alma. Steffen hingegen wusste, dass eine Affäre falsch ist und hat sie trotzdem begonnen. Obwohl die beiden sich angesichts der vielen Unterschiede, die sie trennten, wenigstens zwei Dinge geschworen hatten: Respekt und Ehrlichkeit. Dass Steffen manchmal wankelmütig ist, seinen Gefühlen viel Raum gibt und immer Herz über Kopf entscheidet, gibt ihm in Almas Augen nicht das Recht, bestimmte Regeln zu missachten. Aber er hat es getan. Er hat sie damit verletzt und ihre Ehe ruiniert, daran ändert auch seine vielfach wiederholte Entschuldigung nichts. Wer ein Glas kaputt macht, erwartet auch nicht, dass es sich wie von Zauberhand wieder zusammensetzt, wenn man sich bei den Scherben entschuldigt.

„Hörst du?“, hakt er nach als Alma nicht antwortet.

„Ja doch.“ Alma macht Anstalten, die Treppe hinabzusteigen und an der Straße auf Sophie zu warten. Wenn ihre Freundin in ihrem marienkäferroten Sportwagen, dessen Marke sich Alma nie merken kann, vorfährt, könnte Alma einfach hineinhüpfen und Steffen und ihr altes Leben stehen lassen. Doch jetzt hält er sie am Arm fest und will sie nicht gehen lassen. Es könnte ihr egal sein, aber Almas Blick schnellt zu Mila, die näher gekommen ist und das Geschehen interessiert beäugt. Alma weiß, dass sie unsicher ist. Sie ist 12 Jahre jünger als Steffen und sie. Fast hat sie Mitleid mit dem armen Mädchen. Kann sie denn etwas dafür, dass sie sich in ihren Mann verliebt hat? Es wäre doch Steffens Aufgabe gewesen, klarzustellen, dass er nicht verfügbar ist. Aber das hat er versäumt. Mehr als das: Er hat sich so aussehen lassen, als sei er frei und ungebunden, wollte sich in eine Romanze stürzen und neu erfinden. Kann man es Mila da verdenken, dass sie das nicht hinterfragt hat? Ein etwas älterer erfolgreicher Mann, der ihr die Welt zeigt und zu Füßen legen kann? Später hat Steffen mit einem Anflug von Argumenten gesagt: „Es war so leicht, sie zu beeindrucken. Sie schaut immer zu mir hoch. Ganz anders als du.“ Alma weiß noch, wie sie geschnaubt hat. Das war alles, was er an Emotionen von ihr erwarten konnte. Was hätte sie auch sagen sollen? „Du hast recht, Liebster! Ich hätte dich mehr vergöttern und dich aus meinen großen Kulleraugen anhimmeln müssen. Dich als das schönste und schlauste Geschenk betrachten, das Gott der Menschheit je gemacht hat.“

Ja, sagte sie sich damals. Das hätte er vermutlich gut und richtig gefunden. Sein Bedürfnis nach Liebe und Bewunderung ist in etwa so groß wie ein Blauwal.

Wieder seufzt Steffen schwer und holt Alma damit in die Gegenwart zurück. „Es ist auch für mich nicht einfach, das musst du mir glauben. Und ich kann mich nicht oft genug entschuldigen. Du machst es mir auch nicht gerade leicht!“, klagt er und jetzt war es an Alma, einen tiefen Seufzer auszustoßen. Sie macht es ihm nicht gerade leicht. Wie kann sie nur!

Sie dreht sich zu ihm um und steigt eine Stufe höher, damit sie auf Augenhöhe voreinander stehen. Sie will nicht, dass er auf sie herabsehen kann. „In Ordnung. Was hast du zu sagen?“

Steffen nimmt ihre Hände in seine und sieht ihr in die Augen. Als sie sich damals im Supermarkt kennengelernt haben, hat sich Alma augenblicklich und ganz ungewohnt für sie, sofort in diesen grauen Augen verloren. Der große schlaksige Typ mit dem verwuschelten blonden Haar stand hilflos in der Gemüsetheke und hielt Ausschau nach einem Knollensellerie, den er für seine Oma besorgen wollte, die sich gerade von einem gebrochenen Knöchel erholte. Er wollte ihr eine Hühnersuppe kochen. Alles zusammen hat Alma an einer ihr bis dahin eher unbekannten Stelle tief berührt. Es muss ihr Herz gewesen sein. Männergeschichten kannte sie bis dato nur als kurzfristige Liebelei. Von Partys, die in ihren Schlafzimmern weitergefeiert wurden. Nichts für die Ewigkeit.

Sie schüttelt sich, um die Erinnerungen endgültig loszuwerden, und richtet ihre Aufmerksamkeit auf Steffen, der immer noch nach Worten sucht.

„Du warst meine beste Freundin, meine Liebhaberin, meine Vergangenheit und meine Zukunft. Wir haben uns ein Leben aufgebaut, voller Pläne und Träume, und ich habe es gedankenlos zerstört und bin auf den Trümmern herumgetrampelt. Ich weiß jetzt, dass es dafür keine Entschuldigung gibt. Ich bitte dich nicht länger um Verzeihung. Und ich weiß, dass ich all das ewig, wenn nicht gar immer, bereuen werde.“

Es klingt auswendig gelernt, trotzdem muss Alma schlucken. Sie sagt nichts. Und Steffen beugt sich vor, um ihr einen hauchzarten Kuss auf die Lippen zu geben. „Vielleicht ist es kein Abschied für immer …“, murmelt er. Dann beeilt er sich, zu seiner Freundin zu gelangen und sie mit einer knappen Umarmung zu begrüßen. Ihr einen leidenschaftlichen Kuss zu geben, wäre wohl selbst ihm jetzt nicht ganz richtig vorgekommen, bemerkt Alma aus den Augenwinkeln. Außerdem sieht sie erleichtert ein rotes Gefährt am Straßenrand aufblitzen. Sophie! So ein Glück. Sie nickt Steffen und Mila kurz zu und läuft zu ihrer Freundin, die jetzt mit eingeschalteter Warnblinkanlage in zweiter Reihe auf sie wartet.

„Glückwunsch, Liebes, jetzt ist es geschafft“, jubelt Sophie für Almas Geschmack ein wenig zu ausgelassen, als sie einsteigt, und nimmt sich die Zeit, sie zu herzen, obwohl hinter ihr bereits ein wildes Hupkonzert losgebrochen ist. Von einem einzelnen Wagen wohlgemerkt, der, wenn der Fahrer sich die Mühe machen würde, sein Gehirn einzuschalten und einen Blick in den Rückspiegel zu werfen, hervorragend auf der zweiten Spur vorbeifahren könnte. Sophie ignoriert ihn und angelt auf der Rückbank nach ihrer Tasche. Sie nimmt eine Flasche gekühlten Champagner hervor, die ganz beschlagen und nass ist, und zwinkert ihrer frisch geschiedenen Freundin fröhlich zu. „Wir fahren jetzt ans Elbufer und trinken auf dich. Gläser sind auch in der Tasche, Champagner trinkt man schließlich nicht aus der Flasche oder aus Plastikbechern“, bestimmt sie, verstaut die Flasche wieder in der Tasche und stellt sie vorsichtig in den Fußraum hinter dem Beifahrersitz. Der Fahrer des Wagens hinter ihr hat just zum Überholen angesetzt, als Sophie den Blinker betätigt und losfährt. Der Mann scheint Gas zu geben und als er auf Höhe von Sophies Sportwagen ist, zeigt ihr mit einer Geste, was er von ihrem Fahrstil hält. Nämlich gar nichts. Sophie winkt unbekümmert zurück, tritt ebenfalls das Gaspedal durch und lässt den verdutzten Fahrer zurück.

Alma wundert sich schon längst nicht mehr, dass Sophie nicht öfter den Führerschein abgeben muss oder gar Unfälle verursacht. Es ist, als ob ein kleiner Schutzengel mit bei ihr im Auto sitzt, der sie vor Schlimmerem bewahrt und böse Schwingungen anderer Verkehrsteilnehmer wie ein Blitzableiter abwendet.

„Wie geht es dir, Süße?“ Sophie wirft ihrer Freundin einen Seitenblick zu, während sie sich durch den hanseatischen Feierabendverkehr schlängelt.

Braucht nicht jede Frau so eine Freundin, die „Schatz“ und „Süße“ sagt, irgendwie immer ein bisschen drüber ist und die aber sofort zur Stelle eilt, wenn es darauf ankommt? Alma bedenkt sie mit einem liebevollen und dankbaren Lächeln, ehe sie antwortet: „Alles in Ordnung. Ehrlich! Wir leben ja schon seit einem Jahr getrennt.“ Sie atmet tief aus und weiß, dass es stimmt. Sie kann jetzt nach vorne gucken. Das Alte liegt hinter ihr. Es gibt nichts mehr zu klären. Es fühlt sich gut an. Frei und unbeschwert.

„Das heißt, es bleibt dabei, dass du die Wohnung behältst?“, will Sophie mit erleichtertem Klang in der Stimme wissen.

Alma nickt. Das war bis zum Schluss ungeklärt. Sie hatten die Eigentumswohnung gemeinsam angeschafft und Steffen hätte sie ebenfalls gern genommen. In seiner üblich dramatischen Herangehensweise hat er behauptet, es seien so unendlich viele schöne Erinnerungen daran geknüpft, sein Herz hinge an der Wohnung. Wenn er schon Alma verlöre, dann nicht auch noch sein Zuhause. Das waren so ungefähr seine Worte. Im vergangenen Jahr ist er dann aber bereits zu Mila gezogen, die eine großzügige 4-Zimmer-Wohnung in Blankenese besitzt, die sie ihrem Vater, einem Vermögensberater, zu verdanken hat. Auf der Dachterrasse mit Blick über die Elbe, im eleganten Wintergarten oder in einem der vier sicherlich top durchgestylten Räume hat er seinen Trennungsschmerz zum Glück für Alma offenbar aber doch schnell vergessen können und wollte nicht zurück in die gemütliche Stadtwohnung in Bahrenfeld mit lediglich drei Räumen, allerdings einem zauberhaft zugewachsenen Garten. Dennoch hat sie bis zuletzt gebangt, ob er dabeibleibt. Seine Sprunghaftigkeit ist schließlich nahezu legendär.

„Ja“, gibt sie jetzt strahlend und guter Dinge zurück, „die Wohnung gehört jetzt ganz alleine mir. Und der Bank natürlich“, fügt sie pflichtbewusst noch hinzu, weil sie noch nicht abbezahlt ist.

„Ich bin stolz auf dich“, entgegnet Sophie. „Ich weiß wirklich nicht, ob ich die ganze Chose so gelassen durchgestanden hätte.“

„Hättest du nicht“, bemerkt Alma trocken.

Sophie muss herzhaft lachen und hätte fast die Abzweigung verpasst. In letzter Sekunde steigt sie auf die Bremse, blinkt und schießt in einer knappen Rechtsdrehung auf die Straße zum Elbufer zu. „Du hast recht“, gibt sie amüsiert zu. „Gelassenheit ist keine meiner Stärken.“

„Dafür hast du jede Menge anderer“, tröstet Alma ihrer Freundin. „Aber die Ruhe zu bewahren, zählt leider definitiv nicht dazu.“

Sie erreichen einen mit Sand und Schotter ausgelegten Parkplatz, der angesichts des schönen Wetters und der frühen Abendstunde sehr voll ist.

„Der Parkplatz ist privat“, wagt Alma anzumerken, als ihr das Hinweisschild auffällt.

„Papperlapapp.“ Sophie kurvt über den Platz, entdeckt in der letzten Ecke eine nur halb legale Parkmöglichkeit, die zum Teil den Fußweg in Beschlag nimmt, und stellt ihren Wagen kurzerhand dort ab.

„Komm“, fordert sie ihre Freundin auf, die noch überlegt, ob sie hier wirklich stehen bleiben sollten. Sophie schnappt sich ihre Tasche und springt aus dem Auto. Alma folgt ihr, nicht ohne noch einen Blick zurückzuwerfen und zu überprüfen, ob der abgestellte Wagen jemanden behindern könnte. Aber so wie es aussieht, ist Sophie ja ohnehin nicht gewillt, nochmal umzuparken. Sie beeilt sich also, ihrer Freundin zu folgen, die auf den hohen Sandalen und dem kurzen, luftigen Minirock vorweg stöckelt. Zu dem Rock trägt sie eine schimmernde Seidenbluse, deren Ärmel sie locker aufgekrempelt hat. Ihre blondierten Haare sind zu einer lässigen Banane geschlungen und mit einer glitzernden Haarklammer befestigt. Sophie sieht wie immer sensationell aus. Alma sieht an sich herunter. In Anbetracht ihres heutigen Termins ist ihre Kleidung förmlich, fast schon bieder. Nicht ganz das Richtige für einen lauen Sommerabend am Fluss. Sie trägt eine dunkelblaue, sehr weit geschnittene Stoffhose mit hohem Bund und wie Sophie eine Bluse, allerdings aus praktischer Baumwolle und keineswegs so sexy wie das glänzende Ding, das ihre Freundin trägt. Sie öffnet den obersten Knopf und krempelt auch ihre Ärmel auf. Mehr wegen der Wärme, die sich hier zwischen den Büschen aufgestaut hat, als um des Aussehens willen.

„Hast du auch eine Decke in deiner Beuteltasche?“, ruft sie Sophie zu.

Sophie dreht sich zu ihr um und wirft ihr einen vielsagenden Blick zu. „Natürlich. Aus dem Alter, in dem wir unsere teure Kleidung im Elbsand einsauen, sind wir doch echt raus.“

Alma bemerkt den spöttischen Blick eines entgegenkommenden Pärchens und muss grinsen. Manche Leute mögen Sophie für eine überkandidelte Tussi halten. Tatsache ist auch, dass sie ihren Ruf hegt und pflegt. Nur wenige Menschen wissen, einer davon ist Alma, dass sich Sophie durchaus mit Dosenbier und Jeansshorts in den Sand setzt. Im Grunde ihres Herzens ist sie eine Freundin zum Pferde stehlen. Wenn sie die richtige Kleidung dafür trägt.

Am Ufer angekommen schlagen die beiden Freundinnen den Weg Richtung Museumshafen ein. Als sie die gepflasterten Wege hinter sich gelassen haben, ziehen sie ihre Schuhe aus und laufen barfuß im Sand weiter, bis sie ein sonniges Plätzchen entdeckt haben, das ruhig genug für eine ungestörte und persönliche Unterhaltung über die Unwegsamkeiten des Lebens und der Liebe ist.

Sophie holt die Decke aus ihrer großen ledernen Tasche hervor, dazu die Gläser und den Champagner sowie zwei Tafeln Rum-Traube-Nuss-Schokolade, die absolute Lieblingssorte der beiden. Sie breitet alles aus, und sie lassen sich mit einem wohligen Seufzer sinken.

„Herrlich“, brummt Alma und vergräbt die Füße im Sand. Ihr Gesicht hält sie mit geschlossenen Augen in die Sonne. „Weißt du, heute Morgen erschien mir der Tag so endlos lang und trotz aller Vernunft und Vorbereitung hatte ich richtig Angst davor, wie er verlaufen würde.“

Sophie nickt wortlos.

Alma fährt fort, wie um sich selbst zu vergewissern: „Die Scheidung war und bleibt die richtige Entscheidung für uns. Aber trotzdem fühlte ich mich gerade in den vergangenen Wochen furchtbar verloren. Und als ich heute Morgen aufgestanden bin, hätte ich am liebsten nur geheult. Es schien mir wie eine riesige Bürde, überhaupt die Wohnung zu verlassen, geschweige denn in einem Gerichtsgebäude Steffen gegenüberzutreten. Ich konnte mir kaum vorstellen, wie ich nach dem Termin mit dir hier sitzen würde, mit Champagner und Sonne, und alles fühlt sich gut an.“ Sie lässt die Augen geschlossen und spürt die Wärme der Sonne auf ihren Lidern.

„Das ist das Doofe, wenn man Sorgen hat“, gibt Sophie verständnisvoll zurück. „Man kann eben nur noch an sie denken. Alles Gute, was danach kommen mag, übersieht man im Gedankenstrudel“, sagt sie traurig und mit leiser Stimme.

„Mhm“, macht Alma zustimmend. Sie weiß, dass Sophie ungeachtet ihrer lebenslustigen Art weiß, wovon sie spricht. Im vergangenen Jahr ist ihr Vater an Krebs gestorben. Sie hat sich bis zuletzt um ihn gekümmert, ihn gepflegt und war für ihn da. Die beiden hatten seit dem sehr frühen Tod ihrer Mutter vor über 20 Jahren eine enge Beziehung. Es war und ist immer noch hart für Sophie, nun allein auf der Welt zu sein. Denn so fühlt es sich für sie manchmal an, hat sie Alma in eine der dunklen Stunden anvertraut. Mutter- und vaterseelenallein. Auch wenn sie längst erwachsen ist und ein eigenes Leben führt. Alma ist für sie nun ihre Familie und Alma geht es ebenso, auch wenn ihre Eltern beide noch leben und sie die beiden regelmäßig in Friesland besucht.

„Aber jetzt sind wir hier, Süße“, unterbricht Sophie die trüben Gedanken ihrer Freundin, öffnet die Flasche mit einem lauten Plopp und schenkt die zwei Gläser geschickt ein, die sie sich für einen stabileren Stand zwischen die Oberschenkel geklemmt hat. „Wir stoßen auf dich an und auf euch, ihr hattet schließlich viele gute Jahre“, wirft sie ein, „und wir trinken auf die Zukunft!“

Alma nimmt ihr ein Glas ab und lächelt. „Auf uns!“

Sie nippen an ihren Gläsern. Der Champagner prickelt und perlt und schmeckt einfach fantastisch, was weniger am Aroma liegt, sondern vor allem am Sand unter ihren Füßen, an den glitzernden Sonnenstrahlen auf der Elbe, an der Gesellschaft der besten Freundin und am Moment, der zeigt, dass nach Regen immer auch die Sonne kommt.

Alma weiß zu schätzen, dass Sophie das mit den guten Jahren erwähnt hat und sie damit versucht, ihren eigenen Tellerrand zu überblicken und Almas Perspektive einzunehmen. Nichts, das Sophie sonst besonders leichtfällt. Aber ihr, Alma, war es immer wichtig, ihre Ehe nicht im Nachhinein zu verteufeln, nur weil das Ende so unschön war. Es stimmt: Steffen und sie hatten einige tolle Jahre miteinander. Und sie möchte ihre Urlaube an der Nordsee, ihre legendäre Hochzeitsfeier mit über 100 Freunden und Verwandten, die kuscheligen Wochenenden bei Regen und vieles mehr in guter Erinnerung behalten dürfen. Aber nicht jetzt! Jetzt will sie nicht in der Vergangenheit schwelgen. Sie möchte Champagner trinken, mit Sophie plaudern und sich darauf freuen, dass es ab sofort wieder etwas gemächlicher zugehen kann bei ihr. Ohne unvorhergesehene Purzelbäume, die alles durcheinanderbringen. Eben ein Dasein in ruhigem Fahrwasser, so wie sie es schätzt.

„Was hast du jetzt vor?“, fragt Sophie wie aufs Stichwort.

„Was meinst du?“

„Na, wie geht es nun weiter für dich? Willst du dich jetzt in Hamburgs Singleleben stürzen? Erstmal lange Urlaub machen? Arbeiten bis zum Umfallen, um die Wohnung allein zu finanzieren?“

„Nichts von alledem.“ Vehement schüttelt Alma den Kopf. „Ich möchte, dass mein Leben so weiterläuft wie bisher. Nur eben ohne Steffen.“

„Keine Lust auf eine heiße Affäre?“ Sophie zwinkert. In ihrem Leben gibt es ständig einen Kerl, mit dem sie ein paar aufregende Wochen verbringt.

„Nein.“ Wieder schüttelt Alma mit dem Kopf. Dieses Mal noch nachdrücklicher als zuvor. „Ich möchte niemanden kennenlernen. Mich nicht unterhalten oder meine besten Seiten zeigen müssen. Ich möchte einfach nur meine Ruhe haben.“

„Das sagst du nur, weil du verletzt bist. Glaub mir, bald bist du bereit, die One Night Stands der letzten Jahre nachzuholen. Oder sogar für die nächste große Liebe deines Lebens.“

Manchmal, aber wirklich nur manchmal, geht Sophies neunmalkluge Art Alma auf den Keks. Vielleicht ist es ihr angegriffenes Nervenkostüm, vielleicht das erste bereits geleerte Glas Champagner, aber heftiger als beabsichtigt sagt sie jetzt: „Neihein! Ich meine es absolut ernst. Ich brauche keinen Mann. Das mit Steffen war ein netter Versuch. Es ging lange gut. Aber ich bin einfach zu unromantisch für große Gefühle. Ich mag meine eigene Gesellschaft. Und ich will auch keinen Mann, den ich bekochen oder für den ich die Wäsche machen muss.“

„Okay, okay“, abwehrend hebt Sophie die Hände. „Ist ja gut.“ Sie füllt die beiden Gläser wieder auf und greift nach der Schokolade. „Möchtest du?“ Einladend hält sie Alma die Tafel hin. Alma grinst. „Ja.“ Sie ist froh, dass Sophie ihr ihren kleinen Ausbruch nicht übelnimmt.

„Bei der Arbeit ist alles in Ordnung?“, fragt Sophie dann. Sie haben sich auf der Decke ausgestreckt, jede auf eine Seite, und sich einander zugewandt. Die Schokolade liegt in der Mitte.

Alma ist Bauingenieurin und arbeitet in einem Planungsbüro in Hamburgs HafenCity. Sie konzeptioniert, plant und berechnet Bauprojekte in Hamburg, Bremen, Niedersachsen und Schleswig-Holstein, also überall in der näheren Umgebung. Das können Neubauten, Instandsetzungen oder Renovierungsarbeiten sein. Vereinzelt ist es nötig, dass Alma zu den Baustellen rausfährt, aber im Grunde ist sie eine Schreibtischtäterin und führt die Analysen und Überprüfungen an Statik, Fundament und Gebäudeträgern am Computer in ihrem Hamburger Büro durch. Bei gewöhnlichen Aufträgen ist das kein Problem. Nur für Immobilien, die aus dem Rahmen fallen, muss sie auch mal raus und sich das Gebäude vor Ort ansehen. Für Projekte im Bereich Denkmalpflege kommt das beispielsweise gelegentlich vor. Kaum ein historisches Bauwerk gleicht dem anderen. Sie übernimmt das ungern, denn sie ist viel lieber zuhause. Statt durch die Weltgeschichte zu reisen, macht sie am liebsten Urlaub in Bad Meingarten, spaziert durch Planten un Blomen und an der Alster oder der Elbe entlang. Es gefällt ihr, zuhause im Garten zu werkeln, die Beete zu hegen und zu pflegen, neu zu bepflanzen und ihrem Werk dann beim Gedeihen zuzuschauen, mit einem Kaffee am frühen Morgen, einem Glas Wein am Abend oder einem Buch am Wochenende. Sie ist fast immer draußen, wenn es das Wetter halbwegs zulässt. Deshalb hat sie auch so um ihre Wohnung gekämpft. Es hätte ihr das Herz gebrochen, wenn sie hätte ausziehen müssen. Sie hängt an ihrer Oase mehr als an Steffen, musste sie sich eingestehen. Sie liebt es, sich in ihr Blumen- und Pflanzenparadies zurückzuziehen und die Welt da draußen zu vergessen. Projekte außerhalb von Hamburg lehnt sie deshalb so gut wie immer ab, irgendjemand muss sich ja um den Garten kümmern, und weil ihre Chefin das weiß und sie auf Alma, als eine ihrer besten und vor allem zuverlässigsten Mitarbeitenden, nicht verzichten möchte, drückt sie immer ein Auge zu, wenn es um die Verteilung der Projekte geht, die längere Geschäftsreisen erfordern.

Jetzt aber unterdrückt Alma ein Stöhnen, als sie durch Sophies Frage an einen lästigen Job erinnert wird, der ihre Routinen zu durchbrechen droht. „Wir haben einen neuen Auftrag reinbekommen“, erzählt sie in einem unheilschwangeren Ton. „Auf Friesum!“

„Und?“

„Das Projekt ist dringlich und wir haben aktuell zu wenig Personal. Viele sind im Urlaub oder betreuen die Kinder im Home Office. Es kann sein, dass ich auf die Insel reisen muss.“

„Oh.“ Sophie weiß natürlich, dass Alma nicht gern unterwegs ist. „Ich kann mich gern um deine Blumen kümmern, wenn es länger dauert“, bietet sie an.

Alma nickt dankbar. „Das ist lieb. Falls es wirklich mich treffen sollte, hoffe ich, dass ich nur ein paar Tage vor Ort sein muss.“

„Worum geht es denn genau?“ Sophie lässt ein Stück Schokolade in ihrem Mund verschwinden und sieht Alma neugierig an.

„Um den Altfriesumer Leuchtturm. Er soll zu einem Ausflugsziel mit Café und Ausstellung ausgebaut werden.“

„Ach, das klingt ja nach einem tollen Projekt.“

Alma sieht sie finster an. „Es ist am Ärmel der Welt!“

Sophie muss lachen. „Aber wir haben fast Sommer und du darfst für ein paar Tage ans Meer. Das ist doch super!“

„Ich hoffe trotzdem, dass der Kelch an mir vorübergeht. Ich könnte jetzt echt ein paar Tage Entspannung gebrauchen nach all der Aufregung.“

„Andere Menschen fahren genau dann auf eine Insel“, spottet Sophie liebevoll.

„Ich bin nicht wie andere Menschen.“

„Nein. Das stimmt. Du bist du und du bist genau richtig so.“

Kapitel 2

Das Planungsbüro Hanseplan Bau, Statik & Sanierung befindet sich im Überseequartier und Alma liebt ihren Arbeitsweg, seit sie vor einigen Jahren in das frisch errichtete Gebäude in Hamburgs Vorzeigestadtteil eingezogen sind. Meist radelt sie an der Elbe entlang oder nimmt erst die Öffis und geht dann noch ein Stück zu Fuß, um sich die maritime Luft um die Nase wehen zu lassen, den Möwen und hupenden Containerpötten zu lauschen und ganz in Hamburgs Weite-Welt-Feeling einzutauchen. Damit ist ihr weniges Fernweh stets gedeckt.

Am Dienstagmittag, wenn nach und nach das ganze Team eingetrudelt ist, setzen sich immer alle zwölf Angestellte und die Chefin in dem Besprechungsraum zusammen und tauschen sich über anstehende, laufende und vergangene Aufträge aus. Hanna, die Gründerin und Inhaberin von Hanseplan, holt dazu je nach Lust und Laune, Kuchen oder Croissants vom Bäcker oder, wenn der Termin verspätet stattfindet, etwas Herzhaftes. Heute duftet es verlockend nach Pizza und Alma fragt sich, ob das ein Bestechungsversuch werden soll. Aufgrund eines anhaltenden Hochdruckgebiets über Norddeutschland sind zurzeit nur fünf Leute im Büro. Die meisten haben sich kurzfristig Urlaub genommen oder bummeln Überstunden ab, um den Frühsommer zu genießen und lieber dann zu arbeiten, wenn der Hamburger Sommer Regengüsse schickt.

Jetzt versammeln sich Hanna und Alma sowie Hans, Fritz und Kerstin in der gemütlichen Küche, die dem Team üblicherweise zum Kochen zur Verfügung steht und die für die gesamte Belegschaft etwas zu klein ist, aber für die halbierte Mannschaft locker ausreicht. Um gemeinsam zu essen, ist der große Holztisch in der Mitte ideal.

„Ich habe uns Pizza bestellt“, beginnt Hanna unnötigerweise die Besprechungsrunde und sieht dem Team dabei zu, wie sie Teller, Servietten und den Pizzaschneider herumreichen. „Lasst es euch erstmal schmecken!“

„Alma, wie war es denn gestern? Ist alles in Ordnung?“, schmatzt Hans, der hungrig nach einem Stück der Thunfisch-Pizza gegriffen hat, und sieht sie mitfühlend an. Hans’ Familie lebt vegan und er freut sich immer diebisch, wenn er sich im Büro mal einen Ausreißer gönnen darf. Was ungefähr jeden Dienstag der Fall ist. Das hält ihn jedoch nicht davon ab, stets als Erster auf die Köstlichkeiten zuzustürzen wie ein ausgehungertes Nilpferd. Von seinen ausbaufähigen Manieren abgesehen ist er ein liebenswerter Mensch, der immer für sein Team zur Stelle ist, aufmerksam zuhört und Ratschläge gibt, wenn sie gewünscht sind.

Alma nickt mit vollem Mund. Als sie heruntergeschluckt hat, sagt sie: „Lieb, dass du fragst! Aber es ist wirklich alles in Ordnung. Das Trennungsjahr liegt ja schon hinter uns. Ich bin das Alleinsein also längst gewohnt.“ Das hat sich jetzt deprimierter angehört, als sie sich fühlt, denkt Alma und sieht in betroffene Gesichter.

„Mensch Alma“, murmelt Hanna, „da habe ich ja gar nicht mehr dran gedacht. Entschuldige!“

Alma winkt lässig ab und wiederholt: „Wie gesagt: alles in Butter!“

Im Gegensatz zu Hans schafft es Hanna nur selten, sich persönliche Dinge ihrer Mitarbeitenden zu merken. Weder Kindernamen noch Haustiere, letzte Urlaube oder anstehende Geburtstage schaffen es langfristig in die Großhirnrinde von Almas Arbeitgeberin. Man kann es ihr nicht übelnehmen, sie ist ansonsten eine prima Chefin und gibt ihren Leuten trotz dessen, dass sie vergisst, wer einen Dackel oder einen Teenager zuhause hat, das Gefühl, wertgeschätzt zu werden und vor allem jedem Einzelnen den Raum für persönliche Entfaltung. Sie vermag es immer wieder, Eigenverantwortung zu fördern und in ihren Leuten den Wunsch zu wecken, nach mehr streben zu wollen. Mit Letztem beißt sie bei Alma jedoch meist auf Granit. Die ist nicht nur im Privaten, sondern auch im Beruf froh, wenn alles so bleibt, wie es ist, und sie ihre Projekte konzentriert, mit viel Liebe fürs Detail und vor allem ohne Hektik und Druck abarbeiten kann.

Heute spürt Alma jedoch, dass da noch etwas kommt. Hanna rutscht etwas unruhig auf ihrem Stuhl herum und zögert, ehe sie sagt: „Nach so einer Trennung braucht man doch am besten mal frischen Wind um die Nase!“

„Das habe ich gestern schon mal gehört“, grummelt Alma und erinnert sich an das Gespräch mit Sophie. „Du hast also niemand anderen gefunden?“

Hanna seufzt. „Alma, du bist unsere Expertin für Renovierung und Sanierung. Ich kann da keinen anderen hinschicken. Das ist ein echtes Prestige-Projekt und könnte der Auftakt zu einer langfristigen Kooperation mit der niedersächsischen Tourismusbehörde sein. Versteh doch …“

Alma lässt sich an die Rückenlehne sinken und sieht ihre Kollegin und die beiden Kollegen an. Alle drei arbeiten in der Sparte Stahl- und Hochbau und könnten mit einem Leuchtturm zwar was anfangen, aber wie Hanna schon richtig gesagt hat, ist sie die Fachfrau für historische Gebäude.

„Was ist mit Bernd? Und mit Lisa?“, fällt ihr noch ein.

Hanna schüttelt mit dem Kopf. „Lisa ist im Home Office und betreut die beiden Töchter. Bernd hat ab nächster Woche Urlaub. Außerdem sind sie einfach nicht hundertprozentig die richtigen für den Job. Das weißt du.“

Lisa und Bernd sind für die Abteilung Um- und Anbau tätig und damit zwar geeignet, aber nicht so perfekt passend wie Alma.

Die zieht jetzt eine Schnute und spielt ihre letzte Karte aus: „Nach den anstrengenden Wochen durch die Scheidung wäre es mir wirklich lieb, wenn ich zuhause bleiben dürfte. Ich brauche gerade nicht noch mehr Veränderung und Aufregung, sondern Beständigkeit und die Chance, zur Ruhe zu kommen.“

„Und mir wäre es wirklich lieb, wenn meine Angestellten täten, was ich verlange“, gibt Hanna nun ungewöhnlich bissig zurück. Sie bemerkt die erstaunten Gesichter. „Sorry, Leute. Ich bin zurzeit etwas ausgelaugt. Ich sage euch, wie es ist: Wir brauchen das Projekt! Es ist nicht so, dass uns das Wasser bis zum Hals steht, aber wir können es uns wahrlich auch nicht leisten, Aufträge abzulehnen oder nur mit halbem Engagement zu erfüllen. Also bitte Alma, tu mir einen Gefallen, iss die Pizza auf, fahr nach Hause, pack deine Koffer und mach dich auf den Weg nach Friesum.“

„Das waren vier“, sagt Fritz ganz leise und verstummt unter dem genervten Blick der Chefin.

Alma weiß, wann sie verloren hat, oder besser, wann es Zeit ist, die Dinge zu tun, die von ihr erwartet werden. Also räumt sie nach der Besprechung, in der zum Kummer von Hanna tatsächlich nur wenige offene Anfragen zur Sprache kamen, ihre benötigten Unterlagen zusammen, schnappt sich den Laptop und schaut nochmal bei der Chefin rein, um sich abzumelden.

„Ich mache mich dann auf den Weg“, sagt sie. „Ich melde mich, wenn ich vor Ort bin und was dazu sagen kann, wie lange es dauert.“

Hanna blickt auf. Sie sieht wirklich abgekämpft auf, denkt Alma und hat augenblicklich ein schlechtes Gewissen, weil sie so störrisch war.

„Ist gut. Danke.“

Alma zögert. „Kann ich sonst noch etwas tun?“

„Nein. Mach dir bitte keine Sorgen.“ Hanna sieht sie beschwichtigend an und bemüht sich um ein aufmunterndes Lächeln. „Wir haben einfach nur eine Durststrecke, die es zu überwinden gilt.“

„Dann mache ich mich mal auf die Socken. Bitte melde dich, wenn ich dich sonst noch unterstützen kann. Ich meine das ernst!“, ergänzt sie noch, weil sie plötzlich findet, dass es sich wie eine Phrase anhört.

Aber die Vorgesetzte lächelt. Dieses Mal ist es echt. „Ich weiß. Auf dich kann man sich immer verlassen.“

Unschlüssig steht Alma bald darauf vor ihrem Kleiderschrank und zieht Jeans, einen dicken Pulli und ein Sommerkleid hervor. Was braucht man denn für ein paar Tage an der See? Der Sommer in Norddeutschland ist unberechenbar, das kennt sie aus Hamburg. Aus angesagten 25 Grad mit Sonnenschein können leicht 19 Grad mit Nieselregen werden. Umgekehrt genauso. Alma greift nach einem alten Briefumschlag und einem Stift, setzt sich damit an den Schreibtisch und beginnt zu notieren: 3–7 Tage Nordsee. Darunter schreibt sie: Jeans (1 als Ersatz), vernünftige T-Shirts und Blusen (5 die zu beruflichen Terminen angezogen werden können), Rock und Shorts (jeweils 1 für den Feierabend oder an Tagen ohne Termine), Sommerkleid (1, dito), zwei Pullover (1 kuschelig, 1 seriös), Lieblingsstrickjacke, Fleece, Unterwäsche (8), Socken (8), Kosmetik, Zahn- und Haarbürste, Sandalen (1 Paar), Flipflops (1 Paar).

Sie setzt den Stift ab und überlegt. Was fehlt noch? Sie ergänzt Schlafanzug, Ladekabel und etwas zu lesen und dann fällt ihr siedend heiß ein, dass sie noch gar nicht wüsste, in welchem Bett sie den besagten Schlafanzug tragen würde. Also sucht sie mit ihrem Handy eine Buchungsplattform und scrollt eine Weile durch die Angebote, bis sie eine Pension mit Namen Seedüne findet. Sie sieht entzückend aus. Die Unterkunft befindet sich in einem reetgedeckten Häuschen, hat einen wunderbar zurechtgemachten Frühstücksgarten, der auch tagsüber für den Aufenthalt geöffnet ist, wie sie den durchweg begeisterten Bewertungen entnehmen kann, die Zimmer sind gemütlich und ordentlich, und das Frühstück kann sich auf den Fotos auf jeden Fall sehen lassen. Weil Alma keine Zeit hat, auf die Antwort auf eine per Mail verschickte Buchungsanfrage zu warten, ruft sie die angegebene Nummer an und fragt nach einem freien Einzelzimmer für fünf Tage.

„Wann möchten Sie denn anreisen?“, fragt die Frau am anderen Ende freundlich.

„Schon heute“, entgegnet Alma. „Ist das so kurzfristig möglich?“

„Ja, bestimmt. Lassen Sie mich zur Sicherheit noch kurz nachsehen.“

Alma hört, wie mit einer Computermaus geklickt wird, dann wie die Mitarbeiterin „mhm“ macht und schließlich: „Ja, gar kein Problem, Frau Peters. Wir können Ihnen ein Einzelzimmer mit Gartenblick anbieten.“

„Super, das nehme ich“, bestätigt Alma und ist froh, dass sie diesen Punkt von ihrer Liste streichen kann. „Ich bin heute am frühen Abend bei Ihnen.“

„Alles klar. Ich wünsche Ihnen eine gute Fahrt, Frau Peters. Wenn Sie noch Fragen haben, zur Anreise oder so, rufen Sie einfach kurz durch.“

Alma bedankt sich und legt auf. Gut, das wäre geklärt, denkt sie. Dann geht sie ihre Notizen durch, steht auf und beginnt zu packen. Etwa eine Dreiviertelstunde später ist sie sicher, an alles gedacht zu haben. Sie schickt Sophie noch eine Nachricht, dass sie nun nach Friesum reisen müsse, dass sie ihr dankbar wäre, wenn sie sich für die nächsten Tage um die Bewässerung des Gartens kümmern könnte, falls es so trocken bliebe, und sie sich bald melden würde. Dann trägt sie ihre Reisetasche zum Auto, tippt den Sandweg auf Friesum, die Adresse der Pension Seedüne, in das Handynavi und stellt sich gedanklich auf die kommenden Tage an der See ein. Mit Sonnenbrille auf der Nase und NDR2 im Radio kriecht sie zunächst durch den stockenden Hamburger Nachmittagsverkehr und gibt schließlich auf der Autobahn Gas. Am Horizont leuchtet ein blauer Frühsommerhimmel, der ihr Mut macht.

Als Alma die Brücke erreicht, die Friesum mit dem Festland verbindet, ist es früher Abend. Der Verkehr fließt und sie ist gut durchgekommen, nachdem sie die Stadtgrenzen hinter sich gelassen hat. Während sie nun langsam durch die 50er-Zone über die Brücke fährt, lässt sie ihren Blick vorsichtig über das tiefblaue Gewässer und die aufgeschäumten Wellen schweifen, auf dem die Maisonne glitzernde Muster hinterlässt. Es muss gerade Hochwasser sein, denkt Alma. Weit und breit ist kein Watt zu sehen.

Friesum empfängt sie mit milden Temperaturen, Sonne satt und einer lauen Brise, wie sie feststellt, als sie das Fenster auf der Landstraße einen Spalt öffnet, um die Inselluft in den Wagen zu lassen. Gemächlich folgt sie dem schnurgeraden Weg, der rechts an duftenden Kiefernwäldern vorbeiführt und auf der anderen Seite hinter Dünen das Meer erahnen lässt.

Auf Anweisung des Navis biegt sie bald in eine Ortschaft ab, die den gleichen Namen trägt wie die Insel: Friesum. Die Pension Seedüne, ein Traumhaus unter Reet, findet sie ohne Schwierigkeiten. Das Häuschen sieht exakt so aus wie auf den Bildern im Internet und der Vorgarten wird durch eine volle Blumenpracht geschmückt. Staunend bleibt Alma einen Moment zwischen zwei früh blühenden Rosenbüschen stehen, nachdem sie geparkt hat und ausgestiegen ist. Sie saugt den süßen Blütenduft ein und schließt genießerisch die Augen. Blumen sind einfach ihre Welt! Mit ihrer Unterkunft hat sie offenbar eine ziemlich gute Wahl getroffen, denkt sie zufrieden.

„Moin!“, hört sie kurz darauf eine Stimme hinter sich sagen. „Kann ich Ihnen helfen?“ Alma erblickt eine hübsche Frau mit wilden roten Locken, die ein paar Jahre jünger als sie zu sein scheint.

„Moin moin“, entgegnet sie lächelnd. „Ja, mein Name ist Alma Peters. Ich habe ein Zimmer bei Ihnen gebucht. Wir haben heute Morgen telefoniert.“

„Hallo Frau Peters, ja, Sie haben mit meiner Tante gesprochen“, sagt die Rothaarige freundlich, „Katrin Meerwiek, sie führt die Pension. Ich bin Jette und helfe heute Abend aus. Kommen Sie doch herein. Und lassen Sie mich Ihr Gepäck nehmen!“

Alma schüttelt leicht den Kopf und lächelt. „Das kann ich selbst tragen, danke. Es ist nicht sehr schwer.“ Sie folgt ihrer Gastgeberin mit der Reisetasche ins Innere des Hauses.

„Die Formalitäten können Sie dann morgen mit meiner Tante nachholen“, sagte Jette über die Schulter zu ihrem Gast. „Ich führe Sie ein wenig herum und zeige Ihnen das Zimmer, einverstanden?“

Alma nickt. „Machen wir so.“

Die Unterkunft ist urgemütlich. Alma betrachtet begeistert die liebevollen Details, die der Pension eine individuelle Note geben. Angefangen von den blank gewienerten goldenen Dielen am Boden, über den Kamin und die vielen bunten Buchrücken im Aufenthaltsraum, bis zum prächtigen Garten, der sich über eine Terrasse und mehrere lauschige Sitzecken erstreckt.

„Hier ist noch die Küche“, erklärt Jette abschließend und stößt eine Tür auf. „Die Gäste dürfen sie ebenfalls benutzen, wenn sie hinterher wieder aufräumen.“

Alma nickt erneut zum Verständnis. Sie wird die Küche vermutlich nicht benutzen, denkt sie. Sie kocht überhaupt nicht gern. Schon gar nicht für sich allein. Aber dass sie einen Kühlschrank haben wird, um ein paar Lebensmittel zu verstauen, findet sie sehr praktisch.

„So, dann will ich Ihnen mal Ihr Zimmer zeigen. Es ist die Nummer 9.“ Jette schnappt sich im Vorbeigehen den Zimmerschlüssel an der Rezeption und führt Alma die Treppe hinauf zu der oberen Etage, auf der sich die Gästezimmer befinden.

„Hier haben wir es“, sie bleibt stehen, schließt auf und sagt: „Nach Ihnen.“ Sie vergewissert sich, dass alles in Ordnung ist. Dann reicht sie Alma den Schlüssel und sagt: „Ich bin noch eine Weile unten, wenn etwas fehlt oder Sie Fragen haben. Kommen Sie erstmal in Ruhe an und schauen Sie sich um.“

„Danke!“ Alma stellt die Reisetasche an die Seite und begutachtet den Raum. Das bodentiefe Fenster zeigt zum Garten und verfügt über einen Miniaustritt. Durch die großen Scheiben strömt das Licht herein und lässt den Raum hell und freundlich wirken. Die Wände sind hellrosa gestreift tapeziert, was Alma mit leichtem Nasenrümpfen zur Kenntnis nimmt. Rosa ist so nicht ihre Farbe. Aber sie muss zugeben, dass die schwarz-weißen Küstenbilder und das dunkle Holz, aus dem Bett, Schrank und das Schreibtischchen mit Stuhl bestehen, einen hübschen Kontrast dazu ergeben. Auf dem Boden liegen weiß getünchte Holzdielen, die großflächig mit einem ebenfalls rosafarbenen flauschigen Langflorteppich geschützt werden. Sie wirft noch einen Blick ins Bad – klein, sehr sauber und absolut zweckmäßig – und beginnt dann, ihre Sachen auszupacken und im Schrank zu verstauen und nimmt schließlich den Laptop, um sich auf ihre Arbeit vorzubereiten.

Von Hanna hat Alma alle Unterlagen zum Leuchtturm und zu den Projektpartnern zugeschickt bekommen. Zur Sicherheit hat sie alles auch ausgedruckt dabei. Jetzt überfliegt sie die Mail und die darin befindlichen Anhänge. Es geht um ein 200 Jahre altes Leuchtfeuer, das seinen Dienst schon vor einigen Jahren quittiert hat, weil ein moderneres Pendant errichtet wurde. Mittlerweile handelt es sich um ein beliebtes Ausflugsziel der Insel, das mit den blauen und weißen Streifen, der hutzeligen Turmkrone und der malerischen Lage an der ins offene Meer ragenden Inselspitze gern besucht und fotografiert wird. Das Betreten des Turms ist nicht erlaubt, da er möglicherweise marode ist und der Belastung nicht dauerhaft standhält. Die Bürgermeisterin von Friesum, offenbar eine geschäftstüchtige Person, möchte den Altfriesumer Leuchtturm nun in eine Touristenattraktion verwandeln und sein Potenzial ausschöpfen. Zurzeit steht lediglich in den Sommermonaten ein Imbisswagen davor und bietet Pommes, Würstchen und Getränke an. Der Plan ist nun, den Turm begehbar zu machen, ein winziges Café mit Außenplätzen zu integrieren sowie im oberen Teil Raum für eine Ausstellung über Friesum, das Meer und ihre wechselseitige Beziehung zu machen. Sie soll die Kräfte der Gezeiten, die Macht des umspielenden Wassers und Friesums Abhängigkeit von Neptuns Wohlwollen zeigen. Bisweilen wurden Schiffe und ihre Besatzungen im nassen Grab verschlungen. Das soll mit der Ausstellung ebenfalls aufgearbeitet werden. So blumig steht es jedenfalls im Konzept beschrieben. Ganz in der Nähe soll ein Wrack liegen, ein Jahrhundertfund, der nun gehoben werden und in der Ausstellung ein zentrales Thema einnehmen soll.

Alma runzelt unwillkürlich die Stirn. Die Weite des Ozeans macht ihr von jeher Angst. Die Tiefe. Das Unbekannte. All das ist nichts für sie. Am Strand zu liegen, im Watt spazieren zu gehen und auch mal bis zum Knie ins Wasser zu laufen – okay. Mehr aber auch nicht. Alles, was unter der Wasseroberfläche liegt, wenn die See sogar von Algen und Matsch getrübt ist, bereitet ihr Unbehagen.

Sie klappt den Laptop fürs Erste zu und reibt sich müde über die Augen. Die Fahrt und das Lesen am Monitor haben sie angestrengt. Aber nun fühlt sie sich gut vorbereitet. Morgen früh steht ein Besichtigungstermin des Leuchtturms gemeinsam mit der Bürgermeisterin Ulrike Menkens und den zuständigen Fachleuten aus der Kommune an. Jetzt würde sie erstmal einen Spaziergang machen und irgendwo zu Abend essen, beschließt sie, als sie hört, dass ihr Magen sich lautstark bemerkbar macht.

Sie macht sich zurecht und verlässt die Pension. Vor der Tür muss sie feststellen, dass es frisch geworden ist. Kälter, als sie es nach den lauen Temperaturen bei ihrer Ankunft erwartet hätte. Und auf jeden Fall kühler als es jetzt in Hamburg wäre. Sie wirft einen Blick auf die Uhr. Schon nach 19 Uhr! Da hat sie beim Arbeiten glatt die Zeit vergessen, denkt sie. Es ist nicht das erste Mal, dass sie sich in den Plänen für ein neues Projekt verliert. In altehrwürdige Gebäude einzutauchen, sie mit Hingabe zu renovieren und so für kommende Generationen zu bewahren, ist eine ihrer Leidenschaften. Neben dem Garten und ihrer Liebe zu Hamburg.

Nun überlegt sie fröstelnd, ob sie rasch zum Zimmer zurücklaufen sollte, um sich eine Jacke zu holen, verwirft den Gedanken aber wieder, da sie jetzt sowieso keinen langen Spaziergang mehr machen wird. So knöpft sie nur die kuschelige Strickjacke zu und sieht sich um, um sich zu orientieren. An der Rezeption lag eine Empfehlungsliste von Restaurants in der näheren Umgebung aus und da Alma Lust auf eine echt maritime Mahlzeit hat, beschließt sie, den „Brathering“ aufzusuchen, laut Liste das älteste Fischrestaurant auf Friesum, das die Inhaberin Henni mit viel Liebe führt.

Alma lässt für einen Moment die Luft und das sonderbare Licht, das den Frühsommerabenden zu eigen ist und das man in der Stadt nie richtig bemerkt, weil die Sicht zu sehr verstellt ist, auf sich wirken und marschiert dann los, um zu Abend zu essen.

Kapitel 3

Allein zu sein hat Alma noch nie etwas ausgemacht. Sie gehört zu den Menschen, die es sich wunderbar mit einem Buch oder einer Serie auf dem Sofa gemütlich machen können, ohne die Gesellschaft eines anderen Menschen zu vermissen. Dass es Leute gibt, die niemals allein ein Restaurant oder gar eine Bar besuchen würden, versteht sie nicht. Klar, auch sie bemerkt die Blicke der anderen Gäste, wenn sie mal alleine ausgeht. Aber sie sagt sich, dass es wahrscheinlich genau jene Menschen sind, die es nicht vermögen, ihre eigene Gesellschaft zu genießen, die sie dann irritiert beäugen. Alma hält es noch für wahrscheinlicher, dass die anderen eher etwas denken wie ‚Super, dass die das einfach so allein macht. Ich sollte selbst viel mutiger sein’. In Almas Kopf ist oft viel los. Sie denkt nach und grübelt, träumt, überlegt und phantasiert. Es fällt ihr daher leicht, für sich zu sein. Sie langweilt sich selten.

So ist auch der Besuch im Restaurant ‚Brathering’ für Alma kein Grund, sich unwohl zu fühlen. Sie sitzt entspannt an einem schönen Fenstertisch, blickt nach draußen zu den mit Strandhafer bewachsenen Dünen und zu einem halb hinter plötzlich aufgezogenen Wolken versteckten Sonnenuntergang und lässt das leise Gemurmel der anderen Gäste an sich vorbeiziehen. Sie bestellt eine Weinschorle und gebratenen Fisch mit Salat und geht kurz auf das Geplauder der Bedienung ein, die interessiert nachfragt, ob sie Urlaub auf Friesum macht und wie es ihr gefällt. Um dem Tag einen perfekten Abschluss zu gönnen, bestellt Alma eine Schokomousse zum Dessert und macht anschließend noch einen Abstecher zum Deich, um dort oben einmal den Wind über ihren Körper sausen zu lassen. Doch ganz schön hier, denkt sie zufrieden, auch wenn sie in der Dunkelheit nicht mehr viel sehen kann. Weiter vorne rauschen die Wellen an den Strand heran. Es plätschert und braust und Alma gruselt es unwillkürlich ein bisschen, als sie an das dunkle Meerwasser denkt, das da so unweit von ihr sein Unwesen treibt. Sie holt noch einmal tief Luft, um die würzige Meeresluft einzuatmen und macht dann kehrt. Morgen will sie ausgeschlafen sein. Es ist ein wichtiger Tag für ihr Planungsbüro. Und sie will ihre Sache gut machen, um ihrer Chefin einen Teil der drückenden Sorgen abnehmen zu können.

Als Alma am nächsten Morgen erwacht, muss sie für einen Moment überlegen, wo sie überhaupt ist. Es ist lange her, dass sie Urlaub gemacht oder auswärts geschlafen hat. Der ungewohnte Blick über die dicke bauschige Decke in das rosa Zimmer lässt sie blinzeln. Friesum, richtig, sie ist auf der Insel, um einen Leuchtturm zu sanieren. Alma gähnt herzhaft und sieht durch einen Spalt, den der Vorhang freilässt, einen hellblauen Sonnenhimmel und Schäfchenwolken. In Hamburg schläft sie meist mit geschlossenem Fenster, das den Stadtlärm draußen halten soll. Hier, auf der Insel, hat sie eine Ausnahme gemacht und es ein Stück gekippt, sodass sie jetzt in den Genuss der morgendlichen Geräusche ihrer temporären Nachbarschaft kommt. Sie hört einen Mann „Moin“ brummen und eine Frau munter „Guten Morgen, Hannes“ antworten. Ein Auto mit einem geräuschvollen Klappern und lautem Motor fährt vorbei. Eine Gruppe Kinder scheint kreischend und lachend auf dem Weg in die Schule zu sein. Alma wirft einen Blick auf ihr Handy, das neben ihr auf dem kleinen Tischchen liegt, und erschreckt sich, weil es schon nach halb acht Uhr ist. Sie hätte längst auf sein und arbeiten wollen! In Hamburg braucht sie keinen Wecker. Ihre innere Uhr ist zuverlässig. Aber die scheint jetzt Urlaub zu machen, denn anstatt sie zu ihrer üblichen Zeit um halb sieben Uhr ans Aufstehen zu erinnern, ließ sie sie weiter schlummern. Nun, denkt Alma nun und reckt sich ausgiebig, vielleicht hat sie das auch einfach mal gebraucht.

Mit einem üppigen Frühstück im Bauch, das aus Obstsalat, Rühreiern und frischen Waffeln bestand, macht sich Alma nach zwei Stunden Laptoparbeit auf den Weg zu ihrem Termin, um den Leichtturm anzusehen, die Ansprechpartner aus Friesum kennenzulernen und sich einen ersten richtigen Überblick über den anstehenden Job zu verschaffen. Die Vorbereitung auf dem Papier und am Computer sind das eine und sie sind wichtig, um sich einzuarbeiten. Almas Hauptaufgabe ist es, die Baustatik zu überprüfen und für die Sicherheit im fertig sanierten Bauwerk zu sorgen. Trotz ihrer Abneigung, das Büro zu verlassen, gibt es auch für sie Aufgaben, die nicht am PC erledigt werden können. Sie muss beispielsweise die Gebäude, die saniert werden sollen, besuchen und die Ecken und Winkel in Augenschein zu nehmen, um nach Rissen, Feuchtigkeit oder anderen möglichen Mängeln Ausschau halten, die Hinweise auf die Sicherheit geben können. Manchmal wirkt ein Objekt auf den ersten Blick, oder auf dem Papier, wie jüngeren Datums und erst Bodenproben oder Messungen geben Aufschluss über den wahren Zustand. Einige Elemente, zum Beispiel Träger, Stützen und Fundamente können nicht direkt in Augenschein genommen werden, hier muss sie sich auf ihre vorliegenden Dokumente verlassen können und gegebenenfalls Bohrungen durchführen lassen, um Proben zu entnehmen.

Als Alma beim Leuchtturm ankommt, wartet auf dem Parkplatz eine dunkelhaarige Frau in ihren Fünfzigern, die sehr sympathisch, aber auch sehr resolut wirkt. Als sie Almas Wagen bemerkt, steckt sie ihr Handy in die Tasche ihres dunkelroten Blazers und lächelt sie mit einem breiten Strahlen an, das ebenmäßige Zähne offenbart und zarte Lachfältchen um ihre Augen zaubert. Alma parkt, steigt aus und geht auf die Frau zu, die noch immer lächelt.

„Moin, Frau Peters“, flötet sie jetzt mit aufgeregter Stimme, als Alma näherkommt, „ich bin Ulrike Menkens, ich freu mich so sehr, Sie kennenzulernen, und auf unser gemeinsames Projekt.“ Sie unterbricht ihren Redeschwall nicht, um Alma die Zeit zu geben, sich ebenfalls vorzustellen und sie zu begrüßen. So begeistert ist sie. „Sie ahnen ja nicht, wie lange ich schon davon träume, diesen Leuchtturm der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Das wird der Wahnsinn!“

Alma wartet einen Moment. „Moin“, erwidert sie, als sie feststellt, dass Frau Menkens still bleibt. „Ich bin Frau Peters von Hanseplan“, stellt sie sich vor, obwohl Frau Menkens sie ja bereits richtig zugeordnet hat. „Ich freue mich auch auf das Projekt“, fügt sie nach kurzem Zögern hinzu, auch wenn es ja gar nicht stimmt.

„Sehen Sie sich dieses Prachtexemplar an!“ Wieder zeigt die Bürgermeisterin ihr strahlendes Lächeln und weist mit der Hand auf den Leuchtturm, vor dem sie stehen.

Alma legt ihren Kopf in den Nacken und betrachtet das Bauwerk. Er ist wirklich wunderschön, denkt sie: Das dunkle Blau schimmert in der Sonne, das Weiß hebt sich kontrastreich ab und das kupferfarbene Türmchen glänzt gepflegt. Es sieht durch die Farben gleichzeitig modern und historisch und vor allem sehr nordisch aus. Eine dunkle Metalltür, die über zwei Stufen erreichbar ist, führt ins Innere, im unteren Stock gibt es auf den ersten Blick zwei runde kleine Fenster, in den oberen Etagen entdeckt Alma nur eins, aber vielleicht sind auf der Rückseite noch weitere, denkt sie.

„Lassen Sie uns einmal herumgehen“, schlägt sie vor.

„Gute Idee! Lassen Sie unseren Altfriesumer Turm richtig auf sich wirken!“, stimmt Frau Menkens überschwänglich zu.

Auf der gen Norden gerichteten Seite gibt es oben wie unten weitere kleine Fenster, die, wenn Alma richtig sehen kann, schon etwas älteren Datums sind. „Von wann sind die Fenster?“, will sie von Frau Menkens wissen.

„Die wurden 1977 eingesetzt“, kommt es wie aus der Pistole geschossen. Frau Menkens kennt ihr Herzensprojekt in- und auswendig. „Da wurde der Turm das letzte Mal umfassend renoviert, ehe der neue Leuchtturm Mitte der 90er Jahre errichtet wurde und dieser hier in Rente ging. Vor zwei Jahren haben wir die Fassade streichen und im letzten Sommer das Dach polieren lassen.“

„Warum haben Sie es dann nicht gleich richtig gemacht?“ Alma legt die Stirn in Falten. „Also, ich meine eine komplette Instandsetzung statt nur ein paar Verschönerungsarbeiten?“

„Kein Geld“, lautet die knappe Antwort von Friesums Bürgermeisterin. Sie hebt in einer bedauernden Geste die Schultern. „Wenn ich einen Goldesel hätte, würde hier vieles anderes aussehen.“ Das ist das erste Mal, das sich im Gesicht von Frau Menkens etwas anderes abzeichnet als Freude und Begeisterung.

„Und was hat sich seitdem verändert?“, will sie wissen. „Warum sind auf einmal Mittel vorhanden?“

„Durch das entdeckte Wrack erwarten wir Zuschüsse aus der Verwaltung. Enorme Zuschüsse!“, betont sie und fügt erklärend hinzu: „Etwa 10 Kilometer nordwestlich liegt ein altes Handelsschiff, eine Kogge, die seit dem frühen 19. Jahrhundert als verschollen galt.“

Alma nickt, um zu zeigen, dass sie weiß, wovon die Rede ist. Sie hat die Unterlagen gelesen. Ein Schiff, das derzeit noch auf dem Meeresboden schlummert und zeitnah in einer öffentlichkeitswirksamen Aktion gehoben werden soll. Wenn sie es richtig verstanden hat, kommt das einer Jahrhundertsensation gleich.

Wie zur Bestätigung fährt Frau Menkens fort. Die Leidenschaft ist in ihre Stimme zurückgekehrt: „Die Kogge wurde zufällig gefunden, als Untersuchungen für einen geplanten Windpark durchgeführt wurden. Bei den geologischen Prüfungen auf dem Meeresboden haben die Taucher das Schiff unter einer Sandbank entdeckt. Es ist auf den ersten Blick erstaunlich gut erhalten.“ Ihre Augen strahlen vor Aufregung. „Man hat nie an dieser Stelle gesucht, stellen Sie sich das mal vor! Das Schiff war mit Waren unterwegs nach Amsterdam, als es in einen Sturm geriet. Man hat mehrfach die gesamte Route abgesucht. Zunächst mit den rudimentären Möglichkeiten, die man 1823 eben hatte. Später mit modernen Tauchgeräten, aber die Sicht war in vielen Gebieten trotzdem zu schlecht. Immer wieder gab es neue Ansätze, nach dem Schiff zu suchen“, erzählt sie lebhaft. „Wissenschaftler beschäftigten sich mit der Wetterlage damals und den Meeresströmungen, aber trotzdem hat man das richtige Gebiet nie durchkämmt. Nun geht man davon aus, dass der Kapitän den aufziehenden Sturm früh bemerkt hat und das Schiff entweder über eine andere Route schicken wollte, um dem Unwetter zu entgehen, oder aber sogar umdrehen wollte und dabei vom Weg abgekommen ist. Die Sedimente taten dann im Laufe der Zeit ihr Übriges, um es zu verdecken“, schließt sie.

Alma fröstelt es bei dieser Geschichte. Wie unwirklich, sich vorzustellen, dass in etlichen Metern Meerestiefe ein ganzes Schiff mit Besatzung liegt! Trotzdem hat sie aufmerksam zugehört. „Und aufgrund dieses Sensationsfundes gibt es nun genügend Investoren?“, erkundigt sie sich.

„Die norddeutschen Bundesländer sind ganz aus dem Häuschen!“, bestätigt die Bürgermeisterin mit einem Nicken. „Wir bekommen alle Gelder, die wir brauchen.“

„Was passiert mit dem Schiff?“

Frau Menkes macht eine bedrückte Miene. „Es wird bald gehoben. Leider werden wir es nicht auf der Insel behalten können. Dafür ist das Interesse bundesweit viel zu groß. Es kommt in das bremisch-niedersächsische Landesmuseum für Schifffahrt und maritime Geschichte. Je nachdem, wie gut es erhalten ist und ob man es in Gänze zeigen kann, wird es eine eigene Ausstellung bekommen, ähnlich der Vasa in Stockholm, kennen Sie die? Natürlich viel kleiner. Unser Schiff hat eine Kiellänge von etwa 15 Metern, das ist nur ein Drittel der Vasa. Es soll geborgen, konserviert und wieder zusammengesetzt werden.“

„Wieder zusammengesetzt? Ist es zerstört?“, fragt Alma neugierig.

„Nein, wie gesagt, es ist hervorragend erhalten. Aber die Bergung wird in Einzelteilen vonstattengehen, nicht die ganze Kogge auf einmal. Dann werden die Teile in Wasser gelagert, damit das Holz nicht austrocknet, und mit einem speziellen Gemisch konserviert. Und je nachdem wie lange das dauert, dazu kann ich leider nicht viel sagen“, schiebt sie ein, „Sie können aber gleich unsere Experten befragen, die warten sicher schon. Nun“, nimmt sie den Faden wieder auf, „jedenfalls wird man es hoffentlich bald im Museum in Bremerhaven ansehen können.“

Trotz ihres Unbehagens in Bezug auf die weite See und die tiefe Dunkelheit der Meere kann Alma nicht verhindern, dass sich ein Funke Faszination in ihr regt. Ein Schiff, das Jahrhunderte vergraben lag, soll wieder zusammengesetzt und ausgestellt werden! Schon irre, denkt sie. „Und hier im Leuchtturm soll es die begleitende Ausstellung geben?“, bringt sie das Thema auf ihr Projekt.

„Genau! Mit Fotos, Illustrationen und Schautafeln und vielleicht, wenn wir gut verhandeln können, sogar mit Fundstücken aus dem Schiff. Eben das, was auf der begrenzten Fläche machbar wäre.“